Käyserliche Haupt-
und Residenz-Stadt Wienn

DEZEMBER 1720

Nach dem Tod Abbé Melanis habe ich Paris verlassen, und Domenico tat ein Gleiches.

Der Spanische Erbfolgekrieg ist beendet. Dreizehn lange Jahre der Hungersnot, der Verheerung und des Todes hat er hinterlassen. 1713 ist der Friedensvertrag von Utrecht unterzeichnet worden, im Jahre 1714 der Friedensschluss zu Rastatt und jener von Baden.

Alles ist so gekommen wie von Atto vorhergesehen: Die üppigste Beute haben die englischen Händler gemacht. Sie haben dem spanischen Königreich Gibraltar sowie das Monopol auf den Sklavenhandel abgetrotzt und von Frankreich die nordamerikanischen Kolonien erhalten.

Doch nicht nur jene, die die neuen Zeiten ersannen, auch jene, die ihren Anbruch unterstützten, haben eine Belohnung erhalten.

Kaiser Karl VI., dem Bruder und Nachfolger Josephs, wurden die spanischen Niederlande, Mailand, Mantua, Neapel und Sardinien geschenkt. Am 11. September 1714 sind die französisch-spanischen Truppen Philipps von Anjou, des jetzigen Königs Philipp V. von Bourbone, in Barcelona eingedrungen und haben die Unabhängigkeit der Stadt, die Karl im Stich ließ, um sich auf den ersehnten Kaiserthron zu setzen, im Blut ertränkt.

Die Savoyer sind von den kleinen opportunistischen Herzögen, als die Atto sie mir beschrieb, in den Rang von Königen aufgestiegen, und ihnen wurde Sizilien übergeben – alles ein Verdienst Eugens. Damit ist die italienische Halbinsel jetzt vom Zangengriff der Savoyarden umschlossen: im Norden vom Piemont, im Süden von Sizilien. Eine ausgezeichnete Voraussetzung für das nächste Projekt der Freunde des Derwischs: dass Italien eines Tages einen König bekommt.

1713 ist Landau erneut belagert worden. Dieses Mal jedoch von den Franzosen, denn seit dem Jahr 1704, als Joseph es zum zweiten Mal zurückerobert hatte, war Landau immer im Besitz des Reiches. Wieder musste der Kommandeur der Garnison, Fürst Karl Alexander von Württemberg, aus seinem goldenen und silbernen Essgeschirr Münzen prägen lassen. Ein Schicksal, das sich nun umgekehrt wiederholt, denn dieses Mal haben die Franzosen gewonnen. Schuld ist Prinz Eugen: Hätte er den Krieg nicht bis zum letzten Moment weitergeführt, hätte das Reich Landau behalten.

Attos Prognose über Eugen hat sich bewahrheitet: Karl VI. lässt ihm völlig freie Hand und wird das auch fürderhin tun. Es hat nichts genützt, der Königinmutter den gefälschten Brief Eugens auszuhändigen.

Über der Kaiserlichen Residenz ballen sich jedoch schon dunkle Wolken zusammen. Wie der Derwisch prophezeit hatte, wird das Haus Habsburg bald am Ende sein und Deutschland seinen König haben. Karl VI. hat keine Söhne, nur zwei Töchter. Und Erbe des Kaiserthrons kann nur ein männlicher Nachkomme sein. Karls erstgeborenes Kind war sogar ein Junge, er wurde 1716, vor vier Jahren, geboren, starb jedoch nach wenigen Monaten, geradeso wie Josephs kleiner Sohn. Welch ein Zufall.

Die Erben Karls VI. müssten von Rechts wegen Josephs Töchter sein. Doch das gefällt Karl natürlich nicht. Also hat er 1713, obwohl er nach fünf Ehejahren immer noch ohne Nachkommen war, die Sanctio Pragmatica erlassen: Nach seinem Tod sollen seine Kinder den Thron besteigen, nicht diejenigen Josephs. So wird ihn sein ältestes Töchterchen Maria Theresia beerben, die vor drei Jahren geboren wurde. Ein willkürlicher Akt in jeder Hinsicht. Tatsächlich sind die anderen Länder Europas nicht einverstanden, also fleht Karl seit Jahren schon ein Land nach dem anderen an und beschwört sie, die Pragmatische Sanktion anzuerkennen. Als Gegenleistung verspricht er ihnen goldene Berge, sogar die Überlassung von Hoheitsgebieten. Alles, damit nur ja keine Tochter des verhassten Bruders auf dem Kaiserthron sitzt.

