20. KAPITEL
Ellis Enterprises hatte seinen Sitz in einem Gebäude aus Silber und Glas mit fünfzig Stockwerken. Das Haus stand in einer ansonsten verlassenen Gegend der Stadt und ragte wie ein kalter funkelnder Edelstein in den wolkenverhangenen Himmel.
Rogan saß neben mir auf dem Rücksitz eines Geländewagens. Unsere Hände waren uns hinter dem Rücken gefesselt worden. Rogan war bewusstlos. Tapfer hatte er sich gegen die fünf in weißgekleideten Männer zur Wehr gesetzt, die erschienen waren, um uns zu holen. Sie hatten ihm mühelos die Pistole abgenommen und ihn dann k.o. geschlagen. Offen gesagt, war ich überrascht, dass sie uns nicht an Ort und Stelle getötet hatten.
Ich war mir allerdings sicher, dass unsere Hinrichtung nur noch eine Frage der Zeit war.
Joe war nicht so glimpflich davongekommen. Er hatte versucht, zu fliehen und sich an den Männern vorbeizudrängen, als sie in den Raum gestürmt waren. Seine Mühe war mit einer Kugel in den Rücken belohnt worden.
Oliver war nicht abgeknallt worden. Er war nicht mit uns zusammen im Wagen, also hatte ich keine Ahnung, was mit ihm geschehen war. Eigentlich war es mir auch egal. Vielleicht würde er eine Belohnung erhalten. Jeder war sich selbst der Nächste – nicht, dass das für mich neu war.
Ich probierte, nicht weiter darüber nachzudenken, was in Joes Spielhölle geschehen war, und richtete meine Aufmerksamkeit stattdessen auf das glänzende Gebäude. Dieser Wolkenkratzer war – wenn wir mal ganz ehrlich waren – der Ort, an dem ich wahrscheinlich heute oder morgen, ganz sicher aber in allernächster Zukunft sterben würde. Ich hatte nicht viel Hoffnung, diesen Platz lebendig verlassen zu können. Dazu war zu viel passiert.
Ich stellte mir einen jüngeren Rogan vor, der high von irgendwelchen Drogen war und in diesem Gebäude zur Arbeit auftauchte. Rogan, der Sohn des milliardenschweren Geschäftsführers. Der Rogan Ellis, den ich kannte, war kein verwöhnter reicher Junge mit unglaublich viel Geld, das er leichtfertig verprasste, um seine Langeweile zu vertreiben. Ich glaubte nicht, dass ich den alten Rogan gemocht hätte.
Genau genommen, war ich mir sogar ziemlich sicher, dass ich ihn gehasst hätte.
Andererseits hätte der alte Rogan ein Mädchen wie mich nie und nimmer eines zweiten Blickes gewürdigt. Immerhin war ich nur eine Taschendiebin, die dem falschen Typ das Portemonnaie gestohlen hatte. Selbst als mein Vater noch an der Universität gelehrt hatte, war ich nicht in einem so schicken Gebäude wie diesem gewesen.
Doch genau dorthin brachten sie uns.
Ich versuchte, mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Alles, damit ich nicht darüber nachdachte, wie schlimm die Sache enden konnte. Wie Rogan schon gesagt hatte: Er war sich nicht sicher gewesen, wie wir in das Gebäude hineingelangen sollten. Die Sicherheitsvorkehrungen waren streng. Sehr streng. Um uns dem Eingang bis auf fünfzehn Meter zu nähern, mussten wir schon an zwei Kontrollpunkten und einer bewachten Sicherheitsstation vorbei.
Das Auto kam neben einer schwarzen Seitentür zum Stehen. Ein Mann in einer weißen Jacke sprühte Rogan irgendetwas ins Gesicht. Rogan schreckte aus dem Schlaf hoch. Augenblicklich schien jeder Muskel in seinem Körper angespannt zu sein, bis er mich entdeckte. Unsere Blicke trafen sich und schienen miteinander zu verschmelzen.
„Geht es dir gut?“, lauteten seine ersten brummigen Worte. Ich hätte ihn dasselbe fragen sollen.
„Nein. Genau genommen sind wir beide total am Arsch.“
Er grinste. „Ich glaube, du hast wahrscheinlich recht.“
„Mund halten“, stieß einer der Männer aus.
