Käyserliche Haupt-
und Residenz-Stadt Wienn

Donnerstag, den 9. April 1711

ERSTER TAG

11. Stunde, wenn Handwerker, Sekretäre, Sprachlehrer, Priester, Handelsdiener, Lakaien und Kutscher zu Mittag speisen

Gierig schlürfte ich einen heißen Kräuteraufguss, betrachtete von Zeit zu Zeit den spielenden Knaben und blätterte derweil im Neuen Crackauer Schreib-Calender auf das Jahr 1711, der mir zufällig in die Hände gefallen war. Bald würde es Mittag schlagen, und soeben hatte ich in der Gastwirtschaft zum bescheidenen Preis von acht Kreuzern das gewohnte üppige Mahl aus sieben, reichlich mit Fleisch bestückten Gängen zu mir genommen, welches für zehn Männer (und zwanzig von meiner Statur) ausgereicht hätte, hier in Wien jedoch grundsätzlich an jedem Tag der Woche und jedem beliebigen Handwerker serviert wurde, während es in Rom nur für einen Kirchenfürsten erschwinglich gewesen wäre.

Bis vor ein paar Monaten hätte ich mir nicht vorzustellen vermocht, dass mein Bauch sich derart füllen ließ.

So aber half ich mir, wie jeden Tag, mit der wohltätigen Wirkung von Cloridias verdauungsfördernden Absuden, derweil ich schläfrig in meinen brandneuen Sessel aus hellgrüner Brokatelle sank.

O ja, in diesem 1711. Jahr nach der Geburt Christi, unseres Erlösers, oder auch – wie der Crackauer Schreib-Calender ins Gedächtnis rief – 5660 Jahre nach der Erschaffung der Welt, 3707 Jahre nach dem ersten Osterfest, 2727 Jahre nach dem Bau des Tempels durch Salomon, 2302 Jahre nach der Babylonischen Gefangenschaft, 2463 Jahre nach der Gründung Roms durch Romulus, 1757 nach dem Beginn des Römischen Reiches unter Julius Cäsar, 1678 nach der Auferstehung Jesu Christi, 1641 nach der Zerstörung Jerusalems unter Titus Vespasianus, 1582 nach der Einführung der Fastenzeit von 40 Tagen und der Anordnung der Heiligen Kirchenväter, dass alle Christen müssten getauft sein, 1122 Jahre nach der Entstehung des Osmanischen Reiches, 919 Jahre nach der Krönung Karls des Großen, 612 nach der Eroberung Jerusalems durch Gottfried von Bouillon, 468 Jahre nachdem die teutsche Sprache statt der lateinischen in offiziellen Kanzleischriften gebraucht wurde, 340 Jahre nach der Erfindung der Büchse, 258 nach der Eroberung Konstantinopels durch die Ungläubigen, 278 nach der Erfindung des Buchdrucks dank des Ingeniums eines Johannes Gutenberg aus Mainz und 241 Jahre nach jener des Papiermachens durch Anton und Michael Gallician, 220 Jahre nachdem Christophorus Columbus aus Genua die Neue Welt entdeckte, 182 Jahre nach der ersten türkischen Belagerung Wiens und 28 nach der zweiten und letzten, 129 Jahre nach der Korrektur des Gregorianischen Kalenders, 54 nach der Erfindung der Perpendicular-Uhren, 61 nach der Geburt Clemens XL, unseres Papstes, 33 Jahre nach der Geburt Ihro Kaiserlicher Majestät Joseph I. und 6 nach seiner Besteigung des Kaiserthrons, nun, in ebendiesem glanzvollen Anno Domini, welches wir schrieben, besaßen Cloridia und ich endlich einen Sessel, ja sogar deren zwei.

Sie waren uns nicht von einer mitleidigen Seele geschenkt worden, wir hatten sie mit den Erträgen unseres kleinen Familienbetriebs selbst gekauft und genossen ihrer in unserer Unterkunft im Augustinerinnenkloster, wo wir weiterhin wohnten, bis die Aufstockungsarbeiten unseres Hauses in der Josephina beendet sein würden.

An diesem Tag, dem ersten Donnerstag nach Ostern, waren seit unserer Ankunft in der Kaiserlichen Hauptstadt fast zwei Monate vergangen, und in unserem Leben gab es nunmehr keine Spur der Hungersnot mehr, die uns in Rom so heftig zugesetzt hatte.

All das dank meiner Arbeit als Schornsteinfeger oder, genauer, als Hofbefreiter Rauchfangkehrer, wie man hierzulande sagt, wo auch das niedrige Volk nicht darauf verzichtet, sich mit großen und kleinen Titeln aller Art zu schmücken. Was in Italien, wie ich schon sagte, als eines der gemeinsten und schmachvollsten Gewerbe galt, wurde hier im Erz-Herzogtum Österreich ob und unter der Enns als eine Kunst geschätzt und erfreute sich allerhöchster Anerkennung. Wurden wir dort als Unglücksbringer angesehen, wetteiferte hier auf der Straße alles darum, unser Dienstgewand berühren zu dürfen, weil es, so sagte man, Glück bringe.

Das war nicht alles: Durch die Tätigkeit als Schornsteinfegermeister erwarb man einen hochachtbaren gesellschaftlichen Stand und beneidenswerte wirtschaftliche Erträge. Und so könnte ich wohl sagen, dass ich keine andere Arbeit auf dieser Welt kannte, die, je nach dem Lande, wo sie ausgeübt, geschätzter oder verachteter wäre.

Hier sah man keine zerlumpten Schornsteinfeger, die von Stadt zu Stadt zogen, um ein bisschen Arbeit und eine warme Suppe zu erbetteln. Keine Ausbeutung kleiner Kinder, die den ärmsten Familien entrissen wurden; kein fam, füm, frecc, also «Hunger, Rauch, Kälte», die drei schwarzen Condottieri, mit denen man jenes unglückselige Gewerbe in den armen Alpentälern Norditaliens kennzeichnete.

Nein, man musste diese Täler nur eben hinter sich lassen und hier in die Kaiserstadt gelangen, um alles in sein Gegenteil verkehrt vorzufinden: In Wien gab es ausschließlich ortsansässige Schornsteinfeger mit ordentlichem Schutzpatent, Mitgliedschaft in der Innung, festen Tarifen (zwölf Pfennig für eine gewöhnliche Säuberung), genau geregelten Dienstgraden (Meister, Geselle und Lehrjunge) und einem Haus mit Werkstatt, oft sogar, wie auch in meinem Fall, mit dazugehörigem Hof und Weingarten.

Und zu meiner großen Überraschung waren die Wiener Schornsteinfeger allesamt Italiener.

Die ersten waren vor zwei Jahrhunderten gekommen, zusammen mit Baumeistern, welche die Errungenschaften der Italiener in der Baukunst in Wien verbreiteten. Die immer dichtere Bebauung führte freilich zu einer steigenden Anzahl von Bränden, sodass Kaiser Maximilian I. beschloss, die Schornsteinfeger in Wien fest anzustellen. Im Stammhaus unserer Zunft hing noch ein Dokument aus dem Jahre 1512 an der Wand, das geradezu wie eine Reliquie verehrt wurde: der Befehl des Kaisers, einen gewissen «Hans von Maylanth», Giovanni aus Mailand, den ersten unserer Zunftgenossen, als Schornsteinfeger einzustellen.

Anderthalb Jahrhunderte später hatten wir uns in der Hauptstadt einen so festen Platz erobert, dass uns zur Ausübung des Gewerbes ein regelrechtes Schutzpatent mit kaiserlicher Erlaubnis verliehen wurde. Da wir Italiener die Kunst des Kaminkehrens im Reich eingeführt hatten, setzten wir seit zweihundert Jahren alles daran, dass sie für immer in unseren Händen blieb. Martini, Minetti, Sonvico, Perfetta, Martinolli, Imini, Zoppo, Toscano, Tondu, Monfrina, Bistorta, Frizzi, De Zuri, Gatton, Ceschetti, Alberini, Cecola, Codelli, Garabano, Sartori, Zimara, Vicari, Fasati, Ferrari, Toschini, Senestrei, Nicoladoni, Mazzi, Bullone, Polloni – das waren die Namen, die in den Betrieben der Rauchfangkehrer immer wieder auftauchten: alles Italiener, alle miteinander verwandt. So war das Gewerbe des Schornsteinfegers sogar zum vererbten Recht geworden; es ging vom Vater auf den Sohn, vom Schwiegervater auf den Schwiegersohn oder den nächsten Verwandten über und wurde, wenn es an Verwandten fehlte, dem zweiten Ehemann der Witwe übertragen. Ja, es konnte sogar verkauft werden. Dieses sehr seltene und lukrative Gut kostete nicht weniger als zweitausend Gulden, eine Summe, die nur sehr wenige Handwerker aufbringen konnten. Kein Tag verging, ohne dass ich voll Dankbarkeit an die großzügige Geste des Abbé Melani dachte.

Wenn meine Landsleute, die Schornsteinfeger auf der italienischen Halbinsel, wüssten, in welcher Hölle sie lebten und welches Paradies sich direkt hinter den Alpen befand!

Ich verdiente mehr als genug. Jedem von uns Rauchfangkehrern wurde ein Stadtviertel oder ein Vorort zugewiesen. Ich für meinen Teil hatte das Glück gehabt, jenes Gewerbe zu erhalten, das zuständig war für den Bezirk der Josephina, oder auch Josephstadt, nach dem Namen unseres Kaisers. Dieses Viertel, wo bescheidene Handwerker wohnten, lag sehr nah bei der inneren Stadt, umfasste jedoch auch einige Sommerresidenzen des Hochadels, welche mir in einem Monat mehr einbrachten, als ich in meiner Heimat seit meiner Geburt je verdient hatte.

Da ich Italiener war, hatte Abbé Melani kaum Schwierigkeiten gehabt, einen Betrieb für mich zu finden. Und mit Geld hatte er ohnehin alles erreicht. Er hatte nur die erforderlichen Papiere fälschen müssen – Geburtsurkunde, Curriculum et coetera –, damit die Innung der Rauchfangkehrer nicht bei Hofe protestierte. Als ich mich meinen Zunftgenossen vorstellte, hatten sie mich, um die Wahrheit zu sagen, recht kühl empfangen, und ich konnte es ihnen nicht verdenken: Meine Ernennung zum «Hofbefreiten» Rauchfangkehrer wurde mir von meinen Kollegen verübelt, hatten sie sich doch im Schweiße ihres Angesichts erarbeiten müssen, was mir auf dem Silbertablett überreicht worden war. Außerdem misstrauten sie mir, weil niemand je gehört hatte, dass es Schornsteinfeger in Rom gab. Meine Zunftbrüder stammten nämlich alle aus den Alpentälern oder sogar aus dem Tessin und Graubünden. Bei meinen ersten Kaminreinigungen hatten sie mich begleitet, um sich zu vergewissern, dass ich meine Arbeit ordentlich auszuführen wusste. Attos Geld vermochte vieles in Wien, gewiss, aber einen Dilettanten zum Schornsteinfeger machen, der eines Tages vielleicht sogar die Stadt in Brand gesetzt hätte, konnte es sicherlich nicht.

Und so hatte ein neues Leben für meine Familie und mich begonnen, in der Hocherhabenen Kaiserlichen Residenzstadt, wo man sich, wie Kardinal Piccolomini einst verwundert bemerkt hatte, auch beim Betreten der bescheidensten Häuser in einem Fürstenpalast wähnen musste und wo Tag für Tag eine schier unglaubliche Menge an Lastkarren durch die massiven, wehrhaften Mauern in die Stadt fuhr: Wagen voller Eier, Krebse, Brot aus Mehl, Fleisch, Fisch, Geflügel sonder Zahl, über dreihundert Karren randvoll mit Wein. Und wenn der Abend anbrach, war alles verschwunden. Atemlos beobachteten Cloridia und ich das gierige, leiblichen Genüssen ergebene Volk, das an jedem Sonntag verzehrte, was wir uns in Rom in einem Jahr hätten erarbeiten müssen. Zu solcher Opulenz, zu diesem ewigen, üppigen Bankett waren auch wir jetzt geladen.

Atto Melanis Großzügigkeit war in Wahrheit einer glücklichen Fügung zu verdanken: Ihre Kaiserliche Majestät Joseph I. wünschte nämlich, ein altes Gebäude restaurieren zu lassen, das vor den Toren Wiens lag, und er benötigte einen Schornsteinfegermeister zur Erneuerung der Rauchabzüge sowie zur Verbesserung der Sicherheitsvorkehrungen gegen die Feuersbrünste, welche sich offenbar in immer rascherer Folge häuften. Kurz nach meiner Ernennung hatte es allerdings wiederholt starke Schneefälle gegeben, was den Beginn meiner Arbeit verzögert hatte, und überdies war ein Teil des Gebäudes eingestürzt, wodurch einige Maurerarbeiten notwendig wurden. Heute sollte ich die kaiserliche Besitzung endlich zum ersten Mal in Augenschein nehmen.

Eines nur blieb mir unverständlich: Warum hatte der Kaiser nicht einen der vielen anderen Rauchfangkehrermeister des Hofes, welche sich schon um die zahlreichen königlichen Residenzen kümmerten, mit dem Amte beauftragt?

Abbé Melani hatte in unserem Namen ein eingeschossiges Häuschen bei der Michaelerkirche in der Josephstadt erworben und sogar jene Aufstockungsarbeiten veranlasst, deren Abschluss wir erwarteten: Bald sollten meine Familie und ich den großen Luxus genießen, ein eigenes Häuschen zu besitzen, darin das Erdgeschoss für das Gewerbe und das erste Stockwerk für die Wohngemächer bestimmt waren. Ein wahrer Traum war das für uns, nachdem wir in Rom so tief gesunken waren, dass wir zusammen mit einer anderen armen Familie in Kellerräumen aus Tuffstein hausen mussten …

Jetzt aber hatten wir unseren beiden Jungfräulein, die dort unten geblieben waren, sogar ansehnliche Summen Geldes schicken können und planten, sie nach Wien kommen zu lassen, sobald die Arbeiten an unserem neuen Haus beendet waren.

Atto hatte in seiner Schenkung außerdem den Lohn für einen Hauslehrer vorgesehen, der den Knaben Italienisch lesen und schreiben lehren sollte, «sintemalen das Italiänische», so schrieb er in seinem Begleitbrief, «eine weitverbreitete Sprache, ja sogar das offizielle Idiom des Kayserlichen Hofes ist, wo man fast nichts anderes spricht. Wie schon sein Vater und sein Großvater pflegt der Kaiser italiänische Predigten zu hören, und die Cavalieri dieses Landes haben eine so tiefe Neigung zu unserer Nation gefasst, dass sie einander zu übertreffen suchen in ihrem Bestreben, nach Rom zu reisen und sich dortselbst unsere Sprache zu eigen zu machen. Und wer ihrer kundig ist, genießt im ganzen Reiche hohe Wertschätzung und hat keine Erfordernis, die lokalen Idiome zu lernen.»

Ich war Melani unendlich dankbar, obwohl es mich ein wenig gekränkt hatte, dass ich in seinem Brief kein persönliches Wort, keine Nachricht über sein Befinden, keinen Ausdruck der Zuneigung gefunden hatte. Doch vermutlich, so dachte ich, war der Brief von seinem Sekretär verfasst worden, da Atto zu alt und wahrscheinlich zu krank war, um sich mit derartigen Nebensächlichkeiten zu befassen.

Ich für meinen Teil hatte ihm natürlich einen Brief voll des Dankes und der Bekundungen meiner Treue zurückgeschrieben. Sogar Cloridia hatte ihr jahrelanges Misstrauen gegen Atto überwunden und ihm einige Zeilen gerührter Dankbarkeit geschickt, zusammen mit einer erlesenen Häkelarbeit, der sie sich wochenlang eifrig gewidmet hatte: ein warmes, weiches Schultertuch nach Art eines flandrischen Gambellotto, in Gelb und Rot, den Lieblingsfarben des Abbés, mit aufgestickten Initialen.

Wir hatten keine Antwort auf unsere Dankesbezeugungen erhalten, aber angesichts seines fortgeschrittenen Alters wunderte uns das nicht.

Der Kleine befleißigte sich nun darin, einfache Sätze im germanischen Idiom in sein Heftchen zu übertragen. Sie mussten in einer besonderen, äußerst schwer zu entziffernden Frakturschreibschrift geschrieben werden, die man hier «Kurrent» nannte.

