Käyserliche Haupt-
und Residenz-Stadt Wienn

Freitag, den 10. April 1711

ZWEITER TAG

3. Stunde, da man den Ruf des Nachtwächters hört: «Haußknecht, steh auf in Gottisnam, der helli Tag bricht schon herann!»

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war ich voller Optimismus und begierig, an den Ort Ohne Namen zurückzukehren, um endlich mit der Arbeit zu beginnen. Seit zu langer Zeit schon harrte sie ihrer Erledigung.

Als das Primglöcklein den Beginn des Tages für das gemeine Volk einläutete, hatte ich mich mit meinem kleinen Lehrjungen und Simonis schon auf den Karren gesetzt.

«Diesmal, Herr Meister, nehme ich die Straße von Süden. Wir gehen auf der Gartenseite hinein, weit weg von den Löwen», hatte der Grieche mir lächelnd angekündigt, der sich am Abend zuvor bei der Schilderung meiner Flucht köstlich amüsiert hatte.

Während unserer Fahrt brach der Tag an. Nachdem wir eine große Kirche hinter uns gelassen hatten, erspähten wir endlich in der Ferne ein helles Gebäude von so schneeweißer Farbe, dass uns der Anblick in der Sonne blendete.

Als meine Augen sich an das Funkeln gewöhnt hatten, erblickte ich zunächst einen sehr langen Mauerring, mit Zinnen gekrönt und durchsetzt von Türmchen mit Dächern in Gestalt von Fialen. Sie hätten wie militärische Bauwerke, Wehrtürme oder dergleichen erscheinen können, wären sie nicht so klein und anmutig gewesen, zudem ungewöhnlich reich an Verzierungen, die einen unbestimmten orientalischen Einfluss verrieten. Im Hintergrund lagen, noch nicht genau zu erkennen, weitere, in die Höhe strebende Bauwerke. Je näher wir dem Mauerring kamen, desto deutlicher sah ich, dass er von rechteckiger Form und wahrhaft zyklopischen Ausmaßen war. An der Längsseite, die zur Straße nach Wien lag, auf der wir soeben gefahren waren, ließen die Mauern Raum für ein mächtiges, von einem dreifachen Wachtturm überragtes Eingangstor. Wir hielten an und stiegen ab.

Dann schritten wir durch das Tor und befanden uns sogleich wieder im Freien. Der Kleine, der am gestrigen Abend bei den Erzählungen vom Löwen und vom Fliegenden Schiffe in große Begeisterung geraten war, fragte unaufhörlich, wo jene Wunderdinge sich befänden, und drang darauf, sie augenblicklich anzuschauen. Simonis folgte uns mit zerstreuter Miene.

Ich war überrascht, mich nun in einer ausgedehnten Grünanlage zu sehen, die mit Bäumen und Büschen gespickt war und einen weiteren Mauerring enthielt, ebenfalls mit Türmen versehen, jedoch nur an den vier Ecken. Diese Türme waren sehr viel größer als jene des äußeren Ringes, mindestens doppelt so hoch, gleich einem Campanile, aber nicht rund, sondern sechseckig. Als Dach diente eine große Kuppel, die auf einem Tambour mit Fenstern ruhte. Darüber erhob sich eine sechseckige Fiale, die in einer großen, ebenfalls sechsseitigen Metallspitze endete. Rings um die Kuppel ragten, in Übereinstimmung mit jeder Seitenkante des Turmes, weitere sechs schlanke Türmchen auf, von der gleichen Art wie jenes auf der Spitze. Auf jeder der Seiten befanden sich zwei Reihen mit Fenstern über zwei Geschosse, was vermuten ließ, dass die Türme im Innern in Wohnräume unterteilt waren.

Die fremdländischen Formen der Fialen, ihrer Spitzen und der Kuppel gemahnten mich an die zierlichen Minarette und Dächer von Konstantinopel, wie ich sie in den Büchern gesehen, die mein seliger Schwiegervater mir hinterlassen hatte. Nun kam mir wieder in den Sinn, dass ich am Nachmittag zuvor gleich bei meiner Ankunft am Ort Ohne Namen die Spitze eines dieser Türme hatte sehen können und daselbst schon überrascht war; doch niemals hätte ich vermutet, dass sich hinter der Zinnenmauer, welche die Gärten umgab, eine solche Herrlichkeit befand.

Warum nur, begann ich zu grübeln, war dieser Ort verlassen worden? Unser geliebter Kaiser Joseph I. gedachte nun, ihm seinen ursprünglichen Glanz zurückzugeben, gewiss, aber warum um alles in der Welt hatten seine Vorgänger diese Stätte so schändlich vernachlässigt?

Schon wollte ich Simonis an meinen Fragen teilhaben lassen, als es mir plötzlich falsch erschien, das so rare Schweigen meines geschwätzigen Gehilfen zu stören.

Eine kleine, von einer zweifachen Baumreihe gesäumte Allee führte vom Eingangsportal in das innere Viereck. Kaum hatte ich es betreten, verharrte ich offenen Mundes vor Staunen.

Bewacht von den großen, türkisch anmutenden Türmen an den vier Ecken, öffnete sich ein stupender mediterraner Garten. Die Anlage war von Beeten und Wiesen in vier gleich große Quadranten geteilt, deren jeder wiederum aus ebenso vielen kleineren Sektoren bestand. Dort, wo die Quadranten aufeinandertrafen, stand ein prachtvoller Brunnen in Form eines Pokals auf einem großen, verzierten Sockel. Die Umfriedung, von außen gesehen eine schlichte Mauer, entpuppte sich auf der Innenseite als eine herrliche Loggia aus Steinwerk von blendendem Weiß mit imposanten, überaus kunstvoll gefertigten Säulen.

Doch während sich dieser Anblick noch in meinen Augen spiegelte, war mein Blick schon vorausgeeilt, weiter hinan, bis zum anderen Ende des Mauerrings. Dort, mir direkt gegenüber, öffnete sich der Laubengang und offenbarte, unbeweglich und mächtig, ein gewaltiges, fürstliches Schloss.

Betäubt durch den Anblick solcher Mirabilien, benötigte ich ein wenig Zeit, um einige wichtige Details schärfer ins Auge zu fassen. Die erste Umfriedungsmauer, durch die ich hereingekommen, enthielt einen üppigen, aber ungepflegten Garten: Bäume und Pflanzen jeder Art wucherten hier. Die zweite Umfriedung, jene mit dem Laubengang, befand sich, obgleich die Formen der bezaubernden Beete und Zierwiesen noch gut erhalten waren, ebenfalls in gänzlich verwahrlostem Zustand. Keine Blumen prangten mehr in den Beeten, nicht ein Grashalm grünte auf den einstigen Wiesen. Der schöne Pokalbrunnen sprühte keinen einzigen Wassertropfen; Wände und Deckenvolten der Loggia zeigten die grausamen Spuren der Zeit.

Ich begann, auf das Schloss zuzugehen. Während ich mich näherte, dachte ich an den Namen, oder eher Nicht-Namen, dieses Ortes: Neugebäu, «Neues Gebäude», ein wunderlicher Name für eine seit Jahren, vielleicht seit Jahrzehnten unbenutzte Anlage. Am Vortage, als wir von der Nordseite eingetreten waren, hatte ich nichts von den Herrlichkeiten geahnt, welche diese Stätte barg. Meine Kaminkehrergenossen hatten recht: Was war der Ort Ohne Namen eigentlich? Eine Villa? Ein Garten? Ein Jagdschlösschen? Ein Vogelgehege?

Ich musterte das Schloss, vor dem ich stand, wenn man es denn so nennen konnte. Eher war es eine freie Schöpfung der Phantasie: eine endlose Fassade, viele hundert Klafter lang, und in ihrer ganzen Länge triumphierend den Gärten im orientalischen Stil zugewandt; doch war das Gebäude von sehr geringer Tiefe, also durchaus nicht so geräumig, wie es mir anfangs erschienen war, sondern dünn und lang wie eine Schlange aus Stein.

Ich blieb stehen. Erst wollte ich die Türme besichtigen und begann im Nordosten. Im Inneren entdeckte ich Überreste kunstvollster Marmorgebilde, fremdartige Mosaike und Bruchstücke großer Wannen, die zeigten, dass sich hier einst Thermen befunden haben mussten, vielleicht mit Heilwasser aus Kräutern oder medizinischen Dampfbädern. Verblüfft durch diese nächste wunderliche Enthüllung, nahm ich mir vor, die anderen Türme später zu besuchen, und näherte mich wieder dem Schloss.

Seltsamerweise hatte das Gebäude nichts Orientalisches an sich, außer einem Satteldach, das eigenartige Schimmer aussandte, bei denen mir die vergoldeten Verkleidungen türkischer Pavillons in den Sinn kamen. Ich bemerkte, dass das Dach mit Ziegeln in einer seltsam changierenden Farbe gedeckt war, ganz anders als das übliche dunkle Maron der Wiener Dächer. Während ich es noch betrachtete, wurden meine Pupillen unversehens wie von einem Pfeil getroffen, dann noch einem und noch einem. Ich schirmte meine Augen mit der Hand ab, suchte durch den Spalt zwischen meinen Fingern zu spähen und staunte: Das Dach des Schlosses blitzte unter den Strahlen der Sonne wie Gold. Ja, es hatte keine Dachziegel aus Terrakotta, sondern aus kostbarem, vergoldetem Kupfer! Einem aufmerksameren Blick enthüllte sich freilich, dass recht wenig übrig geblieben war von der ursprünglichen Verkleidung, welche unter dem Zahn der Zeit, vielleicht auch menschlicher Habsucht, hatte leiden müssen. Doch die wenigen erhaltenen Platten genügten, das gerechte, gebenedeite Licht der Sonne ringsumher zu scharfen, starken Pfeilen zu brechen.

Abgeschlossen wurden die beiden äußeren Enden des Gebäudes von zwei halbkreisförmigen Wachttürmen, die sehr an die Apsiden unserer Kirchen erinnerten. Welch unerwartete Formen an diesem Ort mit so vielen türkischen Anklängen! Vom Ostturm aus, der rechts von mir lag, hatten wir uns am Tag zuvor in die Keller gewagt, wo ich auf den blutenden Rumpf des Hammels gestoßen war.

Vor dem Eingang der Schlossanlage ragte die Freitreppe auf, die über einen kleinen Graben in den Mittelteil des Gebäudes führte. Dieser wurde von einer steinernen Balustrade überragt, eine Aussichtsterrasse, wie ich vermutete. Jener Mittelteil nahm etwa ein Fünftel des ganzen Gebäudes ein, und man betrat ihn durch ein großes, von Fenstern flankiertes Portal, das auf beiden Seiten von zwei anmutigen Säulenpaaren mit Kapitellen geschmückt wurde.

Mit seinen klassizistischen Formen und christlichen Reminiszenzen schien sich das Schloss gen Norden als feierliche Schranke gegen die spitzen Minarette der Türme und den warmen Süden, der aus den Gärten aufstieg, behaupten zu wollen.

Ich schaute mich um: Wie war es möglich, dass niemand mir je von diesem großartigen Komplex erzählt hatte? War er etwa nicht würdig, zu den Schönheiten Wiens zu gehören?

Unzählige Male schon hatte ich mich, wenn ich an der Hofburg, der Winterresidenz Ihrer Kaiserlichen Majestät, vorbeikam, über die außerordentliche Bescheidenheit und Schlichtheit des Gebäudes gewundert. Und nicht viel besser waren die drei Sommerresidenzen: die Favorita, Laxenburg und Ebersdorf. Ganz zu schweigen vom unscheinbaren Jagdpavillon Schönbrunn, dem nur die von Joseph I. in Auftrag gegebenen Erweiterungsarbeiten das Aussehen einer Villa verliehen hatten.

Wie oft hatte ich mit Verwunderung festgestellt, dass die Baukunst der kleinen, reizenden Herrschaftshäuser im italienischen Stil, die ich in der Josephstadt bewundern konnte – das Casino Strozzi, das Palais Schönborn oder die Villa Trautson –, den kaiserlichen Residenzen weit überlegen war! Es war, als hätten sich die Kaiser die Strenge zum Zeichen ihrer Größe erwählt und dem Adel die Prachtentfaltung überlassen.

Und dennoch hatte es eine Zeit gegeben, in der die Habsburger sich der Wunder des Ortes Ohne Namen erfreut hatten, eine Zeit, in der einer ihrer Kaiser, Maximilian II., diesen orientalischen Traum auf teutonischem Boden kultiviert hatte. Ein kurzer Traum, so kurz, dass er nicht einmal eines Namens würdig gewesen war; und dann nichts mehr.

Überrascht entdeckte ich Simonis’ gedankenverlorenen Blick auf mich gerichtet. Ob der Grieche meine Überlegungen erriet? Hatte er womöglich eine Antwort auf meine Fragen?

«Herr Meister, ich muss pissen und kacken. Dringend. Darf ich?»

«Ja, aber nicht hier vor mir», sagte ich enttäuscht.

«Das versteht sich, Herr Meister.»

7. Stunde: Es schlägt die Türkenglocke, auch Betglocke genannt.

Während Simonis sich entfernte, ganz von seinen elementaren Bedürfnissen in Anspruch genommen, hörte man eine Kirchenglocke in der Nähe auf die Türkenglocke im Stephansdome antworten, damit auch die fernsten Vorstädte Wiens zum Gebet aufgefordert seien. Ich ging mit meinem Lehrjungen in einen Winkel, und wir knieten nieder zum Morgengebet.

Welches Los auch immer den Ort Ohne Namen bis heute zur Vergessenheit verdammt hatte, dachte ich, während ich das Kreuzzeichen machte, Ihre Kaiserliche Majestät Joseph I. teilte die Ansicht seiner Vorfahren nicht und wünschte den Komplex nunmehr in seinem ursprünglichen Glanz wiederherzustellen. Ein wahres Glück, nicht nur für das Neugebäu, sondern auch für mich und meine Familie, sagte ich mir mit einem zufriedenen Lächeln, welches ich sogleich in ein inbrünstiges Dankgebet zum Allerhöchsten verwandelte.

Als der Grieche zurückkehrte, wurden wir von Frosch entdeckt. Der Wächter grüßte uns mit einem Grunzen, das nur um einen Hauch höflicher war als seine gewohnte, griesgrämige facies. Wir kündigten ihm sofort den Beginn unserer Arbeit an, und ich gab dem Wunsch Ausdruck, bei den Dienstgebäuden anzufangen, denn wenn der Kaiser diese Stätte wirklich wieder nutzbar machen wollte, waren es just diese Räume, die er noch vor dem Schlosse selbst benötigen würde.

Frosch forderte uns auf, ihm zu folgen und den Karren mit dem Schornsteinfegergerät mitzunehmen, den Simonis sich unverzüglich zu holen aufmachte.

Die Hände vor die Augen haltend, um uns vor dem Gleißen des Kupfers zu schützen, verlangsamten wir unseren Schritt vor diesem ebenso hinreißenden wie blendenden Schauspiel, und während der Wagen mit den Werkzeugen uns knarrend folgte, empfing uns von weitem ein Gruß. Er kam hinter den Türmen, dem Mauerring des Gartens und dem Schloss selbst hervor, als entstammte er einem Jenseits, das nur zum Ort Ohne Namen gehörte: Dröhnend hallte durch den morgendlichen Frieden das dumpfe Gebrüll der Löwen.

Wir wandten uns nach rechts und durchquerten das Dienstgebäude, welches, wie uns erklärt wurde, einst eine Meierei gewesen sei, oder lateinisch ein maior domus, das Haus des Verwalters. Auch dieser kleine Bau war in gänzlich verwahrlostem Zustand; durch die halb aus den Angeln gerissenen Fenster sah man Unkraut, das in die Innenräume gewachsen war. Das Dach war teilweise eingestürzt.

Nachdem wir unter einem Bogen hindurchgegangen waren, gelangten wir in den Hof, über den wir gestern hereingekommen waren. Links sah ich das Türchen, dahinter sich die Wendeltreppe verbarg. Im Hintergrund erkannte man die Dächer weiterer, tiefer liegender Gebäude.

Wieder sann ich über die ungewöhnliche Beschaffenheit dieser Anlage nach, die mit ihren Umfriedungsmauern, Alleen und Gärten und ihren vielen ganz und gar absonderlichen, unterschiedlichen Gebäuden fast wie eine kleine Stadt erschien. Sie war weit mehr als eine Villa mit Park.

