II

 

 

Beide Augen von Hercules Rasmussen waren gerötet, eines zusätzlich schwarz umrandet. Das Glöckchen an der Ladentür bimmelte.

Herc schmökerte in einem Magazin, das er schuldbewußt in einer Schublade unter der Kasse versteckte. Der Laden schien leer. Herc rang sich ein Lächeln ab.

»Aber Herc, was ist denn passiert?« fragte Katie aufrichtig besorgt.

Er stand auf, und dabei sah sie, daß sein linker Arm seltsam steif herunterhing.

»Was ist passiert?« wiederholte sie.

Hercules fing an zu stottern und warf einen Blick nach hinten.

»Ach … nichts«, brachte er schließlich heraus.

Wieder ein Blick zurück über die Schulter – keine Mutter – und dann ein verstohlener Blick durch den Raum. Überallhin sah er, nur nicht zu Katie. Er zog die Schultern hoch und versuchte sich wieder an einem Lächeln.

»Ich … ich hob eben einen Kasten mit Sodaflaschen. Muß mir den Arm verrenkt haben. Und dann fiel eine Flasche auf mich. Aufs Auge.«

Das gezwungene Lächeln, der qualvolle Versuch der Selbstbezichtigung war mitleiderregend.

»Alles halb so schlimm«, sagte er.

»Du hättest zum Arzt gehen sollen.«

»Ach, Doc Bates war gerade da, als es passierte«, stammelte er. »Ach nein«, korrigierte er sich, als hätte er die falsche Geschichte erwischt. »Er kam kurz darauf. Er sagte, es wäre allerhöchstens eine Muskelzerrung oder so. Ich sollte den Arm ein paar Tage nicht benutzen, dann wäre alles in Ordnung.«

»Ich würde zu einem richtigen Arzt in St. Cloud gehen.«

Hercules sah jetzt, daß es ihr ernst war. Einen kurzen Augenblick lang las sie Erleichterung in seiner Miene. So als wäre sie plötzlich »in Ordnung« und jemand, vor dem man keine Angst zu haben brauchte, nur deswegen, weil sie seine Ansicht über Doc Bates teilte.

Und dann war die Angst wieder da.

»Womit kann ich dienen?« fragte er.

»Ach, ich möchte telefonieren.«

»Brauchst du Kleingeld?«

»Ja, ich glaube.«

Sie öffnete ihr Portemonnaie und sah nach. »Ja.« Sie nahm ein paar Dollar heraus und gab sie dem Ladenbesitzer.

»Ein Ferngespräch«, erklärte sie in Beantwortung seines erstaunten Blickes. Herc drückte einen Knopf an der Registrierkasse, und die Wechselgeldlade schoß heraus.

»Ein Ferngespräch! Das erste seit … ach nein, dein Papa rief vorgestern erst an …«

»Hercules, hat Papa dir je gesagt, warum er sein Telefon stillegen ließ?«

»Was? Dein Pa? Nein, du weißt doch, er gehört nicht zu den Typen, die einem was erklären. Außerdem haben das hier in der Gegend fast alle getan.«

»Was getan?«

»Die Telefonanschlüsse gekündigt. Die rufen jetzt alle von hier aus an. Wenn überhaupt. Es kommt nicht sehr häufig vor.«

»Aber warum nur?«

Herc sah sich wieder verstohlen um. Das war offenbar seine Gewohnheit – die allgegenwärtige Mutter. Katie sah, daß sie die einzigen im Laden waren.

»Frag mich nicht«, sagte Herc.

»Heute nachmittag wolltest du mir etwas sagen …« erinnerte Katie ihn.

Der Ladenbesitzer tat fast einen Luftsprung und erbleichte. Sonderbar. Sie sah, wie ihm das Blut buchstäblich aus den Wangen wich.

»Was war es denn?« drängte sie.

»Heute? Nachmittags? Kann mich nicht erinnern«, stammelte er. »Hier, dein Kleingeld. Da drüben ist das Telefon …«

»Hercules!«

Der nervöse junge Mann hörte endlich mit dem Theater auf, doch blieb seine Angst nicht zu übersehen.

»Was wolltest du mir sagen?«

Wider besseres Wissen schien Herc seinen Entschluß umzustoßen. »Da war eine Zusammenkunft«, stammelte er und drehte dauernd den Kopf nach allen Seiten. »Im April. Im Bestattungsinstitut von Dolph Pelser. Mauslocher berief die Versammlung ein. Es kamen fast alle, die Landbesitz haben. Sogar Ma ging hin …«

»Und worum ging es da?«

»Ich … ich weiß nicht.«

»Und warum ausgerechnet dort?«

»Im Bestattungsinstitut? Gott weiß, warum. Ma sagte mir nichts. Aber sie schien so … so glücklich, richtig aufgekratzt, als sie zurückkam und …«

»Warum nur? War Pa auch dabei?«

»… und … ja, … und der Reverend … und …«

»Und was?«

»Als Mama zurückkam, hatte sie Erde an den Händen. Und sie hat doch niemals …«

»Erde?«

»Ach …«

Die Türglocke bimmelte.

»Na, wenn das nicht wieder die kleine Katie ist«, trompetete Barney, der Dorfpolizist. »War eben drüben im Haus des Reverends. Wir spielten ein Partie Bridge. Eigentlich spiele ich ja Poker lieber, er übrigens auch, aber er meint wohl, daß Bridge schicker ist. Auch langweiliger. Hat mich wieder geschlagen. Natürlich hat er den lieben Gott auf seiner Seite. Na, ich sehe aus dem Fenster, steht da nicht euer alter Wagen, und ich sage zum Reverend: ›Ich muß mal rüber, dem alten Ben guten Tag sagen.‹«

Sein Lächeln erlosch, und er streckte Katie seinen Armstumpf entgegen.

