23. KAPITEL

Eine lange Reihe von Ziffern lief über den Bildschirm.

Kurz darauf fror das Bild auf dem Monitor ein, und es erschienen zwei Reihen lesbarer Schrift, umgeben von Sternen.

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ELLIS ENTERPRISES WURDE VON NUCLEARXXX GEHACKT

RACHE IST SÜSS

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Um das Ganze noch zu verschlimmern, tauchte ein Foto von Joe auf, der seinen ausgestreckten Mittelfinger zeigte.

Was sollte das? Hatte er uns eine Disc mit einem dummen Streich darauf gegeben?

Übelkeit überkam mich, doch ich kämpfte dagegen an. Ich hatte gewusst, dass es nur ein möglicherweise weit hergeholter Versuch gewesen war.

Rogan lebte noch immer. Die Erleichterung darüber vermischte sich mit der unendlichen Furcht davor, was als Nächstes passieren würde.

„Idiot“, murmelte Gareth und meinte damit mich. Er lachte und wirkte meiner Meinung nach heilfroh. Er zielte mit der Pistole auf mich. „Ich habe dir ja erklärt, dass du mich mit einem lächerlichen Programm nicht aufhalten kannst …“

Unvermittelt verstummte er, und die Hand, in der er die Waffe hielt, fiel schlaff herunter.

Ich warf einen Blick auf den Monitor. Das Bild von Joe war weg, und stattdessen liefen weitere Computercodes über den Monitor.

Gareth hob eine Hand an seine Stirn.

„Fühlen Sie sich gerade nicht mehr so toll?“, fragte ich.

„Es ist nichts.“

Ich musterte ihn. „Vielleicht ist es mit einem Antivirus so wie mit der Hühnersuppe, die meine Mom immer für mich gekocht hat, wenn ich früher eine Erkältung hatte. Manchmal ist die Nase so verstopft, dass man die Suppe nicht gleich schmecken kann. Es dauert ein paar Minuten, bis sie wirkt.“

Die Hand mit der Waffe zitterte, als er versuchte, sie zu bewegen, und es nicht schaffte. Ich dachte – ich hoffte –, dass er die Kraft verlor, dass er die Macht über den Körper von Rogans Vater verlor.

Die Zahlen liefen über den Bildschirm.

„Ein großes schwarzes Loch“, sagte ich zu ihm. Die Angst, die ich zuerst verspürt hatte, wurde von einem Zorn verdrängt, der so weiß glühend war, dass er heiß an die Oberfläche drängte. „Das ist alles, was ich gesehen habe, als ich Sie gelesen habe. Sie haben keine Seele. Sie sind nichts als ein Computerprogramm. Ich empfinde nicht einmal Mitleid mit Ihnen, dass Sie nun zerstört werden. Denn Sie existieren nicht wirklich.“

„Miststück!“ Es gelang ihm, mit der Pistole auf mich zu zielen und zu schießen. „Ich werde dich umbringen!“

Der Schuss ging weit daneben. Die Kugel verfehlte mich und durchschlug den Monitor hinter mir. Der Bildschirm sprühte Funken, rauchte und wurde dann schwarz. An der Seite, wo die Disc steckte, flackerte allerdings weiterhin ein kleines grünes Lämpchen. Die Antivirus-Software funktionierte noch immer – auch ohne das Display –, und es drang weiter in das Netzwerk von Ellis Enterprises ein.

Einen Moment lang herrschte Stille.

Dann ächzte Gareth und fiel auf die Knie.

Rogan umfasste seinen Kopf und riss die Augen auf. Vor Schmerzen schrie er auf. Der Schrei traf mich wie ein Pfeil mitten ins Herz. Das Geräusch von der Alarmsirene erklang wieder. Es war so laut, dass ich es wie einen Schlag empfand, der meinen gesamten Körper zum Erzittern brachte.

„Rogan!“ Ich rannte auf ihn zu, doch er hob die Hand.

„Kira …“ Im nächsten Moment rollten seine Augen zurück, und er sackte zu Boden.

Und dann gingen sämtliche Lichter im Raum aus. Der Alarm verstummte.