Doch die Ranküne Karls schwächt das Reich. Die deutschen Landesfürsten scharren schon mit den Hufen. Es naht der Moment, da Deutschland sich (wie Palatino angekündigt hatte) vom Reich lösen und seinen Herrscher nicht mehr im katholischen Wien haben wird.

Kurz, wie Atto befürchtete, hat dieser Krieg das Ende der Welt bedeutet, aber er hat sie nicht durch eine neue ersetzt, nein, stattdessen hat die Agonie der Menschheit begonnen. Eine Oligarchie entscheidet jetzt am grünen Tisch über die Geschicke von Ländern, die Tausende Meilen weit entfernt sind: Von Utrecht aus hat man die Kolonien der Neuen Welt und die italienischen Länder verschachert. Politische Allianzen sind nicht mehr der Schwerpunkt der internationalen Diplomatie, sondern nur mehr Scheinoperationen, denn sie werden von den Geldgebern der Königshäuser entschieden. Und wer sich, wie der Allerchristlichste König oder Joseph der Sieghafte, nicht lenken lässt, wird mitsamt seinen Nachkommen außer Gefecht gesetzt. Dynastische Vorrechte oder militärische Eroberungen gelten nichts mehr, nur das Geld zählt, oder vielmehr das Finanzwesen: Hat man nicht just während des Erbfolgekrieges begonnen, Münzen durch Papier zu ersetzen?

Von Freunden, die Cloridia und ich noch in Paris haben, habe ich erfahren, dass das Leben dort noch härter geworden ist, ärger sogar als in Rom, und damit ist alles gesagt.

1715, vor fünf Jahren, ist der Sonnenkönig gestorben, an Gangräne, genau wie Palatino vorausgesagt hatte. Und er hat fast keine Erben hinterlassen: Zwischen 1711 und 1712 sind ihm alle ehelichen Kinder und Enkel gestorben (auch das hatte der Derwisch prophezeit). Es bleibt nur ein Enkelkind von zwei Jahren, Louis, den seine Ammen retteten, indem sie sich mit ihm in einem Flügel des Palasts einschlossen und den Medizi nicht nur verboten, ihn zu berühren, sondern auch, ihn nur zu sehen. Sie sind überzeugt, dass die anderen Mitglieder der Königlichen Familie nicht an ihren Krankheiten, sondern an der Behandlung starben …

Atto Melani hatte es mir in Wien richtig vorausgesagt: «Mit einem König wie dem Grand Dauphin würde Frankreich dem Kreislauf aus Arroganz und Zerstörung endlich entrinnen; doch England und Holland wollen, dass genau das Gegenteil geschieht. Das Land soll immer mehr degenerieren, der Hof muss dem Volk verhasst sein. Es ist ihnen ärgerlich, dass der Allerchristlichste König erwachsene Söhne und Enkel hat; ideal wäre es, wenn es keinen Erben gäbe, oder nur einen Säugling, was gleichbedeutend wäre.»

Vorbei sind die Zeiten, in denen der Allerchristlichste König im Alter von nur vier Jahren auf den Thron steigen konnte. Damals sorgten die Königinmutter Anna von Österreich und der Premierminister Kardinal Mazarin dafür, das Land vor der Einmischung anderer Mächte zu schützen. Jetzt gibt es weder eine Königin noch einen Premierminister.

«Ludwig XIV. hat alle Macht in seinen Händen konzentriert. Stirbt er, würde eine stellvertretende Regentschaft das Land dem erstbesten Intriganten ausliefern, vielleicht sogar jemandem, der aus England oder Holland kommt, um Frankreich zu ruinieren.»

So ist es. Der Tod des Allerchristlichsten Königs war genau das, worauf die Freunde Palatinos gewartet hatten. Schon wenige Monate später betrat, aus Holland kommend, ihr Mann die Bühne. Es ist der Engländer John Law mit seiner Finanztheorie, der Frankreich in einen wirtschaftlichen Ruin getrieben hat, wie man in Jahrhunderten keinen sah.

Heuer ist ein Traktat dieses Betrügers erschienen: Money and Trade Considered, also «Betrachtungen über Geld und Handel». Es gab auch eine französische Übersetzung, aber ich konnte sie nicht finden. Ich verstehe kein Englisch, doch mein Sohn ja: Atto wusste, dass England der wahre Sieger dieses Krieges sein würde, und hat ihm, wenngleich schweren Herzens, neben Italienisch, Lateinisch, Griechisch, Deutsch und Französisch auch Unterricht in der Sprache der Kaufleute erteilen lassen.