Aufgebracht funkelte ich ihn an, verkniff mir jedoch, ihm entgegenzubrüllen, er könne mich mal. Wir steckten schon genug in Schwierigkeiten. Ich wollte nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen.
Die hintere Tür des Wagens wurde geöffnet, und wir wurden von unseren Sitzen gezerrt.
„Bewegt euch“, befahlen sie uns.
Wir bewegten uns. Durch die Tür und in das kühle Innere des Gebäudes.
„Wir sind drin“, meinte Rogan. „Sollten wir jetzt feiern? Oder sollten wir bis später warten?“
Ich warf ihm einen grimmigen Blick zu. Wie konnte er in diesem Moment Witze reißen? Doch die leichte Belustigung in seiner Stimme erreichte seine ernste Miene nicht.
„Haltet die Klappe.“ Einer der Männer rammte Rogan den Lauf seiner Waffe in den Rücken, während wir den langen nackten Flur entlangliefen. Der weiß geflieste Boden quietschte unter meinen Stiefeln. „Ich will es nicht noch einmal wiederholen müssen.“
Meine Schritte verlangsamten sich, als ich erkannte, wer dort am Ende des Korridors auf uns wartete.
Es war Gareth Ellis. Er stand neben einem Lift. Die Beine hatte er leicht gespreizt, die Arme vor dem teuren schwarzen Businessanzug verschränkt. Seine blaugrünen Augen verengte er zu schmalen Schlitzen, während wir auf ihn zukamen.
„Willkommen zurück, Sohn“, begrüßte er, als Rogan vor mir so unsanft in den Aufzug gestoßen wurde, dass er mit der Schulter gegen die Wand krachte.
„Sohn?“, presste Rogan zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Bin ich das für dich? Bist du dir da sicher?“
„Das bin ich.“ Gareth verzog den Mund zu einem merkwürdigen Lächeln und wandte den Blick dann zu mir. „Warum? Hast du etwas anderes gehört?“
Ein Stoß in meinen Rücken veranlasste mich dazu, ebenfalls in den Lift zu steigen. Vier Männer in weißen Jacken drängten sich zu uns in den Aufzug. Als Letzter stieg Gareth hinein, und die Türen schlossen sich. Bisher hatte Klaustrophobie nicht zu meinen Ängsten gehört, doch ich spielte mit dem Gedanken, auch diese Phobie in meine immer länger werdende Liste aufzunehmen.
Wir waren im Erdgeschoss eingestiegen, aber der Lift fuhr mit uns weiter nach unten.
Joe hatte uns erzählt, dass der Raum mit dem KI-Server im zweiten Untergeschoss war. Diese Mistkerle hatten keine Ahnung, dass sie uns nur weiter in die Nähe des Ortes brachten, an den wir wollten.
Der Aufzug hielt an, und die Türen glitten auf. Dahinter erblickten wir noch mehr Weiß.
Beinahe geräuschlos verließ Gareth den Lift, und ich spürte einen so festen Griff um meinen Oberarm, dass ich kurz fürchtete, meine Knochen würden brechen. Einer der Männer zog mich einen weiteren Flur entlang.
Alles war weiß. Und alles roch nach einem Desinfektionsmittel mit Zitronenduft.
Noch nie hatte makellose Sauberkeit für mich mehr nach Tod ausgesehen.
„Wohin bringt ihr uns?“, wollte Rogan wissen.
Der Weißkittel schlug mit seiner Waffe auf Rogans Hinterkopf. Nicht stark genug, um ihn bewusstlos zu schlagen, doch mit Sicherheit stark genug, um ihm Schmerzen zuzufügen.
Rogan warf dem Mann einen unverhohlen wütenden Blick zu. „Wenn Sie das noch mal tun, schiebe ich Ihnen die Waffe in den Arsch und drücke ab.“
Der Mann lachte. Offensichtlich ließ ihn die Drohung kalt. „Ja, sicher tust du das. Lauf weiter.“
Joe hatte gesagt, dass er hier nicht hatte arbeiten wollen. Trotz der Vergünstigungen, von denen es mit Sicherheit eine ganze Menge gab, hätte er die sadistische Art, von einem laufenden, sprechenden Computervirus kontrolliert zu werden, nicht ertragen können.