Frosch geleitete uns die Wendeltreppe hinab. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass sie zwischen zwei weiteren Bauten an der kleinen Hochebene lag, auf welcher das Schloss thronte und sich so von dem umliegenden Gelände abhob. Aus den Fenstern, die sich im Treppenschacht nach draußen öffneten, erspähte ich endlich die nach Norden gewandte Hinterseite des Ortes Ohne Namen: ein lieblicher italienischer Garten. Eine kleine Allee führte mitten hindurch zu einem großen, rechteckigen Fischteich, auf welchem friedlich Wasser- und Sumpfvögel schwammen. In diesem Garten gab es nun nichts Orientalisches mehr. Jenseits des Fischteiches öffnete er sich sogar auf teutonisches Wiesenland, eine Freude für jeden Jäger, und noch weiter entfernt auf nördliche Wälder, schweigende grüne Kathedralen, durchsetzt mit Vogelrufen, reich an Wildbret, Pilzen, Harz und duftenden Moosen. Ganz in der Ferne erblickte man Wien, mächtig und reglos, mit seinen unbesiegten Mauern.

Einen Abschiedsgruß grunzend, ließ der Wächter uns allein.

Wir begannen mit einem Gebäude, das Frosch uns als die einstige Küche vorgestellt hatte. Ohne Schwierigkeiten fanden wir die alten Rauchabzüge.

Welch große Gegensätze bot der Ort Ohne Namen hinter seinen Mauern!, dachte ich, während ich, den Kopf im Leinensack, durch den ersten Abzug nach oben kletterte. Wer mochte dies alles ersonnen haben? War es jener Kaiser Maximilian II., von dem ich nichts wusste, oder ein begabter Bauherr in seinen Diensten? Was bedeutete diese Vereinigung widerstreitender Elemente? Oder war es nur eine Laune des Geschmacks gewesen? Und warum, fragte ich mich zum wiederholten Male, war dieser geheimnisvolle Ort verlassen worden?

Nachdem ich meine erste, oberflächliche Erkundung abgeschlossen hatte, stieg ich schnell wieder zu meinen beiden Gehilfen hinunter.

«Wir werden ordentlich schuften müssen; dort oben ist der Abzug voller Risse», berichtete ich Simonis und dem Kleinen. «Wenn hier alles in einem solchem Zustand ist, tun wir zuvörderst gut daran, eine Karte mit allen Rauchabzügen und einen Rapport über ihre Beschaffenheit anzufertigen. So können wir berechnen, wie viel Mann Verstärkung wir für die Instandsetzung brauchen. Lasst uns einen Imbiss nehmen, dann fahren wir mit der Ortsbesichtigung fort!»

Nach diesen Worten schickte ich den Kleinen zum Karren, dass er den Quersack mit den Speisen hole.

«Rache.»

«Entschuldigung, Simonis?»

«Rache ist die Antwort auf Eure Fragen, Herr Meister. Der Ort Ohne Namen wurde aus Rache erbaut, und es war Rache, die ihn zerstörte. Ein unauslöschlicher Hass durchtränkt diese Stätte, Herr Meister.»

Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Simonis auf meine unausgesprochenen Fragen antworten würde.

«Er war ein Nachfolger Christi, ganz einfach, und die Imitatio Christi sein Lebensprinzip. Doch das Schicksal wollte, dass er in einem Zeitalter regierte, in dem die falsche Lehre Luthers die Christen und die Nationen spaltete», hub Simonis an.

«Von wem sprichst du?»

«Der Christ kämpfte gegen den Christen, beide bewaffnet mit dem Wort Gottes», fuhr der Grieche fort, ohne auf mich zu achten, «und die Habsucht beider Seiten war wie Öl auf den Flammen des Krieges. Zur großen Freude der Ungläubigen wurden die alemannischen und flämischen Länder von dem Zwist zwischen Katholiken und Protestanten zerrissen, während die Heilige Kaiserliche Majestät – deren Macht sich seit Jahrhunderten auf die Versammlung der Reichsfürsten stützte, aber auch auf die Investitur durch den Papst – mit großer Mühe die Orthodoxie des christlichen Glaubens verteidigte.»

Ich öffnete den Quersack, den mir der Kleine gebracht hatte, und nahm das Frühstück heraus. Langsam begann ich zu verstehen, wen Simonis meinte.

«Er sollte den Kaiserthron nicht einmal besteigen. Kaiser Karl V., der Bruder seines Vaters Ferdinand L, hatte seine Länder aufgeteilt. Bevor er sich ins Kloster zurückzog, teilte er Ferdinand I. die spanischen Territorien zu und seinem Sohn, Philipp II., Österreich und die Kaiserkrone. Aber einen so katholischen Kaiser wollten die deutschen Kurfürsten nicht, und sie riefen mit lauter Stimme nach dem jungen Maximilian, denn ihn wollten sie krönen. Sie hegten ehrgeizige Pläne und glaubten, er sei der rechte Mann für sie.»

Simonis hatte auf meinem Gesicht eine wirre Häufung von Fragen gelesen, und während wir nun die kleine, aber gehaltvolle Jause aus Roggenbrot, gekochten Eiern, Sauerkraut und Würsten zu uns nahmen, erzählte er mir vom Kaiser Maximilian II., welcher vor anderthalb Jahrhunderten den Ort Ohne Namen, genannt Neugebäu, hatte errichten lassen.

Schon als junger Mensch hatte sich Maximilian, da ihm die Verderbtheit der Römischen Kirche zuwider war, der Lehre der Protestanten geöffnet. Er hatte lutherische Prediger, Ratgeber, Heilkundige und Männer der Wissenschaft an den Hof geholt, und man befürchtete, er werde früher oder später zu ihrer Fahne überlaufen. Die Auseinandersetzungen mit seinem Vater Ferdinand L, einem überzeugten Katholiken, waren so erbittert, dass der erlauchte Erzeuger drohte, ihm die Nachfolge auf den Kaiserthron zu verweigern. Schließlich ward Maximilian durch die starken Pressionen des tiefkatholischen Spaniens und des Heiligen Stuhls gezwungen, öffentlich zu geloben, dass er immer am offiziellen römischen Glaubensbekenntnis festhalten werde. Was ihn freilich nicht daran hinderte, weiterhin mit den Anhängern Luthers zu verkehren.

Dies hatte die protestantischen Fürsten und all jene im Reich, denen die Kirche Petri verhasst war, mit Hoffnung erfüllt: Sollte sich in Maximilian endlich ihr Traum von einem Kaiser verkörpern, der dem Papst den Gehorsam versagte?

«Schädlicher aber als die Ketzer selbst – so dachte Maximilian, der den Frieden liebte – war der Krieg, den sie entfesselt hatten. Denn hinterhältiger als der Verrat an der Religion ist der Verrat an Mitmenschen; und grausamer als das Schwert ist die Wunde, die es schlägt.»

So beschritt er, nachdem er den Thron bestiegen, einen neuen Weg: Statt sich tätig auf die Seite der Römischen Kirche zu schlagen und am Kampf gegen die Ketzer teilzunehmen, beschloss er, dem Frieden und der Verständigung zu dienen. Seine Vorgänger waren katholisch gewesen, während der größte Teil der Reichsfürsten den Protestanten nahestand? Er würde sich weder mit den einen, noch mit den anderen verbrüdern, er würde einfach ein Christ sein, aber weder katholisch noch lutherisch. Im verschlagenen und unbarmherzigen Jahrhundert Machiavellis hatte er beschlossen, auf seine Weise listig zu sein: Statt Gelöbnisse zu machen, würde er schweigen; statt zu handeln, würde er Zurückhaltung wahren.

So wurde Maximilian, der Gerechte, zu Maximilian, dem Mysteriösen: In beiden Lagern vermochte niemand in seinem Herzen zu lesen, keiner durfte ihn zu seinen Freunden zählen. Er wusste wohl, dass die protestantischen Fürsten ihn einen Verräter, einen Feigling und Heuchler heißen würden. Er hatte all jene enttäuscht, die gehofft hatten, dass der Katholizismus endlich geschwächt würde. Und dennoch gab er nicht nach und diente allein seinem eigenen Wunsch nach Frieden.

«Er versetzte all seine Anhänger in Staunen», schloss Simonis.

Auch ich staunte nicht schlecht: Mein leicht närrischer griechischer Gehilfe besaß mithin, so er nur wollte, Geistesklarheit im Überfluss. Es machte einen recht kuriosen Eindruck, so viel Scharfsinn aus seiner tölpelhaften Stimme zu vernehmen! Ganz wie der Kaiser, von dem er berichtete, wusste man auch bei Simonis nie, auf welcher Seite er stand, ob er zu den Gesunden oder den Idioten gehörte. Und noch begriff ich nicht, worauf er mit seiner Rede eigentlich hinauswollte.

«Simonis, du hast eingangs von Rache gesprochen», erinnerte ich ihn.

«Alles zu seiner Zeit, Herr Meister», erwiderte er unbotmäßig und biss in sein Brot.

Maximilians Thronbesteigung, fuhr der Grieche fort, hatte in ganz Europa große Erwartungen geweckt. Die venezianischen Botschafter, seit jeher die besten Kundschafter ihrer Landsleute, versicherten, er sei von stattlicher und wohlproportionierter Statur, auch habe sein Aussehen eine wahrhaft königliche, ja kaiserliche Grandezza, da sein Antlitz überaus würdevoll sei, wenngleich von so großer Liebenswürdigkeit gemildert, dass es den, der es erblickt, zu höchster Ehrerbietung bewege.

Wer sich ihm genähert hatte, beteuerte, er sei von lebhaftem Geiste und weisem Urteil. Empfing er jemanden, und sei es zum ersten Male, erfasste er augenblicklich dessen Wesen; und kaum hatte man das Wort an ihn gerichtet, wusste er sogleich, worauf der andere hinzielte. Seinem Ingenium verband sich ein exzellentes Gedächtnis; wenn jemand nach langer Zeit erneut bei ihm vorstellig wurde, auch wenn es ein beliebiger Untertan war, erkannte er ihn auf der Stelle wieder. All sein Sinnen und Trachten war auf Großes gerichtet, und es war offensichtlich, dass ihn der gegenwärtige Zustand des Reiches nicht zufriedenstellte. Überaus versiert in Staatsdingen, diskurrierte er diese doch mit höchster Vorsicht. Außer dem Deutschen sprach er Latein, Italienisch, Spanisch, Böhmisch, Ungarisch und sogar ein wenig Französisch. Der Hofstaat, welcher sich um ihn gebildet hatte, war von überlegenem Glanz; sonderlich seine offene, gesellige Art und der Weitblick, mit welchem er die öffentlichen Angelegenheiten verfolgte, hatten ihm von Beginn an große Beliebtheit eingetragen.

«Alle erwarteten von ihm eine lange Regentschaft voller Erfolge», bemerkte Simonis.

Maximilian der Mysteriöse liebte das Schöne, die erhabenen Früchte des Geistes und der Bildung. Sein vertrauter Ratgeber Kaspar von Nidbruck sammelte, unterstützt von einer großen Schar gelehrter Männer, in ganz Europa kostbare Bücher und Manuskripte, mit deren Hilfe die Zenturiatoren von Magdeburg später ihre monumentale Geschichte der Kirche verfassen sollten. Er rettete die Universität zu Wien aus ihrem Niedergang und berief die hochtönendsten Namen des gelehrten Europas zur Lehre: den Botaniker Clusius zum Beispiel oder den Medikus Cratus von Krafftheim, und ohne Bedeutung war, ob sie es mit dem Papst oder dem Ketzer Luther hielten.

Obwohl er Frieden und Eintracht vorzog, musste Maximilian der Mysteriöse sich dem Kriege stellen. Mächtig drohte in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts von Osten die türkische Gefahr. Die Grenzen der Christenheit zu verteidigen, war eine schwere Bürde für den Kaiser, und mehr noch für Wien, die dem Osten so beängstigend ausgesetzte Stadt. Er allein schien sich der ungeheuren Aufgabe bewusst zu sein, welche den Westen erwartete, denn die Freunde und Verbündeten zeigten sich störrisch: Spanien zögerte, der Papst versprach Gelder, die dann nicht eintrafen, und Venedig, habgierig auf seine Geschäfte und Besitztümer im Osten bedacht, schloss sogar einen Separatfrieden mit den Türken. 1566 schließlich trafen die christlichen und die osmanischen Heere aufeinander. Maximilian wurde geschlagen, doch gekämpft hatte er nicht.

«Sein Vater, Ferdinand I., hatte mit dem Sultan Süleyman dem Prächtigen einen auf acht Jahre befristeten Waffenstillstand geschlossen. Als Gegenleistung für den Verzicht auf Kriegshandlungen musste das Reich der Hohen Pforte freilich ein Ehrengeschenk von dreißigtausend Dukaten im Jahr zahlen.»

Nach Ferdinands Tod war Maximilian keine andre Wahl geblieben, als Süleyman eine Verlängerung des Abkommens vorzuschlagen. Doch im Jahre 1565 flammte erneut ein gefährlicher Kriegsherd in Ungarn auf. Das Heer Süleymans begann sich zu rüsten.

Nach Beendigung des Mittagsmahls setzten wir unsere Ortsbesichtigung in den Küchen fort. Dann gingen wir hinauf und erkundeten das maior domus. Da diese Räume seit langem verlassen schienen, würden wir die für solche Fälle vorgesehene praktische Untersuchung durchführen: ein kleines Feuer an der Öffnung eines Kamins entzünden, um zu prüfen, ob wenigstens eine Spur Rauch aus dem Abzug im Dach entwich.

«Dies war der Moment, da sich Maximilians Schicksal entschied», hub Simonis mit bitterer Miene wieder an, derweil wir schnaufend und schwitzend Berge von Putzbrocken aus den Öffnungen der Kamine räumten, um die Rauchprobe durchführen zu können. «Einer seiner Diplomaten, David Ungnad, berichtete ihm, dass in Konstantinopel eine Streitmacht von hunderttausend Soldaten zusammengezogen werde. Darauf befahl der Kaiser seinem Reichspfennigmeister, also dem Verwalter der finanziellen Reserven, keine Kosten zu scheuen und ein gleichermaßen starkes Heer aufzustellen.»

Einige Zeit später trat der stellvertretende Reichspfennigmeister Georg Ilsung persönlich vor Maximilian und präsentierte ihm ein beeindruckendes Ergebnis: Dank der engen Verbindungen zu den mächtigsten deutschen Bankhäusern, wie den Fuggern, und nicht zuletzt seines, Ilsungs, persönlichen Vermögens, hatte er ein Heer aus achtzigtausend Soldaten zusammengestellt, bestehend aus fünfzigtausend Fußsoldaten und dreißigtausend zu Pferde. Auch hatte er sich Verstärkung durch die Medici in Florenz, Philibert von Savoyen, Alphonso von Ferrara, den Herzog von Guisa und die deutschen Kurfürsten gesichert. In Deutschland hatte Ilsung hohe Geldsummen aufgetrieben, um Ausrüstungen, Wagentrosse und Waffen bezahlen zu können. Innsbruck würde ihm Schutz- und Kampfhelme aus eigener Herstellung liefern, hinzu kamen savoyardische Pferde und italienische Infanteristen. Dem Herzog von Württemberg hatte er die Versorgung mit Schießpulver abgehandelt; aus Augsburg und Ulm hatte er Gewehre und andere Bewaffnungen erhalten. Ilsung kündigte sogar an, er werde ansehnliche Geldsummen vom Papst und vom spanischen König erhalten.

«Maximilian strahlte vor Glück», erzählte der Grieche, «ja, er beförderte Ilsung zum Hauptreichspfennigmeister, indem er dessen Vorgesetzten kurzerhand seines Amtes enthob. Georg Ilsung, der schon unter Ferdinand I., Maximilians Vater, wichtige Ämter bekleidet hatte, wurde so zur Schlüsselfigur der Reichsfinanzen.»

Das kaiserliche Heer verließ Wien am 12. August 1566, und zwölf Tage später schlug es seine Zelte im Städtchen Raab an der Donau auf.

Maximilian war ein Mann des Friedens, aber er fürchtete sich nicht vor dem Kampf für eine gerechte Sache und beschloss, sich persönlich an die Spitze seiner Truppen zu stellen, so wie es auch Süleyman tat, obwohl es für den Sultan der siebzehnte Feldzug und für Maximilian der erste war.