So habe ich dank der Hilfe meines Kleinen (der inzwischen schon ein schöner junger Mann ist) endlich schwarz auf weiß vor Augen, mit welcher Ketzerei dieser Law Frankreich den Todesstoß versetzt hat: Denn seiner Meinung nach sind der beste Anreiz für die Steigerung der Produktivität eines Landes – Kredite und Besitz an Papiergeld! Also nicht die guten, alten Münzen, die ihr Gewicht in Gold wert waren. Kurzum, er ist ein Freund der Wucherer.

Mit solchen Lügenmärchen ist es diesem Betrüger gelungen, den Regenten Philippe II. von Orléans zu überreden, ihn 1716 die Banque Générale gründen zu lassen. Der Erbfolgekrieg hatte Frankreich finanziell so sehr in die Knie gezwungen, dass der Regent hoffte, in Law die Rettung gefunden zu haben. Unter dem neuen Namen Banque Royal hat das Geldinstitut von 1718 an ungeheure Mengen an Banknoten ausgegeben und mit Versprechungen, die nur für Einfaltspinsel taugen, an die Franzosen verteilt, um sich als Gegenleistung alles geben zu lassen, was sie an Gold, Silber und Grund besaßen. Waren diese Güter zum Beispiel hundert wert, gab Law dafür Papiere aus, auf denen geschrieben stand: «Dies entspricht dem Wert von fünfhundert», und versprach ihnen, sie könnten ihre Güter jederzeit zurückfordern. Die Untertanen des Königreichs Frankreich sind alle zu ihm geeilt, um ihm gegen Papier ihr Vermögen anzuvertrauen.

Es ist unfassbar, wie naiv diese Franzosen sind. Sie fühlen sich allen anderen überlegen und sind immer bereit, sich zu beweihräuchern, doch dann laufen sie dem erstbesten Scharlatan hinterher.

Im Januar dieses Jahres hat der Regent Law sogar den Posten des Generalkontrolleurs der Finanzen gewährt, jenes Amt, das erst der Oberintendant Fouquet und dann der Minister Colbert innehatten!

Es währte nicht lange. Im März haben die Freunde Palatinos den Todesstreich gegen Frankreich geführt: Sie haben Zweifel an der Glaubwürdigkeit Laws gesät, und siehe da, schon laufen alle Franzosen zur Banque Royal, um Gold, Silber und Grundstücke zurückzufordern, die sie als Pfand für seine Banknoten hergegeben haben. Darauf halbiert der Regent den Wert der Banknoten zunächst, dann lässt er alle Zahlungen einstellen. «Wir haben nichts mehr», teilt die Bank den französischen Untertanen offenherzig mit. Die Bank wird geschlossen, John Law flieht nach Venedig, die Franzosen verarmen.

Atto hatte es vorausgesehen, der Derwisch hatte es angekündigt: Der Wirbelsturm aus wirtschaftlichem Ruin und Empörung des Volkes erhebt sich in Frankreich und breitet sich von dort über ganz Europa aus, das vom Erbfolgekrieg schon entkräftet ist.

Das Geld, das viele Jahrhunderte lang immer den gleichen Wert hatte, ist jetzt, wo es nur noch aus Papier besteht und kein Gold oder Silber mehr ist, jeden Tag weniger wert. Ich gehöre zu den wenigen Bevorzugten, die ruhig schlafen können: Ich habe noch meinen Weinberg in der Josephina.

Und so bin ich nach Wien zurückgekehrt. Doch die Stadt ist nicht mehr wie früher. Im Turm des Stephansdoms hängt die majestätische Glocke, die Joseph aus dem Eisen der türkischen Kanonen gießen ließ und die das Volk bald «die Pummerin» taufte. Sie hat nicht, wie vorgesehen, zum dreiunddreißigsten Geburtstag des Kaisers geläutet. Der Tod kam früher. Also wurde die Pummerin im Oktober aufgehängt und im Januar 1712 eingeweiht, um die Ankunft des neuen Kaisers Karl VI. zu feiern. Doch ein paar Monate später, im Dezember, traf der Zorn Gottes den Usurpator: Die Pest brach aus, wütete während des ganzen Jahres 1713 und raffte achttausend unschuldige Leben dahin. Und wieder entdecke ich einen Verweis auf die Vergangenheit, wieder schließt sich ein Kreis: Das secretum pestis, das Wien vor dreißig Jahren vor der Pest rettete, deren Keim die türkischen Belagerer absichtlich in der Stadt verbreitet hatten, hat diesmal nichts gegen Gottes Strafe vermocht.