Dieser Typ dagegen schien damit kein Problem zu haben.
Gareth wies mit einem Kopfnicken auf eine Tür. „Da hinein.“
Der Raum dahinter sah genauso aus wie das Zimmer, in dem ich zuvor mit Gareth gesprochen hatte. Nach Level vier hatten sie mir die Augen verbunden und mich mit dem Hubschrauber hierherflogen. Ich könnte mich allerdings auch täuschen. In dem Raum war nichts, was ihn unverwechselbar machte. In dem weißen Zimmer befanden sich lediglich zwei schmale Tische, die zusammengeschoben worden waren. Auf jeder Seite stand jeweils ein Stuhl. Beide waren weiß. Die Monotonie gab dem Moment etwas Seltsames, beinahe Surreales.
Rogan und ich trugen beide die geborgten Kleider aus dem sicheren Unterschlupf und die schweren Stiefel der Countdown-Uniform. Wir wurden auf die Stühle gedrückt, sodass wir einander anschauten.
Rogans Narbe leuchtete rot in seinem ansonsten blassen Gesicht. Blut rann ihm an der Seite des Halses entlang, wo der Verbrecher ihn mit der Waffe geschlagen hatte. Bei dem Anblick zog sich mir das Herz zusammen.
Seine Hände waren genau wie meine noch immer mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt.
Er sprach kein Wort, und auch ich schwieg. Doch wir hatten genug Zeit miteinander verbracht, sodass ich erahnen konnte, was er dachte.
Verlier nicht die Hoffnung. Wir sind noch nicht tot.
Ich würde mein Bestes versuchen.
„Lasst uns allein“, befahl Gareth und sah die beiden Männer an, die hinter uns standen und die Pistolen hielten, die sich schwarz gegen ihre weiße Kleidung abhoben. „Und schickt ihn herein, wenn er so weit ist.“
Schickt ihn herein. Ich wandte den Blick von Rogan ab und schaute zur Tür. Wen sollten sie hereinschicken?
Die Weißkittel verließen das Zimmer, und wir warteten. Es kam mir wie Stunden vor, aber bestimmt waren nur Minuten vergangen, ehe er eintrat. Mir fiel die Kinnlade herunter.
Oliver.
Er war definitiv nicht mehr bewusstlos, auch wenn er leicht neben sich zu stehen schien. An seinem Kopf war eine rote Stelle – dort, wo er sich selbst an der Kante eines Computertisches in der Spielhölle ausgeknockt hatte.
Er trug einen speziellen Zugangsausweis von Ellis Enterprises an seiner ansonsten normalen Kleidung. Er wirkte nicht anders als der Oliver, den ich kennengelernt hatte … Bis auf die Tatsache, dass er sich zu dem Mann gesellte, der uns umbringen wollte.
Er schaute mich an und runzelte die Stirn, bevor er seine Aufmerksamkeit auf seinen neuen Chef richtete.
„Oliver?“, brachte ich hervor. „Was tust du hier?“
Gareth verzog den Mund zu einem Lächeln. „Oliver arbeitet jetzt für mich, nicht wahr?“
Gareth ging auf ihn zu und klopfte ihm zweimal auf den Rücken. „Dieser Junge ist ein Genie. Für Genies ist immer Platz in meinem Team. Ihm wurde vor einer Woche eine Position in dem Unternehmen angeboten, aber seine Verbindung zu dir, Kira, hat ihn plötzlich noch viel interessanter für mich gemacht. Ich habe beschlossen, dass er mein neuer persönlicher Assistent wird.“
Ich fuhr mit der Zungenspitze über meine mit einem Mal trockenen Lippen und versuchte, zu sprechen. Gareths persönlicher Assistent? Oliver? Ich hatte die Erhebung an seinem Hinterkopf gespürt, wo ihm das Implantat eingesetzt worden war. Und sofort war mir klar gewesen, dass er einen Job in dieser Firma angenommen hatte. Jedoch hatte ich nicht geahnt, dass seine Verbindung zu Gareth so eng sein könnte.
Bei dem Gedanken fühlte ich mich nicht gerade sicherer.
Jeder konnte gekauft werden. Selbst jemand, den man eigentlich für einen Freund gehalten hatte.
