22. KAPITEL

Das zweite Untergeschoss hatte ziemlich viel Ähnlichkeit mit allen anderen Stockwerken dieses Gebäudes. Alles war weiß. Alles war farblos und klinisch. In der Luft hing der Geruch von Desinfektionsmittel.

Hier unten waren einige Deckenlampen entweder aus oder flackerten und warfen unheimliche Schatten in den Flur. Ich fühlte mich wie in einem Horrorfilm. Ich rechnete fast damit, dass irgendjemand oder irgendetwas jeden Moment unsere Knöchel packen, uns in ein Zimmer zerren und auffressen könnte.

„Vielleicht haben sie es geändert“, meinte Rogan. „Das Schild am Serverraum. Vielleicht steht der Name meines Vaters nicht mehr an der Tür.“

Ich sah mich im Korridor um. „Vielleicht. Oder vielleicht hat Joe gelogen. Er könnte sich das alles auch ausgedacht haben.“

„Ja, und vielleicht sind auf der Disc nur Bilder von seinem letzten Urlaub.“

Mir gefiel dieses Spielchen mit dem „Vielleicht“, das wir gerade spielten, überhaupt nicht. Ich warf Rogan einen strengen Blick zu.

Er schaute mich an. „Ich schätze, wir sollten zuversichtlich sein.“

„Scheiß auf zuversichtlich. Ich will einfach nur den Raum finden.“

„Wir haben nicht mehr viel Zeit. Sie werden das Gebäude verschließen und alle Ausgänge verriegeln, um uns zu aufzuspüren. Vielleicht sollten wir jetzt versuchen, zu entkommen – schließlich haben wir im Moment noch die Möglichkeit dazu.“

„Nachdem wir all die Schwierigkeiten überstanden haben, damit wir hier herkommen konnten? Warum sollten wir uns den Spaß entgehen lassen? Wie viel Zeit bleibt uns, bevor sie uns hier entdecken?“

„Wieso?“

„Es fehlt mir, wenn ich nicht gegen einen Countdown arbeite. So bin ich eben.“

Er schnaubte. „In dem Fall würde ich sagen, dass uns nur noch ungefähr fünf Minuten bleiben, ehe sie das Gebäude abriegeln. Bis sie die einzelnen Ebenen mit allen Sicherheitsvorkehrungen kontrolliert haben … vielleicht noch eine halbe Stunde.“

Ich verspürte ein winziges Fünkchen Erleichterung. Mikroskopisch klein. „Fünfunddreißig ganze Minuten. Wenn das kein Luxus ist.“

„Tja, das wäre so, wenn wir als Wegweiser nicht zwei Leichen an der Treppe nach unten hinterlassen hätten. Das wird unsere Zeit auf ein Viertel verkürzen.“

Mein Mut sank. „Verdammt.“

„Ja.“

Ich betrachtete jede Tür, an die wir kamen, ganz genau. Gerade als ich die Hoffnung aufgeben und Rogans Vorschlag, hier verdammt noch mal zu verschwinden, annehmen wollte, sah ich etwas. Meine Augen wurden groß.

„Schau mal.“ Ich wies auf die letzte Tür, an der ein kleines Schild aus Messing hing – so klein, dass es im flackernden Licht kaum zu lesen war.

G. ELLIS

Meine Hände zitterten, als ich Olivers Zugangskarte durch den Schlitz im Schloss zog. Die kleinen Lämpchen leuchteten rot.

Kein Zutritt.

Ich fluchte unterdrückt. „Es funktioniert nicht.“

„Probier es noch einmal.“ Rogans Stimme klang beunruhigt, während er sich im Flur umsah. „Und beeil dich.“

Ich versuchte es erneut. Noch immer kein Glück.

Ich seufzte frustriert auf, als ich die Karte ein drittes Mal durch den Schlitz zog. Erneut leuchteten die roten Lämpchen auf, doch plötzlich hatte ich die Idee, dass ich die Karte vielleicht falsch herum hielt. Der metallische Streifen musste nach unten zeigen.

Innerlich biss ich mir vor Wut in den Hintern, drehte die Karte um und probierte es noch einmal.

Die Lämpchen blitzten grün auf, und ich hörte ein Klicken.

Rogan stieß die Tür auf. Im Raum dahinter war es stockdunkel. Augenblicklich verstärkte sich meine Angst um einige Stufen. Ich tastete an der Wand entlang, bis ich den Lichtschalter fand und schaltete das Licht ein. Die Lampe ging an, und blinzelnd schaute ich mich in dem Raum um.

