5. KAPITEL
Langsam öffnete ich meine Augen und blinzelte, bis ich wieder etwas erkennen konnte. Zusammen mit meiner Sehfähigkeit kehrte auch mit aller Macht meine Wut zurück.
Ich hasste die Vorstellung, dass jemand dort draußen war und mir mit dem Finger auf einem kleinen Knöpfchen solche Schmerzen bereiten konnte. Die Vorstellung, denjenigen zu finden, der für das kleine Knöpfchen verantwortlich war, und seine Weichteile Bekanntschaft mit meinem Knie machen zu lassen, gefiel mir dagegen sehr.
Mir tat der Schädel weh. Doch zumindest schien ich noch immer unversehrt und in einem Stück zu sein.
Ich schaute mich um und stellte fest, dass ich an einem etwas belebteren Ort war. Nicht noch ein leerer, steriler Raum. Ich konnte Stimmen hören. Das schwache Rascheln von Kleidung war zu vernehmen, während Menschen vorbeigingen. Die Leute schienen zwar in der Nähe, allerdings außerhalb meines Blickfelds zu sein.
An meiner Schulter lehnte etwas Schweres, und allmählich registrierte ich, dass es Rogan war – genauer gesagt seine Birne. Rogan war noch immer bewusstlos und benutzte mich momentan als Kissen. Wir saßen beide ausgestreckt mit dem Rücken zu einer Wand. Fast wie ein obdachloses Pärchen. Ziemlich genau sogar. Doch das hier war nicht die Straße. Unter meinen Händen spürte ich glatten, kühlen Linoleumfußboden. Wir waren in einem Gebäude. Irgendwo.
Ich kenne diesen Platz.
Und dann dämmerte es mir.
Wir waren im Einkaufszentrum, das ein paar Blocks nördlich der Siedlung lag. Einer meiner Lieblingsplätze. Derselbe Ort, an dem ich gewesen war, als dieser Albtraum begonnen hatte – kurz, nachdem ich meine neuen Schuhe gestohlen hatte. Ich schaute runter zu meinen Füßen und bemerkte, dass die leuchtend roten Sneakers noch immer da waren.
Ich stieß Rogan an. „Hey, Rogan.“
Er wachte nicht auf.
Ich hob die Hand und betastete meinen Hinterkopf. Nach einer kurzen Weile spürte ich den Schnitt. Dann suchte ich an Rogans Kopf nach demselben Mal. Sein dunkles Haar glitt durch meine Finger.
Seltsam. Ich fühlte nicht nur einen, sondern zwei Schnitte bei ihm. Warum waren dort zwei Narben?
Er wirkte so unschuldig, wenn er schlief – und schon beinahe hübsch. Seine Augenlider flatterten, und ich fragte mich, wovon er träumte. Ich betrachtete die Narbe in seinem Gesicht und fuhr mit der Fingerspitze sacht darüber.
„Bist du wirklich der böse Mistkerl, für den dich alle halten?“
Ich sah mich im Gang um. Niemand war in der Nähe, und soweit ich es erkennen konnte, war auch gerade keine fliegende Digicam da. Ich war nicht sicher, wie lange dieser flüchtige Moment der Ungestörtheit dauern würde.
Ich glitt mit meiner Hand seinen Hals entlang. Rogans Puls ging regelmäßig, und die Haut fühlte sich unter meinen Fingern warm an. Langsam strich ich bis hinunter zu seinem Schlüsselbein und schob meine Hand unter sein zerrissenes T-Shirt, um sie auf seine Brust zu legen. Haut auf Haut. Und dann öffnete ich mich meiner … Fähigkeit.
Ich glaubte nicht, dass ich übersinnlich begabt war oder so. Andererseits bildete ich mir das alles auch nicht nur ein. Der Schmerz zeigte mir, dass es echt war. Als ich Rogan zuvor auf der Straße berührt hatte, hatte ich nichts gespürt außer einem Durcheinander von … irgendetwas.
Irgendetwas.
Ich musste wissen, ob ich es wieder tun konnte. Ob ich daraus schlau werden würde, ob ich dieses Mal mehr erfahren konnte. Ob ich herausfinden konnte, wie böse Rogan Ellis tatsächlich war und wie sehr ich ihn hassen sollte.
Alles, was ich mit Gewissheit sagen konnte, war, dass böse Menschen ein schlechtes Gefühl ausstrahlten. Dieses schlechte Gefühl war so stark, dass ich es nicht ignorieren konnte, wenn ich das hier machte. Es war fast wie kalte Dunkelheit, die sich über mich legte und die Wärme aus mir heraussaugte.