Zwar verhielt es sich tatsächlich so, wie Abbé Melani gesagt hatte, dass Italienisch in Wien die Sprache des Hofes war und sogar die Herrscher ihre Briefe an den Kaiser auf Italienisch und nicht auf Deutsch schreiben mussten. Doch den einfachen Leuten aus dem Volk war das Deutsche lieber; darum war es für einen Kaminkehrer durchaus dienlich, um der Ausübung seines Gewerbes willen, wenigstens über gewisse Grundkenntnisse zu verfugen.

Solches bedenkend, hatte ich das Salär, das Atto für einen italienischen Sprachlehrer bestimmt hatte, dafür verwendet, einen Präzeptor in der hiesigen Zunge zu bezahlen, denn meinen Sohn in seiner Muttersprache auszubilden, wollte ich selbst besorgen, wie ich es schon mit Erfolg bei seinen beiden Schwestern getan hatte. Also empfingen Cloridia, der Kleine und ich jeden zweiten Abend den Lehrer, der ein paar Stunden lang versuchte, unseren armen Geistern auf den Pfaden des unergründlichen Universums der teutonischen Sprache heimzuleuchten. Dass diese über alle Maßen schwierig sei und mit anderen Sprachen nahezu nichts gemein habe, beklagte schon Kardinal Piccolomini, und es ist bewiesen, seitdem Giovanni da Capistrano bei seinem Aufenthalte in Wien seine Predigten gegen die Türken von der Kanzel am Karmeliterplatz auf Lateinisch hielt. Hatte er geendet, überließ er einem Dolmetscher das Wort, und dieser benötigte drei Stunden, um alles auf Deutsch zu wiederholen.

Während das Bübchen schnell Fortschritte machte, mühten mein Weib und ich uns qualvoll ab. Mehr Erfolg hatten wir zum Glück beim Lesen, daher konnte ich, wie soeben angedeutet, am späten Vormittage jenes 9. April des Jahres 1711 in der kurzen Pause nach dem Mittagsmahl (fast) mühelos den Neuen Crackauer Schreib-Calender überfliegen, verfasst von Matthias Gentilli, dem Grafen Rodari aus Trient. Mein Söhnchen kritzelte unterdessen zu meinen Füßen etwas und wartete darauf, mit mir zur Arbeit zurückzukehren.

Wie jeder Rauchfangkehrermeister in Wien hatte auch ich nämlich meinen Lehrjungen, und dieser war natürlich mein Kleiner, der mit acht Jahren schon mehr gelitten, aber auch mehr gelernt hatte als ein Kind, das doppelt so alt war.

Kurz darauf erschien Cloridia, um mich abzuholen.

«Los, lauf und sieh dir das an! Sie werden gleich ihren Einzug in der Straße halten. Ich muss zurück ins Palais.»

Dank geschickter Verhandlungen der Chormeisterin hatte meine Frau nämlich eine sehr respektable Anstellung unweit des Ordenshauses gefunden. In der Himmelpfortgasse lag ein Gebäude von höchster Bedeutung: das Winterpalais Seiner Durchlaucht Prinz Eugen von Savoyen, Präsident des Kaiserlichen Hofkriegsrates, ruhmreicher Heerführer im Krieg gegen Frankreich und triumphaler Sieger über die Türken. Nun, an diesem Tag sollte in seinem Palais ein wichtiges Ereignis statthaben: Um die Mittagsstunde wurde die Ankunft einer osmanischen Gesandtschaft aus Konstantinopel erwartet. Eine große Gelegenheit für meine Gattin, die in Rom, aber von einer türkischen Mutter geboren war, einer armen, in die Hände der Feinde gefallenen Sklavin.

Vor zwei Tagen, am Dienstag, war bei der Leopoldinsel, in jenem Abschnitt der Donau, der nächst den Bollwerken vorbeifließt, mit fünf Schiffen und einem Gefolge aus etwa zwanzig Personen der Türkische Aga Cefulah Capichi Pascha in Wien eingetroffen, und man hatte ihm eine würdige Unterkunft auf der besagten Insel angeboten. Was der Botschafter der Hohen Pforte aber in Wien wollte, war durchaus nicht begreiflich.

Der Frieden mit den Osmanen währte nunmehr seit vielen Jahren, seit jenem fernen 11. September 1697, als Prinz Eugen sie in der Schlacht bei Zenta geschlagen und gezwungen hatte, in den nachfolgenden Friedensschluss von Karlowitz einzuwilligen. Krieg herrschte derzeit nicht mehr mit den Ungläubigen, sondern mit dem durch und durch katholischen Frankreich, wegen der spanischen Thronfolge. Die Wogen der sonst so stürmischen Beziehungen zur Pforte schienen geglättet. Sogar im friedlosen Ungarn, wo sich die Kaiserlichen Heere und jene Mohammeds seit Jahrhunderten bekämpften, schienen die kaiserfeindlichen Fürsten, die immer im Aufruhr und zum Kampfe bereit waren, von unserem geliebten Joseph I., nicht umsonst «der Sieghafte» genannt, endlich gezähmt.

Nichtsdestoweniger war in der zweiten Märzhälfte ein Bote aus Konstantinopel eingetroffen und hatte dem Durchlauchtigsten Prinz Eugen eine außerordentliche Ambassade des Türkischen Agas avisiert, welche noch vor Ende dieses Monats in Wien eintreffen werde. Ein Entschluss, den der Großwesir Mehmet Pascha im letzten Moment erst getroffen haben konnte, da er nicht einmal die Gelegenheit hatte, den Boten mit dem geziemenden zeitlichen Abstand vorauszuschicken. Die Sache hatte die Pläne des Savoyers einigermaßen durcheinandergebracht: Schon seit der Monatsmitte war nämlich alles bereit für seine Abreise nach Den Haag, dem Kriegsschauplatz.

Die Entscheidung dürfte dem Großwesir im Übrigen keineswegs leichtgefallen sein: Wie nämlich in einem Fliegenden Blatte bemerkt wurde, auf das ich zufällig gestoßen war, werden für die Fahrt von Konstantinopel nach Wien im Winter bis zu vier Monate benötigt, und es ist dies eine überaus beschwerliche und gefährliche Reise, da man nicht nur offene Städte wie Hadrianopolis, Philippopolis und Nikopolis durchqueren muss, zu denen gleichwohl auch so schmutzige Orte wie Sophia gehören, wo den Pferden in allen Straßen der Schlamm bis zu den Knien steht, oder durch elende Ortschaften in brachen, unbewohnten Ebenen kommt, wie das osmanische Selivrea oder Kinigli, das bulgarische Hisardschik, Dragoman und Calcali, und vorbei an befestigten Palisadengewerken, wie Pascha Palanka, Lexinza und Raschin, verfallene Kastelle am Grenzlauf, wo der Sultan Truppen türkischer Soldaten, die von der Welt seit wer weiß wie langer Zeit vergessen waren, vor sich hin vegetieren ließ.

Nein, die eigentliche Schwierigkeit der Reise bestand darin, die Schluchten der bulgarischen Gebirge zu überwinden, engste Schlünde, wo nur jeweils ein Karren hindurchkommt; sie bestand darin, den nicht weniger furchterregenden Pass der Trajanspforte zu bezwingen und sich über äußerst schlechte Straßen voll zähen, häufig mit Steinen vermischten Schlammes zu quälen, Schnee und Eis und heftigen Winden zu trotzen, die sogar große Wagen umwerfen konnten. Und es galt, die Save und die Morava zu überqueren, die acht Reisestunden südlich von Belgrad bei Semendria in die Donau fließt: Flüsse, die im Winter keine Brücken haben, weder aus Holz noch aus Booten, weil diese gewöhnlich den herbstlichen Überschwemmungen zum Opfer fallen. Schließlich musste man sich, erschöpft von der Reise, an Bord der türkischen Schaluppen den eiskalten Wassern der Donau anvertrauen, wo man fortwährend Gefahr lief, dass die Boote vom Eis zerschmettert wurden, im allerschlimmsten Falle womöglich am schrecklichen Engpass des Eisernen Tores, welcher maxime bei Niedrigwasser überaus grässlich ist.

Nicht zufällig war es seit den ersten osmanischen Gesandtschaften Brauch, die lange Reise während der schönen Jahreszeit zu unternehmen und in Wien zu überwintern, um dann im folgenden Frühling wieder aufzubrechen. Niemals hatte es auf osmanischer Seite Ausnahmen von dieser Regel gegeben. Und in Wien entsann man sich noch mit Entsetzen der Unbilden, welche die Mission des Staatsrates, Kammerherren und Präsidenten des Reichshofsrates Graf Wolfgang zu Oettingen-Wallerstein erleiden musste, der nach dem Friedensschluss zu Karlowitz am 26. Januar 1699 von Ihrer Kaiserlichen Majestät Leopold I. als Großbotschafter zur Hohen Osmanischen Pforte entsandt worden war. Oettingen-Wallerstein hatte die Vorbereitungen für die Abreise zu lange hinausgezögert und sich erst am 20. Oktober entschlossen, mit seinem Gefolge aus 280 Personen auf der Donau gen Konstantinopel zu fahren – und als er um Weihnachten auf den unwirtlichen Bergen Bulgariens angekommen war, musste er fürwahr, wie man so sagt, sein blaues Wunder erleben.

Des ungeachtet und wider alle Tradition hatte der Türkische Aga sich mitten im Winter in Marsch gesetzt. Der Großwesir musste eine wirklich dringliche Sendung für Prinz Eugen haben, was die Kaiserlichen und alle Wiener in nicht geringes Zittern versetzte. Täglich richtete man besorgte Blicke auf die Ufer der Donau, in Erwartung, von ferne schon die Fanfare der Janitscharen zu vernehmen und alsbald die siebzig oder mehr Schiffe zu erblicken, mit denen der Aga und sein zahlreiches Gefolge eintreffen würden. Man rechnete mit der Ankunft etwa eines halben Tausends Menschen; auf jeden Fall aber mit nicht weniger als dreihundert, wie seit fast einem Jahrhundert üblich.

Der Türkische Aga war erst am 7. April, mit mehr als einer Woche Verspätung, an seinem Ziel angelangt. An diesem Tag war die Spannung bis aufs äußerste gestiegen: Sogar Kaiser Joseph I. hatte es für politisch ratsam gehalten, den Türken ein indirektes Zeichen seines Wohlwollens zu geben, und so hatte er der Kirche der Barfüßigen Karmeliter, die sich auf der Insel St. Leopold in der Donau befand, just jenem Viertel, wo die Türken beherbergt werden sollten, mit seiner Familie einen Besuch abgestattet. Wie groß war jedoch die allgemeine Überraschung, als der Aga, begleitet von flatternden Fahnen, Pauken und klingenden Flöten, auf der Insel landete und man gewahr wurde, dass er nicht mehr als zwanzig Personen in seinem Gefolge hatte! Wie ich später lesen konnte, hatte er außer dem Dolmetscher nur seine engsten Diener bei sich: den Hofmarschall, den Schatzmeister, den Sekretär, den Ersten Kammerdiener, den Stallmeister, den Küchenmeister, den Kaffeemeister und den Imam, über den das Fliegende Blatt mit Verwunderung anmerkte, dass er kein Türke, sondern ein indischer Derwisch sei. Niedere Diener, Köche, Reitknechte und andere mehr waren während der Reise unter den Osmanen in Belgrad angeworben worden, wie auch zwei Janitscharen, die sich jeweils als Fahnen- und Munitionsträger des Agas betätigen mussten. Ebendiese Verringerung des Gefolges hatte dem Aga erlaubt, Wien nach einer nur zweimonatigen Reise zu erreichen, tatsächlich war er am 7. Februar in Konstantinopel aufgebrochen.

Am heutigen Morgen sollte die Gesandtschaft – indem sie die Stadt über die Schlagbrücke betrat, um dann unter dem Rothen Turm, an einem Platz, der Lugeck heißt, und am Stephansdom vorbeizukommen – ihren Einzug in das Palais Seiner Durchlaucht des Prinzen halten, der zu diesem Behufe eine sechsspännige Kutsche sowie vier gesattelte und mit Gold und Silber aufgezäumte Pferde für das Geleit des Ambassadeurs vorausgeschickt hatte.

Ich stürzte in größter Eile nach draußen, gerade noch rechtzeitig. Unter den neugierigen Blicken der Menge war der Geleitzug bereits aus der Kärntnerstraße in unsere Gasse eingebogen, angeführt zu Pferde vom Oberstleutnant der Garden, dem Offizier Herlitzka, gefolgt von zwanzig Soldaten der Stadtguardia, die während des gesamten Aufenthalts für die Sicherheit der Gesandtschaft verantwortlich waren. Wegen der gewaltigen Staubwolke, die der Konvoi aufwirbelte, dem großen Zustrom gaffender Volksmassen und dem Ungestüm der sich nähernden Pferde musste ich stehen bleiben und mich an die Mauer des Eckhauses zwischen Himmelpfortgasse und Kärntnerstraße drücken. Zuerst zog die Kutsche des Kaiserlichen Spesierungs-Commissars vorbei, der die türkische Ambassade an der Grenze mit dem Zeremoniell des sogenannten Wachwechsels empfangen und bis in die Hauptstadt geleitet hatte. Dann folgte – unter allseitigem Staunen – ein wunderlicher Reiter in fortgeschrittenem, gleichwohl nicht bestimmbarem Alter, der, wie ich von Stimmen in der Menge hörte, jener indische Derwisch war. Darauf drei Chiaus oder auch türkische Gerichtsvollzieher, von denen einer auf der rechten Seite ritt und sein Pferd von zwei Dienern zu Fuß führen ließ. Dieser Chiau schwenkte beidhändig das Akkreditierungsschreiben des Großwesirs. Es war von grünem, mit silbernen Blumen besticktem Taffet gänzlich eingehüllt und auf zinnoberroten Atlas gebettet, der das Siegel des Großwesirs in rotem Lack und mit reingoldener Siegelkapsel trug. Zu seiner Linken ritt der Dolmetscher der Hohen Pforte.

Schließlich erblickten wir die vom Prinz Eugen gesandte sechsspännige Kutsche, darin die murmelnde, neugierig wogende Menge den Türkischen Aga, eingehüllt in ein Gewand aus gelbem Atlas und einen Überwurf aus rotem, mit Zobel gefüttertem Drap, erkannte. Sein Haupt war vom großen Turban bedeckt. Ihm gegenüber saß, wie ich aus der Unterhaltung zweier Weiblein zu erhaschen meinte, der Kaiserliche Dolmetscher. Zu beiden Seiten der Kutsche eilten schnaubend und sich mit Ellenbogen Platz verschaffend zwei Lakaien des Savoyers und vier Diener des Agas, gefolgt von einem weiteren türkischen Reiter, von dem es hieß, er sei der Erste Kämmerer. Den Zug beschlossen Diener des Agas, gefolgt von den Soldaten der städtischen Guardia.

Auch ich näherte mich dem Palais des Prinzen. Wie erwartet, stieß ich, kaum vor dem Hauptportal angekommen, auf Cloridia, die lebhaft mit einem der türkischen Lakaien disputierte.

Wie ich schon bemerkte, hatte meine Gemahlin durch Vermittlung der Chormeisterin Camilla de’ Rossi eine zwar befristete, doch gutbezahlte, honorable Anstellung gefunden: Dank ihrer Herkunft beherrschte sie nämlich das türkische Idiom recht gut und damit auch die lingua franca, nämlich jene dem Italienischen nicht unähnliche Sprechweise, die vor Jahrhunderten von Genuesern und Venezianern in Konstantinopel eingeführt worden war und welche die Osmanen häufig verwendeten. Darum war Cloridia eingesetzt worden, als Mittlerin zwischen dem Personal des Ambassadeurs und der Dienerschaft des Prinzen Eugen zu wirken. Denn damit konnten sich die beiden Dolmetscher, welche die offiziellen Gespräche der beiden Potentaten zu übersetzen hatten, wahrhaftig nicht auch noch befassen.

«Na gut, aber nicht mehr als eine Karaffe!», sagte Cloridia abschließend zu dem Lakaien.

Ich sah sie fragend an: Obwohl sie die letzten Worte auf Italienisch gesprochen hatte, warf der türkische Diener ihr ein schlaues, wissendes Lächeln zu.

«Er ist bei Zenta festgenommen worden und hat während der Gefangenschaft ein wenig Italienisch gelernt», erklärte mir Cloridia, während der Mann hinter dem großen Portal des Palais verschwand. «Wein, Wein, immer wollen sie trinken! Ich habe versprochen, dass ich ihm und seinen Freunden heimlich eine Karaffe mitgebe, ich werde die Schwestern in der Himmelpforte darum bitten. Aber nur eine! Sonst erfährt es der Aga und lässt sie alle um einen Kopf kürzer machen. Und dabei teilt der Spesierungs-Commissar jeden Tag drei Okka Wein, zwei Okka Bier und ein halbes Okka Kochwein an die Armenier, die Griechen und die Juden im Gefolge des Agas aus. Warum bekennen diese Türken sich nicht zu unserem Gott? Der lässt sogar die Priester in der Kirche Wein trinken!»