Gareths Lächeln blieb. „Zusammen mit nachgewiesenermaßen brillanten Programmier-und Hackerfähigkeiten ist Oliver getrieben, hier erfolgreich zu sein – so wie viele Leute, die man von der Straße geholt hat. Ich bin mir sicher, dass er schon bald in meinen Reihen aufsteigen wird. Ich habe ihm die Möglichkeit jedenfalls versprochen. Ist es nicht so, Oliver?“
Oliver nickte. „Das stimmt, Sir. Nochmals: Vielen Dank.“
Gareth betrachtete mich voller Verachtung. „Ich dachte wirklich, dass ihr mich mit eurem kleinen Fluchtversuch besiegt hättet.“ Seine Miene verfinsterte sich. „Du kannst dir vorstellen, wie froh ich war, als ich über euren Aufenthaltsort informiert wurde.“
Ich fixierte Oliver mit einem eisigen Blick. Er vermied es, mich anzuschauen.
Ein cooler neuer Job mit einem tollen Gehalt – doch er musste mit einem Lächeln auf dem Gesicht dastehen und zusehen, wie Menschen starben. Mich eingeschlossen.
Das hier würde ich ihm niemals verzeihen.
„Sie haben gesagt, dass Sie ihr nicht wehtun würden“, stieß Oliver nach einem Moment des Schweigens hervor. Allerdings schien es, als könnte er mich immer noch nicht anschauen.
Gareth lachte. „Du wirst sentimental, oder? Ja, das habe ich versprochen und ich halte meine Versprechen immer.“ Er blickte mich an. „Da Oliver ein Implantat hat, konnte er deine Bemühungen bei Countdown verfolgen. Ich hatte angenommen, nach dem Belohnungslevel würde sein Wunsch, dich zu beschützen, abflauen. Kein Junge sieht das Mädchen seiner Träume gern mit einem anderen im Bett. Doch aus irgendeinem Grund hegt er immer noch Gefühle für dich. Faszinierend.“
Finster funkelte ich die beiden an.
„Und jetzt zu etwas anderem.“ Gareth verschränkte die Hände hinter seinem Rücken und lief langsam im Zimmer auf und ab. Bedächtig ging er um unseren Tisch herum. Mein Blick fiel für eine Sekunde auf Rogan, doch seine Aufmerksamkeit war jetzt auf den besessenen Körper seines Vaters gerichtet. Fast ein wenig erstaunt beobachtete er ihn. Mir wurde klar, dass es das erste Mal seit zwei Jahren war, dass Rogan seinen Vater sah. „Sei so gut, Oliver, und überprüfe ihn.“
Oliver trat auf Rogan zu. Ich bemerkte, dass er einen kleinen Receiver aus Metall in der Hand hatte, an dem grüne und gelbe Lichter flackerten. Er fuhr damit in einigem Abstand über Rogans Hinterkopf und betrachtete die leuchtenden Lämpchen.
„Was tust du da?“ Rogan warf dem Jungen einen düsteren Blick zu.
„Mein Sohn.“ Gareth lehnte sich an Rogans Seite des Tisches und wandte mir so den Rücken zu. „Bitte, entspann dich. Oliver prüft nur die Echtheit deines Implantats.“
„Jonathan hat es entfernt, bevor du ihn hast töten lassen“, erklärte Rogan.
„Nein, nein. Nicht das Implantat. Das andere. Ich meine den Prototyp.“
Rogan erstarrte. „Aber der Chip hat doch nie funktioniert.“
Gareth stieß sich vom Tisch ab und schlenderte wieder durch das Zimmer. „Seit du nach St. Augustine’s gekommen bist, hat sich vieles verändert, Rogan. Technologie, die für nicht funktionsfähig gehalten wurde, konnte aktiviert werden. Vor allem die Prototypen. Du hast einen dieser Chips. Ich auch. Alles, was danach kam, waren nur in Massenproduktion hergestellte Imitate des Originals.“
„Und das heißt was?“
Plötzlich verzog Rogan von Schmerz gequält das Gesicht und schrie auf.
Ich zerrte an meinen Handschellen. „Was machen Sie mit ihm?“
Rogan entspannte sich langsam wieder. Seine Brust hob und senkte sich schnell, und auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen.