Ich habe keine Ahnung, was diese seltsame Gabe genau war. Was sie bedeutete. Dennoch musste ich es schaffen, sie zu nutzen.
Ich schloss die Augen und versuchte, mich zu konzentrieren.
Unvermittelt hielt Rogan meine Hand umklammert und zog sie von seiner Brust. „Hey … Ich bin ein paar Minuten ohnmächtig, und du kannst plötzlich deine Finger nicht von mir lassen?“
Finster starrte ich ihn an. „Wohl kaum.“
Belustigung blitzte in seinen meergrünen Augen auf. „Was hast du denn dann getan?“
„Ich wollte nur sichergehen, dass du nicht tot bist. Falls es dich interessiert: Du bist noch nicht tot.“
Er stieß ein freudloses Lachen aus und schaute sich erschöpft um. „Wo sind wir?“
„Wir sind im Einkaufszentrum.“
„Die Mall“, brummte er stirnrunzelnd. „Warum sind wir hier?“
Ich hob die Hand, weil ich seine Narbe berühren wollte. „Wir müssen diese Chips loswerden.“
Rogan packte mein Handgelenk. „Mach das nicht.“
„Wieso nicht?“
„Du darfst dich nicht daran zu herumspielen, sonst bringt es uns um.“
„Wer hat dir das erzählt?“
„Niemand. Aber das ist doch nur logisch, oder?“ Er stand auf und wollte mir die Hand reichen, um mich ebenfalls auf die Beine zu ziehen. Ich ignorierte sie und kam allein hoch.
„Du hast zwei Einschnitte am Kopf. Bedeutet das, dass du zwei Implantate hast?“
Er hob eine Augenbraue. „Habe ich zwei Narben?“
Ich nickte und war überrascht über seine ruhige Reaktion auf eine solche, wie ich fand, merkwürdige Erkenntnis.
Er tastete seinen Hinterkopf ab. „Eventuell ist Ihnen ein Fehler unterlaufen, während sie in meinem Gehirn herumgedoktert haben. Möglicherweise haben sie es versehentlich an die falsche Stelle gepflanzt.“
„Ja, vielleicht.“ Mein Blick wanderte zu seiner Verletzung. „Was Jonathan dir in dem Raum verabreicht hat … das Gegenmittel … Wie geht es dir?“
Behutsam fasste er an seine Schulter. „Es hat angeschlagen. Ich fühle mich jetzt schon stärker. Es tut nicht einmal mehr weh.“
Das begriff ich nicht. „Warum hat er das getan? Es scheint doch ziemlich riskant für ihn zu sein, jemandem zu helfen, den er nicht einmal kennt. Einem weiteren Kandidaten in dem Spiel.“
„Keine Ahnung.“ Er lächelte grimmig. „Muss an meinem Charme liegen. Ich hatte schon immer die Fähigkeit, andere Menschen um den Finger zu wickeln. Ich kann jeden dazu bringen, zu machen, was ich will.“
„Ja, klar“, erwiderte ich. „Funktioniert bei mir bisher echt super.“ Ich schaute mich wieder um. Von unserem Platz aus konnte ich das Haupteinkaufszentrum sehen, doch sie hatten uns in einen Gang gelegt, der für Wartungsarbeiten mit einem Seil abgesperrt war. Ich blickte Rogan an. Er krümmte sich nicht mehr vor Schmerzen, und so bemerkte ich erst, wie groß er tatsächlich war – schätzungsweise maß er beinahe an die eins neunzig. Und trotz all des Schmutzes war er … Nun ja, ich musste mir erneut eingestehen, dass er nicht gerade hässlich war. Wieder fragte ich mich, wie er aussehen mochte, wenn er sauber war.
Wahrscheinlich wie ein adretter Massenmörder.
Ich belog mich selbst, wenn ich dachte, dass mehr hinter seiner Geschichte steckte. Es spielte keine Rolle, ob er der umwerfendste Junge im gesamten Universum war. Was er getan hatte, machte ihn zu einem Monster.