Nachdem das Lager errichtet ist, harrt das kaiserliche Heer der Ereignisse. Maximilian aber will nicht vorrücken. Er schließt sich in seinem Zelt ein, will mit niemandem sprechen. Sein Tatendrang ist verflogen, man fragt sich, warum. Die Soldaten und Offiziere sind kampflustig; das Warten kann sie nur bedrücken oder Infektionen Bahn bereiten, wie es in großen Feldlagern oft der Fall ist. Schon bald erkranken die ersten Soldaten.

Süleyman hingegen verliert keine Zeit und überfällt die Festung Szigetvár, die er schon seit einiger Zeit im Visier hat. Zunächst eilen die Kaiserlichen den Einwohnern der belagerten Stadt zu Hilfe. Dann ziehen sie sich unerklärlicherweise zurück.

Das Schicksal Szigetvárs ist besiegelt. Die Belagerten wagen einen heroischen Ausfall und werden abgeschlachtet. Der Kommandant, Graf Zrinyi, wird enthauptet und sein Kopf ins Lager der Kaiserlichen geschickt.

Szigetvár fällt am 9. September, kurz darauf die Festung Gyula. Es ist eine einzige Katastrophe. Alle Augen sind auf den Kaiser gerichtet: Eine äußerst günstige Gelegenheit, über die Türken zu triumphieren und sich die ungarischen Gebiete zurückzuholen, wurde nicht genutzt, riesige Geldsummen wurden für die Ausrüstung der Truppen verschwendet, zwei wichtige Festungen sind zerstört.

Da die Türken offenbar nicht willens waren, die Kämpfe fortzusetzen, blieb nichts anderes, als nach Hause zurückzukehren, was auch die Feinde kurze Zeit später taten. Wer war schuld an der Niederlage, wenn nicht der Kaiser, der nicht hatte vorrücken wollen? Früher hatte man ihn Maximilian den Mysteriösen genannt: Nun schien sich hinter dem Geheimnis nur Unfähigkeit zu verbergen.

Unterdessen hatten wir die Feuerprüfung im maior domus fast beendet: Bei einem Gutteil der Rauchabzüge war das Ergebnis günstig, keiner war ernstlich verstopft, wir würden sie daher nur reinigen müssen. Die Erzählung ging weiter.

Zurück in Wien, bricht Maximilian endlich sein Schweigen. Er beschließt, sich öffentlich zu rechtfertigen – ein unerhörter Schritt für einen Kaiser. Und er lüftet sein Geheimnis: Als er im christlichen Feldlager persönlich die Streitkräfte untersucht habe, die ihm zur Verfügung standen, habe er erkannt, dass Ilsung ihn belogen hatte: Die achtzigtausend Mann, die ihm zu Beginn des Feldzugs in Aussicht gestellt worden waren, seien in Wirklichkeit nicht mehr als fünfundzwanzigtausend gewesen, nicht mal ein Drittel dessen, was man ihn glauben machte. Und die Ausrüstung war miserabel, schlechterdings nicht zu vergleichen mit dem, was ihm angekündigt worden sei. Von der angeblichen Verstärkung ganz zu schweigen, nicht einen Schatten zusätzlicher Truppen habe man gesehen. Darum hatte der Kaiser nicht angreifen wollen. Fünfundzwanzigtausend gegen hunderttausend – es wäre ein Massaker geworden und überdies verbunden mit der Gefahr, dass die Osmanen, nachdem sie das christliche Heer vernichtet, bis nach Wien vordringen könnten. Sie hätten die Stadt schutzlos vorgefunden und im Nu eingenommen.

Doch es gab noch mehr Überraschungen. Auch Ungnad hatte gelogen: Einige osmanische Soldaten, welche von den Kaiserlichen auf dem Rückweg zu Gefangenen gemacht worden waren, hatten berichtet, dass das osmanische Heer alles andere als stark und gut gerüstet sei. Unter den Türken gebe es viele unbewaffnete Soldaten und vor allem unzählige blutjunge Männer, die in Todesangst vor dem christlichen Feind erzitterten.

Und so erklärte sich Maximilians Schweigen: Ilsung hatte ihn verraten, Ungnad ebenfalls. Wem konnte er noch trauen?

«Von seinen eigenen Männern verraten», bemerkte ich fassungslos und nunmehr ganz im Banne dieser sonderbaren Geschichte. Ich achtete nicht auf den Ruß, der mir in großen Batzen entgegenkam, als ich die Nase in das Innere eines der Rauchfänge steckte, um zu überprüfen, wie viel Schutt wir abtragen mussten. «Aber warum denn?»

«Wartet, Herr Meister, die Geschichte ist noch nicht zu Ende», hielt Simonis mich zurück. «Es gab noch etwas anderes, das Maximilian mit Arglist verschwiegen wurde.»

Es war das wichtigste Ereignis des Krieges gewesen. Noch vor dem Fall Szigetvárs, am 5. September, hatte Süleyman der Prächtige, fünfundsiebzig Jahre alt und unter schwerer Gicht leidend, die Seinen mitten im Feldzug unerwartet im Stich gelassen: Er war gestorben.

«Gestorben? Und der Kaiser erfuhr nichts davon?»

«Absolut gar nichts. Gut zwei Monate lang. Und das, obwohl David Ungnad ständig zwischen den Kaiserlichen und den Türken hin- und herpendelte …»

Die Nachricht vom Tod des Sultans wurde so sorgsam geheim gehalten, dass Maximilian erst Ende Oktober davon erfuhr. Und um die Wahrheit zu sagen, bedeutete eher dies sein Ende als der Fall Szigetvárs. Wenn man nämlich sofort vom Tod des Sultans gewusst hätte, hätte das christliche Heer von der Bestürzung der Feinde profitieren und, noch bevor sie wieder zu sich kamen, gezielt zuschlagen können, was mit Sicherheit zu einem Sieg geführt hätte. Aber Maximilians Informanten schwiegen. Ein Fremder musste ihn vom Tod Süleymans in Kenntnis setzen: der Botschafter der Republik Venedig. Sogar im weit entfernten Innsbruck war die Nachricht drei Tage früher angekommen als im kaiserlichen Lager, das doch nur wenige Meilen vom osmanischen Lager trennten.

Süleyman war bereits sterbenskrank in Konstantinopel aufgebrochen; aber das hatte David Ungnad dem Kaiser nicht berichtet …

«Dabei war der Kniff, den die Türken anwandten, nicht mehr als ein alberner Jungenstreich: Sie hatten einen alten Mann in Süleymans Bett gesteckt, der seine Stimme nachahmte und Befehle gab, in Wirklichkeit aber die Anweisungen der Minister befolgte», lachte Simonis sarkastisch.

Der Grieche war in Rage geraten ob dieser zweihundert Jahre alten Geschichte; mit dem Gesichtsausdruck eines Idioten, doch mit wachem Geist und glühendem Herzen, empörte er sich über den Verrat an jenem Kaiser aus alter Zeit. Noch hatte er mir indes nicht erklärt, warum das alles geschehen war und vor allem, was es mit dem Ort Ohne Namen zu tun hatte.

«Ich nehme an», warf ich ein, «dass die Männer, die ihn verraten hatten, nach der öffentlichen Rede Maximilians ein böses Ende nahmen.»

«Ganz im Gegenteil, Herr Meister, ganz im Gegenteil. Seine Rechtfertigungen wurden schlicht nicht beachtet. Ilsung, Ungnad und ihre Anhänger blieben an der Macht. Es war, als hätte der Kaiser nie gesprochen. Man gab weiterhin ihm die Schuld an der Niederlage. Zwar wurden die bösen Bemerkungen nur geflüstert, doch Maximilian fand sie eingemeißelt in den Gesichtern seiner Freunde.»

«Das ist unglaublich», sagte ich.

«Die Herzen des Volkes und des Hofstaats waren zu sehr von Wut und Enttäuschung erfüllt, um besonnen Recht und Unrecht abzuwägen oder sich auch nur die Tatsachen anzuhören. Maximilians Feinde wussten das und nutzten es für ihre Zwecke. Es war ein geschicktes Spiel der Aufwiegelung.»

«Aber wer hatte es in Gang gesetzt? Und warum?»

«Wer? All jene Männer, denen er am meisten vertraute. Warum? Aus Rache. Es war der erste zahlreicher Vergeltungsschläge, die zur Erbauung dieser Stätte und ihrer sofortigen Ablehnung führten und den Kaiser selbst ins Grab brachten.»

Maximilian, fuhr Simonis fort, war nur dank jener Kräfte Kaiser geworden, die der Römischen Kirche feindlich gesinnt waren, allen voran die ketzerischen Reichsfürsten. Er hatte sich mit lutherischen Denkern und Gelehrten umgeben, doch nur wegen der geistigen Nähe, die er zu ihren freisinnigen und neuartigen Ideen empfand, gewiss nicht, um den Stellvertreter Christi zu bekämpfen oder zu schwächen. Leider waren die Bestrebungen jener Personen, denen der Kaiser sein Vertrauen geschenkt hatte, nicht ebenso lauter: Alle erwarteten von ihm ein Zeichen für den Bruch mit Rom, etwas, das endlich den Niedergang des Papsttums ankündigte. So ging die von Maximilian ersehnte Imitatio Christi über seine eigenen Absichten hinaus: Er wurde verraten und verlassen, ganz so, wie die Juden Christus kreuzigen ließen, als sie erkannt hatten, dass er nie das Schwert gegen Rom erheben würde.

«Dann war der Krieg gegen die Türken also die Gelegenheit für die Ketzer, sich zu rächen und ihn zu beseitigen», schloss ich, während ich mir niesend eine Wolke schmutzigen Staubes vom Gesicht wischte, die ein großer Rußklumpen aufgewirbelt hatte.

«Sie hatten nur allzu leichtes Spiel: Wie viele ketzerische Fürsten haben sie die Hohe Pforte allein aus Hass gegen die Kirche Roms unterstützt und finanziert!»

Etwas Ähnliches hatte ich schon einmal gehört: vor vielen Jahren, als einige Gäste der Locanda, in der ich arbeitete, mich über die geheimen Bündnisse des Sonnenkönigs Ludwigs XIV mit dem Osmanischen Reich aufklärten. Jener Fall war im Grunde noch schlimmer: Nicht um protestantische Fürsten handelte es sich, sondern um den Allerchristlichsten Herrscher von Frankreich, den Eingeborenen Sohn der Kirche. Der Papst seinerseits war um nichts besser gewesen und hatte die Häretiker sogar aus persönlicher Gewinnsucht unterstützt. So hatte die Erfahrung mich gelehrt, dass man bei Monarchen wahrlich auf alles gefasst sein musste.

«Nach der Niederlage wurde alles anders», setzte Simonis seine Schilderung fort, «angefangen mit Maximilian selbst.»

Er wähnte sich von Spionen umgeben, von Feinden, die mit ihren Ränken sein Ende besiegeln wollten. Georg Ilsung aber war seit Jahren sein Berater und vor ihm der seines Vaters. Er war sehr mächtig: Seine Karriere hatte begonnen, als er für die Fugger in Augsburg arbeitete, jene Kaufmannsfamilie, die Karl V. auf den Kaiserthron verholfen hatte. Sie hatte ihm Geldmittel zur Verfügung gestellt, um die Kurfürsten zu bestechen. Die Fugger steckten hinter jedem Schritt, den Ilsung tat. Sie verliehen nicht nur Geld, sie zahlten dem Kaiser sogar im Voraus die versprochenen, aber noch nicht eingetroffenen Tribute der Kurfürsten, und das zu einem Zinssatz, der gen null ging …

Die Habsburger waren bei den Fuggern bis zum Hals verschuldet. Maximilian konnte sich Ilsungs also nicht so leicht entledigen.

«Georg Ilsung war die Quelle, aus welcher das Gold der Kaiser sprudelte», sagte Simonis in aller Deutlichkeit. «Wenn Geld für die Türkenkriege benötigt wurde, war er derjenige, der es auftrieb. Wenn es Aufstände in Ungarn gab und man Waffen oder Geld brauchte, um die Anführer der Rebellen zu besänftigen, griff er ein. Ging es darum, mit den Fuggern um ein Darlehen zu verhandeln und die Grenzzölle oder den Ertrag der kaiserlichen Quecksilberminen in Idria als Sicherheit anzubieten, wurde er gefragt. Waren Schulden zu begleichen, bediente Ilsung sich anderer Geldgeber, um die Zinslasten zu verteilen. Wenn er niemanden fand, zahlte er aus eigener Tasche und wartete geduldig, bis der Kaiser und seine Schatzmeister Gelegenheit fanden, es ihm zurückzuerstatten.»

«Er hatte den Kaiser also in der Hand.»

«Er konnte mit ihm machen, was er wollte. Derweil reiste der andere mächtige Ratgeber, David Ungnad, unter dem Vorwand der Gesandtschaften zwischen Konstantinopel und Wien hin und her.»

«Ein Spion der Hohen Pforte», erriet ich.

«In engem Austausch mit den Geldgebern Süleymans», ergänzte mein Gehilfe.

Maximilian, berichtete er weiter, fühlte sich den beiden ausgeliefert, fragte sich, wann sie ihn endgültig beseitigen würden, beobachtete mit Sorge, wie sein Sohn Rudolf nach und nach in ihre Klauen geriet. Er wollte irgendetwas tun, konnte aber niemandem mehr vertrauen. Er war entmachtet, ein Leichnam auf dem Thron.

Er war ein brillanter Gesprächspartner gewesen, ein angenehmer Tischgenosse, er sprühte vor Ideen und Witz, hatte tausend Pläne. Die gleichen Hoffnungen, die das Reich und die Welt in ihn setzten, hegte er selbst für die Zukunft. Jetzt war er verschlossen, unduldsam, verhielt sich rätselhaft. Gespräche ließen ihn gleichgültig, der feurige, durchdringende Blick war nun schwermütig verhangen, die Stimme erloschen. Gewissenhaft berichteten die Gesandten der ausländischen Mächte ihren Herrschern, dass der Kaiser nicht mehr er selbst sei, dass der Schlag Süleymans ihn für immer gezeichnet habe. Ein Toter, der türkische Sultan, hatte einen Lebenden besiegt und ihn einem Toten gleichgemacht.

Die mutige Entscheidung, die protestantischen Ketzer nicht verfolgen zu lassen, ja, viele von ihnen als Ratgeber zu wählen, machte diesen unergründlichen Menschen dem Volk verhasst. Schon gab es einige, die vermuteten, hinter seinem gequälten Wesen und seiner unbegreiflichen Politik verberge sich nichts anderes als ein verwirrter Geist.

Maximilian war nie von robuster Gesundheit gewesen; jetzt schien er sich dem Zusammenbruch zu nähern. Schon als er vom Feldzug nach Wien zurückkehrte, hatte sein altes Leiden, die Palpitation, sich wieder geregt. An den meisten Dingen hatte er jegliches Interesse verloren, nur mehr ein einziger Plan schien ihm noch am Herzen zu liegen.

«Er träumte von einem neuen Gebäude», erklärte Simonis. «Und wir stehen mitten in seinem Traum: dem Ort Ohne Namen.»

Er war zu pflichtbewusst, um die Regierungsgeschäfte zu vernachlässigen. Aber von nun an wurde jeder freie Augenblick der Planung des neuen Schlosses gewidmet. Im Laufe der Zeit gab er immer größere Summen dafür aus, und man sagte, es sei eine fixe Idee geworden, eine Art süßer Qual: lieber diesen Stein oder jenen Marmor verwenden? Diesen Sims oder jenen Fries? Eignete sich eine Serliana oder ein Portikus besser für die Fassade? Und welche Bäume, welche Hecken, welche seltenen Rosensorten für den Garten? Die Unentschlossenheit, die man ihm im Krieg gegen Süleyman vorgehalten hatte, wurde ihm jetzt zur lieben Gefährtin. Der Botschafter Venedigs schrieb seinen Landsleuten, der Kaiser habe nur eine einzige Sorge, welcher er sich gänzlich hingebe, eine wahre Obsession: den Bau eines Gartens und einer Villa eine halbe Meile vor Wien, und wenn sie dereinst fertiggestellt seien, würden sie eine echte königliche und kaiserliche Residenz werden.

Sonderbar, bei der Planung ließ er sich von denselben italienischen Architekten unterstützen, die in seinem Auftrag Jahre zuvor Wien in Anbetracht des bevorstehenden Türkenkrieges befestigt hatten. Für den Ort Ohne Namen aber hatten die italienischen Baukünstler keine Bastionen, Außenwerke und Kontereskarpe geplant, sondern Türme gleich Minaretten, orientalische Halbmonde und Menagerien im osmanischen Stil.

