14. KAPITEL

Obwohl Mac aus einer Wunde an seiner Schläfe blutete, umklammerte er die Brechstange immer noch fest.

Für dieses Level von Countdown verbleiben noch fünf Minuten“, verkündete der Moderator.

„Wie die Zeit vergeht, wenn man sich amüsiert“, kommentierte Kurtis, allerdings passte der Klang seiner Stimme – rau und atemlos – nicht zu seinen lockeren Worten. Er hatte die Hand auf seine Schulter gepresst. Ein großer, dunkelroter, nass glänzender Fleck hatte sich auf seinem schwarzen Spiel-Outfit ausgebreitet.

Als er ein paar Schritte nach vorne machte, stellte Rogan sich vor mich.

„Hau ab.“

Mac lachte ihn aus und ging ebenfalls auf uns zu. „Du bist tot, reicher Junge. So tot.“

Rogan verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Du stirbst zuerst.“

„Nein. Nach dir.“

Mac holte aus und zielte mit dem schweren Brecheisen auf Rogans Kopf. In letzter Sekunde blockte Rogan den tödlichen Schlag mit seiner eigenen Waffe ab. Metall krachte auf Metall.

Macs Faust landete auf Rogans Kiefer, und Rogan fiel rücklings aufs Dach und schlitterte weiter. Seine Brechstange wurde ihm aus der Hand geschleudert. Schnell kam er auf die Beine, stürmte wieder auf Mac zu und packte ihn an seinem schwarzen Shirt.

Die Angst um Rogan lenkte mich lange genug ab, sodass Kurtis sich unbemerkt nähern konnte. Und er kam mir zu nah.

„Keine Waffen, was? So ein Pech.“

Mir war nicht bewusst, dass ich vor ihm zurückwich, erst als ich mit den Beinen gegen den niedrigen Abschluss am Rand des Daches stieß.

Für dieses Level von Countdown verbleiben noch drei Minuten.

Seine Verletzung schien einen Moment lang vergessen zu sein. Er ließ die Fingerknöchel knacken. „Also, so geht es jetzt weiter, Süße. Ich werde meine Hände um deinen Hals schlingen und so lange zudrücken, bis ich etwas knacken höre. Und dann drücke ich weiter zu, bis deine Zunge aus deinem Mund kommt, bis deine Augen hervortreten und du schlaff wirst. Schließlich werde ich dich von diesem Dach werfen und zuschauen, wie deine hübschen roten Eingeweide sich auf dem Gehweg da unten verteilen.“

Ich fühlte die kalte Ziegelsteinmauer an meinen Händen. Der Rand reichte mir bis zur Mitte der Oberschenkel. „War es dein Ernst, als du gemeint hast, du hättest meine Eltern getötet? Oder hat man dich angewiesen, das zu erzählen, um mir vor der Kamera eine Reaktion zu entlocken?“

Höhnisch grinste er. „Glaubst du mir nicht?“

„Ich weiß nicht, was ich noch glauben soll.“

Er packte mein Handgelenk. Ich schrie auf und versuchte, mich zu befreien, aber er war zu stark. „Wie wäre es, wenn ich dir einen Gefallen erweise, bevor ich dich umbringe? Falls du wirklich eine Psi bist, weshalb liest du dann nicht in mir? Wirf einen Blick in meine Seele, dann kannst du mir sagen, ob ich es getan habe oder nicht.“

Ich betrachtete sein Gesicht und suchte nach irgendetwas, das mir verriet, dass er nicht der fürchterliche, schlechte Mensch war, der mein Leben zerstört hatte. Es war möglich, dass er log. Eventuell zwangen sie ihn dazu, das alles zu behaupten. Wie gesagt: Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte.

Noch immer in einen Kampf verwickelt, schaute Rogan zu mir herüber und rief meinen Namen, da er bemerkte, dass ich in die Enge getrieben worden war. Er wollte zu mir kommen, doch Mac hielt ihn auf, stieß ihn zurück und schwang sein Brecheisen wie einen Baseballschläger. Rogan schrie vor Schmerz und Zorn auf.

Für dieses Level von Countdown verbleiben noch zwei Minuten.