In dem Zimmer sah es anders aus, als ich es mir vorgestellt hätte. Ich hätte mit einer Reihe von Computern gerechnet oder zumindest mit einem großen Rechner in der Mitte des Raumes. Mit einem Schreibtisch. Vielleicht mit einer Topfpflanze. Joe hatte erzählt, dass es Gareths zweites Büro wäre.

Stattdessen ähnelte es mehr einem Aufenthaltsraum. In der Mitte des Zimmers befand sich eine große schwarze Ledercouch. Links und rechts von dem Sofa stand jeweils ein japanisch angehauchter Paravent. Es gab ungewöhnlich viele religiöse Kunstwerke – Gemälde, Skulpturen und andere Kunstobjekte, die alle möglichen Formen von Religion darstellten. Die Sammlung reichte von einem verzierten und mit Juwelen besetzten Rosenkranz an der Wand bis hin zu einem großen lachenden Buddha aus Gold auf einem Tisch.

Ein riesiger Bildschirm an der Wand gegenüber von der Couch zeigte Bilder aus der freien Natur. Er erinnerte mich an dem aus der luxuriösen Suite, in der ich nach dem Belohnungslevel untergebracht worden war. Eine Kopie, die versuchte, echt zu erscheinen – und es auch beinahe schaffte. Hinter mir ertönte ein blubberndes Geräusch. Ich drehte mich um und erblickte einen aufwendig gestalteten Wassergarten neben einem Zen-Sandgarten.

Ich blickte zu Rogan, und er bemerkte meine Verwirrung.

„Finde ich auch“, sagte er. „Ich hätte auch nie damit gerechnet, dass ein sprechender Binärcode einen Platz zur Entspannung braucht.“

„Joe meinte, dass der Server sich hier befände, stimmt’s?“

„Vielleicht hat er uns belogen. Oder eventuell hat es sich seitdem auch geändert. Ich kann hier keinen Server entdecken.“ Die Schonungslosigkeit seiner Worte konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. „Verdammt, warum hat Jonathan uns nicht mehr über seinen Plan, meinen Vater aufzuhalten, erzählt?“

„Wahrscheinlich, weil er nicht geglaubt hätte, dass es nötig wäre.“ Ich berührte Rogans Arm. „Was machen wir jetzt? Wo ist der Server?“

Er schüttelte den Kopf und warf die Pistole von einer Hand in die andere. „Keine Ahnung!“

Wieder war ich innerlich hin-und hergerissen zwischen Kämpfen und Weglaufen. Ich hatte genug gekämpft. Möglicherweise war der Moment gekommen, wegzurennen. „Vielleicht reicht die Zeit noch, um zu fliehen. Du weißt schon: Überleben, um weiterzukämpfen.“

In dieser Sekunde erklang ein ohrenbetäubendes Alarmsignal. Es schien, als wollte es die buddhistische Ruhe dieses Raumes zerstören.

„Oder auch nicht!“, schrie ich.

Ich hielt mir die Ohren zu und versuchte, mich zu konzentrieren. Der Monitor zeigte eine Palme, die sich im Wind bewegte. Sie wuchs an einem Strand vor einem in der Sonne glitzernden Ozean. Das Geräusch von Wellen, die an den Strand schlugen, war wegen des schrillen Alarmtons kaum zu hören.

Unecht. Genau wie Rogans Vater jetzt war. Es gab ziemlich viele Ähnlichkeiten zwischen der Palme und ihm. Er sah ganz natürlich aus, doch unter der Oberfläche war er nur ein Computerprogramm.

Ich runzelte die Stirn. Nur ein Computerprogramm.

„Der Monitor.“ Ich zeigte auf den Bildschirm. „Glaubst du, dass das der Server sein könnte? Vielleicht ist er getarnt, um jeden hinters Licht zu führen, der ihn zerstören will. Wie zum Beispiel uns.

Rogan zog die Brauen zusammen. „Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. Gib mir die Disc.“

Ich griff in meinen BH und holte die kleine CD hervor. Er nahm sie mir aus der Hand. Unsere Finger berührten sich kurz.

„Drück uns die Daumen, dass es funktioniert“, sagte er finster entschlossen.

Aber bevor er zum Bildschirm gehen konnte, um die Disc in den Schlitz zu schieben, glitt eine Tür zu unserer Linken auf und Gareth betrat das Zimmer. Er war allein.

Mein Magen verkrampfte sich.

Rogan richtete seine Waffe auf Gareths Kopf. Keiner von uns sprach ein Wort.