»Hast du vorhin beim Einkauf etwas vergessen?« fragte er, ganz der joviale, betuliche Dorfsheriff, doch seinen Argwohn konnte er nicht verbergen.

Katie fühlte sich belauert, und das machte sie nervös. Warum lungerte Barney dauernd hier herum?

»Schrecklich, was dem armen Herc passiert ist«, sagte sie und sah Barney offen in die Augen.

Das merkte er, und das machte ihn nun selbst nervös. Er schien sogar einen Schritt zurückzuweichen.

»Ach, das war doch gar nichts«, sagte er schließlich. »War nicht bös gemeint. Herc und ich, wir beide wollten nur unsere Muskeln spielen lassen. War es nicht so, Herc?«

Wieder ein Nicken.

»Menschenskind, als ich seinen Arm auf den Tisch knalle, geht sein Kopf gleich mit, und steht da nicht eine Flasche, die ihn direkt ins Auge trifft. Junge, ich dachte, ich lach mir einen Doppelbruch.« Barney brach in Gelächter aus, wohl um den »Doppelbruch« zu demonstrieren. Er hielt inne, als Katie ganz langsam sagte: »Haha.«

Hercs Miene ließ Dankbarkeit erkennen, aber etwas in seinem Blick riet ihr, Vorsicht walten zu lassen.

Barney warf ihr unter halbgeschlossenen Lidern einen Blick zu. Er besagte, daß er sie bislang unterschätzt habe, und daß er von nun an auf der Hut sein würde.

»Na, ist doch nichts passiert, Herc?« sagte er mit falscher Freundlichkeit.

Herc scharrte mit den Füßen, nickte, schüttelte den Kopf, nickte wieder. So standen sie da, bis Barney sagte:

»Ich glaube, ich gehe wohl ein wenig Luft schnappen.«

Und das tat er denn auch, aber nur bis vor die Tür, wo er seine gewohnte Position auf dem umgedrehten Faß einnahm und sich an die Schaufensterscheibe lehnte. So konnte er alles hören. Und doch den Anschein erwecken, als lungere er bloß absichtslos herum.

Und so hörte er auch Katies Anruf mit.

Wenn dies das letzte Telefon im Ort war und Barney sich dauernd hier herumtrieb, dann wußte er über alles Bescheid, dachte Katie bei sich. Jedenfalls kannte er sämtliche Kontakte mit der »Außenwelt«. St. Alazara war auf diese Weise wieder »dicht« wie damals in den unzugänglichen alten Tagen, als eine dreißig Meilen lange Staubstraße die einzige Verbindung zur nächsten zivilisierten Gemeinde darstellte. Heutzutage waren die Leute natürlich motorisiert, aber kein Mensch schien sein Vehikel zu benutzen und irgendwohin zu fahren.

Der Apparat läutete viermal. Und dann mitten im fünften Schrillen meldete David sich. Er klang atemlos.

»Bist du noch da? In Minneapolis?«

»Natürlich. Du sprichst doch eben mit mir, oder?«

»Ich erwartete eigentlich … ich dachte, du würdest …«

»Schätzchen, tut mir leid, aber du kannst dir nicht vorstellen, was das heute für ein Tag war. Mein Klient wurde im Kreuzverhör weich. Und brachte Sachen vor, von denen er mir nie erzählt hatte. Behauptete, er hätte alles vergessen. Du lieber Gott! Und ich stand da wie der reinste Trottel. Na, ich konnte jedenfalls einen neuen Termin erreichen, nächste Woche. Ich mußte mich mit ihm den ganzen Nachmittag zusammensetzen und arbeiten. Und nachher, als ich eben gehen wollte, lud einer unserer Chefs zu einer Cocktailparty ein, mit der er ein paar Industriebosse beeindrucken wollte. Ich konnte nicht ablehnen. Er möchte, daß sie ihn zu ihrem Rechtsberater machen. Nachher bin ich gleich nach Hause …«

»Du fährst also jetzt weg?«

Pause. David überlegte, wie er es ihr beibringen sollte.

»Katie, es ist Viertel vor zehn.«

»Ich weiß.«

»Vor zwei würde ich nicht ankommen, vielleicht erst später. Ich möchte lieber gleich in die Federn kriechen und ganz zeitig in der Frühe losfahren, einverstanden?«

Ihre Enttäuschung mußte spürbar sein. Hercules machte ein mitleidiges Gesicht.

»Na gut«, sagte Katie schließlich leise.

»Wie geht’s denn? Vor allem deiner Mutter?«

Sie wollte ihm alles sagen, ihm sagen, daß alles schrecklich und dazu so seltsam war. Aber statt dessen sagte sie »Gut« und dann »Ich spreche von einem öffentlichen Telefon«.

»Ach, verstehe. Also bis morgen.«

»Ich kann es kaum erwarten.«

»Keine Bange«, sagte sie zu Hercules Rasmussen, ohne recht zu wissen, warum. Barney half ihr in den Wagen, wobei er ihren Körper genau begutachtete. Sein Lächeln beim Abschied fiel eine Spur zu hart aus.

Sie gab keine Antwort. Sie war gekränkt und wütend, ein wenig verängstigt.