Ich habe von dem bösen Ende der Gräfin Marianna Pálffy erfahren, Josephs junger Geliebter, zu der Melani vergeblich Kontakt aufzunehmen versuchte. Kaum war Joseph verschieden, sind die Königinmutter, die Minister und der ganze Hof über sie hergefallen und haben sie gezwungen, die Geschenke ihres verstorbenen Verehrers zurückzugeben. In Ungnade gefallen und vom Hof verbannt, ist sie zur Ehe mit einem Mann von niedrigstem Stand genötigt worden, was ihren Vater, den armen Grafen Johann Pálffy ab Erdöd, einen der treuesten und tapfersten Kommandanten der Kaiserlichen Familie, in tiefe Verzweiflung gestürzt hat.

Seit dem Tag, an dem Joseph I. starb, ist die Sonne nicht mehr blutrot aufgegangen. Es war wirklich ein Vorzeichen, und es ist in der Stadt so berühmt geworden, dass man noch heute davon spricht. Nachdem der Almanach des Englischen Wahrsagers mit seiner Prophezeiung des Todes Josephs I. ins Schwarze getroffen hat, wird er den Verkäufern in ganz Wien aus den Händen gerissen. Für die Engländer sind wahrhaftig goldene Zeiten angebrochen.

Die Italiener dagegen, die vom Hause Habsburg bis hin zu Joseph I. immer so sehr geliebt wurden, sind nicht mehr wohlgelitten. Nun kommen die Franzosen an, herbeigerufen ausgerechnet von dem, der in Spanien ihr erbitterter Feind war: Karl VI. Auch das von Joseph so gepflegte Italienisch wird nach und nach vom Französischen als Hofsprache verdrängt. Kaum in Wien angekommen, hat Karl das gesamte Palastpersonal, das einst seinem verstorbenen Bruder diente, entlassen. Die Ersten, die gehen mussten, waren Josephs liebste Hofmusizi. An ihrer statt hat er andere eingestellt, darunter sehr wenige Italiener. Natürlich waren auch Camillas Dienste nicht mehr erwünscht, und keines ihrer Oratorien ist je wieder aufgeführt worden.

Cloridias Schwester wurde von ihren Erinnerungen so niedergedrückt, dass sie bat, das Kloster wechseln zu dürfen. Ihrer Bitte wurde entsprochen. Jetzt versucht sie, in St. Lorenz Frieden zu finden. Oft kommen die guten Musizi dorthin, um sie zu besuchen, aber sie will niemanden sehen außer meiner Frau.

Trotz alledem ist Wien, die Hauptstadt und Residenz der Kaiser, immer noch der beste Ort, wo man in diesen Zeiten leben kann. In keiner anderen Stadt geht es einem so gut, wenn man abgeschieden von der Welt leben möchte.

Ich wohne endlich in dem Haus mit Weinberg, das der Abbé mir einst in der Josephina vermachte und das in den Herzen meiner Lieben so viele Träume und Hoffnungen nährte.

Auch unsere Mägdlein sind jetzt in Wien; als examinierte und approbierte Wehemütter haben sie die Hebammenlizenz erhalten und sind beide auch selbst Mütter. Cloridia betreibt einen Heurigen, bei dem ihr unser Junge und die beiden Schwiegersöhne zur Hand gehen. Es sind frische, aufgeweckte Römer, die nur allzu glücklich sind, die Hauptstadt des Wuchers verlassen zu haben, um ein Leben zu führen, das diesen Namen verdient. Es braucht starke Arme, den Weinberg zu bestellen, und auch für meinen Sohn ist es gesünder, in der Sonne zu arbeiten, als Ruß einzuatmen. Außerdem sitzt man im Winter besser im warmen Haus, als auf den Dächern zu frieren. Zwar werden Rauchfangkehrer in Wien gut bezahlt, doch Gesundheit hat keinen Preis. Mein Privilegium als Hofbefreiter Rauchfangkehrer nutze ich ohnehin nicht mehr. Ich habe alle Papiere aufbewahrt, ich könnte sogar zur Kaiserlichen Kammer gehen und dasselbe Privilegium für meinen Sohn fordern. Doch die Erinnerung an unsere Verhaftung im Ort Ohne Namen hält mich zurück. Natürlich glaube ich nicht, dass es noch Spuren jener Ereignisse gibt – solche Operationen hinterlassen in keinem Dokument Spuren. Doch man tut gut daran, vorsichtig zu sein, es könnte noch Menschen geben, die Bescheid wissen. Ohnedies wird niemand mehr gebraucht, der die Kamine des Neugebäus reinigt, denn der neue Kaiser will es nicht mehr restaurieren.