Mein Handgelenk war in Kurtis’ Griff gefangen. Er grinste mich an. Es war ein belustigtes Lächeln, als wollte er mich dazu herausfordern, mich aus seiner Umklammerung winden zu wollen. Anscheinend fand er meine Verzweiflung und meine Verwirrung amüsant.

„Könnte sein, dass du überhaupt keine Psi bist. Vielleicht bist du nur irgendein Niemand. Du kannst es nicht, stimmt’s?“

Ich blickte ihm in die Augen. „O doch, das kann ich.“

Ich senkte die Lider, konzentrierte mich und drang in seinen Verstand ein.

Komisch, je öfter ich es machte, desto leichter schien es zu gehen.

Emotionen zogen mich in seinen Geist hinein: schmutzige Gefühle, Wut, Verrat, Zorn. Sicherheit, Vergnügen, Lust.

Tiefer und tiefer glitt ich wie bei Rogans Vater in Kurtis’ Kopf hinein und wühlte mich durch die einzelnen Schichten. Ich suchte nach mehr, als auf den ersten Blick an der Oberfläche zu sehen war.

Ich musste die Wahrheit herausfinden.

Ich durchsuchte die Bilder in seinem Gedächtnis, als würde ich durch ein Album, durch Erinnerungen, Empfindungen, Erfahrungen blättern – etwas, das ich noch nie zuvor gemacht hatte, das aber wie selbstverständlich für mich war. Fast so wie zu atmen. Es waren so viele Blitze, dunkel und hell, bis ich endlich auf das stieß, worauf ich aus gewesen war. Das flackernde Bild eines wohlbekannten Mannes in einem dunklen Flur. Es war mein Vater. Dann eine kurze Auseinandersetzung und ein Schuss. Sein Körper sackte zu Boden, Blut breitete sich unter ihm aus. Das entsetzte Gesicht meiner Mutter. Meine Schwester, die aus ihrem Schlafzimmer zu meiner Mutter kam, bevor Kurtis die beiden niederschoss.

Jetzt werde ich die Kleine töten. Und wenn es vorbei ist, werde ich die andere Hälfte meines Geldes holen.

Inzwischen empfing ich mehr als Emotionen und Bilder. Gedanken. Es waren tatsächlich Gedanken.

Der Schmerz durchfuhr mein Gehirn, und ich ließ Kurtis los. Es war schlimmer als je zuvor. Noch schlimmer als nach der Verbindung mit Gareth. Einen Moment lang war ich, nachdem ich in den Verstand dieses Mistkerls eingetaucht war, vor Schmerz wie blind. Er war all das, was er zu sein schien – der Abschaum der Menschheit.

Und nun wusste ich mit Sicherheit, dass er derjenige war, der vor zwei Jahren mein Leben zerstört hatte.

Sobald ich wieder etwas erkennen und mich sammeln konnte, bemerkte ich, dass er mich erstaunt anstarrte.

„Es stimmt also. Du kannst es. Ich habe es gespürt. Du hast mir in die Seele gesehen.“

Ich warf einen ängstlichen Blick zu Rogan und Mac. Rogan blutete, dennoch wehrte er sich nach Kräften. Ich wandte ich mich wieder voll und ganz dem Mistkerl zu, der vor mir stand.

„Ja. Ich habe einen Blick in deine Seele geworfen.“

Er zog ein Messer aus seiner Hosentasche. „Noch ein Grund für mich, dich aufzuschlitzen und zuzuschauen, wie du verblutest.“

„Kira!“, brüllte Rogan.

In dem Augenblick, als Kurtis für einen winzigen Moment in Rogans Richtung sah, nutzte ich die Unaufmerksamkeit und rammte meine Faust, so hart ich konnte, gegen seine Wunde. Er heulte vor Schmerzen auf und ließ das Messer fallen. Doch bevor ich mich von ihm entfernen konnte, packte er mich so fest, dass ich fürchtete, er würde mir die Knochen brechen. Ich wehrte mich jedoch gegen ihn und kämpfte so verbissen, wie ich es nie zuvor getan hatte. Fingernägel, Zähne, Fäuste – alles war in Bewegung; ich kratzte und schlug nach allem, was ich erreichen konnte. Ich versuchte, ihn zu Fall zu bringen, indem ich mich um seine Beine schlang. Schließlich gelang es mir, und er stürzte zu Boden.