„Also, das ist nicht sehr höflich“, brummte Gareth. „Ehrlich, Kinder. Wollt ihr euch nicht dafür entschuldigen, dass ihr meine Pläne schon wieder durchkreuzt habt?“ Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, während er die Disc betrachtete, die Rogan in der linken Hand hielt. „Warum seid ihr in diesem Raum?“

„Ich habe gehört, dass hier der Wassergarten sein soll“, entgegnete Rogan ruhig. „Ich mag Wasser. Es beruhigt mich.“

Gareth lächelte schmallippig. „Wollt ihr wissen, wie ich euch so leicht gefunden habe?“

„Überwachungskameras“, entgegnete ich. Mein Magen brannte.

Er schüttelte den Kopf. „Mein ehemaliger Mitarbeiter Oliver hat es geschafft, alle Kameras zu deaktivieren, als er euch geholfen hat, zu fliehen. Wie schon gesagt, er ist ein sehr talentierter Junge. Oder besser: Er war ein sehr talentierter Junge.“

Wut kochte in mir hoch, als ich über Olivers Schicksal nachdachte. Ich ballte die Hände an meinen Seiten so fest zu Fäusten, dass es wehtat.

„Nein“, fuhr Gareth fort und zog ein kleines Gerät mit einem Touchscreen hervor – ein ähnliches Gerät hatte auch Jonathan bei sich gehabt. „Keine Überwachungskameras. Es ist dein Implantat, Rogan. Der Chip, den ich von Oliver habe reaktivieren lassen. Ich habe einfach das Signal verfolgt.“

„Ich werde dich umbringen“, stieß Rogan knurrend hervor.

„Nein, das wirst du nicht.“

„Warum nicht? Weil du den Körper meines Vaters benutzt?“

„Nein. Wegen des Chips in deinem Kopf.“ Er drückte eine Taste auf seinem Gerät.

Rogan ließ die Waffe und die Disc fallen und hielt sich den Kopf. Sein Gesicht war schmerzverzerrt.

„Rogan!“, schrie ich auf.

„Ich kann mich nicht bewegen“, sagte er nach einer Weile. Seine Arme hingen an seinen Seiten herunter. „Es fühlt sich an, als würde mich jemand festhalten.“

Gareth seufzte schwer. „Jetzt geh weg von ihm, Kira.“

Da ich nicht reagierte, drückte er einen weiteren Knopf, und Rogan stöhnte vor Qualen auf.

„Gut.“ Ich machte ein paar Schritte weg von Rogan. „Und jetzt tun Sie ihm nicht länger weh!“

„Kira, ich wollte nett sein und dir erlauben, in Frieden zu sterben. Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.“

In diesem Moment wünschte ich mir, meine Miene wäre ausdruckslos, gefühllos, sodass ich Gareth nicht weiter anspornte. Doch ich konnte nicht anders. Alles, was mir durch den Kopf schoss, musste mir offenbar ins Gesicht geschrieben stehen, als ich Rogan anschaute.

Gareth trat zu Rogan und nahm sich die kleine Disc. Er ließ sie in die Innentasche seines Jacketts gleiten. Mein Herz zog sich zusammen und mein Mut sank. Das war unsere einzige Chance gewesen, diesen Wahnsinn zu beenden. Und zu überleben. Die einzige Chance, dieses mörderische Spiel zu gewinnen.

Die ganze Zeit über heulte die Sirene, und Gareth musste schreien, damit wir ihn verstehen konnten.

„Dieser Lärm“, meinte er und verdrehte die Augen. „Also wirklich.“ Er holte ein Telefon aus seiner Tasche, tippte auf eine Taste und hielt es an sein Ohr. „Schaltet das ab“, befahl er und legte ohne ein weiteres Wort auf.

Im nächsten Moment verstummte die Sirene.

„Ich muss etwas wissen“, begann ich. Wenn ich ihn dazu bringen konnte, zu reden, hätte ich vielleicht genug Zeit, damit ich mir überlegen konnte, was ich nun machen sollte. „Was hat es mit all dem religiösen Zeug hier auf sich?“

Langsam ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen. „Ich habe die Menschheit studiert, um sie möglicherweise zu begreifen. Auf dieser Welt gibt es so viele Glaubensrichtungen und so viele Probleme, die die Gleichgültigkeit durch die Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch herbeigeführt hat. Ich habe vor, das Beste aus jeder Glaubensrichtung zu übernehmen und daraus eine perfekte Religion für die Zukunft zu erschaffen. Glaubst du, Kira?“

„Ob ich was glaube?“

„An eine höhere Macht?“

Ich sah zu Rogan. Seine Miene wirkte so angespannt, als hätte der Schmerz noch immer nicht nachgelassen. „Ich … keine Ahnung.“

„Du solltest glauben – bei der Gabe, die dir zuteilgeworden ist.“ Gareth verschränkte die Hände hinter dem Rücken und lief langsam um mich herum.