Dann machte Cloridia Anstalten, dem Kloster zuzueilen.

«Soll ich den Wein besorgen?», fragte ich.

«O ja, gerne. Bitte die Schwester Vorratsaufseherin, mir eine Karaffe vom schlechtesten Wein bringen zu lassen, aus Liesing oder Stockerau, mit dem sie in der Krankenstation Wunden auswaschen. Dann kommen die Lakaien nicht allzu sehr auf den Geschmack.»

Bevor das Portal des Palais geschlossen wurde, lief Cloridia hinein und warf mir einen letzten, lächelnden Blick zu. Dann verschwand sie hinter den Torflügeln.

Wie mein Weib aufgeblüht war, jetzt, wo es uns wieder gutging, dachte ich vor dem nunmehr verriegelten Tor. Die letzten beiden Jahre hatten sie geschwächt und ihr einst so heiteres Gemüt verfinstert. Jetzt aber war ihre Schönheit zurückgekehrt: die schwungvollen Lippen, das Farbenspiel der Wangen, die ausdrucksvolle Stirn, das Leuchten ihrer Haut, die lockige Üppigkeit ihres Haarschopfs – all das war wieder so wie früher, vor der Hungersnot. Wenngleich die kleinen Falten des Alters und des Leidens aus ihrem zarten Gesicht nicht verschwunden waren und inzwischen auch das meine furchten, so hatten sie doch alle Bitterkeit verloren, ja, sie harmonierten sogar mit Cloridias fröhlichen Gesichtszügen. Das hatte ich niemand anderem als Abbé Melani zu verdanken.

Jenes verwickelte, unentwirrbare Band, das meine Frau, Atto und mich in Rom und in Wien zusammengehalten hatte – so dachte ich auf dem Weg zur Vorratskammer des Klosters –, hatte im Grunde noch ein drittes Ende: das Osmanische Reich. Tatsächlich erstreckte der Schatten der Hohen Pforte sich über mein ganzes Leben. Und das nicht nur, weil wir Diener in der römischen Villa des Kardinals Spada vor elf Jahren das Abendessen im Garten als Janitscharen verkleidet serviert hatten, zum Amüsement der Tischgenossen, unter denen auch Abbé Melani weilte. Nein, den Anfang von allem bildete Cloridias Herkunft, die als Tochter einer türkischen Sklavin in Rom geboren und auf den Namen Maria getauft worden war. Kaum war sie dem Kindesalter entwachsen, wurde sie entführt und nach Amsterdam gebracht, wo sie unter ihrem neuen Namen Cloridia heranreifte und sich, Gott sei’s geklagt, mit dem Feilbieten ihres eigenen Körpers befleckt hatte, bevor sie auf der Suche nach ihrem Vater nach Rom zurückkehrte und dort schließlich, Gott sei’s gedankt, Liebe und Ehe mit meiner Wenigkeit fand. Wir lernten uns in der Locanda des Donzello kennen, wo ich damals arbeitete, es war im September 1683, just als die berühmte Schlacht zwischen Christen und Ungläubigen vor den Toren Wiens stattfand, bei der Gott sei Dank die Kräfte des Wahren Glaubens triumphierten. Und es waren auch jene Tage, in denen ich Atto Melanis Bekanntschaft machte, der ebenfalls zu den Gästen des Donzello gehörte.

Cloridia hat mir schließlich berichtet, was ihr widerfahren war, nachdem man sie ihrem Vater entrissen hatte. Doch niemals hatte sie mir etwas über ihre Mutter anvertrauen wollen. «Ich kannte sie nicht», hatte sie mich zu Beginn unserer Bekanntschaft belogen, um sich später nach und nach mit beiläufigen Bemerkungen zu verraten, wie zum Beispiel, dass der Duft von Kaffee sie sehr an ihre Mutter erinnere. Doch schließlich hatte sie meiner Neugierde für immer Einhalt geboten, indem sie feststellte, von ihrer Mutter erinnere sie «nichts, nicht einmal das Gesicht».

Statt von Cloridia selbst hatte ich dann im Donzello erfahren, was ich über ihre Mutter wusste: Die Sklavin der mächtigen Odescalchi, jener Familie, in deren Diensten auch ihr Vater stand, wurde wenige Tage vor Cloridias Entführung an wer weiß wen verkauft, ohne dass der Vater sich hätte mit legalen Mitteln wehren können, da er sie nicht geheiratet hatte.

Von der gemeinsam mit der Mutter verbrachten Kindheit meiner Gemahlin wusste ich jedoch nichts. Ihre Miene verfinsterte sich, sobald ich oder unsere Töchter neugierige Fragen stellten.

Zu meiner großen Überraschung hatte Cloridia vor wenigen Wochen den Vorschlag der Chormeisterin angenommen, sich als Mittlerin zwischen den Savoyern und dem Personal des Agas zu verdingen. Einen bösen Blick hatte meine Gattin mir allerdings zugeworfen, lag es doch auf der Hand, durch wen Camilla von ihrem osmanischen Blut erfahren hatte …

Und ebenso erstaunt war ich, da ich bis zu diesem Augenblick nicht geahnt hatte, dass meine Frau das Türkische so gut beherrschte! Die scharfsinnige Chormeisterin indessen hatte bei der Nachricht von der Ankunft einer osmanischen Gesandtschaft sogleich an Cloridia gedacht. Offenbar war sie sich der Sprachkenntnisse Cloridias bereits gewiss – erstaunlicherweise, denn ich hatte ihr ja erzählt, dass meine Frau sehr früh von ihrer Mutter getrennt worden war.

Im Kreuzgang des Klosters angelangt, konnte ich um Haaresbreite zwei Lastträgern ausweichen, die unter dem Gewicht einer gewaltigen Truhe schwankten und zum Missfallen der alten Schwester Pförtnerin den Verputz an den Wänden zu beschädigen drohten.

«Euer Herr scheint sich Kleidung für zehn Jahre mitgenommen zu haben», brummte die Ordensfrau, womit sie sich offenbar auf einen soeben eingetroffenen Gast bezog.

73. Stunde, wenn in Wien die Adeligen zu Mittag speisen (während sie in Rom soeben erwacht sind), die Hofangestellten in die Kaffeehäuser schwärmen und in den Theatern die Aufführungen beginnen

Dieser Tag war zweifach bedeutend. Nicht nur hatte Cloridia ihre Anstellung im Palais eines Prinzen, exzellenten Heerführers und Ratgebers des Kaisers angetreten; auch ich schickte mich an, meine Pflichten im Dienst des Hocherhabenen Joseph I. zu erfüllen. Nach den strengen Wintermonaten und einem ebenso kalten Frühlingsbeginn hatten die ersten linden Lüfte geweht. Auch in der Umgebung von Wien war der Schnee geschmolzen, und der Zeitpunkt war gekommen, sich der Kamine und Rauchabzüge des verlassenen Gebäudes in kaiserlichem Besitz anzunehmen, jener Aufgabe also, um deretwillen ich ein so begehrtes Amt erhalten hatte: Hofbefreiter Rauchfangkehrer.

Wie zu erwähnen ich schon Gelegenheit fand, hatten die Wetterbedingungen der vergangenen Monate Arbeiten an einem so großen Gebäude, wie jenes, das mich nach allgemeiner Aussage erwartete, bislang verwehrt. Überdies hatte die Schneeschmelze in den oberen Abschnitten der Donau alle Brücken zerstört und eine große Menge Eises in den Fluss getrieben, infolge dessen das Gewässer außerordentlich gestiegen und große Schäden in den Gärten der Vorstädte entstanden waren. Darum hatten mir einige weniger neidische Genossen der Rauchfangkehrerinnung nachdrücklich davon abgeraten, mich vor Beginn der milderen Jahreszeit an die Arbeit zu machen.

An diesem schönen Vormittag Anfang April strahlte die Sonne vom Himmel – obschon die Temperatur frostig blieb, zumindest meinem Empfinden nach –, und so beschloss ich, dass die Zeit gekommen sei: Ich würde mit der Pflege der verlassenen Besitzung Ihrer Majestät beginnen.

Die Gelegenheit meiner Fahrt nach Simmering ergreifend, hatte die Chormeisterin mich freundlich um einen Gefallen gebeten: Die Schwester Vorratsverwalterin der Himmelpforte wünschte, dass ich, so ich Zeit fände, einen Blick auf den Weinkeller warf, den die Ordensfrauen im klostereigenen Weinberg in Simmering besaßen, unweit des Ortes, an den ich mich begeben wollte. Dieser Keller war sehr groß und mit einem kleinen Saal nebst Kamin ausgestattet, dessen Rauchfang eine Säuberung wohl vertragen konnte. Ich erhielt die Schlüssel und versprach Camilla, mich so bald wie möglich um den Kamin zu kümmern.

Den Gehilfen hatte ich bereits angewiesen, das Maultier zu zäumen und den Karren mit allem Nötigen zu versehen. Als ich auf die Straße trat, fand ich mein Söhnchen bereits auf dem Kutschbock sitzend, wo er mich mit seinem üblichen breiten Lächeln erwartete.

Ein Rauchfangkehrermeister musste aber außer über einen Lehrjungen auch über einen Gesellen, Burschen, Arbeiter oder Werkstattgehilfen, wie auch immer man ihn nennen will, verfügen. Meiner war ein Grieche, und ich war ihm zum ersten Mal im Kloster an der Himmelpfortgasse begegnet, wo er als Faktotum diente: Hausbursche, Tagelöhner und Bote. Es war Simonis, der junge, redselige Idiot, der Cloridia und mich vor zwei Monaten zu der Verabredung mit dem Notar begleitet hatte.

Kaum hatte er erfahren, dass meine Wenigkeit Inhaber eines Schornsteinfegergewerbes war, hatte er mich gefragt, ob ich einen Gehilfen benötige. Seine befristete Anstellung in der Himmelpfortgasse, wo er die Keller leer geräumt hatte, sollte bald enden, und Camilla persönlich hatte ihn mir wärmstens empfohlen, indem sie mir versicherte, er sei weit weniger ein Idiot, als es den Anschein habe. So hatte ich ihn angestellt. Er würde seine Kammer im Himmelpfortkloster behalten, bis mein Haus in der Josephina fertig war, um dann bei mir und meiner Familie zu wohnen, wie es Brauch ist bei Gehilfen und Meistern.

Die Tage verstrichen, und gelegentlich führten wir ein kurzes Gespräch, wenn man den mühsamen verbalen Austausch zwischen ihm, dem die vernünftige Rede kaum zu Gebote stand, und mir, welcher der Sprache noch weniger kundig war, so nennen konnte. Stets gutgelaunt, stellte Simonis mir unzählige, mehr oder weniger einfältige Fragen und schob gelegentlich eine lustige, schlagfertige Bemerkung ein, die, wenn ich sie denn verstand, freilich bewirkte, dass mir wohl war in Gesellschaft dieses schrulligen, freundlichen Griechen, den es, wie mich, mitten unter die nordische Rauheit der Wiener verschlagen hatte.

Wenn er den Blick aus blaugrünen Augen starr auf sein Gegenüber richtete, wobei das rabenschwarze Haupthaar ihm ein wenig in die Stirn fiel, konnten seine Gesichtszüge unvermittelt ernst werden, sodass ich nie wirklich begriff, ob Simonis mit größter Aufmerksamkeit verfolgte, was ich auf seine Fragen antwortete, oder ob sein Geist nicht doch zum Gutteil umschattet war. Die Reihe der oberen, kaninchenartig hervorstehenden Zähne, die immer der frischen Luft ausgesetzt waren, ja die Unterlippe fast ganz bedeckten, der stets vorgestreckte, rechte Unterarm mit abgeknicktem Handgelenk, wodurch die Hand nach unten hing, als wäre das Gelenk durch einen Schwerthieb gelähmt – all das gab mir zu der Vermutung Anlass, dass Simonis ein Junge von gutem Charakter, doch von herzlich wenig Geistesgegenwart war.

Ein Verdacht, der bestärkt wurde, als ich eines schönen Tages entdeckte, dass mein junger Gehilfe meine Sprache verstand.

Wir reinigten gerade ein besonders verschmutztes Abzugsrohr, als ich fast ausrutschte, und da ich es überdrüssig war, halbfertige Sätze auf Deutsch von mir zu geben, zumal in einer solchen Gefahrensituation, rief ich ihm auf Italienisch zu, er solle mir helfen und das Seil hochziehen, das mich hielt.

«Seid unbesorgt, Herr Meister, ich ziehe Euch gleich nach oben!», beruhigte er mich sofort in meiner Sprache.

«Du sprichst Italienisch.»

«Stimmt», antwortete er lakonisch.

«Warum hast du mir das nie gesagt?»

«Ihr habt mich ja nie danach gefragt, Herr Meister.»

So entdeckte ich, dass Simonis nicht in Wien war, um sich mit irgendeinem lumpigen Posten durchs Leben zu schlagen, sondern aus einem viel nobleren Grund: Er war Student. Student der Medizin, um genau zu sein. Simonis Rimanopoulos, so lautete sein Nachname, hatte ein Studium an der Universität von Bologna begonnen, was auch seine tadellose Kenntnis des italienischen Idioms erklärte. Doch dann hatten ihn die Hungersnot des Jahres 1709 und die Hoffnung auf ein weniger ärmliches Leben nicht zu Unrecht in das opulente Wien und seine altehrwürdige Universität, die Alma Mater Rudolphina, geführt, wo Studenten aus Ungarn, Polen, aus dem östlichen Deutschland und viele andere mehr zusammenkamen.

Simonis gehörte nämlich zur wohlbekannten Kategorie der Bettelstudenten, jenen armen Studenten ohne familiäre Unterstützung also, die ihr Dasein mit Behelfen jeder Art fristeten, einschließlich des Betteins, falls erforderlich.

Für Simonis war es ein großes Glück, dass ich ihn angestellt hatte: Die Bettelstudenten waren in Wien nicht besonders gut gelitten. Ungeachtet wiederholter amtlicher Erlasse sah man nämlich häufig vagabundierende Studenten – dazu andere, die sich ihnen beigesellten, aber gar keine Studenten waren – Tag und Nacht, ja sogar während der Vorlesungszeit, auf den Straßen, vor den Kirchen und Häusern betteln. Hinter dem Anschein des Studierens gaben sich diese jungen Männer dem Müßiggang, Diebstählen und Räubereien hin, und noch immer erinnerte sich jeder des Aufruhrs in der Nacht vom 17. auf den 18. Januar 1706 in und außerhalb der Stadt und auch noch in Nußdorf, in dessen Folge überaus gründliche (wiewohl vergebliche) und noch immer andauernde Ermittlungen durchgeführt wurden, um mit strenger Bestrafung gegen die Schuldigen vorzugehen. Solche Studenten warfen ein schlechtes Licht auf den guten Namen der anderen, rechtschaffenen, und Ihro Kaiserliche Majestät hatte unzählige Beschlüsse erlassen, um ein für alle Mal jenes beklagenswerte Betteln auszumerzen. Nach jenen Tumulten vor fünf Jahren war dem Dekan, den Kaiserlichen Oberaufsehern und dem Konsistorium der altehrwürdigen Wiener Universität befohlen worden, eine letzte Warnung auszusprechen: Innerhalb von vierzehn Tagen mussten die Bettelstudenten die Kaiserstadt verlassen.

Andernfalls würden sie von der Guardia aufgegriffen und ad Carceres Academicos, also in die Gefängnisse der Universität gebracht und dort empfindlichen Strafen unterzogen. Jene armen Studenten aber, welche sich täglich mit großem Fleiß ihren Studien widmeten, sollten sich bei den Alumnates ein Stipendium beschaffen oder sich eine andere Art Unterhalt suchen. Einzig, wer dies nicht vermochte, weil es an verfügbaren Arbeitsstellen fehlte oder weil er einen besonders anspruchsvollen Studiengang gewählt hatte und gezwungen war, während der vorlesungsfreien Zeit um Almosen zu betteln, durfte so fortfahren wie bisher, doch er sollte nur das Allernötigste erbetteln, und das, bis eine neue Verfügung erging. Außerdem musste er das amtliche Erkennungszeichen echter Bettelstudenten immer an der Brust tragen und allmonatlich von der Universität erneuern lassen. Andernfalls würde er nicht als echter armer Student anerkannt, sondern als vagabundierender, und darob unverzüglich eingesperrt.