Hof und Volk waren entsetzt. Was um alles in der Welt trieb den Kaiser dazu, den Bauwerken Mohammeds eine so feierliche Reverenz zu erweisen?

Aber es war keine Laune und auch nicht das Hirngespinst eines verfinsterten Geistes.

«Im Jahre 1529, über dreißig Jahre vor Maximilians Niederlage, hatte Süleyman der Prächtige Wien belagert. Es war die erste der beiden großen – und gescheiterten – Belagerungen, mit denen die Ungläubigen die Kaiserstadt einzunehmen versuchten. Süleyman war mit einem riesigen Heer in Konstantinopel aufgebrochen, und er verfügte über sehr viel Geld von all jenen, die aus Habgier, wegen erlittenen Unrechts oder auch nur aus persönlichem Hass hofften, den mächtigen Stuhl Petri endlich stürzen zu sehen. Die Vermögen ganzer Familien, über Generationen hinweg zusammengetragen, waren in die Kassen des Sultans geflossen, um seinen Feldzug gegen die Giaurs, so nennen sie uns Christen, zu finanzieren. Süleyman scheute keine Kosten: Während der Belagerung wollte er, statt in einem Soldatenzelt, in einer riesigen, kostbaren Lagerstadt wohnen, einer Art Rekonstruktion seines Palasts in Konstantinopel mit Brunnen, Wasserspielen, Musikern, Tieren und einem Harem.»

Wien einzunehmen und mit ihm die gesamte christliche Welt, schien damals kein unmögliches Unterfangen zu sein, erklärte der Grieche. War nicht kaum hundert Jahre zuvor Konstantinopel selbst, das Zweite Rom, das Byzanz der tiefgläubigen Kaiserin Theodora, der geliebten Gattin Justinians, in die Hände der Türken gefallen?

«Diese ‹geile Tänzerin› – wie der treulose, lügnerische Skribent aus Cesarea sie hinter ihrem Rücken nannte – hatte sich mit ihrem inbrünstigen und umsichtigen Monophysitismus die ewige Seligkeit erworben und bei ihrem verfrühten Tod ein bedeutendes politisches und religiöses Vermächtnis hinterlassen: die einzigen unbesiegbaren Refugien des christlichen Glaubens in Asien, gegen die auch die Ungläubigen bis heute nichts auszurichten vermögen. Aber nicht einmal Theodora war es gelungen, ihr Byzanz vor Mohammed zu retten, dem Propheten, der knapp dreißig Jahre nach ihrem Tod geboren wurde. Und so wurde die Basilika der Heiligen Sophia, die Theodora errichten ließ, von den Minaretten Allahs entheiligt. Konnte dasselbe Schicksal nicht auch Wien ereilen, das ‹Rom des Heiligen Römischen Reiches›? Und dann womöglich sogar Rom selbst?

In bitterem Tonfall erzählte mein Gehilfe, während er sich mit unkoordinierten und plumpen (doch nicht unvermögenden) Bewegungen bemühte, Feuer an ein Bündel feuchten Holzes zu legen, das sich durchaus nicht entzünden wollte. Und in seiner Stimme drückte sich das ganze Leid aus, das den Griechen durch ihre osmanischen Beherrscher zugefügt wurde.

Doch alles scheiterte», schloss Simonis. «Süleyman hatte den Widerstand der Belagerten noch nicht brechen können, als Gott einen so kalten Winter über ihn kommen ließ, wie man ihn noch nie zuvor erlebt hatte, und der Sultan musste mit leeren Händen umkehren, ja, er drohte sogar in Eisstürmen und Überschwemmungen, die den Jüngsten Tag einzuleiten schienen, sein Leben zu verlieren. Für seine Geldgeber war es der Ruin.»

Der Traum war zerronnen. Weniger stolz und selbstgewiss klang von nun an der Satz «Beim Goldenen Apfel sehen wir uns wieder!», den jeder neue Sultan zum Abschluss der Einsetzungszeremonie dem Kommandanten der Janitscharen wie ein Versprechen zurief.

«Der Goldene Apfel?»

«So nennen die Osmanen seit Anbeginn der Zeiten die vier Hauptstädte der Giaurs: das Konstantinopel der Heiligen Theodora, das Buda des Matthias Corvinus, das Wien des Heiligen Römischen Kaisers und das Rom der Nachfolger Petri.»

Der Goldene Apfel war eine allegorische Bezeichnung für die vier verbotenen Früchte der osmanischen Machtgier: Er stand für die vergoldeten Kuppeln von Konstantinopel, die funkelnden Knäufe auf den Spitzen der Dächer von Buda, die vom Kreuz Christi gekrönte Kugel, die Wien vom mächtigen Turm des Stephansdoms aus überragt, und schließlich für die enorme Kugel aus purem Gold auf der Kuppel der Basilika St. Peter in Rom, deren Schimmer sogar die Schiffer vor den Küsten Latiums sehen können.

«Kaum besteigen die Sultane den Thron», bemerkte der Grieche sarkastisch, «versprechen sie den Janitscharen also mit diesem Satz feierlich, sie alsbald zur Eroberung jener vier Städte zu führen, geradeso als läge der Sinn des Islams einzig darin, die christliche Welt zu besiegen.»

Der erste goldene Apfel, Konstantinopel, war von den Anhängern Mohammeds eingenommen worden; jetzt aber hatte sich in Wien das Schicksal gewendet.

«Und wie es sich gewendet hat!», sagte ich lächelnd. «In der Tat hat die Hohe Pforte anderthalb Jahrhunderte gebraucht, bevor sie wieder genug Geld beisammenhatte, um Wien erneut zu bedrohen. Und auch diesmal vergeblich. Ich kenne die Geschichte von der Belagerung durch Süleyman im Jahre 1529: Vergangenen Montag habe ich dem jährlichen Aufzug der Bäckerzunft zugeschaut, die mit fliegenden Fahnen und Musik durch Wien marschiert ist, zur Erinnerung an die Dienste, die sie der Stadt während dieser Belagerung geleistet hat. Aber was hat die Belagerung von 1529 mit deiner Erzählung zu tun? Waren die Familien der ruinierten Geldgeber vielleicht dieselben, um deretwillen Ungnad später Kaiser Maximilian verriet?»

«Ihr habt es erraten, zum Teil jedenfalls. Denn es gibt noch mehr zu erzählen. Wisst Ihr, wo sich während der Belagerung die Zeltstadt Süleymans mit den Brunnen und Wasserspielen, der Musik, den Tieren und all den anderen Lustbarkeiten, die er mitgenommen hatte, befand?»

In Erwartung einer Antwort sah ich Simonis an.

«Hier, in der Simmeringer Haide, just dort, wo sich jetzt der Ort Ohne Namen befindet.»

Bei diesen Worten musste ich an die orientalischen Formen der Fialen und Kuppeln, an den Brunnen, den Turm des Thermalbades und die mediterranen Gärten denken. Ein Holzscheit für das Feuer noch fest in der Hand, verließ ich Gehilfen und Lehrjungen und ging hinaus. Im Freien angelangt, hob ich die Augen. Die Erzählung von Maximilians Lebensdrama hallte mir noch im Geiste wider, mein Blick schweifte über die hoch aufragenden Dächer des Ortes Ohne Namen, als ich entdeckte, was ich die ganze Zeit vor Augen gehabt, aber noch nicht wirklich gesehen hatte: Diese Dächer ahmten den schimmernden Glanz von Süleymans prächtigem Pavillon nach. Wieder stachen mir die Dachziegel aus vergoldetem Kupfer in die Augen, und mir schien, als stünde ich bewundernd vor dem unheilvoll grellen Licht des Bosporus und dem blitzenden Eisen der Krummsäbel, die dem Grafen Zrinyi den Kopf abschlugen; ja, ich meinte die goldenen Lichtreflexe der Kuppeln von San Marco zu sehen, die mit ihrem orientalischen Gepränge auf jenes treulose Venedig herabblicken, das Maximilian bei seinem Kampf gegen die Ungläubigen im Stich gelassen hatte.

Das also war der Ort Ohne Namen, genannt Neugebäu: kein Jagdschlösschen, kein Vogelgehege, kein Garten oder Villa, nein, es war ein osmanisches Serail. Bei einem Rundgang stieß man auf die Schatzkammer, den Vorratsraum, einen kleinen und großen Saal, den Innensaal, Wände aus weißem Marmor und Säulen aus Porphyr, auf Unterkünfte für Pagen und Zimmer für die Hofgarde. In jedem der Türme waren die Räume nachgebaut worden, aus denen Süleymans große Zeltstadt bestanden hatte, einschließlich des türkischen Bades. Man konnte den Audienzsaal bewundern, den Gerichtspavillon und den großen Saal des Diwans.

Es schien, als hätte Maximilian mit dieser grandiosen, heimlichen Parodie eines Sultanspalasts nicht nur ein Meisterwerk schaffen, sondern auch, mit einem betrübten Lächeln, stumme Rache an den Feinden aus dem Orient üben wollen. In Szigetvár war er von einem toten Sultan besiegt worden. Im Neugebäu hatte er sich gerächt.

Erst jetzt erkannte ich vollends den Ort, an dem ich mich befand: ein Schloss mit glänzenden Dächern, wie der Pavillon Süleymans, doch in einem Käfig aus klassizistischen Arkadengängen und auf beiden Seiten zwischen halbrunde Wehrtürme gezwängt, die an christliche Apsiden gemahnten und ihre Gefangenen wie Gendarmen bewachten. Im Hauptgebäude des Ortes Ohne Namen waren die beiden Angelpunkte Europas vereint: das Erbe der klassischen Welt und der christliche Glaube. Ihre Symbole umgaben Süleymans Pavillon nicht nur wie ein Belagerungsring, sie wachten auch streng über die Gärten und türkischen Türme im Südteil. Und sie versperrten den Weg nach Norden, ganz so, wie auch die Ungläubigen niemals vermocht hatten, den christlichen Westen einzunehmen. Die Wiesen und Wälder auf der Nordseite des Ortes Ohne Namen, Sinnbilder der borealen Welt, boten keinerlei Raum mehr für Anspielungen auf den Orient, im Gegenteil, sie öffneten sich vielsagend auf das Panorama der Kaiserlichen Stadt und ihrer Bollwerke, welche die Ungläubigen niemals hatten erstürmen können.

«Es war die Revanche an seinem Feind Süleyman», hörte ich Simonis sagen, der mit dem Knaben hinter mich getreten war, «aber mehr noch galt sie jenen, die ihn mit Gold überhäuft hatten, damit er sich gegen Europa erhob; denselben Personen, die Maximilian aus Hass auf die Kirche zum Kaiser gemacht und sich seiner dann entledigt hatten. Es war die raffinierte Rache eines entmachteten Kaisers, der das Einzige tut, was noch in seiner Gewalt steht: ein ewiges Mahnmal zu errichten, zum Gedenken an die erste Niederlage gegen Süleyman, die eine Wunde, die niemals verheilen wird.»

Ilsung versuchte mit allen Mitteln, Maximilian die Finanzierung des Neugebäus zu verweigern. Schon 1564 hatte er einen seiner Lieblinge zum Hofpfennigmeister gemacht, David Hag, der überdies mit Ungnad verwandt war. Hag wurde damit zum unberechenbaren Finsterling, durch dessen Hände jeder Pfennig gehen musste, der für den Kaiser, also auch für das Neugebäu, bestimmt war. Auf jedes Gesuch um Finanzierung der Bauarbeiten antwortete er, es sei nicht genug Geld da, oder er führte tausend andere Schwierigkeiten ins Feld. Als es Maximilian endlich mit einer List gelungen war, den Bau fortzusetzen, wiegelte Hag die Handwerker auf, indem er ihnen androhte, sie würden niemals bezahlt werden. Diejenigen, die sich nicht überzeugen ließen, hetzte er zu Streit und Brotneid gegeneinander auf. Außerdem verfügte er, minderwertiges Material anstelle des vom Kaiser gewünschten zu liefern, sodass schon während der Bauarbeiten Probleme auftauchten, weil einige Teile einstürzten. Bei seinem Tod im Jahre 1599, über zwanzig Jahre nach Maximilians Verscheiden, entdeckte man, dass Hag in den Rechnungsbüchern nur die Ausgaben des Kaisers verzeichnet hatte, niemals jedoch die Einnahmen, die für ihn bestimmt waren.

«Keine besonders zuverlässige Verwaltung der Gelder seines Herrschers», bemerkte ich ironisch.

«Höchstwahrscheinlich wurden Maximilian große Teile seines Vermögens entzogen», bestätigte der Grieche. «Trotzdem fand er immer irgendeinen Notbehelf, damit die Arbeiten weitergehen konnten, wenngleich nur sehr langsam und mit tausend Hindernissen. Und obwohl er unvollendet blieb, wurde der Ort Ohne Namen, das Neugebäu, zum achten Weltwunder, bei dessen Anblick jedem Besucher der Atem stockte.»

Die Türken, welche die feinsinnigen Allegorien nicht erkannten, liebten und verehrten den Ort Ohne Namen. Für sie war er nichts anderes als das getreue Abbild der Zeltstadt ihres ruhmreichen Sultans.

Als sie Wien im Jahre 1683 erneut belagerten, sorgten sie sogar dafür, dass der Ort unbeschädigt blieb. Keine türkische Gesandtschaft, die nach Wien kam, versäumte es, den Ort Ohne Namen wenigstens einmal zu besuchen. Einige schlugen am Vorabend ihres Einzugs in die Stadt sogar ihr Lager auf der Ebene vor dem Schlosse auf, zum Zeichen ihrer Verehrung für diese heilige Stätte, deren Mauern sie tränenüberströmt küssten, als seien sie eine Reliquie. Rührung überkam sie, wenn sie in dem viertausend Schritt großen Serail und seinen sechzehn turmbewehrten Ecken, deren bloßer Anblick alle Sinne gleichzeitig betörte, die vollendete Nachahmung von Süleymans Zeltlager wiederfanden.

Durch die europäischen Verbündeten der Hohen Pforte wurde dem Ort Ohne Namen leider eine gänzlich andere Behandlung zuteil. Die Kuruzzen, ruchlose ungarische Rebellen, wüteten bei einem ihrer schamlosen Raubzüge vor sechs oder sieben Jahren gegen diese armen Mauern. Das Schloss wurde verwüstet, verunstaltet, in Brand gesetzt. Was über ein Jahrhundert lang der Vernachlässigung getrotzt hatte, wurde in wenigen Minuten zerstört.

«Nach so vielen Jahren! Glaubst du nicht, dass das eher ein Zufall war? Meinst du wirklich, die Kuruzzen haben den Ort Ohne Namen seiner symbolischen Bedeutung wegen zerstört?», fragte ich.

«Solange es Feinde der Christenheit gibt, wird es Feinde dieser Stätte geben, Herr Meister. Der Hass gegen den Ort Ohne Namen tobt noch immer.»

Ich hätte ihn gerne gefragt, in welcher Form und durch wen dies seiner Meinung nach geschah, doch in diesem Moment tauchte Frosch auf, um nachzusehen, wie weit wir gekommen waren.

Wir berichteten ihm, die Abzüge des maior domus seien durchaus nicht in dem befürchteten verheerenden Zustand, und einige hätten wir auf der Stelle instand setzen können. Doch um ein Verzeichnis aller Rauchabzüge des Neugebäus anzulegen, benötigten wir Zeit. Am nächsten Tag würden wir nicht wiederkommen, erläuterte ich, da wir unten in der Stadt dringende Reparaturarbeiten durchführen müssten.

Nach dem maior domus inspizierten wir einige der Dienstgebäude. Bewaffnet mit Spatel, Kehrstangenhaspel, Leinsternen und Kugelschlag, schufteten wir den ganzen Tag, um die Rauchfänge des Neugebäus zu säubern, und waren zuletzt völlig erschöpft und verdreckt. Doch noch spürte ich genug Kraft in den Beinen, um einer unerledigten Pflicht nachzukommen. Fast schien mir, als würde jenes Wesen, das absonderlichste des ganzen Schlosses, auf meinen Besuch warten (wenn ein toter Gegenstand überhaupt warten kann).

Ich blickte umher, Frosch war nicht in der Nähe. Darauf schlugen wir den Weg zum Ballspielplatz ein.