Er umklammerte mich immer noch, während er gegen die Dachkante krachte. Wir rollten zusammen über die Kante hinweg. Mit einem Mal fühlte ich nichts mehr unter mir. Ich schrie und probierte verzweifelt, mich an die Dachkante krallen, als wir über den Rand fielen.

Meine schon sehr kurzen Fingernägel brachen ab. Zwar waren meine Hände schweißig und rutschig, dennoch hielt ich mich verbissen an dem Gebäude fest, klammerte mich an mein Leben. Fieberhaft suchte ich nach einem Vorsprung, auf den ich einen Fuß setzen konnte.

In meinem Kopf dröhnte der Countdown.

Fünfundvierzig … vierundvierzig … dreiundvierzig … zweiundvierzig …

„Kira!“, brüllte Rogan erneut.

Stück für Stück versuchte ich, mich an den rauen Ziegeln zum Dach hochzuziehen. Bevor ich sicheren Halt an der Hausverkleidung finden konnte, spürte ich Finger an meinem Knöchel und dann ein schweres Gewicht. Ich blickte nach unten. Kurtis hing einen knappen Meter unter mir an der Seite des Gebäudes und krallte sich an meinen linken Stiefel. Er starrte zu mir hoch. Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Meine Hand rutschte ein Stückchen hinunter, und ich mühte mich ab, nicht hinunterzufallen.

„Hilf mir!“, flehte Kurtis. „Bitte, lass mich nicht abstürzen!“

Einundzwanzig … zwanzig … neunzehn …

Ich zwang mich, die Worte ruhig auszusprechen, auch wenn mir eigentlich danach war, laut zu schreien. „Ich habe in dich hineingeschaut, Kurtis. Mit meinen widerlichen mutierten Psi-Fähigkeiten. Und willst du wissen, was ich tief in dir gesehen habe? Tief in deiner Seele?“

„Was?“

„Nichts, das zu retten sich lohnen würde.“

Seine Hand glitt von meinem Stiefel ab, und er baumelte noch ein paar Sekunden an zwei Fingern an der Hausfassade. Dann stürzte er entsetzlich schreiend dreißig Stockwerke in die Tiefe.

Kurz bevor er auf den Asphalt krachte, hörte ich vom Dach her einen lauten Knall. Ich erschreckte mich so sehr, dass ich beinahe den Halt verloren hätte.

„Rogan?“, brachte ich hervor. „Rogan, bist du noch da? Geht es dir gut?“

Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, doch es vergingen nur ein paar Sekunden, bis ich Hände spürte, die meine Arme ergriffen und mich auf das Dach zogen. Rogan, blutig und übel zugerichtet, aber noch immer am Leben, riss mich an sich.

Herzlichen Glückwunsch, Rogan und Kira, zur erfolgreichen Beendigung von Level fünf von Countdown.“

„Was ist passiert?“, fragte ich nach einer kurzen Weile und löste mich gerade genug von Rogan, damit ich ihm ins verletzte Gesicht schauen konnte. Vorsichtig berührte ich es und zuckte unwillkürlich zusammen.

„Die Regel, dass die Partner sich nicht weiter als dreißig Meter voneinander entfernen dürfen“, erwiderte er. „Als Kurtis gefallen ist, hat er sie gebrochen.“

Ich wagte einen flüchtigen Blick zur anderen Seite des Daches. Dort lag ein Körper, reglos. Wo Macs Kopf hätte sein sollen, war nur ein dunkler Fleck zu erkennen.

Ich schmiegte meine Wange an Rogans Schulter. „Jetzt muss ich seltsamerweise an das Lied ‚Pop Goes the Weasel‘ denken.“

„Ich finde, das passt irgendwie.“ Er warf mir ein kleines Lächeln zu.