Ich gebe zu, mit der Erziehung, die er in Abbé Melanis Haus erhielt, könnte mein Sohn nach Höherem streben, sich weiterbilden, Wissen und Weisheit erlangen. Doch Wissen bedeutet Leiden. Und, wie Abbé Melani sagte, der Boden gibt zu essen und macht frei. Die beste Wahl bleibt immer noch die des Cincinnatus.

Ich habe endlich eine Antwort auf meine Frage gefunden. Den Schrei habe ich nicht mehr gehört, den Gesang der Folia auch nicht. Ich lebe weiter in ehrfürchtigem Schweigen. Doch ich höre all die Gespenster miteinander tuscheln, die mir im Ort Ohne Namen erschienen sind. Sie haben einen Kreis um mich gebildet. Ich sehe Landschaften und Gesichter, die mir nicht unbekannt sind: Das französische Schloss Vaux-le-Vicomte wechselt sich mit der römischen Villa des Schiffs und mit dem Neugebäu ab und der Oberintendant Fouquet mit Maximilian II. und Joseph I. Und wieder kommen mir zwei Daten in den Sinn, die mir oft, zu oft begegnet sind: der 5. und der 11. September.

Der 5. September war der Geburtstag des Allerchristlichsten Königs, doch auch der Tag, an dem er den Oberintendanten Fouquet arretieren ließ; es war der Tag, an dem Süleyman starb und an dem zehn Jahre später Maximilians Todeskampf begann. Über ein Jahrhundert danach wäre das belagerte Wien an ebendiesem Tag wegen eines armenischen Verräters fast den Ungläubigen in die Hände gefallen. Meine Frau Cloridia, die sich gelegentlich zu ihrem Vergnügen mit der okkulten Wissenschaft der Zahlen beschäftigt, hat mich informiert, dass die Summe der Ziffern von Ludwigs Geburtsdatum fünf ergibt und ebenso jene des Todestages von Süleyman, während das Datum der Verhaftung Fouquets zehn, also zweimal fünf ergibt.

Am 11. September 1683 rückten die christlichen Truppen an, um Wien in der Schlacht zu befreien, die sich im Morgengrauen des folgenden Tages ereignete. Und just an diesem 11. September 1683 hatte ich Abbé Atto Melani kennengelernt. Im Jahre 1697 schlug Prinz Eugen an diesem Tag die Türken in der berühmten Schlacht bei Zenta und 1709, wieder am 11. September, die Franzosen bei Malplaquet. Am 11. September 1702 eroberte Joseph zum ersten Male Landau. Am selben Tag des Jahres 1714 fielen Barcelona und Katalonien, nachdem sie von Karl verlassen wurden, durch ein Blutbad in die Hände Philipps V.

Erst jetzt habe ich es begriffen: Ich bin dorthin zurückgekehrt, von wo ich ausging. Du hast empfangen, mehr wirst du nicht bekommen, höre ich die Stimmen flüstern. Jetzt musst du geben. Du hast gelernt, jetzt musst du lehren. Du hast gelebt, jetzt musst du Leben geben.

Vom Tag unserer Ankunft in Wien im Jahre 1711 an hat sich die Vergangenheit mir immer mehr preisgegeben. Zunächst waren es flüchtige Hinweise, wie die Worte Camillas, durch welche Cloridias Mutter wieder auftauchte. Als ich mich dann zum ersten Mal an den Ort Ohne Namen begab, haben sich Vergangenheit und Gegenwart immer mehr ineinander verflochten: Vom Fliegenden Schiff bis zum Tod Ugonios, dem ich vor achtundzwanzig Jahren zum ersten Mal begegnete, bis hin zu den Nachrichten im Corriere Ordinario und dem Wiennerischen Diarium sprach mir alles in der einen oder anderen Weise von der Vergangenheit.