Das erklärte nun, was Simonis bewogen hatte, sich als Rauchfangkehrergeselle zu verdingen: Die Gefahr, ob des Bettelns ins Gefängnis zu kommen, war allgegenwärtig.

Wie dieser leutselige, schlichte Geist es allerdings fertiggebracht hatte, meine Sprache so gut zu erlernen, vor allem aber, wie zum Teufel er es sogar an die Universität geschafft hatte, das blieb nun freilich ein Rätsel.

«Herr Meister, wünscht Ihr, dass ich den Karren lenke, da ich den Weg kenne?»

Tatsächlich besaß ich nur eine unklare Vorstellung von der genauen Lage der kaiserlichen Besitzung: in der Simmeringer Haide südöstlich von Wien, unweit von Ebersdorf. In dem Auftragspapier wurde sie überdies auf recht befremdliche Weise bezeichnet: «Der Ort Ohne Namen, genannt Neugebäu.» Ich hatte versucht, meine Zunftbrüder zu befragen, indes nur vage Antworten erhalten, was wohl auch darin begründet lag, dass ich aufgrund meiner kaiserlichen Ernennung schlecht angesehen war. Niemand hatte mir genau erklären können, welcher Natur das Gebäude war, das zu inspizieren ich mich anschickte. «Bin nie da gewesen», sagte einer, «aber ich glaube, es ist so eine Art Villa», «Ich hab’s zwar nie gesehen, doch ich weiß, dass es sich um einen Garten handelt», sagte ein anderer. «Das ist ein Jagdschlösschen», schwor wieder ein anderer, während der Nächste es als «ein Gehege für Vögel» bezeichnete. Eines war gewiss: Keiner meiner Schornsteinfegergenossen hatte den Ort je besucht, und ebenso wenig schienen sie erpicht darauf.

Es war ein langer Weg zum Ort Ohne Namen. Gerne überließ ich Simonis die Zügel des Maultiers. Der Kleine hatte darum gebeten, ebenfalls auf dem Kutschbock sitzen zu dürfen, und es war ihm gewährt worden. Nun saß er neben dem Griechen, der ihm von Zeit zu Zeit die Zügel in die Hand gab, um ihn das Karrenlenken zu lehren. Ich setzte mich nach hinten, zwischen die Werkzeuge.

Allmählich schlummerte das Kind ein. Ich band es mit einem Strick an den Karren, damit es nicht herunterfiel. Simonis lenkte mit sicherer, erfahrener Hand. Seltsamerweise schwieg er. Er schien in Gedanken versunken.

Auf dem weiten Ackerland in Richtung Simmeringer Haide hörte ich nur das Knirschen der Räder und das laute Klappern der Hufeisen.

Genau genommen, dachte ich lächelnd, während ich abwesend auf das gleichförmige Panorama blickte und mich der Schläfrigkeit der Mittagsstunde hingab, saßen auf diesem Karren drei Kinder: mein Söhnchen, ich mit meiner kindlichen Statur und Simonis, der im Geiste ein Junge geblieben war.

«Wir sind angekommen, Herr Meister.»

Ich erwachte mit steifen und vom Druck der Arbeitswerkzeuge schmerzenden Gliedern. Wir befanden uns in einem großen, verlassenen Hof. Während Simonis und der Kleine abstiegen und begannen, die Werkzeuge auszuladen, blickte ich mich um. Wir waren durch ein großes Tor gekommen, dahinter erkannte ich die durch freie Felder führende Straße, die wir befahren haben mussten.

«Wir sind im Ort Ohne Namen», erläuterte der Grieche, als er meinen verschleierten Blick sah. «Jenseits dieses Bogens liegt der Eingang zum Hauptgebäude.»

Tatsächlich zeigte sich hinter einem niedrigen Diensthaus, welches von einem bogenförmigen Durchgang geteilt wurde, ein weiterer Freiplatz. Zu unserer Rechten öffnete sich eine kleine Tür in der Mauer und offenbarte eine Wendeltreppe. Als ich die Augen hob, erblickte ich zur Linken Mauern mit Zinnenkranz und zu meiner Überraschung einen sechseckigen Turm mit einem von kuriosen Fialen übersäten Dach. Alles, der Turm, das Tor, die Mauern und die Zinnen, war aus einem schneeweißen Stein, wie ich dergleichen noch nie gesehen, und er blendete meine vom Schlaf verklebten Augen.

«Von hier kommt man in die Keller hinein», verkündete mein kleiner Lehrjunge.

Er war zur Erkundung des Ortes losgerannt und vor einem weißen, halbrunden Wachtturm stehen geblieben, welcher ebenfalls ungewöhnliche Formen aufwies: eigentlich eine Art Apsis, mit der ein langgestreckter Bau begann, den man hinter dem Bogen erspähte und als das Hauptgebäude ansehen mochte.

«Gut», erwiderte ich, denn es sind justament die Keller, wo man mit der Säuberung der Rauchabzüge beginnen muss.

Ich stieg vom Karren und ging mit Simonis, der schwer an den Werkzeugen zu tragen hatte, zu meinem Sohn.

Wir traten über die Schwelle des Eingangs, welcher tatsächlich zu den Kellern zu führen schien, und stiegen eine Treppe hinab. Niedrig war die Decke mit Tonnengewölbe, mächtig die Mauern, und im Hintergrund führte eine Tür weiter nach unten. Der große Raum war vollkommen leer, aber er wirkte nicht verlassen, sondern eher unfertig, als wären die Bauarbeiten nie abgeschlossen worden.

Während meine beiden Gehilfen auf der Suche nach dem Austritt eines Rauchabzugs die Wände abtasteten, erkundete ich weiter den Raum. Vom Tageslicht geblendet, mussten die Augen sich erst an die zunehmende Dunkelheit gewöhnen, und schon stieß ich unversehens mit der Nase an etwas Kaltes, Schweres und Fettes. Instinktiv wischte ich mir übers Gesicht und betrachtete meine Fingerkuppen: Sie waren rot. Dann schärfte ich den Blick für das, was ich vor mir hatte.

Es hing an einem Seil von der Decke, und jetzt, nachdem ich dagegengestoßen, schwankte es leicht: der bluttriefende Rumpf eines Kadavers ohne Beine, Kopf und Arme, schwärzliches Blut rann daraus auf den Boden. Ein dickes, rostiges Eisen, mit dem der Körper von einer Seite zur anderen durchbohrt worden war, hielt ihn an dem Seil fest. Sie mussten es bei lebendigem Leibe gehäutet haben, dachte ich in luzidem Entsetzen, da es auch dort, wo kein Blut tropfte, von leuchtend roter Farbe war und Nerven und weißliche Sehnenstränge erkennen ließ.

Ein Grauen vor diesem verfluchten Ort packte mich, und während die Schornsteinfegergeräte mit einem tollen Klirren zu Boden fielen, schrie ich aus voller Kehle Simonis zu, er solle fliehen und den Kleinen in Sicherheit bringen, ohne auf mich zu warten.

Ich sah, wie Simonis in Blitzesschnelle gehorchte. Obwohl er nicht wusste, warum, führte er den Befehl unverzüglich aus, nahm den Kleinen auf die Schulter und stürzte mit seinen langen Beinen davon. Auch ich hoffte zu entkommen, wenngleich meine Beine alles andere als lang waren, aber vergeblich. Kaum hatte ich die Sonne wieder im Gesicht und sah Simonis, das Maultier bis aufs Blut peitschend, bereits am Horizont verschwinden, hörte ich es.

Es war ganz so, wie ich es mir tausendmal vorgestellt hatte: ein furchtbares Gebrüll, das Menschen und Tiere und alle Dinge erzittern lässt.

Zu kurz war die Zeit, um zu erkennen, aus welcher Richtung es kam – ein Peitschenhieb, übermächtig und schmutzig, fegte mich hinweg. Ich flog zu Boden, glücklicherweise weit fort, und während ich über die Erde rollte, hörte ich das Brüllen wieder. Da sah ich, wie er auf mich zulief, der Fürst des Schreckens, der Zerfleischer, ich erkannte die dämonischen Augen, die unflätige Mähne, die blutrünstigen Reißzähne, und ich rannte wie von Sinnen, bei jedem Schritt stolpernd, vor Entsetzen keuchend, und traute doch meinen eigenen Augen nicht. An diesem einsamen Ort vor den Toren Wiens, an diesem frostigen, klaren Frühlingstag im kalten Norden oberhalb der Alpen wurde ich von einem Löwen verfolgt.

Ich flitzte durch das Türchen linker Hand und rannte in Windeseile die Wendeltreppe hinunter. Ein kleiner Platz empfing mich. Als ich hörte, wie die Bestie einen Augenblick lang unschlüssig verharrte, um sich mir dann brüllend zu nähern, schlüpfte ich auf der Suche nach einem Ausweg in ein großes Gebäude ohne Dach.

Angesichts dessen aber, was sich mir nun darbot, wähnte ich mich vollends in einem Albtraum. Es war … ein Segelschiff.

Es hatte kleinere Abmessungen, war aber unverkennbar. Nicht nur das: Es hatte die Gestalt eines Raubvogels mit allem, was dazugehörte: Kopf und Schnabel, Flügel und Schwanzfedern, in denen eine Fahne stak.

Nunmehr gewiss, das Opfer eines neidischen Dämons und seiner todbringenden Blendwerke zu sein, sprang ich auf den gefiederten Schwanz dieses närrischen Schiffs und versuchte verzweifelt, den Fahnenstock herauszureißen, dass er mir als Waffe diene, um den Löwen abzuwehren, dessen unaufhörliches Gebrüll meine Glieder und alles um mich herum erzittern ließen.

Leider genügten die Wendigkeit des Kaminkehrers und die Leichtigkeit meines Körpers nicht, mein reifes Alter zu besiegen. Die Bestie war schneller: Mit wenigen Sätzen erreichte sie mich und stürzte sich vom Boden hochschnellend mit einem einzigen Sprung auf ihr Opfer.

Aber sie vermochte nichts. Sie hatte nicht hoch genug springen können, um mich mit ihren Krallen zu packen. Das gefiederte Segelschiff begann unter ihren Angriffen zu schwanken und schaukelte nun immer heftiger. Wieder versuchte es der Löwe mit einem höheren Sprung. Nichts. Ja, je öfter er sprang, desto kleiner schien er zu werden. Ich klammerte mich mit aller Kraft an die hölzernen Federn, denn die Fregatte schlingerte nun so stark, dass mich schwindelte, und ihr bizarres Segel – eine Art Kuppel, die den Rücken des Raubvogels bildete – krümmte und blähte sich unter hohlräumigen Luftsogen auf.

Tobend drehte sich die Welt um mich herum, während meine von Todesangst geplagten Sinne mir sagten, dass dieser groteske geschnitzte Raubvogel sich in die Lüfte zu heben begann.

In diesem Moment hörte ich jemanden mit drohender Stimme in teutonischer Mundart rufen:

«Mustafa, du Mistviech! Heit gehst ohne Futta ind’ Hapfm!»

Er hieß Frosch und stank nach Wein. Der Löwe hatte sich friedlich zu seinen Füßen hingekauert.

Frosch erklärte mir, dass das Raubtier die Gesellschaft von Menschen liebe, darum habe es, so sich jemand an diesen Ort verirre, die schlechte Angewohnheit, den Unglücklichen mit Freudengebrüll zu begrüßen, auf ihn zu springen und ihn abzuschlecken.

Der Ort Ohne Namen, genannt Neugebäu, sei beileibe nicht irgendein Ort, erläuterte er sodann. Er sei vor etwa anderthalb Jahrhunderten von Ihrer Kaiserlichen Majestät ehrwürdigen Angedenkens, Kaiser Maximilian II., erbaut worden, und von seinem einstigen Glanz bewahre er heute nur mehr die Kaiserliche Menagerie mit vielen fremdländischen Viechern, insbesondere Raubtieren. Während er so sprach, streichelte er den riesigen, glücklicherweise ermatteten, altersschwachen Löwen, der mir wenige Augenblicke zuvor noch als ein unbesiegbares Scheusal erschienen war.

«Gfrast, Mustafa, schiaches Mistviech!», schalt Frosch ihn erneut, während der Löwe sich fügsam eine Kette um den Hals legen ließ und mich verstohlen musterte. «Des tuat ma laad, dass Ihna so daschrockn harn», entschuldigte er sich schließlich bei mir.

Frosch war der Wächter über die Menagerie des Ortes Ohne Namen. Er kümmerte sich um die Löwen, aber auch um die anderen Tiere. Während er sich vorstellte, zitterten mir die Beine immer noch wie Espenlaub. Er bot mir einen Schluck aus seiner Flasche an, die er sich beständig an den Hals setzte. Ich lehnte ab: Wenn ich nur an den bluttriefenden Kadaver zurückdachte, drehte sich mir der Magen um.

Frosch erriet meine Gedanken und beruhigte mich: Es war nur ein Stück Hammel, das er dort aufgehängt hatte. Er wollte damit den Löwen anlocken, der ihm entwischt war.

Diese Erklärungen wurden mir leider in der einzigen Sprache dargeboten, welcher der Tierwärter mächtig war, nämlich dem kehligen, löchrigen und entstellten Deutsch, das der niedrigste Wiener Plebs spricht. Ich werde sie hier wiedergeben, als hätte es sich um eine normale Konversation gehandelt und nicht um eine babylonische Wirrnis. In Wirklichkeit musste ich ihn um Wiederholung jedes zweiten Satzes bitten, was bei Frosch ungeduldiges Schnauben hervorrief und, nachdem er sich an seiner Flasche mit Schnaps gelabt – jenem kräftigen alkoholischen Getränk, mit dem er sich bei Laune hielt –, mehrere ärgerliche Rülpser.

«Italiener. Rauchfangkehrer», stellte ich mich in meinem rudimentären Deutsch vor. «Ich … reinigen Kamine Schloss.»

Frosch nahm den Grund meines Kommens mit Befriedigung zur Kenntnis. Es sei höchste Zeit, dass irgendein Kaiser sich mal wieder um das Neugebäu kümmere. Derzeit wohnten nur er und die Tiere hier, schloss er, auf Mustafa zeigend, der gerade mit großem Appetit den letzten Happen vom Muskelfleisch des Hammels verschlang.

Von Zeit zu Zeit warf der Wächter dem Löwen einen bösen Blick zu, dann schien Mustafa (sein Name sollte die ungläubigen Türken verhöhnen) sich gedemütigt und zerknirscht zusammenzukrümmen. Der mürrische Wächter besaß offenbar eine unbezwingliche Autorität über die Bestie. Er versicherte, dass mir jetzt keinerlei Gefahr mehr drohe: Wenn Frosch da war, gehorchten alle Tiere blind. Gewiss, es gebe seltene Ausnahmen, räumte er halblaut ein, schließlich hatte der Löwe sich seiner Aufsicht entzogen und war bis eben noch frei herumspaziert.

Also befand ich mich nicht in einem Albtraum, dachte ich mit einem Seufzer der Erleichterung, während ich mich anschickte, von meinem Reittier abzusteigen. Darauf nahm ich es in Augenschein, nunmehr gewiss, dass sich mir ein weniger irrwitziger Anblick des Segelschiffes in Raubvogelgestalt bieten würde als in jenen Schreckenssekunden kurz zuvor.

Doch nein. Ich hatte ein höchst geheimnisvolles Gefährt vor mir, das ich nur als Mischung aus Ungeheuer und Maschine bezeichnen konnte!

Es war eine Kreuzung zwischen einem Schiff und einem Wagen, einem Raubvogel und einem Walfisch. Es hatte die stabile Form eines Karrens, den geräumigen Rumpf eines Lastkahns und das makellose Segel eines Schiffes. Am Bug das stolze Haupt eines Greifen mit krummem, räuberischem Schnabel; am Heck die Schwanzfedern einer großen Gabelweihe; an den Seiten die mächtigen Schwungfedern von Adlerflügeln. Es war so lang wie zwei Kutschen und so breit wie eine Feluke. Es bestand aus altem, rissigem, aber nicht fauligem Holz. An Bord, mitten in einem großflächigen Raum, der einem Bottich ähnlich war, fanden außer dem Steuermann drei oder vier Personen Platz. Am Bug und am Heck befanden sich zwei primitive Globen, vom Zahn der Zeit halb zerfressen, deren einer die himmlischen Sphären und der andere die Erde vorstellte, als wollten sie beide dem Luftschiffer den Kurs vorgeben. Das ganze Schiff (wenn man es wirklich so nennen konnte) war von einem großen Segel überwölbt, dessen Einspannung ihm die Form einer Halbkugel verlieh. Am Heck schließlich flatterte die Fahne, die ich eben noch vergeblich herauszureißen versucht hatte. Sie trug ein Wappen, überragt von einem Kreuz.