Ich seufzte und fühlte mich unglaublich erschöpft. „Kurtis hat am Ende um sein Leben gebettelt. Ich konnte ihm nicht helfen. Aber selbst wenn ich es gekonnt hätte, glaube ich nicht, dass ich es getan hätte. Ich habe sogar auf ihn geschossen. Ich bin froh, dass er tot ist. Ist das falsch?“

„Meiner Meinung nach nicht. Der Mistkerl hat es nicht anders verdient“

Rogan und Kira müssen nur noch ein Level schaffen, ehe sie die zweiten Gewinner in der Geschichte von Countdown werden. Wird es ihnen gelingen? Oder wird dieses letzte Level sie schließlich für immer auseinanderreißen? Bleiben Sie dran, liebe Abonnenten. Das Spiel ist noch nicht vorbei!

Der Freak klang tatsächlich so, als würde er ein Baseballteam ankündigen. Oder einen Werbespot sprechen. Und ganz und gar nicht so, als würde er eine Gameshow moderieren, in dem der Tod der Trostpreis war.

Ich runzelte die Stirn. „Rogan, ich muss dringend mit dir über deinen Vater reden.“

Die Wärme schien mit einem Schlag aus seinen Augen zu weichen. „Worum geht’s?“

„Ich konnte ihn lesen – und es war total komisch. Ich weiß nicht, was wirklich los ist. Aber er ist eigentlich nicht …“

In dem Moment presste Rogan sich die Hände an den Kopf und stöhnte vor Schmerz auf. Seine Augen rollten nach hinten, und er sackte auf die Knie, bevor er bewusstlos auf die Seite sank.

Mit großen Augen wartete ich darauf, dass sie mein eigenes Implantat ansteuerten, um mich auszuschalten. Doch nichts passierte. Ich beobachtete die drei silbernen Kameras, die durch die Gegend schwebten.

„Was jetzt?“, schrie ich sie an. „Was wollt ihr jetzt von mir?“

Die Stimme des Sprechers dröhnte durch die Dunkelheit. „Kira Jordan ist vorhin vor die Entscheidung gestellt worden. Wenn sie ihren Partner vor laufender Kamera eliminiert, gewinnt sie automatisch das Spiel und bekommt alles, was sie sich je gewünscht hat – ein neues Leben, unvorstellbaren Wohlstand, eine strahlende Zukunft. Was sagst du dazu, Kira?

„Was ich dazu sage? Wie wäre es damit?“ Ich streckte meinen Mittelfinger in die Kameras.

Eine der Kameras schwebte näher. Ein kleines Spotlight leuchtete auf das Dach hinab und schien auf das Messer, das Kurtis hatte fallen lassen, ehe er … nun ja … ehe er gefallen war.

Nimm es, Kira“, drängte mich die fröhliche Stimme.

Ich widerstand, aber plötzlich spürte ich etwas wie einen kleinen Stromschlag, der durch meinen Chip zuckte. Ich bückte mich und nahm die Waffe an mich.

Rogan lag auf dem Boden. Sein Gesicht war blutverschmiert, doch so friedlich wie im Schlaf. Sein Arm lag auf seiner Brust. Rogan sah fast aus, als würde er in einem gemütlichen Bett ein kleines Nickerchen machen.

Brächte ich ihn jetzt um, würde ich alles kriegen, was ich mir je gewünscht hatte.

Die Abonnenten möchten, dass du ihn tötest, Kira. Laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage wollen sie, dass du gewinnst.

Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß ich die Luft hervor. Wenn ich Rogan auf der Stelle kaltblütig ermordete, erhielt ich vielleicht alles, was ich mir je erträumt hatte. Allerdings wäre es nicht wirklich ein Sieg.

Ich würde niemals tun, was sie von mir verlangten. Es war mir egal, wie die Strafe dafür aussah. Ich gehörte ihnen nicht. Und sie hatten nicht die Kontrolle über mich – niemand besaß sie.

Ich wandte mein Gesicht der Digicam zu. „Sagen Sie den Abonnenten, dass sie mich mal können.“

Ich warf das Messer über die Dachkante.

Volle zehn Sekunden herrschte Totenstille.

Dann erfüllte Schmerz meinen Kopf, und die Welt um mich herum versank in Dunkelheit.