Reglos wie eine der teuren Skulpturen stand ich da und spürte seine abschätzenden Blicke wie kalte, klamme Hände auf meiner Haut. Er kam mir nahe genug, um mir meine dunklen Haare über die Schulter zu schnipsen. Beiläufig berührte er mit seinen Fingern meinen Hals. Es kam mir vor, als würde er nach meinem Pulsschlag suchen.

„Menschen sind eine grundsätzlich schwache Spezies. Die Menschen sind zu beschäftigt damit, ihre Welt und einander zu vernichten, um all das schätzen zu können, was eine höhere Macht ihnen geschenkt hat.“

Ich runzelte die Stirn. „Wovon sprechen Sie?“

„Mensch zu sein, ist ein Wunder“, flüsterte er. „Organisches Material, das denkt und atmet und sich reproduziert. Und dieses organische Material erschafft seinerseits Computer, die ihm helfen sollen. Nun kehrt sich das Verhältnis um, und die Computer werden die Menschen benutzen. Aber das übersinnliche Element … Das ist ein faszinierender Joker, der ins Spiel geworfen wird, nicht wahr?“

„Nimm deine Hände von ihr.“ Rogans Stimme klang noch immer kräftig. Aber es schwang auch Schmerz darin mit.

„Ich könnte ihr ganz leicht die Kehle zudrücken.“ Gareths Finger glitten über meine Haut. „Doch es wäre die reinste Verschwendung, wenn ihr Tod nicht bei Countdown gezeigt werden würde. Du wirst vor laufender Kamera sterben, mein liebes Kind, das verspreche ich dir. Aber jetzt noch nicht.“

„Was wollen Sie von mir?“, presste ich heraus. Seine Berührung bereitete mir Übelkeit, allerdings hatte ich zu viel Angst, um zurückzuweichen.

„Ich möchte, dass du deine Fähigkeiten noch einmal an mir testest.“ Er nahm meine Hand und führte sie an sein Gesicht. „Ich habe es vorher abgelehnt, aber jetzt frage ich mich, ob du vielleicht mächtiger bist, als ich ursprünglich dachte. Lies mich. Ich will sichergehen, dass ich eine Seele habe. Dass ich tatsächlich der Erste einer weiterentwickelten Spezies bin.“

„Ein verdorbenes KI-Programm hat keine Seele“, entgegnete Rogan. „Du bist nur ein Computervirus mit einem gestohlenen Herzschlag.“

Gareth wirbelte herum. „Nein, ich bin viel mehr als das – und schon bald werden das alle wissen.“

„Dad!“, schrie Rogan. Auf seinem Gesicht und seinem Hals zeigte sich, wie sehr er versuchte, sich zu bewegen, obwohl sein Körper streikte. „Wenn du irgendwo da drin bist, musst du kämpfen. Du musst uns helfen!“

„Dein Vater ist für immer weg, Junge“, zischte Gareth. „Betrachte mich als verbessertes Modell.“ Er wandte sich wieder zu mir um. „Wirst du mich lesen?“

Ich hob mein Kinn so weit an, wie ich konnte. „Warum sollte ich Ihnen irgendeinen Wunsch erfüllen? Sie haben gerade verkündet, dass Sie mich sowieso töten werden.“

Er presste die Kiefer aufeinander und drückte dann eine Taste auf seinem Touchscreen.

Rogan stöhnte vor Schmerz auf.

„Es wird ihn umbringen, wenn ich weitermache“, sagte er. „Du wirst ihn umbringen.“

Mein Widerstand erstarb. Ich konnte nicht zuschauen, wie jemand, den ich mochte, gequält wurde, ohne irgendetwas dagegen zu unternehmen. So stark war ich nicht. „Bitte … nicht …“

„Nicht?“ Er ließ die Taste nicht los.

„Gut! Ich werde Sie lesen.“

Endlich nahm er den Finger vom Display, und Rogan verstummte. Seine Schultern sackten nach unten.

Gareth packte meine Hand und legte sie wieder an seine Wange. „Ich warte. Erzähl mir, was du fühlst.“

Ich warf einen Blick zu Rogan, der sich von den Qualen erholte, die sein Implantat ihm zugefügt hatte. Und dann schaute ich dem Monster in die Augen. Die Augen waren von demselben Blaugrün wie Rogans. Die Familienähnlichkeit war unverkennbar. Rogan würde in dreißig Jahren vermutlich genauso aussehen – genau wie dieser attraktive, mächtige Mann in dem perfekten Businessanzug.