Es lag immer noch dort, wachsam und reglos, doch gefährlich blinkte sein Schnabel, als hoffte es, eines Tages wieder die kalte Luft des Himmels über Wien durchschneiden zu können. Das Fliegende Schiff mit dem furchteinflößenden Aussehen eines großen Raubvogels ruhte auf seinem breiten Bauch aus Holzbalken, und vergebens breitete es die Flügel aus. Simonis umrundete es mehrmals und machte darauf einen Satz in sein Inneres, zusammen mit meinem Kleinen, der vor Neugierde sehr aufgeregt war.

Nun, da seine Erzählung vom Ort Ohne Namen und seinem Erbauer beendet war, fiel der Grieche in sein gewohntes Naturell zurück und bestürmte mich prompt mit einer Unzahl geistloser Fragen, die nicht einmal eine Antwort verdienten. Hatte das Schiff sich dank seiner Vogelform in die Lüfte erheben können? Aber warum ausgerechnet ein Raubvogel? Und gesetzt, es würde wieder fliegen, würde es dann nicht die Löwen und die anderen wilden Tiere im Neugebäu erschrecken? Ob es wohl auch schwimmen konnte? Oder müsste es zu diesem Zwecke nicht eher die Form eines Wasservogels oder, besser, die eines Fisches haben?

Ich antwortete ihm kaum oder nur einsilbig. Die Entdeckung der bedeutungsschweren Symbolik des Ortes Ohne Namen und die Erzählung des Griechen hatten viele Fragen in mir aufgeworfen und mich in eine innere Aufregung versetzt, die mich während der Arbeit vorzeitig hatte ermüden lassen. An diesem Tage war in meinem Herzen kein Platz mehr für die nächsten Rätsel, welche das gefiederte Segelschiff stellte.

Während ich im Ballspielhaus mit Besen und Zuggewichten fuhrwerkte, um einen der halbverstopften Kamine zu reinigen, dachte ich an Simonis’ Erzählung vom Ort Ohne Namen zurück. Er hatte angedeutet, dass das Anwesen vernachlässigt worden war. Also war es schon vor dem verheerenden Überfall der Kuruzzen verlassen gewesen. Hatten Ilsung und Hag demnach über Maximilian gesiegt? Und auf welche Weise? Und warum hatte kein Kaiser sich dieses wunderbaren Ortes je wieder angenommen? Ich fragte den Griechen danach.

«Um die Wahrheit zu sagen, hatten einige Kaiser, darunter auch Leopold erlauchten Angedenkens, der Vater unseres geliebten Joseph I., mehr oder weniger zaghafte Restaurierungen geplant. Doch letztlich hat keiner je irgendetwas in die Tat umgesetzt oder, sagen wir, fast nichts.»

«Und warum nicht?», wunderte ich mich.

«Geldmangel», antwortete mein Gehilfe augenzwinkernd, nun wieder hellwach und scharfsinnig. «Ihre Reichspfennigmeister und die Hofzahlmeister fanden immer tausenderlei Ausflüchte, um die Arbeiten am Ort Ohne Namen nicht bezahlen zu müssen, weil …»

«… weil die Familien der großen Geldgeber, die hinter den Zahlmeistern standen, immer noch die gleichen waren», kam ich ihm zuvor.

«Erraten, Herr Meister. Wollt Ihr den Beweis? Sogar der Vormund, den Leopold I. als Kind hatte, war ein Fugger. Es sind dieselben geblieben. Und seit Generationen hassen sie den Ort Ohne Namen.»

«Sind sie demnach wirklich so viel mächtiger als die Kaiser?»

«Hier kommt die Angst ins Spiel, Herr Meister. Alle erlauchten Kaiser zwischen Maximilian und Ihrer Kaiserlichen Majestät Joseph I. haben stets einen großen Bogen um den Ort Ohne Namen gemacht, weil sie Angst hatten, so zu enden wie Maximilian.»

«Warum, was widerfuhr ihm?»

Simonis schien mich jedoch nicht zu hören. Er hatte sich ins Freie begeben, um das sinkende Licht des Tages zu beobachten.

«Eilen wir uns, Herr Meister», rief er keuchend aus, als er zurückkam. «Es ist schon spät, in Kürze schließen die Stadttore!»

18.30 Uhr, Torsperre. Nachzügler müssen 6 Kreuzer bezahlen. Die Bierglocke läutet: Es schließen die Schänken, und niemand darf mehr bewaffnet oder ohne Laterne durch die Straßen gehen.

Wir trieben das arme Maultier fast bis aufs Blut mit Peitschenhieben an und konnten gerade noch rechtzeitig durch die Stadtmauern fahren, um die sechs Kreuzer Bußgeld nicht zahlen zu müssen. Eine Ersparnis von nur kurzer Dauer, da das Nachtmahl im Beisl uns aufgrund der Verspätung gute vierundzwanzig Kreuzer pro Kopf kostete statt der üblichen acht.

Auf der Heimfahrt kauerte ich wie gewohnt im Karren, wo die Stöße der Räder mir die Eingeweide umdrehten, während Simonis und der Kleine auf dem Kutschbock saßen, und dachte über die wunderliche Erzählung des Griechen nach.

Jetzt, da ich die Geschichte des Ortes Ohne Namen kannte, erschien mir die Entscheidung Ihrer Kaiserlichen Majestät Joseph I. in einem neuen Licht. Warum nur wollte Joseph den Schleier des Vergessens zerreißen, den seine Vorgänger über das Neugebäu gelegt hatten? Sicher kannte er die traurige Geschichte seines Ahnen Maximilian II. und die zahlreichen Feindseligkeiten und Racheakte, welche diese Parodie von Süleymans Feldlager hervorgebracht und wieder zerstört hatten. Sicher hatte er leicht erraten können, wenn er es nicht sogar mit eigenen Ohren gehört hatte, dass es gerade diese finstere Aura war, die seine umsichtigen Vorgänger vom Ort Ohne Namen ferngehalten hatte. Was mochte Joseph nur bewogen haben, einzugreifen in eine jahrhundertealte Fehde, deren Schwelbrand nach Simonis’ Worten alles andere als erloschen war?

Ich dachte an unseren geliebten Kaiser: Was wusste ich eigentlich von ihm?

Seit meiner Ankunft in Wien hatte ich versucht, mir Kenntnisse über Wesensart, Ruhm und Taten meines neuen Herrschers sowie über die Erwartungen, die das Volk in ihn setzte, zu verschaffen. Denn nach einem Leben als Untertan von mehr oder weniger betagten Päpsten war es mir eine angenehme neue Erfahrung, einem jungen Monarchen ohne Soutane und Hirtenstab zu dienen.

Schriften über Joseph I., genannt der Sieghafte, waren viele im Umlauf. Allesamt Lobeshymnen oder Geschichten über seine Kindheit und seine dem Fürsten zu Salm anvertraute Erziehung (er war der erste Kaiser, der nicht von Jesuiten erzogen worden war – sein Vater Leopold hatte sich dem Hass seiner Untertanen auf die Gesellschaft Jesu gebeugt), sodann ausführliche Beschreibungen seiner Ehe mit Amalia Wilhelmine von Braunschweig-Lüneburg und seiner triumphalen Ernennung zum Römischen König, mit welchem Titel im Reich der Kronprinz bezeichnet wird. Ganz zu schweigen von den Berichten über seine Feldzüge, allen voran die Belagerung und Eroberung der Festung Landau in der Pfalz: Der erst vierundzwanzigjährige Joseph hatte sie in den Jahren 1702 und 1704 persönlich den Franzosen entrissen. 1703 konnte Frankreich sie allein darum zurückerobern, weil Kaiser Leopold, aus Gründen, die mir unbekannt waren, seinen Sohn nicht in die Schlacht hatte schicken wollen.

Nun, das war es, was mir auf Anhieb in den Sinn kam von all dem, was ich über meinen Herrscher gelesen, insonderheit aber von meinen Zunftbrüdern, den Schornsteinfegern, direkt vernommen hatte. Recht gern hatten sie meine wissbegierigen Fragen nach der Kaiserlichen Familie mit einer Fülle von Einzelheiten befriedigt und in mir eine tiefe Verehrung für meinen neuen Souverän aufblühen lassen.

Doch entsann ich mich keines einzigen Details, das mit dem Ort Ohne Namen und seiner Geschichte zusammenhing. Oder vielleicht doch: die auffallende Schönheit des jungen Kaisers (wahrhaft einzigartig im unglückseligen Geschlecht der Habsburger), die ein Spiegel seines ungestümen, gebieterischen Charakters war (auch dieser überaus rar in jener Sippe); sodann Josephs Bestreben, sich über die Familientraditionen hinwegzusetzen, und die daraus folgenden Zerwürfnisse mit dem Vater, einem von Jesuiten erzogenen parvus animus, ebenso die Zerwürfnisse mit dem Bruder Karl, einem unnahbaren, wenig entscheidungsfreudigen Menschen, auch er ein Jesuitenzögling.

Ich nahm mir vor, später in den Büchern und Schriften, welche ich bei meiner Ankunft in Wien erstanden hatte, über den Kaiser zu blättern. Hier würde ich die Antwort auf meine Fragen finden.

Zurück im Kloster nach dem in Windeseile verschlungenen, lukullischen Nachtmahl, genoss ich schon im Voraus den Moment, da ich mich in die Lektüre stürzen würde, um meine Wissbegier nach dem Ort Ohne Namen zu stillen.

«Seyd gegrüsset. Heuer werden wir eine Lection halten vom Spatzieren gehen und vom Essen und Trincken.»

Der Satz traf mich wie ein Dachziegel auf den Kopf. Wer mich so ansprach, just als ich den Korridor des Gästehauses betrat, war Ollendorf, der Deutschlehrer. Ich hatte ihn vergessen: Die so sehr gefürchtete Stunde des Sprachunterrichts stand bevor. Unwillig verabschiedete ich mich vorerst von meinen Forschungen über Joseph I. und den Ort Ohne Namen.

Mein geringes Talent für fremdländische Idiome trat aufgrund der Müdigkeit, mit der ich in den Unterricht ging, jedes Mal in beschämender Blöße zutage. Am heutigen Abend würde ich, so fürchtete ich, eine noch jämmerlichere Figur vor Ollendorf abgeben als beim letzten Mal. Im Versuch zu beschreiben, wie man einer Dame in der besten Weise seine Ehrerbietung bezeigt, das heißt, ihr die Hand küsst, hatte ich «Hund» statt «Hand» gesagt, was bei meiner Gattin und unserem Kleinen unbändige Heiterkeit, bei Ollendorf aber tiefe Enttäuschung ausgelöst hatte.

Cloridia weilte noch im Palais des Prinzen Eugen. Ich war so begierig, mich für meine Lektüre zurückzuziehen, dass ich mich bei dem Sprachlehrer unter dem Vorwand großer Erschöpfung entschuldigte und ihn bat, an diesem Abend nur dem Kleinen Unterricht zu erteilen.

Nachdem ich mich im Schlafzimmer eingeschlossen, goss ich Wasser in den Kessel auf dem Kamin, um es zu erwärmen und mich damit zu waschen. Erfreut hörte ich derweil, welch treffliche Fortschritte mein Sohn im Deutschen machte:

«Deß Herrn Diener, mein Herr, wie gehet’s dem Herrn?», fragte der Lehrer, indem er seinen kleinen Schüler im Spiel wie einen Edelmann ansprach.

«Wohl Gott lob, dem Herrn zu dienen, was für gute Zeitungen bringt mir der Herr?», antwortete der Kleine eifrig.

Ich hatte mich soeben gesäubert und mich an die Lektüre des Stapels verschiedener Papiere geschickt – Flugschriften und andere Druckwerke über Leben und Taten unseres Erlauchtesten Kaisers –, als ich einen Schlüssel im Türschloss rumoren hörte. Meine Gemahlin war zurückgekehrt.

«Mein Schatz!», empfing ich sie und ging ihr entgegen, mich im Stillen damit abfindend, dass ich meine Nachforschungen verschieben musste.

Seit fast zwei Tagen hatten meine Frau und ich keine Gelegenheit mehr zum Gespräch gehabt, und ich war gespannt auf Neuigkeiten über die Audienz, welche Prinz Eugen am Tag zuvor dem Aga gewährt hatte. Da aber bemerkte ich die finstere Miene meiner Gattin, ein untrügliches Anzeichen von Kümmernis und Beklemmung.

Sie küsste mich, legte den Umhang ab und warf ihn aufs Bett.

«Nun, wie ist es dir ergangen?»

«Ach, wie soll es mir schon ergangen sein … Diese türkischen Soldaten können nichts als trinken. Und sich in Zügellosigkeiten ergehen.»

Beflügelt durch die gastfreundlichen Gesten, welche dem Aga zuteilwurden, hatten die niedrigsten Chargen der Osmanen gemeint, ebensolche Würden verlangen zu können, und hatten Cloridia mit unerhörten Forderungen überhäuft.

«Von allen christlichen Tugenden», seufzte meine Frau, «ist die Gastfreundschaft die einzige, zu deren Ausübung sich die Türken verpflichtet fühlen. Wenn sie das Haus anderer Menschen betreten, sehen sie sich zu allem berechtigt, weil sie muzafir, Gäste, sind. Gemäß ihrer Religion ist es nämlich Gott selbst, der sie geschickt hat, also müssen sie, was immer sie tun, stets willkommen sein.»

Eine Tugend aber, die sich mit dem äußeren Schein begnüge, fuhr Cloridia fort, leiste ihrem raschem Verfall Vorschub. Unter dem Vorwand des Gastrechts hatten die Osmanen, verärgert über den schlechten Wein aus Stockerau, die Speisekammern geplündert, die Vorräte an Kaffee und Branntwein aufgebraucht, Teppiche, Matratzen und Kissen wild durcheinandergeworfen und sogar Geschirr bei ihren Prassereien zerschlagen, alles auf Kosten der Großzügigkeit des Prinzen Eugen und der Kaiserlichen Kammer.

«Und wie sie stanken!», rief meine Frau aus. «Im Osmanischen Reich entkleidet man sich nicht zum Schlafengehen, und hier tragen sie wegen der Kälte Tag und Nacht die Pelze, mit denen sie schon monatelang gereist sind. Ganz davon zu schweigen, dass es für die Türken nichts Vornehmeres gibt als einen Pelz und sie daher gedacht haben, in diesem Aufzug eine prächtige Figur zu machen.»

Da in Konstantinopel nichts mehr gefürchtet sei als die Kälte, fügte Cloridia hinzu, und man sich mit allen Mitteln vor ihr zu schützen suche, sogar in solchen Momenten, in denen wir Europäer schon unter der Hitze leiden, blieben die Osmanen auch in den gutgeheizten Räumen des Savoyardenpalasts fest in ihre stinkenden Pelze gewickelt, ja, sie gaben nicht eher Ruhe, bis sie noch die kleinste Ritze in Fenstern und Türen entdeckt und mit Wachspapier verstopft hatten, damit keine Luft mehr hindurchkam. So habe, während der Aga feierlich von Prinz Eugen empfangen wurde, ringsumher ein chaotisches Kommen und Gehen geschäftiger Osmanen geherrscht, welches wiederum die Beschwerden der Dienerschaft des Palais hervorgerufen habe, und wie Amboss und Hammer hätten diese beiden Gruppen meine arme Cloridia, die Einzige, die zwischen beiden vermitteln konnte, zum Wahnsinn gebracht.

Der Gipfel war erreicht, als einige Armenier aus dem Gefolge verlangten, einen tandur zu entzünden, um welchen sie sich setzen wollten, trotz der Brandgefahr oder möglicher schwerer Beschädigung des Mobiliars des Erlauchtesten Prinzen.

«Ein tandur?»

«Ein Öfchen voll glühender Kohlen. Es wird unter einen Tisch gestellt, auf welchem bis zum Boden reichende Wolldecken liegen. Jeder zieht einen Zipfel der Decke über sich, steckt die Hände und die Arme darunter und hält seinen Körper dergestalt auf einer Temperatur, die wir für Fieber ansehen würden. Ich muss dir nicht sagen, dass die Folge solchen Brauchtums die fürchterlichsten Brände sind. Unter allen Umständen wollten sie ein derartiges Feuer im Palais anzünden, unaufhörlich wiederholten sie, dass sie muzafir seien und so weiter.»