«Des is es Fahndl vom Portugieserreich», erklärte Frosch.

Nur eines hatte ich wirklich geträumt: Das Segelschiff hatte sich nicht in die Lüfte erhoben, sondern ruhte fest auf der Erde.

Voll Verwunderung fragte ich ihn, was um alles in der Welt dieses absonderliche Fahrzeug sei und wie es hierhergekommen.

Als fürchtete er, seine Erklärung könne unglaubwürdig wirken, kramte er kurz in einer Ecke des Hofes und hielt mir, statt einer Antwort, einen Stoß Blätter unter die Nase. Es war eine alte Flugschrift.

Auch in der schwierigsten Sprache ist die Lektüre einfacher als die mündliche Konversation. Ich setzte mich also auf den Boden, und es gelang mir, das Fliegende Blatt zu entziffern, das ein etwa zwei Jahre altes Datum trug:

Nachricht von dem Fliegenden Schiffe,

so aus Portugal den 24. Junii in Wien mit

seinem Erfinder glücklich ankommen.

Von neuen nach dem allbereit gedruckten Exemplar

in die Naumburger Meß gesandt

ANNO 1709

Wien, vom 24. Juni 1709

1709. Gestern früh um etwan neun Uhr war alles in hiesiger Stadt in großem Allarm und Bestürzung, alle Gassen lieffen voller Leute, und diejenigen, so nicht auf den Gassen waren, lagen in den Fenstern, fragten, was zu thun wäre; fast keiner aber konte dem andern gewissen Bescheid geben. Die Leute lieffen umher und riefen, der Jüngste Tag wolte einbrechen, andere, man verspührete ein starckes Erdbeben, noch andere, es liesse sich eine ganze Armee Türcken vor den Toren sehen. Endlich kam allen zu Gesichte in der Lufft eine unbeschreibliche Menge grosser und kleiner Vögel, welche, wie es anfänglich schiene, um einen gar grossen Vogel umher flogen und mit demselben stritten. Es zog sich aber dieser Schwarm nach gerade weiter herunter und der Erden näher zu, da man sehen kunte, daß dasjenige, so man für einen großen Vogel angesehen, eine Maschine war in Gestalt eines Schiffes mit einem darüber her sich ausbreitenden Segel, welches in der Lufft daher schwebete und einen Menschen wie ein Mönch gekleidet in sich hielte, der mit verschiedenen Schüssen seine Ankunft kund machte.

Nach vielem Cirkulieren, so dieser Lufft-Reiter in der Lufft machte, sahe man wohl, dass seine Intention war, sich auff einem Platze in dieser Stadt nieder zu lassen. Es kam aber unvermuthet ein Wind, der ihn an seinem Vorhaben nicht allein verhinderte, sondern ihn auch an die St. Stephans Thurmspitze trieb und machte, daß sich an derselben das Segel verwickelte, so daß die Machine daran hangen blieb. Diese Begebenheit verursachte einen neuen Lärmen unter dem gemeinen Volcke, welches alles nach dem Thurm-Platze zulieff, so daß wol 20 Menschen in dem grossen Gedränge sollen erdrückt seyn.

Dem in der Lufft verarrestirten Menschen aber war mit allen den Augen, die so auff ihn gafften, nichts geholfen, sondern er verlangte durch Hände errettet zu werden, welche aber zu kurz waren, ihm einige Hülffe zu leisten. Als er nun ein paar Stunden die Situation dieser Stadt unter sich betrachten müssen und sahe, daß ihm von Fremden nicht konte geholffen werden, ward er ungeduldig, nahm die in der Machine habende Hammer- und Brech-Instrumente zur Hand und arbeitete darmit so lange, biß der oberste Theil der Spitze, so ihn arretirte, herunter fiel, kam dadurch wieder in Flug, und nach einigem Herum-Schwencken brachte er sein Lufft-Schiff mit großer Adresse ohnweit der Käyserlichen Burg auff dem Platz zu stehen. Gleich wurde eine Compagnie Soldaten von hiesiger Guarnison dahin gesandt, um diesen Ankömling in Schutz zu nehmen, denn er sonst von dem neugierigen Pöbel wäre zertreten worden.

Und ward darauf ins Wirths-Haus «Zum schwartzen Adler» gebracht, woselbst er einige Stunden ausruhete, nachmahls aber seine bey sich habenden Brieffe abgab und dem allhier sich auffhaltenden Portugisischen Abgesandten und auch andern vornehmen Herren, welche ihm die Visite gaben, erzehlte, wie er den 22. Juni des vorigen Tages, Morgens um 6. Uhr von Lissabon mit seiner neu inventierten Lufft-Machine abgefahren und unter Wegens grosse Anfechtung und aventuren gehabt mit denen Adlern, Störchen, Paradieß- und andern auff Erden unbekannten Vögeln continuirlich streiten müssen, und ohne die 2 Doppelhaken und 4 Flinten, welche er bey sich gehabt, und eins ums andere abgefeuret, er mit dem Leben nicht würde da von kommen seyn.

Als er den Mond vorbey paßiret sagte er, hätte er wahrgenommen, daß als man ihn auff demselben ansichtig worden, ein grosser Tumult entstanden. Und weil er nahe vorübergeflogen und alles sehen und unterscheiden können, hätte er so viel in Eyle möglich gewesen observiret, daß Berg und Thal, See, Flüsse und Felder darin waren, auch lebendige Creaturen und Menschen welche zwar Hände hätten wie die hiesigen Menschen, aber keine Füsse, sondern schlichen auf der Erden daher wie die Schnecken. Es trüge aber gleich denen Schild-Kröten ein jeder Mensch einen grossen Deckel auff dem Rücken, worin er sich hinein ziehen und gäntzlich verbergen könte. Und weil solcher gestalt keiner andern Wohnung bedürfftig wäre, hielte er davor, daß er auch daher keines einzigen Hauses oder Schlosses in dieser Mond-Welt wäre ansichtig worden. Seines dafür Haltens könne dieses Mond-Königreich, wenn es etwa mit 40. oder 50. Stück seiner erfundenen Luffi-Schiffe, deren jedes mit 4. x 5. bewehrten Leuten müste besetzet seyn, attaquiret würde, gar leicht und ohne grossen Widerstand emportiret werden. Ob Ihro Königl. Majest. in Portugal nun zu dieser conquete Anstalt werden machen lassen, wird die Zeitgeben.

Was ich sonsten von diesem Theseus noch erfahren werde, will bey nächster Post melden. Die Machine ist in hiesiges Zeug-Hauß gebracht.

P. S. So gleich erfahre, daß gedachter Lufft-Schiffer als ein Hexen-Meister in verhafft genommen sey, und wol dürffte, nebst seinem Pegaso, ehister Tagen verbrandt werden, vielleicht damit diese Kunst, welche, wenn sie gemeyn werden solte, grosse Unruhe in der Welt verursachen könnte, unbekandt bleiben möge.

Ich fragte ihn, ob das gefiederte Segelschiff, welches vergessen hier im Ort Ohne Namen lag, wirklich jenes Fliegende Schiff sei, von dem in der Depesche die Rede war. Statt zu antworten, reichte Frosch mir wieder ein Blatt. Dieses Mal war es eine Illustration aus einer alten Ausgabe des Wiennerischen Diariums:

Kein Zweifel: Es handelte sich um eine getreuliche Zeichnung des Schiffs. Darunter stand eine kurze Nachricht vom 1. Juni 1709:

Ist allhier in Wien an den Käyserlichen Hof ein Kurier aus Portugal ankommen mit Brieffen vom 4. Mai und dem daselbst dokumentierten Bilde von einer Flug-Maschine, so 200 Meilen in 24 Stunden soll zurücklegen können und vermittels derselben es möglich gemacht würde, den Kriegs-Truppen Brieffe, Verstärckung, Proviant und Geld noch in entfernteste Länder zu schicken, und ebenso könnten die belagerten Festungen Versorgung mit allem Nothwendigen erhalten, einschließlich der Waren und Geschäffte. Auch wurde ein Schreiben präsentirt, welches Ihro Königlicher Hoheit, dem König von Portugal, von einem geistlichen Mann aus Brasilien und Erfinder des Fluggerätes geschicket. Den nächsten 24. Juni wird zu Lissabon eine Flug-Probe gemacht.

Mein Herz schlug höher: Dieses Schiff war demnach wirklich geflogen, wie es mir vorhin in äußerster Gemütserregung erschienen war?

Es sei kein Zufall, dass das Schiff aus Portugal gekommen war, hub Frosch bereits zur Erklärung an: Kaum ein Jahr zuvor, 1708, hatte der König jenes Landes, Johann V., eine der Schwestern Josephs mit Namen Anna Maria geheiratet. Das Schiff war einige Monate lang im Arsenal geblieben, bis der Aufruhr, den seine Ankunft hervorgerufen, sich gelegt hatte; unterdessen waren die städtischen Behörden, wie man in der Gazette lesen konnte, bestrebt, die ganze Angelegenheit mit Stillschweigen zu behandeln. Nichts von alledem war dem Kaiser berichtet worden: Joseph war sehr jung, von wachem Geiste und unternehmungslustig, und schon der Anblick der Zeichnung, welche ihm jener portugiesische Kurier gebracht, hatte ihn in übermäßige Erregung versetzt. Er hätte jene teuflische Erfindung zweifellos sehen und untersuchen wollen, was nach Meinung der alten Minister unter allen Umständen vermieden werden musste. Niemand durfte etwas wissen. Das Fliegende Schiff war gefährlich und hätte nur Verwirrung gestiftet.

Bei diesen Worten wunderte ich mich: Träumte der Mensch nicht seit Jahrhunderten davon, den Vögeln gleich durch die Lüfte zu kreisen? Nicht umsonst verglich Froschs Gazette das Fliegende Schiff ja mit dem mythischen Pegasus, dem geflügelten Pferd der antiken griechischen Sagen, und seinen Steuermann mit dem heroischen Theseus, dem Überwinder des Minotaurus. Dessen ungeachtet wurde der arme Überflieger der Lüfte hier ausdrücklich verdammt, ja sogar ins Gefängnis geworfen. Ich hingegen hätte meine Seele gegeben, um zu erfahren, wie er es vermocht hatte zu fliegen und woher er seine Kunst erlangt hatte. Ich fragte den Wächter, ob er etwas darüber wisse. Er schüttelte den Kopf.

Die Karavelle der Lüfte war heimlich aus der Stadt geschafft und in das verlassene Schloss gebracht worden, fuhr er zu erzählen fort. Hier würde so leicht niemand seine Nase hineinstecken. Und wenn sie vielleicht eines Tages gebraucht wurde, konnte man sie immer noch zurückholen.

Ich schritt einmal um das Schiff herum, dann stieg ich hinein, indem ich an einem der Flügel emporkletterte, die wie der Schwanz und der Kopf des Raubvogels aus Holz geschnitzt waren und sich zum Einschiffen darboten.

Über dem Kopfe desjenigen, der sich an Bord des Schiffes begab, verliefen einige Stangen, welche von vier Pfeilern gestützt wurden, zwei am Bug und zwei am Heck, ähnlich jenen Gestellen, an denen man die Wäsche im Freien aufhängt. Nur hingen keine Laken, sondern Steine daran. Es handelte sich um kleine, glänzende Gebilde von gelblicher Farbe, sie waren mit Schnüren an den Stangen befestigt. Da ich sie mit der Hand nicht erreichen konnte, versuchte ich mit bloßem Auge zu erkennen, aus welchem Material sie bestanden, und plötzlich begriff ich:

«Bernstein, das ist schöner, guter Bernstein. Dürfte ein Heidengeld gekostet haben. Warum zum Teufel sie den dort oben …»

Wieder sah ich Frosch an, doch sein Blick zeugte von gänzlicher Unkenntnis, was die Bestimmung dieser Steine betraf.

Ich stieg wieder heraus und fuhr fort, das geheimnisvolle Gefährt zu untersuchen. Es war, recht betrachtet, durchaus nicht in dem beklagenswerten Zustand, in den Regen, Wind und Sonne es hätten versetzen können. Das Holz war sogar sehr gut erhalten; es schien, als hätte jemand es von Zeit zu Zeit mit einem schützenden, öligen Anstrich versehen, so wie ich es bei den römischen Fischern auf dem Tiber beobachtet hatte. Ich bemerkte sodann, dass die Oberfläche des Rumpfes nicht wie bei Fischerbooten eben und glatt geschliffen war. Sie bestand nämlich aus Röhren, die vom Bug bis zum Heck über die ganze Länge des Schiffes liefen, als wäre der Rumpf aus nichts anderem gemacht als aus einem Bündel Leitungen.

Ich klopfte mit dem Fingerknöchel gegen eine der Röhren. Sie klang hohl und hatte zum Bug hin eine profilierte Öffnung. Am Heck hingegen, also sozusagen am anderen Ende der Röhren, erblickte man trompetenförmige Öffnungen, die das, was am Heck eingesammelt wurde, in die Höhe zu leiten schienen, mithin in Richtung des Segels, welches das ganze Schiff überdeckte.

Ich warf einen Blick auf den noch kerzengrade aufgerichteten Mast, auf den stolzen Bug und das kleine, zierliche Oberdeck. Hier und dort hatte man Balken ersetzt, Lecks geflickt, Nagelungen nachgebessert. Wenn man es recht besah, war dieses Schiff weder beschädigt noch baufällig. Es war lediglich abgetakelt, als hätte es am Ort Ohne Namen ein schützendes Hafenbecken gefunden und vielleicht auch einen emsigen Schiffsjungen, der es wartete.

«In jeder Hinsicht ein gepflegtes kleines Schiff», bemerkte ich, gedankenverloren über den Kiel streichend, der alles andere als abgenutzt aussah.

«Des is halt an echts Noarrnschiff!», erklärte der Wächter mit einem groben Lachen.

Bei diesem Satz zuckte ich zusammen.

Ich wollte zurück. Die Ereignisse des Nachmittags hatten mich erschöpft. Überdies musste ich zu Fuß gehen: Simonis war mit dem Karren geflüchtet, um den Kleinen in Sicherheit zu bringen. Mich erwartete eine Wanderung von mehreren Stunden. Morgen würde ich wiederkommen, um mit der Arbeit zu beginnen. Das teilte ich Frosch mit und bat ihn, bis dahin auf das Werkzeug achtzugeben, das ich bei meiner Flucht im Keller zurückgelassen hatte.

Bevor ich hinausging, warf ich noch einen Blick auf das Gebäude. Wie bereits erwähnt, hatte es kein Dach. Doch erst in diesem Moment gewahrte ich, wie unendlich groß die Anlage war, so breit, lang und hoch wie ein ganzer Palast.

«Was ist … Was dies sein?», fragte ich erstaunt.

«Da Boinschpüplotz», antwortete Frosch.

Ein Ballspielplatz? Und er belehrte mich (wiewohl ich erneut Schwierigkeiten hatte, seine mundartlichen Äußerungen zu verstehen), dass zur Zeit des Kaisers Maximilian, der den Ort Ohne Namen gegründet, bei den Hohen Herrschaften das aus Italien importierte Ballspiel Furore machte. Die Spieler, die bei diesem Gaudium aufeinandertrafen, waren mit einer Art hölzerner Rüstung gewappnet und machten sich gegenseitig einen ledernen Ball streitig. Sie stießen denselben mit kanonengleichen Schüssen an und versuchten so, Oberhand über den Gegner zu gewinnen. Lachend fügte Frosch hinzu, sich die Lungen zu lädieren, um anderen einen Ball abzujagen, sei blödsinnig und eine Sache, die sich jedenfalls nicht für den Hofstaat eines Kaisers schicke, und natürlich musste ein solches Spiel für immer in Vergessenheit geraten, was ja dann auch geschehen sei. In jenen langvergangenen Zeiten jedoch scheine diese Kurzweil eine nicht unbeträchtliche Gefolgschaft gehabt zu haben, andernfalls hätte man nicht eigens einen so großzügigen Platz dafür hergerichtet.

Es war dieser Frosch ein Berserker mit einem birnenförmigen, breiten Gesicht, grau bis zur Nase und tiefrot von den Wangenknochen abwärts, einem graubraunen Schnurrbart und hellen Augen. Sein Bauch war dick und seine Hände so grob wie Schaufeln. Er war nicht gerade freundlich, dachte ich, aber auch nicht bösartig; ein Mann, den man mit Vorsicht genießen musste, wie seine Bestien. Tiere sind launisch von Natur aus, der Mensch wird es durch den Hang zum Alkohol. Frosch war zwar imstande, Löwen zu bändigen, aber nicht seinen Durst.