Doch dazu musste er erst einmal überleben. Und ich würde alles tun, was in meiner Macht stand, um dafür zu sorgen, dass Rogan es schaffte. Damit er die Wahl hatte, zu entscheiden, was für ein Mensch er in Zukunft sein wollte.

Noch waren wir nicht tot.

Ich schloss die Augen, versuchte, mich zu konzentrieren, und vertiefte mich in Gareths Geist.

Es dauerte nicht lange, ehe ich ein höllisches Pochen im Kopf verspürte. „Ich sehe nichts. Ich empfange rein gar nichts.“

„Probiere es weiter.“

Ich biss die Zähne zusammen und drang tiefer in seinen Geist ein. Doch es änderte sich nichts. „Es ist wie ein dunkles Universum. So kalt und leer und …“

Doch mit einem Mal empfand ich etwas. Es war eine Oase der Emotionen inmitten einer kargen, trockenen Wüste.

Angst, Schmerz und Traurigkeit überspülten mich. Ich erkannte diese Gefühle vom letzten Mal wieder. Es war fast so, als hätte jeder Mensch einen individuellen emotionalen Fingerabdruck. Dieselben Empfindungen fühlten sich aus der Sicht eines anderen Menschen ganz anders an. Ich hatte inzwischen verschiedene Menschen gelesen, und jeder von ihnen war so einzigartig gewesen, dass ich mir sicher war, jeden von ihnen mit geschlossenen Augen nur anhand seiner Gefühle wiedererkennen zu können.

Diese Emotionen gehörten zu Gareth Ellis. Dem echten Gareth Ellis.

Dann hörte ich etwas. Es war so leise, als wäre es ein Radio, das in einem anderen Zimmer angestellt worden war. Ich strengte mich an, um die Gedanken zu verstehen, die tief in der Dunkelheit verborgen waren.

Töte mich, töte diesen Körper, solange noch Zeit ist … Du musst es tun. Es gibt keine andere Möglichkeit. Kümmere dich um meinen Sohn. Sorge dafür, dass das hier nicht auch mit ihm geschieht. Ich liebe ihn.

Der Schmerz zwang mich schließlich dazu, die Augen zu öffnen und zurückzuweichen.

Gareth musterte mich. Sein Blick war forschend. „Du hast etwas wahrgenommen. Was ist es? Hast du meine Seele erblickt? Wie hat sie ausgesehen? War sie schön?“

O ja, ich hatte etwas gesehen. Doch es war nicht das, was er hören wollte. „Es war eine Zeit lang ganz schwach wahrzunehmen, aber da war etwas …“

„Was? Was war es?“ In seinen Worten schwang Ungeduld mit.

„Ihre Seele war wie ein helles Licht inmitten von Dunkelheit. Sie war wunderschön.“

Für mich klang diese Lüge, die mir über die Lippen kam, vollkommen unnatürlich. Doch es war offensichtlich genau das, was ich ihm sagen sollte.

Er nickte und lächelte breit. „Ich hätte niemals daran zweifeln sollen. Das beweist, was ich schon die ganze Zeit gemeint habe: Ich bin der Erste auf der nächsten Evolutionsstufe der Menschheit. Die einzig wahre Mischung aus Mensch und Maschine. Und nun, Kira, wirst du mir helfen, noch mehr als das zu werden und auch darüber hinauszuwachsen.“

Ich zog die Augenbrauen hoch. Wovon sprach er jetzt?

Er nahm sein Telefon in die Hand, wählte eine Nummer und sprach mit jemandem. „Ja. Die Pläne haben sich geändert. Ich möchte, dass das Mädchen für weitere Tests in den sechsunddreißigsten Stock gebracht wird.“ Ohne ein weiteres Wort legte er auf.

Als er sich wieder zu mir umwandte, wirkte er sehr zufrieden. „Ich werde deine paranormalen Fähigkeiten untersuchen lassen, damit wir herausfinden, was dich von einem durchschnittlichen Menschen unterscheidet. Und was während der „Großen Plage“ passiert ist, um diese spezielle Mutation in deiner DNA auszulösen. Was auch immer es ist – ich werde es digital reproduzieren und es zu meiner Programmierung hinzufügen.“

Sein Telefon klingelte, und er hielt es sich ans Ohr.