Das sei nicht alles gewesen, fuhr Cloridia fort. Bei einem Willkommensbesuch des Obersthofmarschalls hätten einige der Türken, um zu zeigen, dass sie mit den Gepflogenheiten von uns Giaurs vertraut sind, aus der Flasche getrunken, fortwährend gerülpst und sich liederlich auf die Diwane geworfen, da sie glaubten, dies gelte uns als vornehm. Als der Obersthofmarschall jedoch in einen der Näpfe auf dem Teppich gespuckt habe, hätten die Osmanen die Augen verdreht und mit wilden Armbewegungen ihrer Bestürzung über ein derart barbarisches Benehmen Ausdruck verliehen.

«Diese Idee freilich, dass der Gast von Gott geschickt sei, ehrt die Ungläubigen doch eigentlich», griff ich ein, um sie zu besänftigen.

«Alles nur Schein, mein Lieber: Wenn du einen von ihnen besuchst und ihm beim Abschied nicht zwanzigmal mehr bezahlst, als wert ist, was du verzehrt hast, wird er warten, bis du sein Haus verlassen hast, wodurch du den heiligen Titel des muzafir verlierst, und dich sodann mit Steinen bewerfen», schloss sie.

«Mein armes Weib», sagte ich bedauernd und umarmte sie.

«Und ich habe dir noch nicht erzählt, was geschah, als sie erfuhren, dass meine Mutter Türkin war. Sogleich holten sie Tamburin, Trommel und Hirtenflöte hervor, schlugen einen immer wilderen Rhythmus und verlangten, ich solle mit ihnen den Holzlöffeltanz tanzen. Dabei verdrehen sie Hüfte und Bauch, und was daran anmutig sein soll, weiß ich wirklich nicht. Aber wo es unzüchtig ist, das sieht man sofort», fügte Cloridia noch immer voller Abscheu hinzu.

«Ich hoffe, sie haben sich zumindest dir gegenüber anständig verhalten.»

«Keine Angst, über all dem Wein, den ich ihnen verschafft habe, haben sie doch nicht vergessen, was der Sultan dem androht, der eine Frau belästigt. Außerdem hat dieser Ciezeber, ihr Derwisch, sie daran erinnert», lächelte Cloridia, als sie ein besorgtes Blitzen in meinen Augen gewahrte.

«Ich habe ihn im Geleitzug gesehen. Aber was tut er unter dem Gefolge des Agas?»

«Er ist ihr Imam, der Priester eben. Ich frage mich nur, warum er kein Türke ist.»

«Ich las, er sei Inder.»

«So sagt man. Auf jeden Fall ist er nicht wie die anderen, er hat ein höchst würdiges Benehmen.»

Ich fragte sie, wie das Innere des Palais aussehe und ob sie bei den offiziellen Unterredungen anwesend gewesen oder wenigstens einmal auf Prinz Eugen gestoßen sei. Darauf erzählte sie mir, der Aga sei, nachdem er den Palast des Durchlauchtigsten Prinzen betreten habe, vom Palastmeister zur großen Treppe und dann in das obere Geschoss geführt worden. Umringt von einer dichtgedrängten Menge aus Nobilitäten, hochstehenden Persönlichkeiten und Kaiserlichen Würdenträgern, sei der osmanische Gesandte hier von zwei Offizieren der Kriegskanzlei empfangen worden, die ihn durch den berühmten, über und über mit Fresken verzierten Ehrensaal und dann durch das Vorzimmer bis in den Audienzsaal geleitet hätten. Der Aga musste wohl sehr beeindruckt von dem großen Andrang gewesen sein, bemerkte Cloridia, auch von der Fülle roter Samtvorhänge mit goldenen Schriftzügen, welche Wände und Sessel bedeckten. Die Festlichkeit des Ehrensaals, der luxuriösen Paramente und der Zuschauer in bebender Erwartung habe ihren Höhepunkt dann in der Öffnung der Audienztür gefunden, hinter welcher sich endlich das strenge Gesicht Ihro Kayserlicher Majestät Herrn Hof-Kriegs-Raths-Präsident, Ihro Hochfürstlicher Durchlauchtigster Printz Eugenii von Savoyen zeigte.

Das Gewand war gänzlich mit Gold bestickt, der Hut geschmückt von einer Kokarde aus Diamanten von unschätzbarem Wert, an der Brust trug er den Orden vom Goldenen Vlies, in der Hand hielt er das Schwert. Er erwartete den Aga in einem Rückensessel unter einem Baldachin aus rotem Sammet, flankiert vom Grafen von Herberstein, dem Vizepräsidenten des Hofkriegsrates, einem Geheimen Referendar und von zahlreichen Generälen. Die große Schar aus Noblen, Kurtisanen und angesehenen Personen war in den Saal geströmt, und alles reckte nun die Hälse, um Einzelheiten der Audienz zu erspähen.

«Eugen ist in Wahrheit alles andere als ein schöner Mann», lächelte Cloridia. «Das Antlitz besitzt keine anmutigen Züge, der Körper ist zu hager. Doch der Gesamteindruck flößt Hochachtung ein.»

Kaum war er vor den Durchlauchtigsten Prinzen getreten, grüßte der Aga ihn nach türkischer Art, indem er dreimal seinen Turban berührte, dann ließ er sich auf einem Sessel nieder, welcher eilig vor den seines Gastgebers geschafft ward. Zunächst händigte der Osmane seine Beglaubigungsschreiben aus, der Prinz nahm sie entgegen und reichte sie sogleich dem Geheimen Referendar weiter. Darauf fand eine Konversation statt, die jedoch keinem der beiden Zugeständnisse abnötigte: Der Aga sprach Türkisch, Eugen Italienisch, welches nicht nur die offizielle Sprache bei Hofe, sondern für ihn, einen Savoyer, auch die Muttersprache ist. Der Kaiserliche Dolmetscher übersetzte, derjenige der Hohen Pforte verbürgte sich bei dem Aga für die Richtigkeit der Übertragung. Nur zu Beginn, erzählte Cloridia, habe der Aga zu Ehren des Heiligen Römischen Reiches einen Satz auf Lateinisch gesprochen: «Soli soli soli ad pomum venimus aureum oder auch «Ganz allein sind wir zum Goldenen Apfel gekommen», habe er feierlich skandiert, indem er von einem Papier las. Dieser Satz wurde nicht nur wörtlich genommen – in der Tat umfasste das Gefolge des Agas kaum zwanzig Personen –, sondern vorzüglich als eine Erklärung friedlicher Absichten aufgefasst. Der Türke war also ohne jeden Hintergedanken gekommen. Das Blatt, von dem der Aga gelesen, händigte er dann persönlich dem Erlauchtesten Prinzen aus.

Während der Unterredung sah man Eugen mit einem sonderbaren metallenen Gegenstande von der Größe zweier Daumen spielen, welchen er unaufhörlich von einer Hand in die andere nahm. Nach der zeremoniellen Verabschiedung erhob sich der Aga, wandte sich um und schritt auf die Tür zu. Erst in diesem Moment erhob sich Eugen, da er die ganze Zeit sitzen geblieben war, und lüftete leicht den Hut wie zum Gruße, war jedoch bedacht, indem er sich zu seinen Generälen wandte, dem Aga den Rücken zu kehren, um so seine Überlegenheit kundzutun. Der Türke wurde auf dem Rückweg von denselben Offizieren der Stadtguardia begleitet wie auf dem Hinweg. In seiner Kutsche wurde er mitten durch die Menge bis in seine Unterkunft vor der Stadt eskortiert. Allein dies geschah nur, um die Neugierde der Umstehenden zu befriedigen, denn in Wirklichkeit kehrten der Aga und sein Gefolge noch am selben Abend in das Palais des Durchlauchtigsten Prinzen zurück, woselbst sie sich drei Tage aufhalten würden, auf dass sie der großzügigsten und fürnehmsten Behandlung genossen, welche das Gastrecht gebot.

«Kurz und gut, die Türken bleiben drei Tage lang Gäste des Savoyers.»

«So will es der Prinz, um sie sonderlich zu ehren.»

«Und am Montag werden sie in ihre Unterkunft im Gasthaus zum Goldenen Lamm zurückkehren», folgerte ich.

«Du weißt nicht von der Neuigkeit? Die Ambassade hat sich nicht im Goldenen Lamm einquartiert, wie alle türkischen Delegationen seit hundert Jahren.»

«Ach, wirklich nicht?», staunte ich.

«Sie sind zwar auf der Leopoldinsel, im jüdischen Viertel, doch bei der Witwe Leixenring, in einem Palais mit elf Zimmern, einer großen Küche und einem Stadel.»

«In einem privaten Haus? Warum denn das?»

«Das ist ein Geheimnis. Ich weiß nur, dass die Miete, wie immer, von der Kaiserlichen Kammer bezahlt wird. Die vom Goldenen Lamm sind beleidigt, umso mehr, als es Platz gab. Und alle Neugierigen, die den Geleitzug vor dem Gasthaus erwarteten, waren umsonst gekommen. Das Seltsamste aber ist, dass das Palais der Witwe Leixenring wie eine kleine Festung bewacht wird: Mir wurde erzählt, dass man nicht einmal von weitem zu den Fenstern hinaufspähen kann.»

«Dann stimmt es also, dass hinter dieser Ambassade etwas Ernstes steckt. Haben sie denn endlich den Grund ihres Kommens genannt?», fragte ich, besorgt, ich könne in diesem Wien, wohin ich auf der Flucht vor dem römischen Elend gezogen war, womöglich Opfer einer neuen türkischen Belagerung werden.

Während ich mich in meiner Vorstellung bereits erstochen, meine Frau verschleppt (die Glückliche, sie verstand wenigstens die Sprache der Ungläubigen!) und meinen Sohn in den Kasernen von Konstantinopel zum Janitscharen erzogen sah oder, schlimmer, zum Eunuchen für den Harem des Sultans, hatte Cloridia sich an die Tür zum Nebenzimmer gestellt. Heimlich lauschte sie dem Zwiegespräch, das sich gerade zwischen unserem Kleinen und Ollendorf abspielte:

«Gott behüte Euer Gnaden», rezitierte der Schüler manierlich. Cloridia lächelte, von seinem Stimmchen gerührt.

«Die Leute sagen, diese Gesandtschaft sei anders als die vorhergehenden», bestätigte sie, und ihr Lächeln verflog, während sie zu mir zurückkehrte. «Willst du wissen, wie viele Menschen dabei waren, wenn die Türken früher zu einem offiziellen Besuch nach Wien kamen? Bis zu vierhundert. Zuletzt sind sie vor elf Jahren gekommen, im Jahr 1700, und sie führten vierhundertfünfzig Pferde, hundertachtzig Kamele und hundertzwanzig Maultiere mit sich. Bedenke zudem diese Ankunft in höchster Eile, fast ohne Vorankündigung und mitten im Winter …»

«Aber weiß man denn, aus welchem Grund sie gekommen sind?», fragte ich, nunmehr sehr erregt.

«Natürlich weiß man das. Offiziell kamen sie, um den Friedensvertrag von Karlowitz zu bestätigen. Das ist es, worüber der Aga vor allen anderen mit Eugen gesprochen hat.»

«Den Vertrag, der vor zwölf Jahren, als der letzte Krieg gegen die Osmanen endete, mit dem Kaiser unterzeichnet wurde?»

«Ebender.»

«Und war es nötig, eine derart eilige Gesandtschaft von Konstantinopel herzuschicken, um einen bereits unterzeichneten Vertrag zu bestätigen? Haben sie denn keine Forderungen gestellt oder feindliche Absichten gegen das Reich verkündet?»

«Im Gegenteil. Die Osmanen haben im Moment ganz andere Sorgen: Sie sind in Streit mit dem Zaren verwickelt.»

«Die Sache hat nicht Hand noch Fuß. Glaubst du, sie sind in Wahrheit aus einem anderen Grund gekommen?»

Cloridia sah mich an und erwiderte mit ihrem Blick meine Ratlosigkeit.

«Ich habe alle gefragt, glaube mir, sogar diese Trunkenbolde aus dem Gefolge des Agas», sagte sie. «Aber weißt du, was sie antworten? Soli soli soli ad pomum venimus aureum! Und dann lachen sie und trinken. Sie äffen ihren Herren nach und verstehen nicht einmal, was sie sagen.»

«Und die Bediensteten des Palasts? Vielleicht haben sie etwas von den privaten Gesprächen zwischen Eugen und dem Aga aufgeschnappt.»

«Ach, glaube doch nur nicht, es habe ein privates Gespräch gegeben!»

«Wie bitte?»

«Du hast richtig gehört. Eugen und der Aga haben sich zu keinem Zeitpunkt gemeinsam zurückgezogen, sie haben immer und ausschließlich vor der Zuhörerschaft konversiert.»

«Also haben sie wirklich über nichts anderes gesprochen als über den alten Vertrag von Karlowitz?»

«Vollkommen unerklärlich, findest du nicht auch?», sagte sie nachdenklich. «Denk nur», fügte sie dann mit leiserer Stimme hinzu, «sogar im Diarium des Prinzen über die Gesandtschaft findet sich nichts außer dem Blatt, welches ihm der Aga gab. Und darauf steht eben nur dieser eine Satz: Soli soli soli adpomum venimus aureum

«Das alles ist verrückt», bemerkte ich.

«Vielleicht verbirgt sich etwas hinter diesem Satz, was wir nicht wissen», überlegte meine Gattin. «Man hat mir erklärt, dass der pomum aureum, also der Goldene Apfel, der Name ist, den die Türken Wien geben.»

«Ja, ich weiß, gerade heute hat Simonis es mir erklärt», bestätigte ich und berichtete ihr in groben Zügen, was ich von meinem Gehilfen über die Geschichte des Ortes Ohne Namen, Maximilian II. und Süleyman gehört hatte.

«Unglaublich. Aber woher mag der Name ‹Goldener Apfel› kommen?»

«Ich habe leider keine Ahnung.»

«Vielleicht steckt gerade in diesem Namen der Schlüssel zum Verständnis des ganzen Satzes», mutmaßte Cloridia.

Tatsächlich war das alles äußerst rätselhaft. Wahrscheinlich hatte man befürchtet, die Osmanen würden bewaffnet in Wien ankommen oder zumindest etwas Schreckliches im Schilde führen. Dagegen versicherten diese den Kaiserlichen die Ehrlichkeit ihrer Absichten, indem sie öffentlich verkündeten, sie seien allein gekommen. Das erklärte freilich noch nicht, warum der Besuch so eilig war. Mehr als alles andere aber widersprach ihren angeblich friedlichen Absichten, dass sie die Kaiserstadt mit dem nicht gerade vertrauenerweckenden Namen «Goldener Apfel» bezeichnet hatten, jenem Appellativum also, welches betonte, dass Wien immer noch im Visier der Eroberungspläne der Hohen Pforte lag. Nicht zufällig erwies Prinz Eugen ihnen die außergewöhnliche Ehre, sie drei Tage lang in seinem Palais gastieren zu lassen …

«Und woher weißt du eigentlich, was in dem persönlichen Diarium deines Herrn steht?», fragte ich mit vor Staunen geweiteten Augen, da mir Cloridias Worte plötzlich wieder in den Sinn kamen.

«Das ist doch klar: Die Frau seines Leibkämmerers hat es mir gesagt. Das ist jene, der ich versprochen habe, sie ohne Bezahlung zu entbinden.»

Obwohl meine Gemahlin nämlich in Wien nicht als Gevatterin wirken konnte, ein Gewerbe, das der Erteilung einer regulären Genehmigung bedurfte (wie fast alles in dieser Stadt), hatte sie dennoch nie aufgehört, Schwangeren, Gebärenden und Wöchnerinnen beizustehen. Eine überaus gern entgegengenommene Hilfe, zumal die besten Hebammen der Stadt, mithin jene, die Cloridia ebenbürtig waren, ein Vermögen kosteten.

«Doch jetzt spute dich», drängte sie, «denn Camilla erwartet uns.»

20. Stunde: Die Wirtshäuser schließen ihre Pforten.

«Vor der Ehe ist nichts Interessantes in meinem Leben passiert», hub die Chormeisterin an.

Wir befanden uns in der Erhabenen Kaiserlichen Hofkapelle bei der Probe zum Heiligen Alexius, die gerade durch eine Pause unterbrochen wurde. Da nur mein Söhnchen und ich zu den Komparsen gehörten, war die Anwesenheit Cloridias eigentlich nicht vonnöten, doch Camilla de’ Rossi hatte das anfängliche Misstrauen meiner Frau so geschickt zu zerstreuen gewusst, dass Cloridia uns jetzt recht gern zu den abendlichen Proben begleitete und sich in den Pausen sogar häufig mit der Chormeisterin unterhielt.