Während unseres Gesprächs hatte ich Mustafa unentwegt im Auge behalten, konnte ich doch nicht begreifen, dass diesem Raubtier, wie gebrechlich auch immer, gestattet war, sich außerhalb des Käfigs zu bewegen. Genüsslich hatte er das Fleisch zerrissen und mit seinen fürchterlichen Hauern und Krallen bearbeitet. Erst dem aufmerksamen Blick offenbarte sich sein Alter und jener Mangel an Lebenskraft, die, wäre sie noch vorhanden gewesen, vor wenigen Minuten mein Ende bedeutet hätte.

Den Löwen an der Kette hinter sich herziehend, führte der Wächter mich aus dem Ballhaus. Bevor ich an die Arbeit ginge, so teilte er mir mit, sei es vielleicht ratsam, dass er mir die Örtlichkeit und die anderen Tiere zeige. Er schlug mir vor, sogleich einen kleinen Rundgang mit ihm zu unternehmen, damit ich am nächsten Tag keine weiteren, bösen Überraschungen erlebte. Ich willigte ein, wenngleich mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust.

«Do kummt nia kana ned her zum Nocheschaun», bemerkte der Wächter mit untröstlicher Miene.

Leider komme nur selten ein kaiserlicher Kommissär herbei, um die Sammlung exotischer Tiere im Ort Ohne Namen zu besuchen. Bei Hofe, erklärte Frosch betrübt, hatten alle diesen einst so prächtigen Ort vergessen, wenigstens bis zur Ankunft des geliebten Joseph I. Jetzt aber trafen das Geld, mit dem das Fressen für Mustafa und seine Gefährten bezahlt wurde, sowie das Salär ihres Beschützers weit regelmäßiger ein, und das hatte ihn zunächst für die Zukunft des Neugebäus hoffen lassen. Noch mehr Hoffnung hatte er geschöpft, als der Kaiser vor drei Jahren – es war am 18. März 1708, ein Sonntagnachmittag, Frosch erinnerte sich gut – seine Schwägerin, die Prinzessin Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel, mit einem großen Gefolge aus Damen und Kavalieren des Hofes hierhergeführt hatte. Da sein Bruder Karl in Barcelona weilte, um seine Ansprüche auf den spanischen Thron geltend zu machen, hatte Joseph ihn in Wien bei der Ferntrauung zwischen Karl und der deutschen Prinzessin vertreten. Kurz bevor sie dann nach Spanien zu ihrem Gemahl reiste, hatte Joseph seiner Schwägerin die Ehre erweisen wollen, ihr die im Neugebäu eingeschlossenen wilden Tiere, insbesondere aber die kürzlich dortselbst eingetroffenen zwei Leuen und das Panther-Tier, persönlich zu zeigen. Es war dies ein memorables Ereignis im verlassenen Dasein des armen Tierwärters gewesen, welcher Ihro Kaiserliche Majestät mit eigenen Augen durch die Alleen des Gartens hatte wandeln sehen und mit eigenen Ohren hören konnte, wie Joseph mit der Fröhlichkeit der Jugend ankündigte, dass dieser Ort alsbald zu neuem Leben erwachen werde. Dann aber war wieder viel Zeit vergangen; vor sechs Jahren schon hatte Joseph I. den Thron bestiegen, und das Schloss befand sich immer noch in einem beklagenswerten Zustand.

«Do kaunst nix mochn», grunzte Frosch bekümmert.

Diese Zeiten seien vorbei, versicherte ich ihm: Jetzt wolle Kaiser Joseph alles wieder in Ordnung bringen; ich selbst sei ja gerufen worden, um die Rauchfänge und die Kamine zu inspizieren. Und bald würden auch die Restaurierungsarbeiten beginnen.

In Froschs Augen leuchtete etwas wie Freude auf; einen Augenblick später starrte er mich jedoch mit leerem Blick an.

«Na, hoffmas», schloss er trübe.

Ohne noch etwas hinzuzufügen, ließ er den letzten Rest seiner Flasche auf dem Boden auströpfeln und stellte missvergnügt fest, dass sie leer war. Er brummelte, dass er zu einem Herrn mit Namen Slibowitz oder so ähnlich zurückkehren müsse, um sie auffüllen zu lassen.

So ist das pessimistische Naturell der Wiener: Seit Jahrhunderten derselben kaiserlichen Herrschaft unterworfen, sind sie stets misstrauisch gegenüber guten Nachrichten, auch wenn sie gerade diese ersehnen. Lieber verzichten sie darauf zu hoffen und fügen sich mit philosophischem Gleichmut in Unannehmlichkeiten, die sie für unvermeidbar halten.

Während wir voranschritten, stieg mir ein ekelerregender Gestank in die Nase, auch vernahm ich ein tiefes, feindseliges Gemurmel. Weiter vorn verwehrten uns ein breites Gitter und dahinter ein Graben das Weitergehen. Frosch bedeutete mir, stehen zu bleiben. Er ging mit dem Löwen voran, zog einen Schlüsselbund aus der Hose, öffnete einen Durchlass im Gitter und schob Mustafa hinein. Dann schloss er ihn wieder, kehrte zu mir zurück und geleitete mich in einen auf der rechten Seite an eine Reihe von Gräben grenzenden Laubengang, aus welchen der erwähnte Gestank und das Knurren kamen. Ich erschauerte, sobald ich den ersten Blick getan: In den Gräben hausten außer Mustafa weitere Löwen, Tiger, Luchse und Bären, wie ich sie zuvor nur auf Stichen gesehen. Zufrieden beobachtete Frosch meinen zwischen Staunen und Entsetzen schwankenden Gesichtsausdruck. Nie hätte ich mir vorgestellt, einmal so viele Bestien auf einen Haufen versammelt zu sehen. Aus einem der Gräben starrte ein Tiger mich mit argwöhnischem, gierigem Blick an. Ich erbebte und trat unwillkürlich zurück, als wolle ich mich hinter dem Geländer verstecken, das den Besucher vor dem Abgrund aus Kiefern, Reißzähnen und Klauen schützte.

«Sovüü Fleisch, wos brauchen, jedn Tog. Owa des zoit eh da Kaisa, haha!», lachte Frosch herzlich und versetzte mir einen so starken Hieb auf die Schulter, dass ich ins Schwanken geriet. Ein Bärenpaar stritt derweil um einen alten Knochen. Nur Mustafa hockte mutterseelenallein in seinem Loch. Er war krank und hasste die Gesellschaft seiner Artgenossen. Er ziehe es vor, von Zeit zu Zeit einen Spaziergang mit dem Wächter zu machen, erklärte mir Frosch.

Wir kehrten zurück. Aus einem der Gebäude neben der Wendeltreppe vernahm man ein beständiges, lärmendes Piepen.

Kaum trat ich ein, wurde es zu einem ohrenbetäubenden Gekreische. Es waren die Vogelkäfige, die ich am Geräusch schon längst erkannt hatte, denn ich selbst hatte in Rom die Volieren der Villa Spada betreut, in jenen glücklichen Jahren, als ich noch im Dienst des Vatikanischen Kardinalstaatssekretärs stand. Die Gattung der Aves kannte ich gut, und es gab mir einen Stich ins Herz, als ich sah, wie Frosch das arme Federvieh im Ort Ohne Namen hielt. Statt der geräumigen Volieren, die ich in der Villa Spada versorgt hatte, gab es hier nur enge, stinkende Käfige, wie sie sich bestenfalls für Hühner und Truthähne eigneten. Nur durch die Tür und einige Fenster fiel Tageslicht herein; derart eingeschlossen und mit Dutzenden anderer Vögel im selben Gefängnis zusammengepfercht, drohten sie allesamt zu ersticken. Ich gewahrte mir bekannte Spezies, aber auch solche, die ich noch nie gesehen hatte: herrliche Paradiesvögel, Papageien, Sittiche, Zwergscharben, die Fledermäusen gleichen, Vögel wie Schmetterlinge, mit goldenen, jutefarbenen, seidigen Federn. Allein der geräumige Vorhof, worin die gefiederten Sänger wohnten, verdiente Beachtung und Bewunderung: Es war ein großer Stall, wie Frosch mir erklärte, den jemand hatte verschönern wollen, indem er hohe toskanische Säulen dort aufstellte. Die oberen Kapitelle wurden an der Decke durch transversale Bögen verbunden, die einander überkreuzten und dadurch ein Netz von Wölbungen bildeten, darin Helligkeit und Dunkel sich in einem künstlichen Wettstreit von höchster Lauterkeit und artiger Schönheit begegneten.

Diese überaus empfindlichen Wesen (wie es auch der kräftigste Raubvogel in Gefangenschaft ist) mussten unter einer so engen Unterkunft unzweifelhaft leiden. Frosch erläuterte mir, dass dies ursprünglich die Stallungen des Ortes Ohne Namen gewesen seien. Nach dem Verfall der Volieren habe sich niemand darum bekümmert, neue zu erbauen. Aber dort im Stall sei das Federvieh wenigstens vor der Winterkälte geschützt, und dank der Tür, welche man hermetisch schließen könne, auch vor dem Besuch von Steinmardern.

Frosch fragte mich, ob ich, wo ich doch schon einmal da sei, nicht auch den Rest des Schlosses besichtigen wolle, aber die Sonne war inzwischen beträchtlich gesunken, und ich erinnerte ihn daran, dass ich immerhin zu Fuß nach Hause gehen müsse. Auch begehrte ich, zu Cloridia zurückzukehren, die zu dieser Stunde – wenn Simonis ihr erzählt hatte, was vorgefallen war – mindestens in Ohnmacht gefallen sein musste.

Ich stieg die Wendeltreppe hinauf, verabschiedete mich rasch und kündete meine Rückkehr am folgenden Vormittag an.

Kaum war ich auf der Straße, ließ ich den Gedanken freien Lauf, die, seit wir das Fliegende Schiff verlassen, in einem Winkel meines Kopfes gärten.

War diese sonderbare Kiste vor vielen Jahren wirklich geflogen? Sicher, die Flugschrift schilderte gänzlich phantastische Einzelheiten, wie zum Beispiel das Erscheinen der Mondbewohner. Es fiel indessen schwer zu glauben, der gesamte Inhalt könne erlogen sein. Der Verfasser hätte ungestraft Ereignisse erfinden können, die an entfernten, wildfremden Orten stattgefunden hatten (und das taten die Gazettenschreiber bei Gott nur allzu gerne!), nicht aber die Ankunft eines Luftschiffes in der Hauptstadt des Reiches, wo die Gazette ja durchaus gelesen wurde.

Doch es gab da noch etwas anderes. Frosch hatte das Ding ein «Narrenschiff» genannt. Dieses Wort hatte den Pfropfen auf dem Gefäß meiner Erinnerungen abrupt gelöst.

Es war vor elf Jahren, in Rom, mit Abbé Melani: eine Villa, verlassen wie der Ort Ohne Namen, welche die bizarre Form eines Schiffes besaß (tatsächlich wurde sie «das Schiff» genannt) und ein wunderliches Wesen beherbergte: Ganz in mönchisches Schwarz gekleidet (geradeso wie der Steuermann des Fliegenden Schiffes), war er uns erschienen, über den Zinnen der Villa fliegend. Er spielte eine portugiesische Weise, die folìa genannt wird, also «Narrheit», und deklamierte Verse aus einem Poem mit dem Titel «Das Narrenschiff». Später entdeckten wir, dass er mitnichten geflogen war. Violinist war er und hieß Albicastro. Eines Tages war er fortgegangen, um sich für den Kriegsdienst anwerben zu lassen. Ich hatte nie wieder von ihm gehört. In jenen Jahren hatte ich jedoch häufig an diesen Menschen zurückgedacht und mich gefragt, was aus ihm geworden war.

Jetzt brachten das Schiff in Gestalt eines Raubvogels und sein Steuermann, der das Geheimnis des Fliegens zu kennen schien, ihn mir mit aller Macht ins Gedächtnis zurück. In der Meldung des Wiennerischen Diariums war von einem nicht näher zu identifizierenden brasilianischen Geistlichen die Rede, aber wer weiß …

17. Stunde, Ende des Arbeitstages: Werkstätten und Kanzleien schließen. Handwerker, Sekretäre, Sprachlehrer, Priester, Handelsdiener, Lakaien und Kutscher speisen zu Abend (während man in Rom gerade die nachmittägliche Zwischenmahlzeit einnimmt).

Entgegen meinen Befürchtungen traf ich nicht auf eine ohnmächtige Cloridia. Meine süße Gattin ließ mich durch ein unter der Tür durchgeschobenes Billett wissen, dass sie im Dienst Seiner Durchlaucht Prinz Eugen im Palais hatte bleiben müssen. Das konnte nur bedeuten, vermutete ich, dass die Arbeit der türkischen Gesandtschaft ausnehmend schwierig war oder, wahrscheinlicher, dass die osmanische Soldateska im Gefolge des Agas von meiner Cloridia weiterhin mehr oder weniger schickliche Dienstleistungen verlangte, zum Beispiel die Versorgung mit Wein.

Der treue Simonis erwartete mich bereits. In seiner stets gleichen Miene erkannte ich weder Besorgnis noch Erleichterung darüber, mich heil und gesund wiederzusehen. Ich war darauf gefasst, dass er seiner Redseligkeit, die sich an diesem Tag noch nicht hatte austoben können, nun freien Lauf ließ. Schon schickte ich mich an, seinem geschwätzigen Fragenkatalog zu begegnen; doch nichts geschah. Er teilte mir lediglich mit, er sei soeben von der Gastwirtschaft zurückgekehrt, wohin er meinen kleinen Lehrjungen für das übliche siebengängige Abendessen gebracht hatte.

«Danke, Simonis. Bist du nicht neugierig zu erfahren, was mir geschehen ist?»

«Über alle Maßen, Herr Meister, aber ich würde niemals so indiskret sein, danach zu fragen.»

Sprachlos über solch entwaffnende Logik schüttelte ich den Kopf, nahm den Kleinen an die Hand und bedeutete Simonis, mich in das Gasthaus zu begleiten.

«Beeilen wir uns, Herr Meister. Vergesst nicht, dass der Preis für das Abendessen in wenigen Minuten von acht auf siebzehn Kreuzer steigt; nach sechse, oder nach 18 Uhr, wie Ihr Römer sagt, wird es vierundzwanzig Kreuzer und nach sieben gute siebenundzwanzig Kreuzer kosten. Und um acht schließt das Gasthaus seine Türen.»

Tatsächlich war in Wien alles eisern nach Uhrzeiten geregelt. Sie waren das eigentliche Unterscheidungsmerkmal des Adeligen vom armen Manne, des Handwerkers vom kleinen Angestellten. Wie Simonis mir just ins Gedächtnis gerufen, hatte dieselbe (fürstliche) Speise sowohl mittags als auch abends je nach Zeitpunkt einen unterschiedlichen Preis, damit die verschiedenen gesellschaftlichen Stände ungestört tafeln konnten. Auf ebendiese Weise waren auch die anderen Momente des Tages unterteilt, sodass man wohl sagen durfte, dass in Wien die Sonne nicht für alle schien.

Die Kaiserliche Urbe funktionierte wie das Proszenium eines Balletttheaters, wo die Künstler in streng nach Wichtigkeit aufgeteilten Staffeln Einzug halten und eine neue Reihe Tänzer erst dann auf der Bühne erscheint, wenn die andere sie verlassen hat.

Damit nun aber jede gesellschaftliche Schicht bequem ihren Platz im Tagesverlauf fände, hatte die Obrigkeit angeordnet, der Tag solle für die niedersten Stände nicht mit dem Aufgang der Sonne beginnen, wie für den Rest des Erdkreises, sondern in tiefer Nacht.

Ich war erschrocken von meiner Bettstatt aufgesprungen, als vor zwei Monaten, einen Tag nach unserer Ankunft in Wien, der dröhnende Schrei des Nachtwächters die Fenstergläser hatte erzittern lassen: «Haußknecht, steh auf in Gottisnam, der helli Tag bricht schon herann!»

In Wahrheit war der helle Tag noch weit entfernt: Die Reisependüle, die ich vor der Abfahrt vom Darlehen Melanis erworben hatte, zeigte drei Uhr nachts. Und es war kein böser Traum. Wenig später verkündete das Primglöcklein vom Stephansdom den Beginn des Tages. Wie ich alsbald lernen sollte, gab es, hatte man sein gebieterisches Klingeln einmal vernommen, keine Ruhe mehr: Die Uhrenwächter schlugen jede Viertelstunde, indem sie direkt aus dem Fenster ihrer Wohnstätten an einem langen, mit dem Hämmerchen der Glocke verbundenen Draht zogen. So schlugen sie das erste, das zweite und das dritte Viertel jeder Stunde; vom Schlagen des vierten hingegen waren sie befreit, denn man befürchtete, die fast unmöglich zu bewerkstelligende Gleichzeitigkeit mit der Stundenglocke des Stephansdoms könne Verwirrung über die genaue Uhrzeit hervorrufen. Kurzum, die Zeitmessung war in Wien wahrhaftig keine Angelegenheit der persönlichen Meinung.