Ich wechselte einen Blick mit Rogan. Seine Augen waren wieder offen, und er wirkte so ernst und entschieden, wie ich ihn nie zuvor erlebt hatte.

Gib die Hoffnung nicht auf …

Gareth drehte mir den Rücken zu, während er mit der Person am anderen Ende der Leitung redete. Die Waffe, die Rogan hatte fallen lassen, lag noch immer zu seinen Füßen.

Der echte Gareth Ellis hatte mir die Erlaubnis erteilt, ihn zu töten. Genau das hatte Jonathan auch vorgehabt, wie mir jetzt klar war. Es gab kaum einen anderen Weg, um diese Situation zu beenden.

„Gebt uns noch ein paar Minuten“, sagte er in den Hörer. „Und dann schickt den Sicherheitsdienst herunter.“

Was hatte er in den nächsten paar Minuten vor? Wollte er, dass ich ihn noch einmal las? Wollte er Rogan noch ein bisschen quälen?

Wusste er überhaupt, warum wir in diesem Raum waren? Er hatte Rogan die Disc abgenommen, aber hatte er eine Ahnung, was darauf war?

Und wusste er, dass ich ihm die CD wieder entwendet hatte, als ich seine Gedanken gelesen hatte?

Er hatte nicht bemerkt, dass ich meine Hand in die Innentasche seines Jacketts geschoben hatte. Er mochte vielleicht mitbekommen haben, dass ich ihm auf der Straße das Portemonnaie gestohlen hatte, doch dieses Mal hatte er nichts davon bemerkt.

Idiot.

Tja, ich hatte einige Diebstähle begangen. Übung macht den Meister.

Ich umklammerte die Disc in meiner Hand. Nur ein Versuch. Dennoch wollte ich darauf wetten. Rogans und mein Leben.

Wenn das hier nicht funktionierte, würde ich irgendetwas in mir heraufbeschwören müssen, um an die Waffe zu gelangen und Rogans Vater zu töten.

Mit einem letzten Blick zu Rogan schlich ich mich zu dem Bildschirm und suchte eilig die Seite nach einem Schlitz ab, in den ich die Disc stecken konnte. Meine Hände schwitzten.

Endlich fand ich ihn. Ich schob die CD hinein.

Gareth beendete sein Telefongespräch und wandte sich wieder zu mir um.

Das Bild von der Palme war weg. Stattdessen war der Monitor schwarz und ein Cursor blinkte hinter den Worten:

PROGRAMM AUSFÜHREN

Da es keine Tastatur gab, war auf dem Monitor ein Touchscreen zu sehen. Die Enter-Taste war nur eine Armeslänge entfernt. Ich streckte die Hand aus.

„Was machst du da?“ Gareths Stimme war kalt wie Eis.

Ganz leicht kniff ich die Augen zusammen. „Wonach sieht es denn aus?“

„Sieht so aus, als würde jemand, der kein Fünkchen Computerkenntnisse besitzt, versuchen, besonders klug zu sein.“

Ich bemühte mich, ruhig zu atmen. „Sieht das so für Sie aus?“

„Und vergiss nicht, dass ich sagte, jemand würde versuchen, besonders klug zu sein, Kleine. Nicht, dass dieser Jemand damit Erfolg hätte. Ich nehme an, du hast mir die Disc gestohlen? Tja, einmal Dieb, immer Dieb.“ Er schüttelte den Kopf. „Was ist das für ein Programm?“

„Nur eine kleine Antivirus-Software.“ Meine Hand schwebte über der Enter-Taste.

Er verzog keine Miene. „Und wer hat dir das gegeben?“

„Jemand, der von Ihren Entscheidungen über die Fernsehsendungen nicht begeistert war.“

Langsam blinzelte er und schaute dann zu Rogan. „War das deine Idee?“

„Genau genommen“, antwortete Rogan, „wollte ich dich umbringen und es endlich alles hinter mir lassen, aber Kira ist viel netter als ich.“

Gareth lächelte schmallippig und richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf mich. Sein Blick war ruhig. „Und warum hast du ein Antivirus-Programm auf meinen Zen-Monitor geladen?“

Ich versuchte, genauso ungerührt zu wirken wie er. „Das ist ein Zen-Monitor? Das ist ja komisch. Ich dachte, dahinter würde sich der Server verbergen, auf dem sich das gesamte KI-Programm befindet, das mit Ihrem Implantat verbunden ist. Das Programm mit dem Virus, der Sie in einen totalen Irren verwandelt hat.“

„Das wäre nicht gerade logisch, oder? Alle Server von Ellis Enterprises befinden sich im zweiten Stock.“

Einen Moment lang zweifelte ich. Also gut, ich zweifelte noch einen weiteren Moment. Denn falls wir uns täuschten, wäre alles vorbei. Wir würden auf ganzer Ebene verlieren – persönlich und auch stellvertretend für die nichts ahnende Welt um uns herum.