Er schien unter meinem abschätzenden Blick zusammenzuzucken. „Dir scheint nicht zu gefallen, was du siehst.“
Das stimmte leider nicht so ganz. Doch es war besser für uns beide, wenn er das glaubte. „Sollte ich dich denn mögen, Rogan?“
Kurz lachte er auf. Es klang gequält. „Absolut nicht.“
„Dann sind wir einer Meinung.“ Ich drehte ihm den Rücken zu und versuchte, mich zu konzentrieren. Das Einkaufszentrum. Ich hing hier dauernd herum – genau wie ein Freund von mir. „Komm schon. Ich kenne jemanden, der uns vielleicht helfen kann. Wir müssen ihn finden, ehe die Kamera uns einholt.“
Ich stapfte los. Doch ich kam nicht weit, denn Rogan fasste mich an der Schulter und hielt mich fest. „Wovon sprichst du?“
„Es gibt da einen Typen. Er ist ein Computergenie. Zumindest erzählt er mir das dauernd. Möglicherweise weiß er einen Weg, wie man diese Implantate loswird – er könnte sie deaktivieren, entfernen oder was auch immer. Und dann können wir das alles hier ein für alle Mal beenden.“
„Denkst du wirklich, dass es so leicht ist?“
„Ich glaube, dass es so leicht sein könnte, ja.“ Ich wollte mich aus seiner Umklammerung befreien.
Er verstärkte allerdings den Griff an meiner Schulter. „Wenn du diese Chips anrührst, ohne die richtigen Werkzeuge zu haben, werden sie explodieren. Sie verwandeln dein Gehirn in Glibber, der dir aus den Ohren tropft, während du dabei bist, zu sterben. Möchtest du das?“
Bei dem Gedanken verzog ich das Gesicht. „Du klingst, als wärst du dir ziemlich sicher. Nachdem ich aufgewacht bin, habe ich kein Handbuch für die Besitzer von Hirnimplantaten erhalten, in denen die Ge-und Verbote stehen. Hast du im Knast einen Schnellkurs bekommen?“
Beim sarkastischen Unterton in meiner Stimme funkelte er mich an. „Die Leute reden.“
Ich wandte ihm wieder den Rücken zu. „Das heißt nicht, dass ich ihnen zuhören muss.“
Ohne abzuwarten, ob er mir nun folgen würde oder nicht, trat ich aus dem abgesperrten Gang in die Mall. Endlich war ich an einem Ort, der mir vertraut war. Es fühlte sich gut an. Fast so, als wäre ich nach Hause zurückgekehrt. In dieser vollkommen verrückten Situation vermittelte es mir ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle.
Vor der „Großen Plage“ war das Einkaufszentrum eines der größten an der Ostküste gewesen. Über tausend Geschäfte hatte es in dem Komplex gegeben, der sich über viele Blocks erstreckte. Inzwischen hatten nur noch ungefähr dreißig Geschäfte geöffnet. Es gab drei Läden, in denen man im Food-Court etwas zu essen kaufen konnte. Einige der älteren Leute meinten, dass die Mall etwas Unheimliches hatte, fast wie eine Geisterstadt – genau wie der Rest der Metropole. Für mich war das alles nicht so fremdartig, denn ich kannte es nicht anders. Es war ein guter Platz, um drinnen abzuhängen, und das war alles, was für mich von Bedeutung war.
Ich warf einen Blick über die Schulter. Rogan trottete mir hinterher. Sowie ich ihn anschaute, wurde mir klar, dass wir uns besser beeilten. Uns blieb nicht viel Zeit, bis wir rausgeschmissen werden würden. Die Sicherheitsbestimmungen waren längst nicht mehr so streng wie früher, allerdings waren zerrissene, verdreckte und blutige Klamotten nicht gerade normal und wurden nicht gern gesehen. Glücklicherweise wusste ich, wo es langging.
Zum Food-Court. Mein Freund Oliver hing dort oft ab. Wenn er nicht dort war, dann war er an seinem anderen Lieblingsort anzutreffen – einem Keller in der Stadt, wohin er manchmal tagelang verschwand, um mit anderen Computerfreaks Network-Games, also Computerspiele über ein Netzwerk, zu spielen. Den Begriff „Computerfreaks“ meinte ich nett.
Tatsächlich stieß ich einen winzigen erleichterten Aufschrei aus, sobald ich ihn an seinem Stammplatz entdeckte. Er tippte etwas in seinen Laptop. Vor ihm stand ein extragroßes Glas mit Wasser. Im gesamten Speisebereich waren noch etwa zehn andere Leute, die verstreut an verschiedenen Tischen saßen. Mitten im Food-Court an der Decke befand sich eine große Uhr. Das Uhrenglas war vor Monaten zerbrochen, aber bisher noch nicht repariert worden. Die Uhr funktionierte allerdings immer noch. Es war kurz nach fünf.