Es hatte einen massiven Stromstoß mit anschließendem Stromausfall gegeben – genau wie in der Nacht, in der Rogan probiert hatte, die Computer zu zerstören.

Ich fiel auf den Boden. Ich konnte nichts sehen. Nichts. Alles war schwarz.

„Rogan?“, flüsterte ich. „Bist du noch da?“

Totale Stille antwortete mir.

Totale Dunkelheit und totale Stille.

Sekunden verstrichen, ohne dass sich etwas tat. Überhaupt nichts.

Ich begann, zu zittern, da meine Phobie mich wie eine riesige Welle überrollte.

Es fühlte sich an, als wäre ich tot. Vielleicht war ich ja gestorben. Vielleicht waren wir alle tot, und so fühlte es sich an. Vielleicht existierte gar kein Himmel. Vielleicht war diese Dunkelheit alles, was einen erwartete.

Ich hatte es nicht geschafft, meine Familie in der Dunkelheit zu retten. Ich war feige gewesen und hatte mich unter meinem Bett verkrochen, während ich gelauscht hatte, wie sie ermordet worden.

Und jetzt war es nicht anders. Ich war wie gelähmt. Nicht in der Lage, mich zu bewegen. Und ich konnte nichts machen, um Rogan zu helfen. Er hatte dasselbe Implantat gehabt wie sein Vater. Ich hatte ihn umgebracht –falls er tot war, dann hatte ich ihn auf dem Gewissen. Es war alles meine Schuld.

Ich umklammerte meine Knie und zog sie an die Brust.

Es besteht noch immer Hoffnung. Noch sind wir nicht tot.

Ich schüttelte den Kopf. Nein, es war vorbei. Ich konnte nichts unternehmen. Ich hatte zu viel Angst.

Tu einfach so, als gäbe es einen Countdown, schlug ein kleiner Teil von mir vor.

Ich musste die Disc mit der Antivirus-Datei aus dem Monitor holen, damit sie nicht noch mehr Schaden anrichten konnte. Sie war im Server. Der Server musste noch immer Energie haben, und die Datei zerstörte die Implantate.

Es ist zu spät, flüsterte eine kleine Stimme in meinem Inneren. Die Disc zu entfernen wird nichts ändern.

Ich beachtete die Stimme nicht weiter. Es nützte mir nichts, mich der völligen Verzweiflung hinzugeben.

Die Finsternis war nichts. Sie bedeutete nichts. Ich hatte mit Rogan gemeinsam zu viel durchgestanden, um jetzt wegen ein bisschen Dunkelheit alles zu verlieren.

Ich fing an, stumm in meinem Kopf zu zählen.

Zwanzig … neunzehn … achtzehn …

Einen Moment lang kniff ich die Augen zu und atmete ein. Ich füllte meine Lunge mit Luft. Dann kroch ich los. Ich wusste nicht mehr genau, wo es langging. Ich tastete mich den Boden entlang, bis ich das Ledersofa berührte. Bis meine Hände über den goldenen Buddha strichen.

Ich kam an eine Wand, die glatt und kalt war. Beißender Rauch brannte in meiner Nase.

Höher und höher.

Neun … acht … sieben …

Meine Schwester schrie.

Ich schob die Erinnerung beiseite.

Denk an Rogan. Rogan ist hier. Er ist jetzt hier.

Fünf … vier … drei …

Die Kante des Monitors. Ich zuckte zusammen, als der scharfe Rand des zerbrochenen Glases in meinen Finger schnitt. An der Seite. Ja, dort. Das grüne Lämpchen flackerte noch immer schwach neben dem Schlitz, in den ich die Disc geschoben hatte. Ich tastete nach dem kleinen Knopf zum Auswerfen. Eilig drückte ich ihn. Die Disc wurde ausgeworfen und landete in meiner Hand.

Ich steckte sie in die Tasche, kniete mich hin und krabbelte über den Boden. Diesmal bewegte ich mich schneller. Ich suchte ihn. Suchte Rogan in der Dunkelheit.

„Wo bist du?“, flüsterte ich. Meine Stimme brach.

Ich erhielt keine Antwort.