Das Leben hat mir seine Lehre erteilt, indem es alte Melodien aus fernen Tagen für mich wiederholte. Es wird Zeit, das zurückzugeben, was ich als Geschenk erhielt. Vom Zuschauer, der ich war, muss ich zum Akteur für neue Zuschauer werden; vom Schüler zum Lehrenden für andere Schüler; aus dem Krug, der ich war, eine Quelle machen, die sich in andere Krüge ergießt. Wie im Gleichnis von den Talenten bin ich aufgerufen, die Münzen, die mein Herr mir anvertraut hat, nicht in der Erde zu vergraben, sondern sie einzusetzen, um sie zu vermehren. Aber wie? Die Antwort habe ich schon erhalten: mit der Vergangenheit. Mit dem, was Abbé Melani mir in den drei Jahren erzählt hat, die ich bei ihm in Paris verbrachte. Attos Leben wird mein Leben werden, seine Erinnerungen zu meinen. Die Kunst wird meine Zuflucht und meine Werkstatt werden.

So ist das, was vor dreißig Jahren nicht mehr als der Zeitvertreib eines jungen Hausburschen war und siebzehn Jahre später zur einmaligen Auftragsarbeit für Atto wurde, nun zu einer Lebensentscheidung geworden.

Ich schreibe über das vergangene Jahrhundert, das Letzte Jahrhundert der Menschheit. In meinen Büchern verschmelze ich das, was mir gemeinsam mit dem Abbé widerfuhr, und das, was ich durch seine Erzählungen erlebte.

Es ist langwierig, so viel Vergangenheit aufs Papier zu bringen! Manchmal frage ich mich: «Schaffe ich es noch rechtzeitig? Bin ich imstande, es zu tun?» Ich streiche über die Münze von Landau, die Cloridia nie mehr in die Truhe des Prinzen Eugen zurückgelegt hat, und fürchte, dass ich nicht genug Kraft haben werde, diese schon so fernen Zeiten noch lange bei mir zu behalten. Meist arbeite ich, wenn alles um mich herum schläft. Ich werde viele Nächte brauchen, bis der Abdruck der Zeit auf dem Papier erscheint.

In unserer Sinneswahrnehmung gibt es viele Irrtümer, die das wirkliche Leben verfälschen, wenn es denn ein solches gibt. Bei der möglichst exakten Transkription, die ich zu geben bemüht bin, verändere ich die Herkunft von Farben und Klängen nicht, denn ich verzichte darauf, sie von ihrer Ursache zu trennen. Ich beschreibe die hundert Masken, die jedes Gesicht besitzt; manche Personen stelle ich mit jeder noch so geringfügigen Geste dar, weil sie die Ursache tödlicher Erschütterungen war und unsere Gewissheiten irritierte, da sie das Licht des moralischen Himmels veränderte. Bei der Niederschrift eines Universums, das als Ganzes nachgezeichnet werden muss, versäume ich nicht, auch den Leser auftreten zu lassen, doch nicht als körperliche Erscheinung, sondern in Gestalt seiner Jahre, die er, ohne sich dessen immer bewusst zu sein, mit sich schleppt, wenn er sich durch das Leben bewegt. Eine Mühsal, die ihm fortwährend beschwerlicher wird und ihn am Ende überwältigt.

Wir alle haben nicht nur einen Platz im Raum, sondern auch und vorzüglich in der Zeit. Das ist es: Diese Idee, dass die Zeit sich in uns verkörpert, dass die gelebten Jahre sich von uns nicht trennen lassen, das ist die Wahrheit, die alle ahnen und die ich hervorzukehren suche. Und an dem Tag, an dem der Herr über mein Schicksal «den Bogen gespannt» und die Spreu vom Weizen getrennt hat, wird er Rechenschaft von mir fordern, und ich werde die Frucht meiner Arbeit in Seine Hände geben.

Ein Tintenfass und ein Blatt Papier: Ein anderes Mittel, mich den Menschen mitzuteilen, habe ich nicht mehr. Meine Stimme ist nicht zurückgekehrt, ich bin für immer stumm geblieben. An einer Stelle dieser Aufzeichnungen steht geschrieben: «Ich litt an meinem Schweigen, in das jeder eintreten konnte wie an einen Ort verbürgter Gastfreundschaft. Heftig wünschte ich mir, mein Schweigen würde sich ganz um mich herum verschließen.» Nun, es hat sich verschlossen. Darum könnte ich ihm besser gar nicht dienen, diesem schwarzen Strich auf weißem Grund, der mich an Hristos Schachbrett erinnert, meinen Lebensretter.