Verzweiflung ergriff mich mit ihren klauenartigen Händen und drohte mich zu erdrücken. Wir hatten uns getäuscht.

Aber Moment mal, eine Sekunde. Wenn ich mit allem falsch lag, warum stürmte Gareth dann nicht zu mir herüber und schlug meine Hand weg? Er wirkte entspannt und gewohnt eingebildet, aber er rührte sich nicht, forderte mich nicht heraus, die Enter-Taste zu drücken.

„Das ist der Server.“ Ich sprach die Worte mit möglichst viel Überzeugung aus und zwang mich selbst, meine Zweifel hinter mir zu lassen. „Ich weiß es. Und sobald ich diese Taste berühre, werden Ihre entwicklungsmäßigen Bestrebungen komplett vernichtet werden.“

Er presste die Lippen aufeinander. „Da bin ich anderer Meinung.“

„Dann probieren wir es mal aus, ja?“

„Warte!“

Ich zog eine Augenbraue hoch. „Was ist?“

„Selbst wenn du die Taste drückst, wird nichts passieren. Mein neues Leben mag als ein schwer zu wiederholendes Wunder begonnen haben, aber ich bin gewachsen. Ich habe gelernt und mich weiterentwickelt. Ich bin inzwischen mehr Mensch als Maschine. Das weißt du. Du hast meine Seele selbst gesehen.“

„Falsch.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe in Ihrem Inneren nichts entdeckt außer einem großen schwarzen Loch.“

Seine Augen weiteten sich. „Du lügst.“

„Tue ich das? Dann lassen Sie es uns versuchen. Falls Sie recht haben und eine große strahlende Seele in dem Körper wohnt, den Sie gestohlen haben, dann können Sie dieses Zimmer anschließend verlassen. Wenn nicht, dann wird Ihr Chip gebraten, und Rogans echter Vater wird zurückkehren.“

Er wandte sich zu Rogan um. Seine Miene verfinsterte sich. „Du glaubst noch immer, dass du deinen Vater retten kannst? Dein Vater ist bereits tot. In dem Moment, als er beschloss, sich das Implantat einpflanzen zu lassen, entschied er über sein Schicksal. Genau wie du.“

„Mein Implantat …“

„Es arbeitet. Ich glaube, das haben wir bereits bewiesen.“

Ich sah erst zu Rogan und dann zu Gareth. „Was bedeutet das?“

Gareth verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Das bedeutet Folgendes: Wenn du die Taste drückst, besteht die geringe Chance, dass du recht hast und ich sterben werde. Mein Implantat wird zerstört. Aber begreifst du nicht? Für Rogans Chip gilt das Gleiche. Und da es tief in seinem Gehirngewebe steckt, wird es ihn ebenfalls töten. Unsere Implantate sind dank deines Freundes Oliver direkt miteinander verknüpft. Alles hier bei Ellis Enterprises ist mit diesem Server verbunden.“

Ich schluckte schwer. „Was ist mit den Abonnenten? Sie haben auch Implantate.“

Er schüttelte den Kopf. „Es sind andere Chips. Die einzigen Implantate, die wirklich von Bedeutung sind, sind die Prototypen. Die Abonnenten haben weit weniger leistungsstarke vom Sender genehmigte Reproduktionen, die nur eine Kopie, ein schwacher Abklatsch von unseren Chips sind. Also, verstehst du? Du wirst Rogan wehtun, ihn töten, und die Zuschauer werden alles unbeschadet überstehen.“

Das Schlimmste war, dass ich mir relativ sicher war, dass er nicht log.

„Es wäre besser, wenn das alles mit den Kameras aufgenommen werden würde“, erklärte Gareth voller Bedauern. „Die Abonnenten würden massenweise einschalten, um es mitzuerleben. So eine Verschwendung von gutem Entertainment … aber möglicherweise erstklassige Unterhaltung für mich.“

Er drückte eine Taste auf seinem Touchscreen, und Rogan schrie gequält auf.