Ich schritt auf Oliver zu und baute mich vor ihm auf. Er blickte nicht sofort von seinem Monitor auf.
„Oliver“, sprach ich ihn an.
Endlich sah er mich an, und seine Augen weiteten sich. „Kira. Hey. Ich habe schon überall nach dir gesucht. Du warst gestern plötzlich wie vom Erdboden verschwunden.“
Gestern? Wie lange war ich bewusstlos gewesen, ehe ich in dem Raum aufgewacht war? Wie lange war ich bewusstlos gewesen, ehe dieses Level begonnen hatte?
Unsicher stieß ich die Luft aus. „Ich brauche deine Hilfe. Dringend.“
Er zog die Augenbrauen hoch. „Scheint so, als würdest du es ernst meinen.“
„Du hast ja keine Ahnung.“
„Steckst du irgendwie in Schwierigkeiten?“
Rogans Hand schloss sich um meinen Arm. „Kira, das ist keine gute Idee.“
Olivers Blick wanderte zu ihm, und wieder wurden seine Augen groß. „Dein neuer Freund?“
Ich schaute zu Rogan und dann wieder zu Oliver. Verglichen mit dem kleineren, schlankeren Jungen brachte Rogan ungefähr fünfzig Pfund mehr an Muskelmasse auf die Waage.
„Äh, das ist Rogan Ellis“, sagte ich. „Wir brauchen deine Hilfe.“
„Rogan Ellis …“ Olivers Augen wurden noch ein Stückchen größer, sowie er den Namen vernahm. Offenbar war ich die Einzige, die vorher nichts von Rogans Verbrechen mitbekommen hatte. „Kira, hast du einen Schimmer, wer der Kerl ist?“
„Ja, aber du musst mir zuhören …“ Ich verstummte allmählich. Plötzlich spürte ich etwas. Das seltsame Gefühl, dass wir beobachtet wurden.
Ich schaute über die Schulter und war mir sicher, dass ich die silberne Digitalkamera hinter der nächsten Ecke hatte verschwinden sehen.
„Wir können deinen Freund nicht in das alles hineinziehen“, flüsterte Rogan gerade so laut, dass ich ihn verstehen konnte. „Es sei denn, du möchtest, dass er vielleicht getötet wird.“
Olivers Fingerknöchel wurden weiß, als er die Tischkante umklammerte. „Pass mal auf, ich habe keine Ahnung, was los ist, Kira, doch wenn du meine Hilfe benötigst, weißt du ja, dass ich alles für dich tun würde. Aber den da …“ Angst schwang in seiner Stimme mit. „Ich will ihn nicht in meiner Nähe haben.“
Oliver war verknallt in mich. Glücklicherweise hatte er nie etwas in dieser Richtung unternommen, dennoch waren diese Gefühle immer da, nicht zu leugnen und stets zwischen uns. Und ich musste zugeben, dass es mir schmeichelte. Es war schön, begehrt zu werden. Ich baute auf seine Verliebtheit, um ihn dazu zu überreden, uns zu helfen. Mir zu helfen. Allerdings war das Letzte, was ich wollte, ihn in Gefahr zu bringen.
Und das tat ich schon, indem ich überhaupt mit ihm sprach.
Verdammt. Rogan hatte recht.
„Wohin willst du?“ Er klappte seinen Laptop zu und erhob sich von seinem Stuhl am Tisch.
„Weißt du was?“ Ich schluckte und schüttelte den Kopf. „Vergiss es.“
Er trat einen Schritt auf mich zu. „Kira, du wirkst echt angespannt. Erzähl mir doch, was los ist.“
Ich wich zurück und spürte Rogan hinter mir. „Es war ein Fehler, hieraufzutauchen.“
Mit einer Mischung aus Angst und Hass beäugte er Rogan. „Liegt es an ihm? Zwingt er dich dazu, irgendetwas zu machen, was du nicht willst?“
„Was ich tue, geht dich nichts an“, stieß Rogan knurrend hervor.
Oliver presste die Zähne aufeinander und wandte dann den Blick von Rogan wieder zu mir. „Ich kann dir helfen. Du musst nur mit mir kommen.“
„Ihr helfen? Ja, du siehst auch unglaublich tough aus.“ Rogan schnaubte verächtlich. „Glaubst du, dass du sie vor mir beschützen kannst?“
Ich wollte, dass er den Mund hielt und nicht alles noch schlimmer machte, als es ohnehin schon war.