Die Feder ist meine Stimme. Zwar helfe ich meinen Schwiegersöhnen gelegentlich im Weinberg, doch Schreiben ist das einzige Gewerbe, dem ein Stummer nachgehen kann. Ein Drucker in Amsterdam ist so freundlich, meine Bücher zu drucken und zu verkaufen. Dorthin schicke ich die Manuskripte, in das freie Holland: «Zur Fleißigen Biene» lautet die Adresse, und der Gedanke, dass dies das Sinnbild meiner bescheidenen, aber unermüdlichen Arbeit ist, gefällt mir.

Manchmal packt mich wieder der alte Kummer. Ich hatte Augen, die Welt mit einem Blick zu sehen, der sie so werden ließ, wie mein prophetischer Blick sie zuvor schon sah. Wenn dies nach der Himmlischen Gerechtigkeit so sein musste, dann war es jedoch eine Ungerechtigkeit, mich nicht schon vorher zu vernichten. Das sage ich mir immer wieder aus tiefster Seele.

Habe ich diese Beschwichtigung meiner Todesangst verdient? Was ist es, was da in meinen Nächten wächst? Warum wurde mir nicht die Kraft gegeben, die Sünde dieser Welt mit einem Axthieb auszumerzen? Werden meine Bücher das Gewissen der Menschen erreichen? Warum besitze ich nicht die Kraft, die geschändete Menschheit zum Schreien zu zwingen? Warum ist mein Antwortschrei, den ich Feder und Papier anvertraue, nicht stärker als das gellende Kommando, das die Seelen auf dem ganzen Erdenrund beherrscht?

Ich bewahre Dokumente auf für eine Zeit, die sie nicht mehr verstehen wird, sodass sie sagen wird, es seien Fälschungen. Aber nein, die Zeit, wo man so spricht, wird nicht kommen. In meinen Büchern schreibe ich über eine Tragödie, deren unterlegener Held die Menschheit ist, deren tragischer Konflikt zwischen Welt und Natur mit dem Tod endet. Ach, ich habe keinen anderen Helden als die Menschen, darum hat dieses Drama auch keinen anderen Zuschauer. Doch woran stirbt mein tragischer Held? Er geht an einer Situation zugrunde, die ihn als Rausch und als Zwang überwältigte.

Doch … was wäre, wenn die Menschen eines Tages durch Göttliche Gnade heil aus diesem Abenteuer herauskämen – wie verkümmert, verarmt, gealtert auch immer – und ein höchstes Gesetz der Vergeltung sie einen nach dem anderen zur Verantwortung zöge, die Rädelsführer des universalen Verbrechens, die immer überleben: Palatino, Penicek und alle anderen Diener, die Folterknechte und Satrapen, die Sklaven Beelzebubs? Ach, könnten wir sie doch in ihren Tempeln einschließen und dort durch Losentscheid jeden Zehnten zum Tode verurteilen, um sie dann aber nicht zu töten, sondern zu ohrfeigen! Und ihnen zu sagen: Wie, das habt ihr nicht gewusst? Ihr habt nicht bedacht, dass es nach einer Kriegserklärung unter den zahllosen Möglichkeiten der Gräuel und der Schande auch das Unglück gibt, dass Kindern die Muttermilch fehlt? Wie, ihr habt die Trostlosigkeit einer einzigen angstvollen Stunde während jahrelanger Gefangenschaft nicht ermessen? Ihr habt das Leid eines sehnsuchtsvollen Seufzers, einer besudelten, verletzten, gemordeten Liebe nicht erwogen? Und ihr habt nicht bemerkt, wie die Tragödie sich in eine Farce verwandelte oder – weil das gegenwärtige Grauen sich immer mit dem alten Wahn formaler Korrektheit verbindet – in eine komische Oper? Freilich würde es eine jener widerwärtigen komischen Opern von heute sein, deren Text eine Beleidigung und deren Musik eine Qual ist.

Im Schatten des neuen Dämons aus England, des Finanzwesens, wird die Natur von einer hysterischen Betriebsamkeit vergewaltigt. Deren bewaffneter Arm ist das Papier. Die Zeitungen haben in diesen letzten Jahren eine wahre Explosion erlebt, und nichts deutet darauf hin, dass sie bald enden wird. Und ich wollte als junger Mensch Gazettenschreiber werden! Zum Glück hat Abbé Melani in jenem langvergangenen Jahr 1683 dafür gesorgt, dass mir die Lust an dieser Tätigkeit verging.