Da der Tag nachts begann und man sich die Sonne folglich für die Stundenzählung nicht zunutze machen konnte, wimmelte es auf den Straßen und Plätzen der Kaiserstadt von Uhren: Sie prangten nicht nur auf dem Rathaus und sämtlichen öffentlichen Gebäuden, sondern auch auf Klöstern, Residenzen des Adels und Häusern wohlhabender Leute. In den Innenräumen hängte man Uhren aus Eisen an die Wände. Es war eine regelrechte Manie, dessenthalben es hier natürlich keine schlichten Uhrmacher gab, wie in Rom, sondern zuvörderst die allgemeine Unterteilung zwischen Großuhrmachern und Kleinuhrmachern, je nachdem, ob sie Turmuhren oder Taschenuhren herstellten; dann gab es die Zifferblattschreiber, welche sich wiederum von den Blattstechern unterschieden, so wie auch die Uhrzeigerhersteller etwas anderes waren als diejenigen, die Uhrfedern anfertigten. Über die Taschenuhren hatten sogar die unvermeidlichen Jesuiten disputiert und waren – nach langem Diskurrieren, ob diese verstattet und notwendig seien – nach Jesuitenart zu einer salomonischen Lösung gelangt: Taschenuhren waren auf Reisen erlaubt, wohingegen im Hause eine einzige Wanduhr für alle genügen musste.

Nach dem unerbittlichen Gesetz der Uhren beginnt um drei Uhr in der Früh also das harte Tagwerk. Um diese Zeit bringen Küchen-, Lust- und Ziergärtner bereits Gemüse und Pflanzen in Butten auf den Markt. Um halb vier öffnen die Branntweingewölbe und die Hütten der Garköche bei den Stadttoren, wo die Tagelöhner, Maurer, Tischler, Holzhauer und Kutscher frühstücken. Um vier Uhr beginnen die Handwerker und Diener mit der Arbeit. Die Stadttore öffnen sich: Milchfrauen, Bauern und Händler mit Obst, Butter und Eiern strömen zu den Marktplätzen. Wir Schornsteinfeger und auch die Ziegeldecker können uns glücklich preisen: Im Winter beginnen wir wegen der Dunkelheit nicht vor sechs Uhr.

Wenn ich mich in Rom noch vor Aufgang der Sonne auf den Weg machte, um die umliegenden Ortschaften rechtzeitig zu erreichen, wanderte ich durch eine dunkle, gespenstische, nur von bedrohlichen Schatten bevölkerte Stadt. In Wien dagegen herrscht schon um vier Uhr morgens ein so geschäftiges Gewimmel, dass man glauben möchte, es sei eine Sonnenfinsternis, die den Himmel schwärzt, und nicht die frühe Morgenstunde.

Um fünf Uhr kann man schon jedes nur erdenkliche Nahrungsmittel kaufen; um halb sechs öffnen Beisln und Bierhäusl. Gärtner und Bauern haben ihre Waren schon in die Stadt gebracht und sitzen nun zuhauf in den Kaffeehäusern bei ihrer ersten Arbeitspause, während die Köchinnen, Diener und Speisenmeister zu den Marktplätzen strömen. Um die gleiche Zeit wird die erste Messe am Tag verlesen: Von nun an werden unaufhörlich Glocken läuten, die den ganzen Tag lang Gottesdienste und andere religiöse Zusammenkünfte ankündigen, deren es hier mehr als in Rom gibt. Um sechs gehen die Ehefrauen und Töchter der niederen Angestellten, der Künstler und der kleinen Hausoffiziere einkaufen, das sind jene Stände, die sich keine Dienerschaft leisten können. Um sieben läutet die Türkenglocke (die seit der Belagerung von 1683 so genannt wird) oder auch Betglocke, die alle, ob sie nun im Hause oder auf der Straße weilen, aufruft, niederzuknien und das erste Tagesgebet außerhalb der Kirche zu verrichten. Um halb acht beginnen die rangniederen Angestellten mit der Arbeit. Frauen machen gerne die ersten Besuche bei Bekannten. Eine Viertelstunde später wird man mit Hilfsgesuchen bei den Residenzen der Adeligen vorstellig, die gegen acht Uhr immer zum Dejeuner laden. Ebenfalls um acht beginnt der Arbeitstag der höheren Angestellten. Zur gleichen Stunde verlassen die ersten Adeligen das Haus. Vor dieser Zeit sieht man auf den Straßen keine Kutschen, ausgenommen derjenigen bürgerlicher Familien oder Hausbeamter, die von einem kurzen Erholungsaufenthalt in den Vorstädten zurückkehren.

Die Damen der Aristokratie sind Langschläferinnen und besonders faul. Der vor kaum zwei Jahren verstorbene, berühmte Hofprediger Pater Abraham a Sancta Clara hatte von der Kanzel gegen ebenjene Edelfrauen gewettert, welche es wagen, sich bis um halb zehn müßig im Bette zu räkeln. Manche Damen liefen gleich vom Bette aus ungeschnürt in die Kirche und zur Kommunion. Nicht wenige Prediger hatten darum vom Altar aus gegen die weiblichen Rundungen gewettert, die während der Morgenmessen unter den Mantillen hervorlugen, und gedroht, in das Dekolleté der Damen hineinzuspucken.

Zwischen neun und zehn Uhr, nach Beendigung ihrer Toilette, strömen die Adeligen en masse aus dem Haus: Sie gehen auf den Bastionen spazieren, wo sie sich, vornehmlich im Frühling und Herbst, ein paar Stunden aufhalten. Ausländische Besucher sind nicht selten verärgert, wenn sie von Haus zu Haus eilen, um Besuche abzustatten, und niemanden antreffen. Von elf Uhr an ist jede Stunde Essenszeit, und das letzte Mittagsmahl in den Adelspalästen fällt mit dem ersten Abendessen der niederen Stände zusammen. Um zwölf speisen die Hofbediensteten zu Mittag und um ein Uhr die Nobilität, welche dann zwischen zwei und drei Uhr Freunde und Bekannte empfängt oder denselben ihre Aufwartung macht. Um drei kehren die Angestellten zur Arbeit und die Schüler in die Schule zurück. Um fünf Uhr ist Feierabend, und das gemeine Volk begibt sich, wie ich schon sagte, zum Abendessen. Eine Stunde später nehmen die Hofangestellten das Nachtmahl, während die Theater ihre Türen schließen. Um halb sieben werden die Stadttore geschlossen, so zumindest bis Mitte April, danach wird die Schließung um eine Viertelstunde verschoben. Wer zu spät kommt, muss sechs Kreuzer Bußgeld zahlen. Nun läutet die Bierglocke, und hat sie geschlagen, darf niemand mehr in den Schänken trinken. Auch darf man nun nicht mehr bewaffnet oder ohne Laterne durch die Straßen gehen. Um sieben Uhr legen sich die einfachen Leute schlafen, während die Adeligen sich zum Nachtmahl begeben – wahrlich ein Unterschied zu den Residenzen römischer Fürsten, wo um Mitternacht noch geprasst wird!

Um acht Uhr schließen die Gaststätten. Bis neun oder höchstens zehn Uhr abends müssen die Arbeiter ins Haus des Meisters zurückgekehrt sein, wo sie Unterkunft haben. Im Falle einer Verspätung droht ihnen eine Geldstrafe.

Mit Simonis hatte ich derlei Probleme bislang nicht: Wir waren beide Gäste des Klosters, und soviel ich wusste, hatte der Grieche den Ordensfrauen noch nie Sorgen bereitet.

Auch der größte Genussmensch unter den Adeligen geht nicht später als um Mitternacht zu Bette. Zwischen dieser Stunde und drei Uhr in der Früh herrscht somit die kurze Nacht, die den Wienern aller Stände gemein ist.

Um die Finsternis zu bezwingen und den Beginn rechtschaffener Tätigkeiten zu einer so undankbaren Stunde zu ermöglichen, hatte die Stadtverwaltung schon vor über zwanzig Jahren alle Straßen mit Laternen versehen. Dergleichen hatte ich wahrlich nie zuvor gesehen. Diese Maßnahme, hatte man mir berichtet, sei auch getroffen worden, um die Anzahl nächtlicher Verbrechen zu verringern, da Handwerker und Bedienstete ungeachtet der Verbote häufig mit einem Degen bewaffnet umherliefen. Doch ging die Beleuchtung leider zu Lasten der Hausbesitzer, welche sich folglich nicht darum bekümmerten, sodass die Laternen, nachdem sie entzündet, jeden Abend nur kurze Zeit brannten, ungereinigt blieben und manchmal Opfer blindwütiger Zerstörung wurden. Allerorten hieß es ironisch, die Wiener Stadtbeleuchtung sei dazu da, um die Finsternis besser sehen zu können.

Mit der Thronbesteigung unseres geliebten Joseph des Sieghaften hatte sich die Angelegenheit glücklicherweise geregelt. Und während so in Rom die spärlichen Kutschen, die es wagten, nachts auszufahren und die Finsternis mit ihren Fackeln zu durchschneiden, vom verderblichen Volk der Nacht überfallen wurden, eilten in Wien junge Bäuerinnen, Dienstmägdlein und Kindchen munter mit ihren Körben voller Waren und Hausrat durch die Stadt und fürchteten sich nicht einmal in den engsten und ärmsten Gassen.

Wie ich im Corriere Ordinario, jener überaus informativen Wiener Gazette in italienischer Sprache, hatte lesen können, waren im vergangenen Jahr, 1710, von 4742 Verstorbenen nur dreiundsechzig einem gewaltsamen Tod zum Opfer gefallen, und von diesen nur dreizehn ermordet (darunter nicht wenige Studenten, bekanntlich rauflustige Gesellen) und fünf hingerichtet worden: Von den Ermordeten waren zehn mit dem Schwert, zwei mit der Hakenbüchse und einer durch Gift getötet worden; von den fünf Hingerichteten starben drei durch Enthauptung, einer durch den Strang und einer auf dem Rad. Die restlichen vierundvierzig Verstorbenen aber waren durch Unfälle geendet: Zweiundzwanzig waren von Treppen, Fenstern, Dächern oder anderen Erhebungen in den Tod gestürzt; zwei von Tragbalken zerschmettert worden, zwei weitere waren unter Weinfässer und eine Frau unter einen Karren geraten; vier wurden unter ausgehobenem Erdreich begraben; sechs ertranken, zwei waren von Pferden totgetreten worden, einer starb an falschen Arzneien, einer hatte sich selbst die Kehle durchgeschnitten, zwei waren in glühende Brennöfen gefallen und eine Frau an Mostdämpfen erstickt.

Wie anders in Rom, wo jede Nacht mindestens ein Streit mit tödlichem Ausgang stattfand, von Diebstählen, Einbrüchen und Brandstiftung ganz zu schweigen! Wenn ich nur an das letzte Jahr zurückdachte, kamen mir gleich eine große Anzahl grausamer Fälle in den Sinn: Der alte Medikus im Haus der Falconieri hatte wegen Liebeshändeln den Hauslehrer getötet; in der Via Borgognona hatte ein irregewordener Steuereintreiber seine arme Magd erstochen; einem Branntweinverkäufer, der Aquavit feilbot, waren die wenigen Groschen, die er bei sich trug, mit Gewalt genommen worden, dann hatte man ihn aus Abscheu, und weil er sich heftig wehrte, mit Knüppeln totgeschlagen. Dem armen Bruder Cicco, dem uralten Eremiten der Porta Angelica, hatte man mit einer Hacke auf den Kopf geschlagen. Und wie könnte man die Rauferei um zwei Uhr nachts zwischen den Sbirren des Auditors der Apostolischen Kammer und einigen Dienern des Kardinals Acquaviva an der Ponte di Borgo vergessen? Dass die Sbirren die Laternen erhoben hatten, um den Dienern ins Gesicht zu sehen, hatten diese übel aufgenommen, und sofort war ein Kampf mit Faustschlägen und Messerstichen entbrannt. Sogar der Bargello war bedroht worden und hatte sich mit einem Satz hinter die Absperrketten der Engelsburg gerettet.

Und jener Fall des jungen betrunkenen Weinbauers, der bewaffnet in die gutbesuchte Kirche an der Piazza del Popolo eindrang? Er verletzte zwei Menschen und löste so argen Tumult und gellende Frauenschreie aus, dass die Mönche die Feuerglocken läuteten, worauf die Soldaten des Ripetta-Viertels herbeieilten. Und jener arme Spediteur aus Liegi mit Namen Pasqua, dem während eines Streites um ein Uhr nachts auf der Piazza di Spagna nahe beim Palazzo der Kongregation der Propaganda Fide ausgerechnet von einem Kanonikus aus Loreto die Kehle durchgeschnitten wurde?

Wenig halfen die Hinrichtungen am Galgen, ebenso wenig die weit schrecklicheren durch den Schlaghammer oder das Hinschlachten und Vierteilen in aller Öffentlichkeit auf der Piazza del Popolo. Auch die Razzien, die jedes Mal Aberdutzende Diebe ins Gefängnis brachten, oder die Anordnung Seiner Heiligkeit, die päpstlichen Kürassiere sollten nachts in kleinen Trupps durch die Stadt streifen, vermochten nichts auszurichten. Berühmt war der nächtliche Hinterhalt, den die von Soldaten der Pfarrei San Salvatore in Lauro unterstützten Papstgarden jenen Banditen gelegt hatten, welche Nacht für Nacht auf den Stufen des Oratoriums San Lorenzo in Lucina lauerten. Diese Verbrecher taten den Passanten nämlich Gewalt an, indem sie ihnen das Geld und häufig auch das Leben nahmen; darauf zogen sie mit anderen steckbrieflich gesuchten Mördern durch die Stadt, und die Garden wagten nicht, sie anzugreifen, weil das Gelichter immer in größeren Gruppen und bewaffnet ging. Alle wurden verurteilt, aber binnen eines Monats hatte sich schon die nächste Bande gebildet, noch gefährlicher als die alte.

Vom seelenruhigen Wien aus gesehen, gemahnte mich die aufgewühlte Ewige Stadt an die Menagerie der wilden Tiere im Ort Ohne Namen. Und Geist und Herz eilten dankbar zum Bilde Atto Melanis, der mich dort herausgeholt hatte.

18. Stunde: Die Angestellten bei Hofe speisen zu Abend.

Ich hatte mein Nachtmahl in der Gastwirtschaft beendet. Die Schüsseln und Teller der sieben Gänge standen aufgetürmt in einer Ecke des Tisches, der Wirt hatte sie vergessen. Die Tagessuppe, jeden Tag eine andere; der Teller Rindfleisch mit Soße und Radi; das Gemüse, das mal mit Schweinefleisch, mal mit Würsten, Kalbsleber oder Kalbsfüßen «gewürzt» war; die Pastete; die Schnecken und Krebse mit Spargelragout; der Braten, der heute Abend Lammfleisch gewesen war, an anderen Tagen Kapaun, Huhn, Gans, Ente oder Wild sein konnte; und schließlich der Salat: Eine solche Speisenfolge, wie ich sie in Rom vor vielen Jahren nur auf der Tafel des Kardinalstaatssekretärs Spada hatte gewahren können, wurde wahrhaftig, wie ich schon sagte, zum bescheidenen Preis von acht Kreuzern serviert und war das ganze Jahr über von gleicher Üppigkeit, außer während der Fastenzeit und der anderen kirchlich gebotenen Fastentage, an denen es zwar bei sieben Gängen blieb, die Fleischgerichte jedoch durch Berge von Fischen, Eieraufläufe und verschiedenste Backwaren ersetzt wurden.

All das war an diesem Abend pflichtschuldig verspeist worden, freilich nicht von mir, einen geringen Teil ausgenommen, sondern von Simonis. Der Grieche hatte zwar kurz vor meiner Heimkehr mit dem Kleinen gespeist, doch schien er trotz seiner Schmächtigkeit immer essen zu können. Heute Abend sah er es als seine Aufgabe an zu verhindern, dass die Teller zurückgingen, die ich, erschüttert noch von den Abenteuern des Nachmittags, unter dem beleidigten Blick des Wirtes praktisch unberührt gelassen hatte.