Gareth beachtete mich nicht und sah stattdessen zu Oliver, der auf den Receiver starrte. „Und?“
„Sieht gut aus“, entgegnete Oliver schlicht. „Ich habe ihn für Sie aktiviert. War ganz leicht.“
Gareth legte den Kopf schräg. „Ich bin so froh, dass du so denkst. Dann ist alles gut. Interessiert es dich, warum ich mich mit dem Prototyp-Implantat in deinem Kopf beschäftige, mein Sohn?“
„Sie sind nicht sein Vater.“ Ich spuckte die Worte aus. „Und das wissen Sie ganz genau. Mir war klar, dass Sie besessen sind, aber Jonathan hat uns alles erzählt.“
Gareth warf einen Blick über die Schulter und schaute mich mit leicht zusammengekniffenen Augen an. „Willst du mich wütend machen, kleines Mädchen? Ich bin mir nicht ganz sicher, ob du mutig bist oder nur dumm.“
„Lecken Sie mich.“
Er lachte. „Du warst sehr unterhaltsam, Kira. Und die Abonnenten haben dir auch gern zugesehen – bis zu deinem enttäuschenden Ende zumindest. Ich frage mich, ob du wirklich paranormale Fähigkeiten besitzt, wie Jonathan immer geglaubt hat. Ich habe dein Spielchen mit Kurtis auf dem Dach in Level fünf beobachtet. Er war überzeugt davon, dass du in seine Seele blicken konntest. Hast du ihn angelogen?“
Aufgebracht funkelte ich ihn an. „Ich habe gesehen, wer er wirklich war. Genau so, wie ich auch bei Ihnen.“
Einen Moment lang musterte er mich. „Eine echter Psi. Eine neue Art, eine Weiterentwicklung zu etwas Größerem als dem Bisherigen.“ Neugier blitzte in seinen Augen auf. „Genau wie ich. Ich hätte nie gedacht, dass es tatsächlich existieren könnte. Vielleicht war ich zu engstirnig.“ Er kam auf mich zu und schlang seine Hand um meine Kehle. Sein Griff war fest genug, um mir wehzutun. „Offensichtlich hast du, als du mich gelesen hast, die menschliche Existenz gespürt, die einmal diesen Körper beherrscht hat. Ich frage mich, was du sonst noch glaubst, wahr genommen zu haben.“
Ich rang nach Luft, zuckte jedoch bei seinem abschätzenden Blick nicht zusammen. „Vielleicht habe ich Ihre Seele gesehen.“
Er zog eine Augenbraue hoch und ließ mich los. Ich hustete und es fühlte sich immer noch so an, als lägen seine Finger um meinen Hals.
Oliver beobachtete mich aus einer Ecke des Raumes. Seine Miene wirkte angespannt.
Gareth wandte mir den Rücken zu und ging zu Rogan, der gegen seine Fesseln ankämpfte. Mit leicht zusammengekniffenen Augen sah er zwischen mir und seinem Vater hin und her.
Gareth verschränkte die Arme vor seinem schwarzen Anzug. „Obwohl ich über euren Fluchtversuch nicht gerade glücklich bin, Rogan, muss ich sagen, dass ich erleichtert bin, dass du es in diesem Spiel so weit geschafft und so lange überlebt hast. Als ich dich an Countdown teilnehmen ließ, dachte ich, es könnte ganz amüsant werden. Eine unterhaltsame Art, dich ein für alle Mal loszuwerden. Ich hatte nämlich gehört, dass neue Untersuchungen und eine Wiederaufnahme deines Verfahrens geplant waren, nachdem in der letzten Woche ein ähnliches Verbrechen in einer anderen Universität verübt worden war. Dieses Mal wurden zehn Mädchen ermordet.“ Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Eine Schande. Wirklich.“
Bei der Vorstellung, dass weitere Studentinnen so entsetzlich hatten sterben müssen, erschauderte ich. „Sie meinen, Rogans Unschuld wäre damit bewiesen worden?“
Gareth drehte sich um und musterte mich. „Ja, es war nur eine Frage der Zeit. Und das konnte ich nicht zulassen.“
„Also, jetzt willst du mich gleich hier umbringen?“, fragte Rogan. „Ich bin überrascht, dass du die Eier hast, es selbst zu tun. Einen Augenblick mal. Wie viele Hirnströme von Abonnenten muss ein sprechender Binärcode aufnehmen, um überhaupt Eier zu haben?“
Gareth reagierte so schnell, dass ich nur eine verschwommene Bewegung wahrnahm. Er packte eine Handvoll von Rogans dunklem Haar und zog seinen Kopf zurück. Der Stuhl wippte auf den zwei hinteren Beinen.