Maschinen sind sie, die Zeitungen, und das Leben der Menschen wird ihnen zum Fraß vorgeworfen. Das Leben ist natürlich nur das, was es in einer Zeit wie dieser, einer Maschinenzeit, sein kann; und so entstehen dumme, närrische Hervorbringungen, und alle tragen das Brandzeichen der Vulgarität.

Papier kommandiert den Waffen und hat uns zu Invaliden gemacht, noch bevor die Kanonen ihre ersten Opfer fanden. Waren nicht schon alle Reiche der Phantasie geplündert, als das in den Druckstock gepresste Blatt der bewohnten Welt den Krieg erklärte? Es ist nicht so, dass die Druckerpresse die Maschinen des Todes in Gang gesetzt hätte. Doch sie hat unsere Herzen entleert, sodass wir uns nicht mehr vorstellen können, wie die Welt ohne Zeitungen und ohne Krieg aussähe. An ihr haben sich Völker berauscht, und die Könige der Erde haben Unzucht mit ihr getrieben, und wir alle fielen durch die Schuld dieser Babylonischen Hure, die – gedruckt und in allen Sprachen der Welt verbreitet – uns einredete, dass wir einander Feinde seien und dass es Krieg geben müsse.

Es ist getan. Ich habe geschrieben. Ich habe meine Pflicht erfüllt, bis zum Äußersten. Meine Bücher kämpfen gegen die Zeitungen. Das ist gut so. Niemand kann mehr leugnen, dass ich jetzt zu meiner Vollkommenheit gelangt bin. «Der Stein, der von den Bauleuten verworfen wurde, ist zum Eckstein geworden», heißt es im Psalm, und Simonis hatte es in jener Nacht im Ort Ohne Namen zum Derwisch gesagt.

Gleich dem Sonnenwagen, der im Galopp über den Himmel schießt, bohren sich andere Worte, die Simonis sprach, in meine Gedanken: Das Spiel ist nie ganz aus, die Welt ist der Prüfstein, den der Höchste für die Seelen bereitet hat, darum gehören wir alle zu Gottes Plänen, auch seine Feinde. Zu früh vielleicht habe ich diese Worte vergessen, die ja sogar Palatino einen Schauder einjagten. Es tut mir leid, Simonis, meine Verzweiflung – die entfesselte Kassandra der Letzten Tage der Menschheit – hindert mich daran, deine Worte in mir reifen zu lassen, zumindest jetzt und heute.

Derweil rette ich mich, ich allein, in mein Schweigen, durch mein Schweigen, das mich so vollkommen gemacht hat, wie die Zeit es will.

Nur Cloridia hat es allmählich verstanden, heiter lächelt sie mich an, und unsere Umarmungen haben die Glut von einst. Meine braven Schwiegersöhne hingegen wollen es nicht begreifen. Sie kommen jeden Tag, um mich aus dem Schweigen zu schütteln, in das ich, ein Ding unter den Menschen, nunmehr absolut eingeschlossen bin. Sie möchten, dass ich über mein Los weine, dass ich wenigstens mit den Augen meinen Kummer oder Zorn bekunde, sie möchten, dass auch ich wie sie glaube, das Leben sei dort draußen, im Überfluss der Welt. Ich zucke nicht mit der Wimper, stecke die Feder zurück in das Tintenfass und betrachte meine Schwiegersöhne starr und ungerührt. Und jage sie in die Flucht. Meine Töchter studieren für mich die neuen Traktate über Nervenleiden, die jetzt bei jungen Ärzten so in Mode sind – Ärzten, die nichts anderes können, als das Skalpell in der Hand zu halten, um Leichen zu sezieren. Nicht ein einziges Gedicht wissen sie mehr zu schreiben. Als könnte es Wissenschaft ohne die Künste geben … Meine Mädchen schlagen mir Punktionen und Balsame vor, sie bedrängen mich, wollen mich überreden, meine Stimmbänder von einem berühmten Medikus untersuchen zu lassen.

Nein danke. Ich danke euch allen. Jetzt ist es genug. Ich will so bleiben. Die Zeit ist so, das Leben ist so; und in dem Sinn, den ich meinem Gewerbe gebe, möchte ich weiter auf genau diese und keine andere Weise – stumm und unbeirrt – Schriftsteller sein.

Ist die Bühne bereit?

Vorhang auf!