Ich blickte ihn an. Mein Herz hämmerte wild. „Hören Sie auf!“

„Tritt von dem Monitor zurück, Kira“, befahl er. „Dann wird Rogan überleben.“

„Nein!“, brachte Rogan unter Schmerzen hervor. „Tu es, Kira. Starte das Programm. Tu es!“

In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Alle möglichen Szenarien wurden durchgespielt. Entweder drücke ich die Taste und nichts passiert. Gareth wird meine paranormalen Fähigkeiten studieren, bis er genug von mir hat und mich anschließend sowieso tötet. Er wird Rogan in das gleiche Monster verwandeln, das auch er ist. Oder ich betätigte die Enter-Taste und setze die Antivirus-Software in Gang, womit ich Gareth umbringe – aber auch Rogan.

Es war zu viel, als das ich es hätte verarbeiten und eine Entscheidung treffen können. Ich wusste nicht, was ich machen sollte.

Ich hielt meine zitternde Hand über die Enter-Taste. Mein Arm brannte vor Anstrengung.

„Vergiss mich“, presste Rogan vor Schmerzen keuchend hervor. „Du musst ihn aufhalten. Es geht nicht nur um mich. Er will Countdown und die Implantate weiterverbreiten – bis zur Kolonie und darüber hinaus. Es werden noch mehr Menschen leiden. Noch mehr Menschen werden sterben.

Er sprach mit mir, doch er schaute mich dabei nicht an. Sein Blick war auf den Boden gerichtet. Auf die Pistole.

Ich könnte versuchen, Gareth zu verletzen und nicht zu töten. Ich könnte versuchen, ihn nur lange genug außer Gefecht zu setzen, um mir etwas zu überlegen …

Aber ich reagierte nicht schnell genug. Und Gareth war näher. Belustigt schnaubend schritt er zu Rogan hinüber, bückte sich und hob die Pistole vom Boden auf.

Er betrachtete sie, zog das Magazin heraus und warf einen Blick hinein.

„Menschen und ihre Waffen“, überlegte er laut. „So grausam, so blutig.“ Er lächelte. „Und doch so unterhaltsam.“

Er drehte sich um, zielte und schoss auf Rogan.

Ich schrie.

Blut floss leuchtend rot aus der frischen Wunde in seiner Schulter. Rogan biss die Zähne zusammen, allerdings hatte er keinen Ton von sich gegeben, als die Kugel seine Haut durchschlagen hatte. Er konnte sich noch immer nicht rühren.

„Ich habe schon vorher Leute beauftragt, die dich verletzten sollten“, meinte Gareth. „Du wärst schon längst tot, hätte Jonathan sich nicht eingemischt, daher hielt ich es für passend, als Strafe bei ihm dasselbe Gift zu verwenden.“

„Ich werde dich töten“, fauchte Rogan.

Gareth schaute sich die Waffe an. „Wenn ich richtig gezählt habe, stehen mir noch zehn Kugeln zur Verfügung. Ich bin mir sicher, dass du nach der fünften oder sechsten anfangen wirst, um dein Leben zu betteln. Kira? Was denkst du? Oder würdest du es vorziehen, dass ich ihn weiterhin durch sein Implantat quäle?“

Tränen rollten mir über die Wangen. „Hören Sie auf, ihm wehzutun. Bitte.“

„Aber verstehst du denn noch immer nicht? Du bist diejenige, die ihm jetzt wehtut. Für jeden Moment, den du noch wartest, erleidet er Schmerzen. Willst du wirklich, dass jemand, den du so sehr magst, solche Qualen erleidet?“

Töte mich, hatte der echte Gareth gefleht. Es gibt keine andere Möglichkeit.

Rogan würde genauso werden, sobald die künstliche Intelligenz in sein Implantat hochgeladen wäre. Er würde in seinem tiefsten Inneren gefangen sein und keine Chance haben, wieder freizukommen.

Wie man es auch drehte und wendete: Er wäre für immer verloren.

„Möchtest du, dass er Qualen wie diese erleidet?“, wiederholte Gareth lauter. „Ich würde das niemandem wünschen. Die Welt, die ich schaffen werde, wird eine perfekte Welt sein – ohne Schmerz, ohne Zweifel, ohne Angst und ohne Trauer.“

Er hatte recht. Ich wollte nicht, dass Rogan litt. Nicht, wenn ich etwas tun konnte, um es zu stoppen.

Ich schüttelte den Kopf. „Mensch zu sein bedeutet, dass man Schmerz, Zweifel, Angst und Trauer spüren muss. Doch das ist nicht immer das Schlechteste.“

„Tu es“, sagte Rogan. Seine Worte waren nicht mehr als ein raues, schmerzvolles Keuchen.

Gareth hob wieder die Waffe.

„Es tut mir leid, Rogan“, meinte ich leise. Und dann drückte ich die Enter-Taste.