„Ein sprechender Binärcode, wie du es so plump ausdrückst, beherrscht viele außergewöhnliche Dinge. Und die Hirnströme helfen bei vielem. Je mehr ich davon durch den Chip aufnehme, desto mächtiger werde ich. Aber das reicht nicht.“
Langsam ließ er Rogans Stuhl wieder herunter. Er tätschelte Rogans Kopf, als wäre Rogan ein gehorsamer Hund.
„Oliver“, meinte er. „Erkläre Rogan, was ich mit seinem reaktivierten Implantat vorhabe.“
Oliver zeigte auf sich selbst. „Ich? Sie möchten, dass ich es ihm erkläre?“ Nervös schaute er in die Runde und steckte dann den Receiver ein. „Okay … Klar. Äh, Mr Ellis hat darum gebeten, dass ich … und das Team natürlich … also, dass wir ein KI-Programm auf deinen Chip laden. Ich bin nicht sicher, ob es funktionieren wird, doch die Überprüfung, die ich gerade durchgeführt habe, stimmt mich zuversichtlich. Also … Äh … Ich glaube, das war es schon.“
Gareth grinste. „Danke, Oliver.“ Er legte den Arm um Rogans Schultern, beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm – laut genug, dass auch ich es hören konnte – ins Ohr: „Also, Rogan, wir werden wieder eine Familie sein. Deshalb ist Countdown so wichtig. Die Testphase ist jetzt vorbei. Es war sowieso nur für eine begrenzte Zuschauerzahl gedacht. Jetzt ist es an der Zeit, den Sender und die Implantate einem viel größeren Publikum zugänglich zu machen.“
Rogan wand sich aus seiner Umarmung. „Warum tust du das? Du bist nicht mehr mein Vater. Warum willst du, dass ich Teil davon bin?“
Gareths Grinsen wurde breiter. „Vielleicht ist ‚Familie‘ der falsche Ausdruck. Wenn erst ein Teil von mir in dich hochgeladen worden ist, werden wir dasselbe empfinden und dasselbe denken. Wir werden eine Einheit in zwei Körpern sein. Wenn meine Macht somit vervielfacht wurde, wird bald alles von dieser Stadt bis hin zur Kolonie uns gehören – und anschließend noch viel mehr. Wir werden die ganze Welt besitzen. Und warum ausgerechnet du? Das Implantat, mein lieber Sohn. Du teilst das gleiche Prototyp-Implantat wie ich, und deshalb wird das alles so wunderbar zusammen funktionieren. Ohne den Chip wärst du genauso nutzlos für mich wie die reizende Kira.“
Rogans Augen waren groß geworden. „Du bist wahnsinnig.“
„Ich bin nicht länger anfällig für geistige Erkrankungen wie Wahnsinn. Und du wirst es auch nicht sein, sobald du … verbessert worden bist.“
„Verbessert?“, stieß ich heraus. Mein Magen hatte sich bei jedem seiner Worte immer mehr verkrampft. „Wie können Sie das als Verbesserung betrachten? Sie sind nicht besser als der Roboter von Level drei.“
Das bescherte mir einen vernichtenden Blick. „Kira, lass mich versuchen, es so zu erklären, dass auch du es ein für alle Mal verstehst. Ich bin die Weiterentwicklung der menschlichen Spezies. Denn genau das war die Plage: eine natürliche Auslese. Ein Weg, um die menschliche Spezies zu verbessern und das übermäßige Fett loszuwerden, das die Arterien dieser Welt verstopft hat. Eines nicht allzu fernen Tages wird die gesamte Bevölkerung mit einem meiner Implantate ausgestattet sein. Die Chips werden uns nähren, und wir werden wie Götter sein.“
„Sie haben recht, ich verstehe es nicht. Ich sehe nur ein Computervirus, das weit davon entfernt ist, ein Vollprogramm zu sein.“
„Dann ist das ein bedauernswerter Irrtum deinerseits. Der Roboter, gegen den ihr gekämpft habt, war ein jämmerliches Experiment in Sachen künstlicher Intelligenz. Meine Intelligenz ist nicht länger künstlich. Ich habe eine Seele … Du hast es selbst gesagt.“
„Das habe ich nicht. Ich sagte, ich hätte vielleicht Ihre Seele gesehen.“
Drohend trat er einen Schritt auf mich zu.