Die Handwerksgesellen hatten eigene Stammtische, wenn ihre Innung nicht sogar Trinkstuben, ja Herbergen besaß, wo sie häufig auch zum Mittagsmahl zusammenkamen, statt mit dem Meister zu speisen. Und so gab es Schneider-, Rauchfangkehrer-, Fleischhacker-, Handschuhmacher- und Komödienbierhäusl. Gewöhnlich hatten die Verbindungen der Künste und Gewerbe ihren eigenen «Saufwinkel» in den Gasthäusern, und dort waren die Tische getrennt: einer für die Meister und einer für die Gehilfen. Mein Geselle und ich aber trennten uns nicht gerne, und die neidischen Blicke, mit denen meine Zunftbrüder mich jedes Mal empfingen, hatten Simonis und mich dazu bewogen, treue Kunden der Wirtschaft nächst dem Kloster zu werden, statt die üblichen Lokale unserer Zunft zu besuchen.

Während mein Gehilfe mit seiner großzügigen Hilfeleistung beschäftigt war, vervollständigte ich den nicht einfachen Bericht über die Ereignisse im Neugebäu, wobei ich vieles ausließ, was ihm verständlich zu machen kaum möglich gewesen wäre. Die Erzählung vom Löwen hatte ihn amüsiert; viel schwerer hingegen tat er sich zu begreifen, was das Fliegende Schiff sei, zumindest so lange, bis ich ihm die Gazette mit dem ausführlichen Bericht der Begebnisse vor zwei Jahren unter die Nase hielt. Daraufhin war er nachdenklich geworden, und als er die Lektüre mit einem lakonischen «Aha» abgeschlossen, hatte er keine Fragen mehr gestellt.

Wir kehrten ins Kloster zurück; der Grieche zum Schlafen, ich und das Kind zur abendlichen Verabredung mit dem verdauungsfördernden Teegetränk. Während wir den Kreuzgang durchquerten, erklärte ich meinem Kleinen, welcher nach der Mama fragte, liebevoll, dass Cloridia noch im Palais des Prinzen Eugen verweilen müsse. Plötzlich aber verzog sich mein Gesicht zu jener Fratze, die sich einstellt, wenn man eine bittere Arznei trinkt:

«Mich dünkt's, dass es eine überaus schöne Übung sei, die Übung der italienischen Sprache, so bei uns sehr geübt in diesen Zeiten. Der Herr thut gar recht, dass er diese Sprache, also die fürnembste und nutzbarste in diesem Land, mit Ihrem Knaben spricht!»

Nach den ersten Sekunden panischen Erschreckens (ein den Novizen der germanischen Sprache wohlbekanntes Gefühl) gelang es mir mühsam, den Sinn der an mich gerichteten Ansprache zu erfassen. Ich schenkte dem guten alten Ollendorf ein schwaches Lächeln: Die Zeit war verflogen, und die gefürchtete Stunde des Deutschunterrichts war gekommen. Mit teutonischer Pünktlichkeit stand unser Präzeptor bereits vor der Tür und erwartete uns.

20. Stunde: Beisln und Bierhäusl schließen ihre Pforten.

Die Tortur des Deutschunterrichts, darin mein Söhnchen wie immer geglänzt und ich nur gelitten hatte, war vorüber, und wir verließen das Kloster, um uns zur abendlichen Probe des Oratoriums zu begeben.

Ich hatte noch keine Gelegenheit zu erklären, dass wir in jener Zeit Camilla de’ Rossi einen Dienst erweisen mussten. Die Leiterin des Chores an der Himmelpfortgasse war eine erfahrene Tonsetzerin und hatte in den letzten vier Jahren im Auftrage des Kaisers die nämliche Anzahl Oratorien verfasst und in Wien aufführen lassen, jedes Jahr eines, was ihr großen und allseitigen Applaus eingetragen hatte. Am Ende des vergangenen Jahres jedoch hatte sie Joseph I. um Permiss gebeten, sich zurückziehen und als Laienschwester in einen Orden eintreten zu dürfen. Ihre Kaiserliche Majestät hatte sie alsdann dem Augustinerinnenkloster in der Himmelpfortgasse bestimmt und ihr das Amt übertragen, den dortigen Chor zu leiten. Wider Erwarten war Camilla jedoch vor einigen Wochen vom Kaiserhofe mitgeteilt worden («per Eilzustellung», wie sie uns mit kaum verhohlener Befriedigung erzählt hatte), Ihro Kaiserliche Majestät erteile ihr auch in diesem Jahr den Auftrag, in aller Eile ein italienisches Oratorium zu komponieren. Auf die demütigen Einwände, die Camilla erhob, hatte der kaiserliche Bote erwidert, wenn sie durchaus nicht geneigt sei, ein neues Werk zu schaffen, werde Seine Kaiserliche Majestät es keineswegs verschmähen, zum wiederholten Male das Oratorium des vergangenen Jahres zu hören, den Heiligen Alexius, an welchem Er uneingeschränkt Gefallen gefunden habe.

Der Grund für sein Beharren war von großer Dringlichkeit. In den letzten Jahren waren die Beziehungen zwischen dem Reich und der Kirche auf dem tiefsten Punkt seit Jahrhunderten angelangt. Die Gegensätze zwischen Kaiser und Papst waren dieselben wie im Mittelalter, als die teutonischen Kaiser in das Hoheitsgebiet der Kirche eindrangen und die Päpste, die nicht über genügend Kanonen verfügten, mit Exkommunizierungen zurückschossen. Just so war es vor drei Jahren wieder geschehen, im Jahre 1708, als die Truppen Josephs I. – welcher den Papst in der hitzigen Atmosphäre jener Kriegsjahre allzu großer Franzosenfreundlichkeit zieh – in Italien in den Kirchenstaat einmarschiert waren und das Gebiet um Comacchio besetzt hatten, indem sie ein altes kaiserliches Anrecht auf diese Ländereien als Vorwand anführten. Dieses Mal hatte der Papst beschlossen, ebenfalls zu Kanonen zu greifen, und so war es zu einem traurigen Kriege zwischen Joseph, dem Sieghaften, und Seiner Heiligkeit Clemens XI. gekommen, der selbstverständlich mit dem Sieg des Ersteren endete. Nachdem die Waffen im ungleichen Kampf schwiegen, hatte der Konflikt sich noch über zwei Jahre hingezogen, und erst jetzt, im Frühling 1711, zeigte sich dank diplomatischer Bemühungen eine friedliche Lösung: Der Kaiser war bereit, die Ländereien um Comacchio freiwillig zurückzuerstatten. Den Rahmen eines endgültigen, vollständigen Friedensschlusses mussten natürlich eine Reihe gegenseitiger Gefälligkeiten bilden, wie es die politische Strategie verlangt. Also war Joseph I. vor fünf Tagen, am Sonnabend, dem 4. April, dem Vorabend des Osterfestes, vom Apostolischen Nuntius in Wien, Kardinal Davia, und einem großen Gefolge aus Ministern und höchsten nobiles begleitet worden, als er sich per pedes zu einem Besuch der Wiener Kirchen und Kapellen begeben hatte. Am folgenden Sonntag, dem Ostertage, war der Nuntius mit Joseph zur morgendlichen und nachmittäglichen Heiligen Messfeier in der Kirche der Ehrwürdigen Barfüßigen Augustinerpatres bei der Kaiserlichen Residenz gegangen, wie die Gazetten getreulich berichteten. Zum Abschluss hatten die beiden am folgenden Abend gemeinsam den fünf letzten bedeutenden Fastenpredigten beigewohnt (zu denen bis vor wenigen Jahren jene des berühmtesten Hofpredigers gehörten, des verstorbenen Abraham a Sancta Clara), und am Ausgang waren sie mit einem dreifachen Musketenschuss salutiert worden. Die Sache hatte Aufsehen erregt: Nie zuvor hatte Seine Majestät das Osterfest mit dem Nuntius verbracht.

Um nun die glückliche Wiederaufnahme der Beziehungen zum Heiligen Stuhl und das Ende des Streites um Comacchio zu besiegeln, war beschlossen worden, unmittelbar nach Ostern ein Oratorium aufführen zu lassen, nach römischem Brauch, mit Bühnenbild, Kostümen und szenischer Handlung, wie bei den Passionsspielen, was einen Bruch mit der Tradition des Kaiserhofes bedeutete, der Oratorien nur in der Fastenzeit und ohne jede szenische Darbietung gestattete.

Camilla war folglich mit der Aufgabe betraut worden, ein italienisches Oratorium aufzuführen, dem Joseph und der Nuntius Davia, der Vertreter Seiner Heiligkeit, in symbolischer Eintracht nebeneinandersitzend beiwohnen würden.

Obwohl keiner der Hofbeamten ihr einen deutlichen Hinweis darauf gegeben hatte, wusste Camilla recht wohl, dass ihre Arbeit weit eher politischen als musikalischen Zwecken diente. Der Heilige Alexius, der im Jahre 1710 bei so vielen Adeligen und feinsinnigen Personen Furore gemacht hatte, sollte in diesem Jahr in der ehrwürdigen Hofkapelle Ihrer Kaiserlichen Majestät eigens für den Nuntius wiederholt werden. Aller Augen waren auf sie gerichtet, und die Chormeisterin hatte sich eifrig an die Arbeit gemacht, indem sie in aller Eile die Sänger und Musiker des Vorjahres erneut verpflichtet und persönlich Ersatz für jene gesucht hatte, die sie nicht wieder hatte gewinnen können. Sie hatte sich vergewissert, dass die Kapelle angemessen geschmückt und die Musikinstrumente von allerbester Qualität waren, ja, sie hatte sogar die verblichenen oder zerknitterten Orchesterstimmen neu abgeschrieben.

Ob man es glaubt oder nicht, bei diesem gewichtigen Unterfangen hatte sogar ich, ein bescheidener Rauchfangkehrer, meine Rolle. Bei den Darstellern waren nämlich einige Kinder vonnöten, aber es gab nur wenige Familien, die bereit waren, ihre Kleinen zu fortgeschrittener Abendstunde aus dem Hause zu lassen. Camilla hatte uns daher gebeten, ihr zu helfen. Wir hatten gerne eingewilligt, und angesichts meiner geringen Körpergröße gewann die Chormeisterin mit unserer Familie nicht nur einen Darsteller, sondern deren zwei hinzu.

Also waren wir fast jeden Abend bei den Proben für den Heiligen Alexius in der Kaiserlichen Kapelle zugegen und nahmen, wenn nötig, an der Bühnenhandlung teil oder lauschten still den Übungen der Musiker.

Es war, als würde ich dem Gesang ein zweites Mal geboren: In meinem ganzen Leben hatte ich nie etwas anderes gehört als die Stimme Atto Melanis, wenn er die Noten seines alten Meisters, des Seigneur Rossi, sang. Und jetzt wollte es eine Laune des Schicksals, dass ich statt der Arien Luigi Rossis diejenigen einer de’ Rossi hörte; nahezu derselbe Nachname, der sich für mich von nun an unzertrennbar mit der Idee des Gesangs verband.

Obzwar eingeschüchtert durch unsere mangelnde Kenntnis der Kunst Euterpes, konnten mein Kleiner und ich uns mittlerweile doch einiger Bekanntschaften in der bunten Truppe der Orchestermusiker rühmen, deren nicht wenige bei Hofe gut eingeführt waren. Sie grüßten uns jeden Abend höflich und wechselten einige freundliche Worte mit uns: der Theorbenspieler Francesco Conti, der reichlich Solopartien im Heiligen Alexius hatte; Contis Gattin, die Sopranistin Maria Landini, genannt «die Landina», welche die Rolle der Braut des Alexius spielte; der Tenor Carlo Costa, der im Oratorium Alexius’ Vater verkörperte; schließlich Carlo Agostino Ziani, stellvertretender Kapellmeister der Kaiserlichen Hofkapelle, und der Hofdichter Silvio Stampiglia. Beide schätzten die Musik Camilla de’ Rossis außerordentlich und kamen häufig, um den Proben für das Oratorium zu lauschen.

Mit derart hochstehenden Persönlichkeiten, die uns ihre Gunst vornehmlich darum gewährten, weil sie wussten, dass wir Freunde der Chormeisterin waren, kamen wir allerdings nur flüchtig in Kontakt. Der Einzige, der sich mit uns in Gesprächen von einer gewissen Dauer erging, war ein Sänger und Italiener, wie der größte Teil der Musiker in Wien. Er hieß Gaetano Orsini und spielte im Oratorium die Hauptfigur. Ich wusste es höchlich zu schätzen, dass er uns mit so großer und freisinniger Freundlichkeit begegnete, die sein Rang ihm durchaus nicht gebot. Er kannte den Kaiser persönlich, dieser estimierte seine Kunst über alle Maßen und hielt ihn unter seinen Musizi in Lohn und Brot. Vom ersten Moment an war es mir erschienen, als kennte ich ihn seit jeher. Dann hatte ich begriffen, aus welchem Grund: Orsini hatte eine wahrlich nicht unbedeutende Eigenschaft mit Atto Melani gemein. Er war ein Kastrat.

Ich traf ein wenig verspätet auf der Probe ein. Als ich mich der Tür der Kaiserlichen Kapelle näherte, hörte ich, dass Camilla ihrem Orchester bereits den Einsatz gegeben hatte. Es war Orsinis Gesang, der mich empfing. Das Oratorium erzählte die ergreifende Geschichte von Alexius, einem jungen römischen Adeligen, der an der Schwelle zur Ehe steht. Doch just am Tag der Hochzeit erhält er das göttliche Gebot, den irdischen Freuden zu entsagen: Darauf verlässt er die Verlobte, schifft sich ein und führt, nachdem er sich in entlegene Lande geflüchtet, ein Leben in Armut und Einsamkeit. Verkleidet als Bettler, kehrt er nach Rom zurück, wird im väterlichen Hause beherbergt und bleibt dort, in einem Gelass unter der Treppe hausend, gut siebzehn Jahre, ohne erkannt zu werden. Erst auf dem Totenbette gibt er sich seinen Eltern und der einstigen Braut zu erkennen.

Es wurde die Arie mit dem dramatischen Dialog zwischen Alexius und seiner Verlobten am Tag der missglückten Hochzeit geprobt. Ich hatte mich gerade zwischen den anderen Darstellern aufgestellt, als man, präludiert vom Zirpen der Theorben und Cembali und getragen vom knappen Räsonnement der Geigen, die herzzerreißenden Worte vernahm, mit denen Alexius sich von seiner Geliebten trennt:

Credi, oh bella, ch’io t’adoro

E se t’amo il Ciel lo sa

Ma bram’io il più bel ristoro

Mi t’invola altra beltà …1*

Im darauf folgenden Rezitativ antwortete sie mit gleicher Herzensqual:

Come goder poss’io di gemme e d’oro,

Se da me tu t’involi, o mio tesoro,

Che creda, che tu m’ami or mi spieghi

E l’amor tuo mi nieghi.

Conosco che il tuo amore

Sta solo su le labbra e non nel core …2*

Trotz dieser ergreifenden Szene trugen meine Gedanken mich fort. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich wieder auf dem Fliegenden Schiff, ich stellte mir seinen unbekannten, wie einen Mönch gekleideten Steuermann vor und dachte an sein geheimnisumwittertes Ende: Einer derart mysteriösen Begebenheit, so meinte ich, hätte ein Poem von Ariost gut angestanden.

Unterdessen wehrte Alexius die Bitten seiner Geliebten ab und kündigte ihr seine beschlossene Abreise an:

In questo punto istesso

Devo eseguire il gran comando espresso

Più dimora qui far già non poss’io.

Cara consorte, il Ciel ti guardi, addio … 3**

Ich schloss die Augen. Während die Musik der Chormeisterin den feierlichen Raum der Kaiserlichen Kapelle ausfüllte, dröhnte mir erneut das Gebrüll der Löwen vom Neugebäu und das Gekreische der Vögel im Ohr.


1 * Glaub mir, o Schöne, dass ich dich anbete./Und der Himmel weiß, dass ich dich liebe./Doch ich begehre schönere Erquickung./Eine andere Schönheit entzieht mich dir …

2 * Wie könnte Geschmeide und Gold mich erfreun/Wenn du dich mir entwindest, o mein Geliebter./Wie sollt ich glauben, dass du mich liebst, wie du mir erklärst/Und mir deine Liebe verwehrst. /Ich erkenne, dass du deine Liebe/Nur auf den Lippen und nicht im Herzen trägst…

3 ** Noch in diesem Moment/Muss ich dem großen Befehl folgen./Ich kann hier nicht länger verweilen./Liebste Gemahlin, der Himmel behüte dich, lebe wohl …