„Wenn es sein muss.“ Oliver schaute mich erneut verwirrt an. „Hat er dich verletzt?“
Wieder schüttelte ich den Kopf. Ich musste das hier abbrechen, musste hier weg. Ich durfte Oliver nicht in das alles hineinziehen. Es war falsch gewesen, ihn aufzusuchen. „Nein … Rogan und ich … wir sind zusammen.“
„Zusammen?“
Ich nickte. Es war besser, ihm jetzt wehzutun, wenn dadurch gewährleistet wurde, dass er so auf lange Sicht in Sicherheit war. „Ich wollte nur, dass du es weißt, damit du … aufhörst, mich zu belästigen.“
Er presste eine Hand an seine Brust. „Ich belästige dich?“
„Lass mich einfach in Ruhe, Oliver.“
Verwirrt blinzelte er. „Er ist ein Mörder, Kira. Ist dir das nicht klar?“
Ich warf ihm einen ausdruckslosen Blick zu und drehte ihm den Rücken zu. „Vielleicht ist mir das egal.“
Wow, was für eine Megalüge.
„Kira …“
„Lauf uns nicht hinterher“, zischte Rogan ihm zu.
„Sonst passiert was?“
„Sonst wirst du es bereuen. Das kannst du mir glauben.“
Ich blickte nicht zurück, während ich den Food-Court mit Rogan an meiner Seite verließ. Ich hätte überhaupt nicht hierherkommen sollen. Oliver musste mich hassen. Ich hatte ihn nicht verletzen wollen. Er hatte nichts mit dem Schlamassel zu tun, in das ich mich selbst irgendwie manövriert hatte.
Tränen der Enttäuschung rannen mir über die Wangen. „Du hättest dich ihm gegenüber nicht unbedingt wie ein Arschloch verhalten müssen.“
„Ich habe getan, was getan werden musste.“
Ich wischte meine Tränen fort, ehe Rogan bemerkte, dass ich weinte.
Zwei Männer in Security-Uniformen näherten sich uns.
„Wir müssen dich bitten, dich von dem Gelände zu entfernen“, meinte einer der beiden zu Rogan. Er hatte die Hand auf die Waffe an seinem Gürtel gelegt. „Sofort.“
Rogans Lippen zuckten. „Meine Güte, wie die Zeiten sich geändert haben. Warum sind sie sich so sicher, dass ich nicht vorhatte, mit der goldenen Kreditkarte meines Vaters shoppen zu gehen?“
Einer der Wachmänner betrachtete Rogans schmutzige Klamotten und den Blutfleck auf seiner Schulter. Dann musterte er mich. „Belästigt der junge Mann dich, kleines Fräulein?“
Anders als Oliver schienen sie Rogan nicht zu erkennen.
Sag es ihnen! schrie eine Stimme in meinem Kopf. Sag ihnen alles. Sie können dir helfen.
Aus dem Augenwinkel sah ich etwas Silbernes aufblitzen. Die Digicam.
„Das Level hat schon begonnen, oder?“, fragte ich Rogan leise.
„Ja, das hat es.“
In dem Moment war mir ohne jeden Zweifel klar, dass der Versuch, den Security-Leuten zu erzählen, was los war, mit Sicherheit heftig und äußerst schmerzhaft bestraft werden würde. Und die Wachmänner selbst würden den Ort wahrscheinlich nicht lebendig verlassen.
„Eigentlich ist er mit mir unterwegs.“ Die Worte fühlten sich schwer und unnatürlich an, sowie sie meinen Mund verließen.
Der andere Security-Beamte fasste mich am Arm. „Dann müsst ihr beide verschwinden.“
„Gut. Wir werden gehen.“ Ich löste mich aus seinem Griff.
Wir liefen aus den Food-Court und eilten einen ziemlich verlassenen Korridor Richtung Ausgang entlang. Noch mehr Tränen brannten in meinen Augen, doch ich drängte sie zurück. Zu heulen würde überhaupt nichts ändern.