Ich probierte, mir den Raum vorzustellen. So zu tun, als wäre er noch immer von den Deckenlampen erhellt. Ich rief mir vor mein geistiges Auge, wo Rogan sich den Kopf gehalten hatte und zu Boden gefallen war, und kroch in die, wie ich hoffte, richtige Richtung.

Stück für Stück tastete ich mich vorwärts. Und endlich berührte ich etwas. Einen Stiefel. Einen großen Stiefel, der mir bekannt vorkam. Ich fuhr mit der Hand an einem muskulösen Unterschenkel entlang und ein Bein hinauf bis zu einem flachen Bauch. Ja. Das Schlüsselbein. Und da war sein Hals – ich küsste seinen Hals. Und sein Kinn. Und seine Lippen, die so warm an meinen waren.

Ich schob meine Hände in seine Haare und zog ihn an mich. Er rührte sich nicht.

„Rogan, stirb nicht. Nicht nach allem, was wir durchgestanden haben.“

Ich hatte Angst davor, seinen Puls zu prüfen, dennoch wusste ich, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich legte meine Finger an seinen Hals und fühlte seinen Pulsschlag.

Ich konnte ihn spüren.

Erleichterung durchströmte mich. „Du hast mir eine Mordsangst eingejagt, du Idiot“, flüsterte ich. Er sagte noch immer nichts, was mich nicht gerade beruhigte. Er war bewusstlos, vielleicht verletzt, doch er hatte einen Puls. Er lebte.

In der Dunkelheit fand ich seine Lippen und presste meinen Mund darauf.

Eine ferne, flüchtige Erinnerung an ein Märchen, das meine Mutter mir einmal erzählt hatte, kam mir in den Sinn. Dornröschen. Der gut aussehende Prinz weckte die hübsche Prinzessin mit dem perfekten Kuss auf.

Das ist wirklich ein verkorkstes Märchen, in das ich da geraten bin.

Ich küsste ihn weiter und achtete nicht auf andere Gedanken.

Die Sekunden verstrichen, doch irgendwann nahm ich wahr, wie er mit einem leichten Aufkeuchen an meinen Lippen den Kuss erwiderte.

„Kira?“

Freude durchflutete mich und verjagte die Dunkelheit – zumindest die Dunkelheit in meinem Inneren. Es herrschte immer noch Stromausfall und wir steckten zwei Stockwerke unterhalb der Erdoberfläche fest. „Tja, wer sonst würde dich mitten in einem stockfinsteren Zimmer befummeln?“

Er schnaubte leise. „Ich verstehe das als ein Ja.“

„Du lebst.“

„Ist das eine Frage?“

„Ich werde dir in den Hintern treten.“ Ich sagte es streng, doch das Lächeln in meiner Stimme konnte ich nicht unterdrücken.

„Zieh eine Nummer und stell dich hinten an. Ich habe eine Kugel in meiner Schulter. Und mein Kopf bringt mich um.“

„Meiner mich auch.“

„Was ist mit meinem Vater?“

Mein Herz zog sich zusammen. „Ich glaube … Ich … Ich glaube, er ist tot, Rogan. Es tut mir so leid.“

„Oh.“ Eine ganze Weile herrschte Stille. „Hier ist es sehr dunkel.“

„Ja, das ist es.“

„Hast du nicht Angst im Dunkeln?“

„Ich bin wie gelähmt.“

„Das habe ich mir gedacht.“ Es folgte wieder eine Pause, und ich spürte, wie er seine Hand auf meinen Rücken legte. „Ich bin erstaunt, dass das Notstromaggregat noch nicht angesprungen ist.“

„Ja. Ich schätze, dass Joe – abgesehen von dem Antivirus-Programm – noch ein paar weitere Überraschungen auf der Disc hatte. Der Typ war ein Genie.“

„Vielleicht hätte mein Vater ihm einen Job geben sollen, als er die Gelegenheit dazu hatte.“

„Ja, wenn du die Zeit zurückdrehen und eine Sache in deinem Leben ändern könntest, würde ich sagen, hättest du echt das Vorstellungsgespräch nicht vermasseln sollen.“

Wieder entstand eine Pause. „Aber dann hätte ich dich niemals kennengelernt.“

Ich konnte nicht anders. Ich musste lächeln. „Dito.“ Im nächsten Moment runzelte ich die Stirn. „Hey, bist du eigentlich sehr gelenkig?“

„Was meinst du?“

„Wie kannst du jetzt gerade meinen Fuß anfassen?“

„Ich berühre deinen Fuß ja gar nicht.“

Eine Hand schlang sich um meinen Knöchel, und ich schrie auf.