Es war derzeit die einzige Gelegenheit, die die beiden Frauen zum Plaudern hatten, und die Chormeisterin schien großen Wert darauf zu legen. Cloridia und ich waren nämlich so stark von unserer täglichen Arbeit in Anspruch genommen, dass wir die Küche des Klosters nicht nutzen konnten, es sei denn, wir waren krank. Zudem verbot die Ordensregel der Himmelpforte den Nonnen, sich mit Fremden an einen Tisch zu setzen. Camilla, die nur eine Laienschwester war, unterlag diesem Verbot nicht und war sehr enttäuscht, dass wir ihre Dinkelkornmahlzeiten nicht mit ihr teilten. Sie tröstete sich, indem sie uns köstliche Leckerbissen aus Dinkel für den Kleinen zusteckte, welche überdies die wohltätige Wirkung hatten, ihm eine eherne Gesundheit zurückzuerstatten. Und das hatte die Gefühle meiner Gattin für unsere freundliche Wirtin entschieden herzlicher gestimmt.

Camilla besaß die liebenswerte Gabe, in jedes Gespräch Themen einzuflechten, die Cloridia besonderes Vergnügen machten, in primis natürlich den Beistand der Schwangeren und die Pflege der Wöchnerinnen nebst ihrer Kleinen, doch auch die Kunst der Deutung von Träumen und Zahlen oder die der brennenden Rute, welche man auch den divinatorischen Stab nennen mag – all dies Disziplinen, in denen Cloridia überaus bewandert war und die sie in ihrer Jugend ausgeübt hatte. Begabt mit einer geradezu prophetischen Vorahnung, schien die Chormeisterin Cloridias Vorlieben zu kennen, und mit diskreter, aber sicherer Hand lenkte sie ihre Rede auf jene Gegenstände.

Solcherart liebenswürdige Aufmerksamkeiten vermochten die Zunge meiner süßen Gefährtin zu lösen, sodass Cloridia, wann immer Camilla sie nach ihrer Vergangenheit fragte, nicht wie üblich in Rage geriet, sondern sich fügsam daran gewöhnte, jede Neugierde zu befriedigen.

An diesem Abend war das Gespräch der beiden schon recht lebhaft, als Cloridia der Chormeisterin zum ersten Mal selbst einige Fragen stellte: Was um alles in der Welt hatte eine junge Römerin, obendrein aus Trastevere, bis nach Wien getrieben? Hatte sie kein Heimweh nach ihrem Stadtviertel? In welchem Haus genau war sie geboren und aufgewachsen? Cloridia, die als Gevatterin halb Rom kannte, hatte sich nämlich plötzlich an eine gewisse Camilla de’ Rossi erinnert, eine wohlhabende Händlerin aus Trastevere, Tochter eines gewissen Domenico da Pesaro und Mutter einer Lucretia Elisabetta, der meine süße Gemahlin bei der Geburt des Söhnchens Cintio beigestanden hatte. Cloridia hätte es durchaus Freude gemacht zu entdecken, dass sie diesen oder jenen Verwandten ihrer Gesprächspartnerin kannte. Man weiß ja, wie klein die Welt ist …

«Vor der Ehe ist nichts Interessantes in meinem Leben passiert», hatte Camilla sie jedoch knapp beschieden und wenig Neigung gezeigt, ihre Vergangenheit wieder aufzurühren, darin es vielleicht einige zu dunkle Punkte gab für eine Frau, die jetzt das Vertrauen Ihrer Kaiserlichen Majestät genoss.

«Vor der Ehe?», fragte Cloridia erstaunt.

«Ja, bevor ich in den Himmelpfortkonvent eintrat, war ich verheiratet. Doch jetzt entschuldigt mich bitte, die Probe muss weitergehen», sagte sie und eilte zu den Orchestermusikern.

So erfuhren wir, dass Camilla, obgleich erst neunundzwanzig Jahre alt, Witwe war.

Die Musik setzte ein. Die süßen Bogenstriche der Violinen stiegen sanft zum Gewölbe der Kaiserlichen Kapelle auf, getragen vom warmen Hauch der Orgel, dem silbernen Klang der Laute und den dunklen Farben des Kontrabasses. Aus dem Munde des Soprans, der soeben von Alexius verlassenen Verlobten, erhob sich eine traurige Klage:

Cielo, pietoso cielo … 1*

Doch gleich darauf brach aus dem Orchester ein zorniger Hagel von Akkorden hervor. Die junge Braut tobte gegen ihre alte Liebe und bat den Himmel um eine Waffe, ihn zu bestrafen:

Un dardo, un lampo, un telo

Attenderò da te

Ferisci, arresta, esanima

Chi mi mancò di fé …2**

Da die Mitwirkung der Komparsen bei diesem Teil nicht benötigt wurde, hatte ich mich mit Cloridia und unserem Kleinen auf die Bänke der Kapelle gesetzt, um zuzuhören. Überwältigt von der ungestümen Musik, gewahrte ich erst nach einer Weile, dass ich mit einer Hand den Arm meines Weibes und mit der anderen die Rückenlehne der Vorderbank übermäßig fest drückte. Während die helle Stimme des Soprans sich nach den Noten Camillas unter den Voluten der Kapelle ausdehnte, sann ich über jene seltsame Koinzidenz nach, die meinen Geist schon am Abend zuvor beschäftigt hatte: Gleichzeitig waren die Musik und der Name Rossi in mein Leben zurückgekehrt. In Rom hatte ich die Arien von Atto Melanis Lehrmeister Luigi Rossi kennengelernt, hier die Chormeisterin Camilla de’ Rossi. Ob es sich wohl doch nicht um einen Zufall handelte? Vielleicht brachten Namen bestimmte Ereignisse mit sich? Und wenn dem so war, konnten Worte dann also die Dinge lenken?

Indem ich mir selbst solch gewichtige Fragen stellte, war das Stück geendet. Camilla hatte begonnen, die Sängerin und die Musiker zu belehren, wie die soeben ausgeführte Stelle besser zu gestalten sei, und einzelne Teile wurden erneut geprobt. Wie immer erklärte die Chormeisterin überaus gewandt, welche Akzente sie vom Gesang wünschte, welche Seufzer von den Blockflöten, welche Einwürfe von den griesgrämigen Fagotten.

Als es erneut eine Pause gab, kehrte Camilla zu uns zurück. Sogleich drängte ich sie, ihre Erzählung fortzusetzen. Und so berichtete sie, sei habe noch sehr jung einen Königlichen Hofmusiker geheiratet, einen Komponisten im Dienste des Erstgeborenen des Kaisers, des damals noch jugendlichen Joseph I.

Der Hofkomponist war der Musiklehrer Camillas, die sich zu jener Zeit mit ihrer Mutter schon in Wien aufhielt. Er war Italiener und hieß Francesco.

«Hier im Reich jedoch», erklärte Camilla, «wo alle Namen eingedeutscht werden, nannte man ihn Franz. Franz Rossi.»

«Rossi? Also lautet Euer Nachname Rossi, nicht de’ Rossi?», fragte ich.

«Ursprünglich ja. Das adelige Patronymikum de’ wurde Franz, kurz bevor er starb, großzügig von Ihrer Majestät Joseph I. verliehen.»

Ihr Gemahl, erzählte Camilla weiter, habe sie die Kunst des Gesangs gelehrt und mehr noch jene der Komposition. Auch sei er mit ihr durch die Königshöfe Europas gezogen, wo sie die neuesten musikalischen Moden studierten, welche sie nach ihrer Rückkehr am Kaiserlichen Hofe einzuführen gedachten. In Italien waren sie fast überall: in Florenz und Rom, Bologna und Venedig. Tagsüber besuchten sie die Werkstätten der Lautenbauer, erforschten Theaterhäuser, um die dortige Akustik zu prüfen, trafen Virtuosen des Gesangs oder des Cembalos, um ihnen ihre Kunstgriffe zu entlocken, oder machten Fürsten, Kardinälen und Hochwohlgeborenen Personen ihre Aufwartung, um sich deren Gunst zu sichern. Des Nachts kämpften sie gegen den Schlaf, derweil sie bei Kerzenlicht Partituren abschrieben, die sie in Wien dem äußerst feinen Ohr Ihrer Kaiserlichen Majestät darbringen wollten.

Nach dieser Erzählung verließ Camilla uns wieder, denn sie musste die Probe fortsetzen.

Die Chormeisterin ließ ihre Musiker das Stück wieder und wieder proben, und während die Kapelle erneut von Musik durchdrungen wurde, gab ich mich der süßen Woge der Erinnerung hin.

Rossi! Das war also der eigentliche Name von Camillas verstorbenem Ehemann. Kein ähnlicher, wie ich anfangs geglaubt, sondern der gleiche Name wie der des Seigneur Luigi, Attos geliebten Lehrers in Rom und Mentors seiner Jugendjahre. Luigi Rossi hatte den blutjungen Kastraten Atto Melani mit nach Paris genommen und ihm als Protagonisten des Orfeo zu immensem Ruhme verholfen. Mit jenem großen Melodram hatte Kardinal Mazarin seine eigene Größe feiern wollen, die nichts über sich kannte als die mächtigen Gewalten des Himmels.

Als griffe er mein Stichwort auf, sang der Sopran:

Cielo, pietoso cielo …

Und wieder einmal kehrte ich im Geiste zu den Ereignissen vor achtundzwanzig Jahren in der Locanda des Donzello in Rom zurück. Dort, in den Mauern des Gasthauses, wo ich Abbé Melani kennengelernt hatte, war kein Tag vergangen, ohne dass ich nicht wenigstens einen Vers seines Seigneur Luigi Rossi gehört hätte, vorgetragen von Attos verblasster, aber immer noch leidenschaftlicher Stimme.

Zitternd vor Zorn erklang nun die Stimme der verlassenen Braut:

Un dardo, un lampo, un telo

Attenderò da te

Ferisci, arresta, esanima

Chi mi mancò di fé …

In meiner Erinnerung entströmte derweil ein Tremolo herrlicher Töne der Kehle des Abbé Melani; er besang das herzzerreißende Gedenken an seinen Lehrer (und noch andere Dinge, die ich mir nicht einmal vorzustellen vermochte), und fassungslos stand ich, ein unwissender Hausbursche, beim Klang dieser göttlichen Melodien, wie ich sie nie zuvor und auch später nie wieder gehört.

«Schließlich reisten wir auch nach Frankreich, nach Paris», nahm Camilla ihren Bericht wieder auf, als die Probe beendet war und wir zusammen zur Himmelpfortgasse zurückgingen.

Da man von der Kaiserlichen Hofkapelle zur Kärntnerstraße und von dort zum Kloster nur wenige Minuten braucht, gingen wir langsamen Schrittes, um Zeit für die Erzählung zu gewinnen.

«Der französische Hof befindet sich aber in Versailles», wandte Cloridia ein.

Hier lächelte Camilla ein wenig verlegen.

«Wir waren nicht bei Hofe. Franz wollte vor allem einen Menschen besuchen, den einzigen noch lebenden, der ihm etwas über seinen Ahnen erzählen konnte, einen Großonkel, ebenfalls Tonsetzer. Er war zu Lebzeiten sehr berühmt, starb aber verfrüht. Dann haben die Zeiten sich so rasch geändert, dass er heute in Vergessenheit geraten ist. In Rom konnte Franz niemanden finden, der sich noch an ihn erinnerte. Erst in Paris endlich …»

«Ihr sprecht vom Maestro Luigi Rossi, nicht wahr? Ist er Euer Vorfahre? Und es war Atto Melani, den Ihr in Paris besucht habt, oder? Also habt Ihr den Abbé kennengelernt?», bestürmte ich sie mit einer Folge aufgeregter Fragen, die schon längst Antwort gefunden hatten.

Ausgerechnet in diesem Moment wurden wir unterbrochen, da uns eine Gruppe vornehmlich junger Menschen entgegenkam.

Ich hätte es mir von Anfang an denken können, sagte ich mir, während ich der kleinen Menge auswich: Camilla war Atto begegnet. Es konnte nicht anders sein. Darum hatte der Abbé uns in die Himmelpfortgasse geschickt. In Paris hatte er Camilla kennengelernt und den Kontakt dann aufrechterhalten. Dank dieser Bekanntschaft verfügte er, wiewohl zwischen Frankreich und dem Reich ein Krieg tobte, über einen zuverlässigen Menschen in Wien, der Hauptstadt des Feindes. Hatte Atto nicht auch einen Brief an die Chormeisterin geschrieben, in dem er uns ausdrücklich ihrer Obhut empfahl, wie sie selbst uns bei unserer Ankunft berichtet hatte? Und das war nicht alles: Franz, der verstorbene Ehemann Camillas, war ein Neffe Luigi Rossis.

Unterdessen strömten die jungen Leute in den Hof eines Hauses: Es handelte sich um eine Andacht, eine jener frommen Zusammenkünfte zum Gebete vor den Statuen von Heiligen und Schutzpatronen, wie sie in Wien nach Sonnenuntergang überall stattfanden. Man sang, man betete den Rosenkranz und Litaneien und hörte eine Predigt. Das Ganze endete dann mit einer üppigen Mahlzeit aus Wurst und Semmelschnitten und einem Weinumtrunk. Zuletzt zogen die Pärchen sich zurück, um ungestört zu sein.

«Wann habt Ihr Melani gesehen?», fragten Cloridia und ich aus einem Munde, begierig, von unserem Wohltäter zu hören.

«Das war vor elf Jahren, im August 1700. Der ehrwürdige Abbé empfing uns wie ein Vater, ja herzlicher noch, er behandelte uns während unseres ganzen Aufenthalts in Paris mit unvergleichlicher Güte und Großzügigkeit. Sein Edelmut und seine Liebenswürdigkeit haben mich sehr gerührt. Als wir ihm unsere Geschichte erzählten, zeigte er sich so einfühlsam, dass er mich vollends für sich einnahm. Ich kenne niemanden, der dem Abbé Melani an Seelenadel gleichkommt!»

Camilla sang ein übertriebenes Loblied auf Atto. Umso besser für sie, sagte ich mir, dass sie den Abbé nur von seinen edelsten Seiten kennengelernt hatte …

«Melani erzählte uns, er sei soeben aus Rom zurückgekehrt, wo er an der Hochzeit des Neffen des Kardinalstaatssekretärs teilgenommen hatte. Er wollte bis zum Konklave bleiben, aber eine böse Verletzung am Arm hatte ihn gezwungen, nach Paris zurückzukehren.»

Im Weitergehen blickten Cloridia und ich uns an, ohne ein Wort zu sagen. Wir kannten diese Geschichte nur zu gut, da wir sie zusammen mit Atto erlebt oder, besser gesagt, erlitten hatten. Er war durch ein Messer am Arm verletzt worden, das war richtig – aber ein ganz anderer Grund hatte ihn gezwungen, aus Rom zu fliehen! Doch wir schwiegen. Wir hatten durchaus nicht die Absicht, Camilla das weniger lautere Gesicht desjenigen zu enthüllen, der uns mehr als einmal betrogen und ausgenutzt hatte, nun aber unser Wohltäter geworden war.

«Der Abbé sprach uns also von seinem Lehrer Luigi Rossi, dem Vorfahren von Franz.»

Melani hatte die Gestalt des Seigneur Luigi für sie und Franz mit ergreifender Genauigkeit zum Leben erweckt. Mehrmals drohte Atto dem Andrang seiner Tränen zu erliegen, und nur die Achtung vor Camilla, einer jungen, anmutigen Dame, hatte ihn zurückgehalten. Er hatte von dem Ruhm erzählt, den Luigi Rossi sich vor vielen Jahren in Rom im Dienste der Barberinis erwarb, dann von seinen Erfolgen am Hof des Königs von Frankreich. Er hatte berichtet, wie Rossis berühmte Kantate anlässlich des Todes Königs Gustav Adolf von Schweden Bewunderung in ganz Europa erregte und wie sein Orfeo, worin die Arien zum ersten Mal länger dauerten als die Rezitative, der Oper ein neues Gesicht verlieh. Luigi Rossi war ein freundlicher, höflicher Mensch von scharfem Verstande, aus seiner Feder floss ewig frische Poesie und inspirierte Musik; und in Rom wie in Paris hatte man ihm applaudiert wie keinem italienischen Musikus zuvor.