„Was tun sie uns an?“, fragte ich nach einer Weile. Es klang fast so, als würde ich mit mir selbst reden. „Wie kann irgendjemand so etwas unterhaltsam finden?“
„Du wärst überrascht. Es gibt einige kranke Menschen.“
Ja, er sollte es wissen. „Warum haben sie uns hier in der Mall ausgesetzt? Um mit uns zu spielen?“
„So etwas in der Art.“ Rogan schlang den Arm um meine Taille, als würde er versuchen, mich zu trösten. Seltsam. Einen Augenblick später zog er sich zurück, als wäre ihm aufgefallen, was er getan hatte. Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Erinnerst du dich daran, was Jonathan uns über dieses Level und die Aufgabe, die wir erfüllen müssen, gesagt hat?“
Ich bemühte mich, es mir durch den Sturm der Erinnerungen hindurch ins Gedächtnis zu rufen. „Der Steuerberater.“
Er nickte. „Schau mal.“
Ich schaute dorthin, wohin er zeigte, und entdeckte den Mann, den ich kurz zuvor auf dem Holoscreen gesehen hatte. Bernard Jones. Ich erkannte sein schütteres Haar und seine freundlichen, ein bisschen langweiligen Züge wieder. Er kam gerade mit einer Tüte mit Einkäufen aus einem Elektronikgeschäft. Dann wandte er sich nach links und ging auf denselben Ausgang zu, den auch wir nehmen wollten.
Ich hörte das Surren, sowie die Kamera hinter uns auftauchte. Sie suchte Deckung hinter Ecken und Gegenständen, damit die anderen Menschen sie nicht bemerkten.
Rogans Aufmerksamkeit war auf den Mann gerichtet. „Wir müssen ihm folgen.“
„Er hat eine Ehefrau. Und ein Kind.“
„Ja, du hast recht. Und wir können ihn nicht entwischen lassen.“
„Für dieses Level von Countdown verbleiben noch zehn Minuten.“
Ich drehte mich um und erwiderte Rogans Blick.
„Dir ist bewusst, was wir machen sollen“, sagte er und presste die Lippen aufeinander. „Und wir haben nur noch zehn Minuten, um es zu erledigen.“
Um Level drei des Spiels erfolgreich zu beenden, wird von euch verlangt, ihn umzubringen, hallten Jonathans Anweisungen in meinem Kopf wider.
„Nein. So weit wird es nicht kommen“, erwiderte ich.
„Willst du, dass wir sterben?“
Ich blinzelte ihn an, während sich mein Magen schmerzhaft zusammenzog. „Ich möchte nicht, dass wir sterben. Doch ich will auch keinen Mann töten, den ich noch nie zuvor getroffen habe. Jemanden, der es nicht verdient hat und der es auch nicht kommen sieht. Auf gar keinen Fall.“
„Los jetzt.“ Er griff meine Hand und zerrte mich hinter sich her. „Wir dürfen ihn nicht abhauen lassen.“
„Du kannst ihn nicht einfach töten.“
„Entweder stirbt er oder wir.“
„Es ist mir egal.“
„Wir werden sehen, ob du in ein paar Minuten immer noch so denkst.“
„Ich bin nicht fähig, einem Menschen das Leben zu nehmen. Ich bin anders als du.“
Rogan ließ meine Hand los, lief jedoch weiter. Er schaute mich nicht an. „Dir ist überhaupt nicht klar, zu was ich fähig bin. Du kennst mich nicht.“
„Ich will einen kranken Mistkerl wie dich überhaupt nicht kennen.“ Ich biss mir auf die Zunge, damit ich noch mehr sagte. Das hatte barscher geklungen, als ich beabsichtigt hatte.
Das brachte mir einen scharfen Blick ein. „Uns gehen die Alternativen aus. Kriegst du das in deinen Schädel? Da sind keine Alternativen mehr. Entweder wir machen, was sie uns befehlen, oder wir werden getötet.“
„Vielleicht ist es mir egal. Meine Familie ist ermordet worden. Ich würde das einem anderen Menschen niemals antun. Lieber sterbe ich.“
„Ich bin nicht in der Stimmung, um mit dir zu streiten, Kira. Wir haben keine Zeit dazu.“
Ich beobachtete, wie Bernard Jones das Einkaufszentrum durch die Schwingtür verließ.
„Also willst du ihm folgen. Und dann?“
„Und dann werde ich ihn umbringen.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Aber ich bin ja auch ein kranker mordender Mistkerl, stimmt’s?“
„So leicht ist das für dich?“
Er ballte die Hände an seinen Seiten zu Fäusten. „Du verhältst dich so, als bliebe mir eine Wahl.“
„Man hat immer die Wahl.“
„Ich nicht“, erwiderte er. „Nicht mehr.“
Und damit stapfte er hinaus und folgte seinem Opfer. Ich rannte los, um ihn einzuholen.
Töten oder getötet werden.
Es musste eine andere Lösung geben. Und ich musste sie finden. Schnell.