Just in dieser Sekunde flackerten die Lampen und sprangen dann mit einem unangenehmen, surrenden Geräusch wieder an.

Gareth hielt meinen Knöchel mit eisernem Griff fest. Er schaute mich an, die Augen blutunterlaufen, das Gesicht schweißüberströmt.

Rogan kroch von mir weg, schnappte sich die Pistole und zielte auf den Mann.

„Lass sie sofort los!“, schrie er.

„Rogan …“ Gareth ließ meinen Fuß los und streckte die Hand nach Rogan aus.

Und dann stürzte er vornüber. Bewusstlos.

Rogan ließ die Waffe fallen und kniete sich neben seinen Vater. Vorsichtig drehte er ihn auf den Rücken. Er presste seine Hand auf die Brust des Mannes. Die Erleichterung war ihm anzusehen. „Er lebt noch.“

Ich ging an Rogans Seite neben Gareth in die Knie und betrachtete den ohnmächtigen Mann mit einer Mischung aus Misstrauen und Hoffnung.

Nach ein paar Minuten flatterten seine Lider. Er öffnete die Augen und blickte uns an.

Er blinzelte. „Ich dachte, ich hätte dich gebeten, mich umzubringen, Kira.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Befehle sind nicht mein Ding. Ich bin eben eine Rebellin. Sorry.“

Er warf mir ein kleines, schmerzverzerrtes Lächeln zu. „Das Antivirus …“

„Es war Jonathans Plan“, entgegnete Rogan. „Und er hat funktioniert. Es hat tatsächlich geklappt.“

Ein Schatten trat auf Gareths Gesicht. „Es tut mir so leid. Mir tut alles so leid.“

„Mir auch.“ Rogan streckte die Hand aus und berührte zögerlich die Schulter seines Vaters. „Es ist vorbei. Wir haben es überlebt. Jetzt kann alles nur noch besser werden.“

„Ja. Wir werden es besser machen.“

Mit einem dicken Kloß im Hals beobachtete ich die Wiedervereinigung von Vater und Sohn. „Ich kenne mich mit Computerprogrammen nicht so gut aus, aber … äh … Ich denke, dass die Antivirus-Software Ihr gesamtes System zerstört hat.“

Gareth nickte. „Gut. Dadurch erhalten wir die Chance, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Jonathan … Er hat gute Forschungen betrieben, als er die Möglichkeit hatte. Dinge, die der Menschheit helfen. Vielleicht können sie sogar helfen, den Schaden zu reparieren, der hier entstanden ist.“

Rogan ergriff die Hand seines Vaters. „Glaubst du wirklich, dass du alles wiederaufbauen kannst?“

„Nein, ich glaube, wir können es wiederaufbauen.“ Gareth lächelte schwach. „Zum Glück hat das Monster nicht mein gesamtes Vermögen ausgegeben.“

Rogan schnaubte verächtlich. „Ja, zum Glück.“

„Also, wirst du mir helfen?“

Rogan nickte. „Natürlich werde ich das tun.“

„Darf ich etwas vorschlagen?“, fragte ich.

„Was denn?“, entgegnete Gareth.

„Überlegen Sie sich bitte, Ihre Forschungen auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz für immer einzustellen.“

Leise lachte Gareth. „Abgemacht.“

„Und Countdown ist vorbei“, fügte Rogan hinzu. „Für immer. Kein Spiel mehr. Kein Töten mehr.“

„Es ist vorbei“, versprach Gareth. „Alles.“

„Aber was ist mit den Abonnenten?“, wollte ich wissen. „Sie haben auch Implantate, stimmt’s? Werden sie möglicherweise Probleme kriegen?“

„Ganz ehrlich, Kira?“ Rogan sah mich, die Augenbrauen hochgezogen, an. „Die Abonnenten können mich mal.“

Da musste ich ihm zustimmen.