„Warte!“ Rogans Stimme klang heiser. „Tu ihr nicht weh. Lass sie … Verschone sie einfach. Ich werde keinen Widerstand leisten. Du kannst alles mit mir machen, was du willst. Aber lass Kira bitte gehen.“
Meine Augen wurden groß, doch ich hielt den Mund. Er machte es nicht nur, um mein Retter in der Not zu sein. Ich war diejenige, die die Disc mit dem Antivirus-Programm im BH versteckt hatte.
Er wusste, dass wir beide hier nicht lebend rauskommen würden. Aber wenn ich überlebte und in den Serverraum gelangen konnte …
Nein. Auf keinen Fall. Ich wollte, dass wir beide überlebten. Ich war noch nicht bereit, etwas anderes zu akzeptieren.
Gareth lachte. „Das ist so verdammt nobel von dir. Die Erinnerungen an dich, zu denen ich Zugang habe, haben in mir nicht den Eindruck erweckt, dass Ritterlichkeit nicht unbedingt zu deinen Tugenden gehört. Haben das Jugendgefängnis und die Abkehr von den Drogen dich zu einem Gentleman verwandelt?“
Rogan funkelte ihn an. „Das alles hat mich verändert. Ich war vorher ein gedankenloses, selbstsüchtiges, drogenabhängiges Arschloch.“
„Ein gedankenloses, selbstsüchtiges, drogenabhängiges Arschloch, das gute Unterhaltung wie Countdown einfach nicht erkannt hat.“
Rogans Miene verdüsterte sich. „Es ist immer noch Mord.“
Gareth seufzte. „Der Mord an einem Menschen und vor allem an einem Kriminellen ist bedeutungslos. In der Welt, die ich mir vorstelle, gibt es keine Kriminellen. Es gibt kein Verbrechen. Es wird ein perfekter Ort sein, um miteinander zu leben. Und wenn dieser Körper verbraucht ist, werde ich die geeignete Technologie entwickelt haben, um mein Wesen in einen neuen Körper zu übertragen.“
„Unsterblichkeit“, brachte Rogan fassungslos hervor. „Darum geht es dir, oder?“
„Und sei dankbar, dass ich das mit dir teilen möchte. Wahrscheinlich existiert in diesem Körper ein winziger Teil, der noch immer eine familiäre Verbindung zu dir spürt. Denn wenn dem nicht so wäre, hätte ich dich vermutlich schon getötet. Immerhin hast du mein Spiel zerstört. Wenn die Abonnenten verstimmt sind, schalten sie auf andere Programme um – Programme, auf die ich noch keinen Zugriff habe.“ Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Du hast ja keine Ahnung, wie hungrig ich im Moment bin.“
Ich erschauderte.
„Verschone Kira“, wiederholte Rogan. „Und ich werde tun, was auch immer du verlangst.“
Gareth warf mir einen düsteren Blick zu. „War es deine Idee, auf die Kameras zu schießen?“
Herausfordernd schaute ich ihn an. „Es war eine gemeinsame Entscheidung.“
„Ihr habt ein möglicherweise sehr interessantes Finale ruiniert.“
„Was denn? Unseren Tod vor laufender Kamera? Sie haben echt eine kranke Ansicht davon, was ‚interessant‘ ist.“
„Ich bin noch immer nicht ganz davon überzeugt, dass du –falls es keine andere Möglichkeit gegeben hätte – Rogan nicht erschossen hättest, um deinen ultimativen Gewinn einzustreichen.“
Wäre mein Mund nicht so trocken gewesen, hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt.
„Ich hätte ihn nicht umgebracht“, erklärte ich ruhig. „Ich wäre lieber gestorben.“
„Ich schätze, das werden wir niemals erfahren.“
Ich hörte ein surrendes Geräusch. Eine kleine Klappe oben rechts in der Zimmerecke glitt auf, und eine Kamera kam heraus. Sie schwenkte herum, sodass sie auf den Tisch gerichtet war.
„Was zur Hölle ist das?“, fragte Rogan.
„Ihr habt mein Spiel verdorben“, erwiderte Gareth. „Ich kann es mir nicht leisten, dass fünfzehntausend Abonnenten verärgert sind. Jetzt werde ich das alles wiedergutmachen.“
Oliver trat einen Schritt nach vorn. „Warten Sie. Sie haben gesagt, dass Sie ihr nichts antun würden!“
Gareth legte eine Hand auf Olivers Schulter. „Und ich habe es auch so gemeint.“
Oliver entspannte sich ein bisschen. Er wagte es, einen Blick in meine Richtung zu werfen. „Siehst du, Kira? Ich bin nicht so schlecht, wie du wahrscheinlich denkst. Ich habe mich geweigert, zu helfen, wenn er dich verletzen sollte. Er hat es mir versprochen.“
Ich entgegnete nichts. Ich hatte Angst davor, was ich sagen würde, um ihm für seine „Hilfe“ zu danken.
„Komm mit mir.“ Gareth führte Oliver zur Tür. „Ich bin mir sicher, dass das neue Ende, das ich für diesen Zyklus von Countdown geplant habe, positiv aufgenommen werden wird.“
Oliver folgte ihm, runzelte jedoch die Stirn. „Ich verstehe das nicht. Sie haben versprochen …“
Gareth nickte. „Ich verspreche, dass ihr Tod völlig schmerzlos sein wird.“
„Was soll das?“, rief Rogan. „Ich habe doch erklärt, dass ich kooperieren werde, wenn du sie gehen lässt!“
Gareth warf ihm ein finsteres Lächeln zu. „Du hast keine andere Wahl, als mir zu gehorchen. Ich lasse euch jetzt allein – bis auf die Kameras natürlich –, damit ihr euch voneinander verabschieden könnt.“
Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss, und Rogan und ich waren bis auf die Kamera ganz allein.
Hektisch schaute Rogan sich im Raum um. Er zog und zerrte an seinen Handschellen.
Ich spürte das Pochen meines Herzens in meinem Kopf, während ich darauf wartete, dass etwas Grauenvolles geschah. Ich hatte die ganze Zeit über versucht, so ruhig wie möglich zu sein, doch die Angst durchströmte mich.
Die Handschellen, mit denen meine Hände hinter dem Rücken gefesselt waren, öffneten sich und fielen zu Boden. Ich rieb mir die Handgelenke und sah Rogan mit aufgerissenen Augen an.
„Was ist passiert? Ich bin frei.“
Ich sprang von meinem Stuhl auf und lief auf Rogan zu.
„Nein … Halt, Kira!“ Er erhob sich ebenfalls von seinem Stuhl. Sein Blick wanderte zur Decke. „Dieser Raum … Komm nicht näher …“
Eine massive Glasscheibe zischte aus der Decke und glitt zwischen den beiden zusammengeschobenen Tischen hindurch bis zum Boden. Die Wucht, mit der die Scheibe herunterschoss, wehte mir die Haare aus dem Gesicht. Wenn ich noch einen Schritt weiter nach vorn gemacht hätte, dann hätte die Scheibe mich entzweigeschnitten.
Erschrocken starrte ich sie an und konnte nicht glauben, was gerade passiert war. Ich legte meine Hand an die kalte Scheibe und starrte Rogan an, dessen Hände noch immer hinter seinem Rücken gefesselt waren.
Ich sah hoch zur Kamera, die uns aufnahm, und stellte mir vor, wie die Abonnenten uns gierig und erwartungsvoll beobachteten.
Ich rannte zur Tür und stellte entsetzt fest, dass es an dieser Seite keinen Türgriff gab.
„Kira!“ Rogans Stimme war trotz der trennenden Glasscheibe laut und deutlich zu verstehen. Seine Miene war geschockt.
Ich verspreche, dass ihr Tod völlig schmerzlos sein wird, hatte Gareth gesagt.
Nur kurz musste ich mich fragen, was genau er damit gemeint haben könnte.
Denn im nächsten Moment begann das Gas, durch die Lüftungsschlitze in meine Hälfte des Zimmers zu strömen.