Atto, fuhr die Chormeisterin fort, durchlebte mit ihnen nicht nur Rossis Erfolge und Momente der Freude, sondern auch jene der Trauer, die ein halbes Jahrhundert zurücklagen. Er erzählte, wie die Nachricht von der Erkrankung der jungen Costanza, der wunderschönen Gemahlin seines Seigneur Luigi und Harfenistin der Barberini, just dann eintraf, als die beiden Männer zusammen in Frankreich weilten, im Dienst des Kardinal Mazarin. Und nichts hatte die überstürzte Rückreise nach Rom vermocht, während der Rossi die so überaus edlen Verse Speranza, al tuo pallore / so che non speri più, / eppur non lasci tu / di lusingarmi il core3* vertonte.

Denn noch während der Fahrt erreichte ihn die Meldung vom Tode seiner Frau, und das war der Moment, als er die elegische Passacaglia Poi che mancò la speranza4** komponierte.

«Ein Unglück, das ihn selbst ins Grab bringen sollte», schloss die Chormeisterin betrübt.

Sie fügte hinzu, Atto habe ihr sogar die handgeschriebenen Tabulaturen mit den Arien seines Maestros gezeigt.

«Dann sagte Franz dem Abbé, dass wir planten, uns in Rom oder in Paris niederzulassen, jenen Städten, in denen Luigi Rossi gelebt hatte. Doch Melani riet uns ab. Im Gegenteil, er empfahl uns, nach Wien zurückzukehren, er sagte, dies sei nunmehr die Hauptstadt der italienischen Musik, denn in Rom und auch in Paris sei die musikalische Kunst am Ende. In Rom habe Papst Innozenz XL sie schon vor Jahren getötet, als er die Theater schloss und den Karneval verbot, und außerdem sei das Papsttum inzwischen im Niedergang begriffen. In Paris aber sei jetzt, da sich der Sonnenkönig Madame de Maintenon, dieser alten Betschwester aus dem Pöbel, hingebe, alles, sogar die Musik, grau und bigott geworden.»

Abbé Melani, so dachte ich bei den Worten der Chormeisterin, wusste, als er diese Ratschläge erteilte, sehr genau, welche Ereignisse binnen weniger Monate folgen würden. Der König von Spanien, Karl II., lag im Sterben, und bei seinem Tode würde sein Letzter Wille verkündet werden (dessen Inhalt – oh, ihr Götter! – Atto bereits kannte). Er wusste recht wohl, dass aufgrund des Testaments unvermeidlich der Streit um den spanischen Thron entbrennen würde, der schreckliche Krieg, der ganz Europa befallen sollte, insonderheit Italien, den Schauplatz der Kämpfe, und Frankreich, das sein eigener König ausbluten ließ. Der Rat des Abbés war also im höchsten Maße vorausschauend: Wien, die erhabene, von der Göttin des Überflusses geküsste Kaiserstadt, war die einzig sichere Zuflucht.

Und so, wie ich den alten Spion des Sonnenkönigs kannte, hatte gewiss auch die Überlegung nicht gefehlt, dass es sich als nützlich erweisen konnte, in Kriegszeiten zwei treue Freunde wie Camilla und Franz in einer feindlichen Hauptstadt zu besitzen …

«Aber gerade zu der Zeit wurde Franz krank», erzählte Camilla unterdessen weiter. «Er litt unter fortwährenden Anfallen von Lungensucht. Sich wieder nach Wien zu begeben, hätte tödlich für ihn sein können. Wir kehrten also nach Italien zurück, wo wir von einem Hof zum nächsten zogen. Mein armer Gemahl fürchtete nicht nur um sich, sondern auch um mein Schicksal. Darum beschloss er, als im Jahre 1702 der Erbfolgekrieg ausbrach, endlich den Rat Atto Melanis zu befolgen, und wir kehrten hier nach Wien zurück, wo ich, hätte ein Unglück mich nicht zur Einsamkeit verdammt, leichter mein Auskommen hätte finden können.»

Franz de’ Rossi, setzte sie die Erzählung fort, war sofort wieder in den Dienst Josephs I. getreten und hatte seine Gattin bei den Hofmusikern eingeführt, wo sie sich alsbald das Vertrauen des künftigen Kaisers erwarb.

«Des Kaisers?», fragte ich bewundernd.

«Wie allgemein bekannt, ist Ihro Kaiserliche Majestät ein Mann von hohem Musikverstand und estimiert all jene, die ihm mit Eifer und Liebe dienen und ihn in seiner Leidenschaft für die Kunst der Klänge zu befriedigen trachten», erwiderte Camilla. «Timore et amore

«Wie bitte?»

«Das ist sein Motto. Es erklärt, mit welchen Waffen er regieren möchte: mit Furcht und Liebe. Timore et amore», skandierte aufs Neue die Chormeisterin und gab damit zu verstehen, dass sie mehr nicht zu sagen beabsichtigte. Dann kehrte sie zur Geschichte ihrer Ehe zurück.

Franz de’ Rossi, der Nachfahre des Seigneur Luigi, verschied im neblichten Morgengrauen des 7. Novembers 1703 im Niffischen Hause an der Wollzeile, direkt hinter dem Stephansdom. Er wurde nur vierzig Jahre alt.

«Ich blieb allein auf der Welt. Meinen Vater habe ich leider nie gekannt, und meine teure Mutter», fügte sie mit veränderter Stimme hinzu, «die bei meiner Rückkehr wieder zu umarmen ich glühend ersehnte, starb, als ich weit fort war.»

«Auch meine Mutter ist in der Fremde gestorben», sagte Cloridia.

Ich zuckte zusammen und Camilla ebenfalls. Cloridia sprach aus eigenem Antrieb von ihrer Mutter.

«Zumindest glaube ich, dass sie inzwischen tot ist. Wer weiß, wann, wer weiß, wo sie gestorben ist», schloss sie mit düsterer Stimme.

Die Chormeisterin nahm Cloridias Hand in ihre Hände.

«Ich besaß einen Anhänger an einer Halskette», sagte Camilla langsam, «ein kleines Herz in Goldfiligran mit Miniaturen von mir und meiner Schwester als kleine Mädchen, doch leider ist es in dem Haus geblieben, in dem meine Mutter starb, und, ach, ich habe es nie wiederbekommen.»

«Eure Schwester? Und wo ist sie jetzt?», fragte ich.

«Ich habe sie nie kennengelernt.»

Obgleich wir langsamen Schrittes gegangen waren und alle sich bietenden Umwege genommen hatten, standen wir nun vor dem Kloster der Himmelpfortgasse.

«Ich bitte Euch, härmt Euch nicht wegen trauriger Erinnerungen», ermunterte sie uns mit einem Lächeln, bevor wir uns trennten. «Euch erwarten in den nächsten Tagen sehr frohe Stunden!»

Während Camilla in Richtung des Dormitoriums verschwand, tauchten aus dem abendlichen Halbdunkel zwei Gestalten auf: ein junger Edelmann und sein Diener. Sie schritten auf den Flügel des Klosters zu, wo sich eine zweite Gästewohnung befand. Der Edelmann sagte zum Diener:

«Denkt immer daran: Die Raben kommen in Scharen, der Adler fliegt allein.»

Ich zuckte zusammen. Diesen Satz kannte ich. Ich hatte ihn vor vielen Jahren von Atto gelernt. Den ganzen Abend lang hatte ich an den Kastraten gedacht, und jetzt schien er mir zu antworten. Wer weiß, vielleicht hatte Melani den Satz von Kardinal Mazarin gehört, und darum war er vielen geläufig. Vielleicht kannte auch dieser Edelmann Camilla und hatte den Satz von ihr gehört, die ihn wiederum von Atto hatte. Schluss, das war zu viel des Spintisierens. Eines musste man freilich anerkennen: Es war eine jener Maximen, die man nie vergisst und gerne wiederholt.

In unserem Zimmer schickte Cloridia sich zum Schlafen an, während ich endlich das tat, wonach es mich seit der Rückkehr vom Ort Ohne Namen gelüstete: in den Büchern und Schriften über Joseph I. zu blättern, die ich bei meiner Ankunft in Wien erworben hatte. Hier suchte ich Antwort auf meine Fragen. Warum wollte der Erhabene Kaiser den Ort Ohne Namen restaurieren lassen, ungeachtet der Kette aus Racheakten, die diese Stätte umgab? Das traurige Los seines Vorgängers Maximilian II. und die um das Neugebäu entbrannten Kämpfe zwischen Christen und Gegnern der Christenheit hatten dazu geführt, dass sich die Habsburger seit anderthalb Jahrhunderten den starken Pressionen derjenigen beugten, die das Monument der Niederlage gegen Süleyman dem Verfall preisgeben wollten. Nicht so Joseph der Sieghafte. Warum? Was bewegte ihn?

Nachdem ich gleich zu Beginn die im knorrigen Teutsch verfassten Schriften beiseitegelegt hatte, entdeckte ich bald eine Reihe italienischer Panegyriken. Ich schlug den ersten auf: Lobpreisung der Fama und der Donau auf den Tag des Glorwürdigen Nahmens des Hocherhabenen Kaysers Joseph. Poema für Musik, gewidmet Ihrer Exzellenz, dem Herrn Grafen Josef von Paar, Großer Haushofmeister Ihrer Kayserlichen Majestät, komponiert vom Unterzeichneten, dem Akademisten Acceso Gelato, anlässlich des Namenstages des Herrschers im Jahre 1706. Ich begann, aufs Geratewohl in diesem Lobgedicht zu lesen, einem Dialog zwischen der Donau und der Fama:

Donau: Bedrängnis

Tyrannis

Aus Österreich ihr ziehet

Ernste Gedanken

Erbittertes Zanken

Aus Österreich ihr fliehet.

Die Glorie florieren

Sieht man allhier

Man soll jubilieren

Ob dieses Tags Zier.

In dunklen Forsten

Auf sonnigen Höhn

Ein wohlklingend Flor

Bildt zum Namensfest der Engelein Chor

Fama: Des JOSEPHs Namen an diesen Küsten

Hört freudig man widerhallen

Bei seinem Namen ist es, als müssten

Wellen und Lüfte

Anmutige Düfte

Mit frohem Gewisper aufwallen.

Trotz der geringen Qualität der Reime erinnerte mich der einfältige Lobeshymnus daran, wie die Verehrung für Joseph I., die recht bald in meinem Herzen gewachsen war, umso größer wurde, je mehr Einzelheiten ich über seinen menschlichen Wert erfuhr: unendliche Güte, Großherzigkeit, Freigebigkeit und Liebe zur gerechten Sache waren seine natürlichen Gaben; mit Achtsamkeit und Milde fasste er auf, erwog, entschied und sprach Urteile; sein Mut war unvergleichlich, da er ohne Rücksicht auf Witterung, Jahreszeit und Gefahr zur Jagd ausritt, wenn auch die kühnsten Höflinge sich versagten, ihn zu begleiten, ja, er sich manchmal sogar von der Leibgarde trennte und allein oder nur mit einem einzigen Gefährten wieder vor den Stadttoren auftauchte.

Im Laufe der Zeit hatte ich von den Bewohnern der Häuser, deren Rauchfänge ich kehrte, oder von den Gästen in Wirts- und Kaffeehäusern immer neue Erzählungen über die Güte Ihrer Kaiserlichen Majestät gehört. Er sei so großherzig, sagten sie, dass der, welcher als Erster eine Gunst von ihm erbitte, sie als Erster erhalte: Joseph konnte sich nicht entschlagen, den Bedürftigen etwas zu verweigern. Allen gab er ohne Rücksicht, wobei er nicht nur aus der Kaiserlichen Schatzkammer, sondern auch aus seiner privaten Kasse schöpfte und sich damit häufig in die peinlichste Notlage brachte.

Doch keine Erzählung konnte es mit dem Eindruck aufnehmen, den ich selbst mit eigenen Augen gewonnen hatte, als ich ihn zum ersten Mal erblickte.

Es war vor kaum zwei Monaten gewesen, im Februar, als man für die Karnevalsfeiern den alten Brauch der Prachtschlittenfahrt, einen feierlichen Ausflug des Kaisers und seines Hofstaats, wiederbelebt hatte. Das von Joseph selbst angeführte kaiserliche Gefolge zählte einundfünfzig, die Adeligen in Schlitten und Diener zu Fuß oder zu Pferde über hundertdreißig Personen.

Die Schlitten waren in anmutigen Formen geschnitzt, Schwäne, Muscheln, Bären, Adler und Löwen; doch der prächtigste, der an jenem Morgen leer durch die Stadt gezogen wurde, damit das Volk ihn bewunderte, war der Schlitten des Kaisers und seiner Gemahlin: an der Vorderseite eine herrliche Intarsia aus Kupfer, ein kapitales Werk von Goldschmieden, Ebenisten und Vergoldern; an den Seiten zwei flötenspielende Faune, die atemberaubend echt wirkten, goldbestickte Decken aus Hermelinfell, die das kaiserliche Paar wärmten; an der Rückseite vergoldete Standarten mit dem Wappen der Habsburger und des Reichs. Im Gefolge zeigten sich andere Fahrzeuge in Gestalt der Venus, der Fortuna, des Herkules und der Ceres, darin sich adelige Paare verbargen. Umhüllt von Schals und Steppdecken, gaben sie sich vielleicht einem heimlichen, warmen Kusse hin.

Nach einer langen Rundfahrt durch die Kärntnerstraße und angrenzende Gassen machte der Zug vor dem Stephansdom halt. Joseph stieg aus, um in der Kathedrale ein Dankgebet zum Allerhöchsten zu sprechen, begleitet von seiner Mutter, der Königswitwe Eleonore Magdalene Therese, seiner Gemahlin, der regierenden Königin Amalia Wilhelmine, den beiden Töchtern Maria Josepha und Maria Amalie und den Schwestern Maria Elisabeth und Maria Magdalena. Die Kaiserliche Familie schritt langsam auf das Kirchenportal zu und präsentierte sich freundlich der Menge. Denn den Kaisern des Hauses Habsburg ist es nicht nur eine Pflicht, sich dem Volke zu zeigen: Gerne sogar kommen sie dem Wunsch entgegen, bewundert und aus der Nähe gesehen zu werden. Auch aus diesem Grunde begab die Kaiserliche Familie sich häufig zur öffentlichen Messe in eine der Kirchen Wiens oder der Vorstädte, ging bei Prozessionen mit oder nahm – während der Fastenzeit – am traditionellen Kreuzweg auf dem sogenannten Kalvarienberg in Hernals teil, wo eine Kirche steht, die darob Kalvarienbergkirche genannt wird.

Cloridia und ich hatten uns nach Kräften vorgedrängelt, um einen Platz in der Menge vor dem Stephansdom zu ergattern, doch das irrwitzige Gewühl hatte uns die Sicht verwehrt. Also waren wir, noch bevor die Kaiserliche Familie wieder aus dem Dom trat, bereits zur Hofburg gelaufen, in deren großem Innenhof der Zug enden würde, wie wir wussten.

Hier hatten die Vorausschauenden sich schon ein Plätzchen gesichert: in Gruppen auf dem großen Hof zusammengedrängt, Säulen erklimmend oder, wenn sie noch Kinder waren, auf den Schultern der Väter hockend. Auch auf die Gefahr hin, nur einen flüchtigen Blick zu erhaschen, beschloss ich, mich vor dem Schlund des dunklen Eingangstores zu postieren, durch welches das kaiserliche Geleit einziehen würde.

In dem großen Innenhof der Residenz fiel der Schnee in dichten, aber feinen Flocken, die Dächer der Hofburg strahlten geisterhaft in hellem Weiß. Inmitten einer Schar frierender Zuschauer, das Gesicht vor dem kalten Wind schützend, wartete auch ich auf die Ankunft der Prozession.

Dann war der Augenblick gekommen: Durch das große Portal hörte ich das Klingeln der Schlittenglöckchen, und zwei Diener mit dem Kaiserlichen Wappen tauchten auf, die dem Zug vorausliefen, gefolgt von einem zweiten Paar und noch weiteren. Schließlich erschien das erste Gespann weißer Pferde mit feuerrotem Zaumzeug, den Rücken mit künstlichen Adlerflügeln geschmückt. Sie zogen den Schlitten, darin Er Höchstpersönlich, der Kaiser, des Frostes nicht achtend, aufrecht saß.

Er schien mir nie enden zu dürfen, jener Augenblick, da ich ihn erblickte, wenige Schritte von mir entfernt, und seine erhabene Gestalt prägte sich mir reizend für immer in die Seele und tief in meinen Geist.

Hoch und wohlgeformt die Stirn, rotblond das Haar, markant die Nase, die schöne Gesichtsfarbe gerötet von der Peitsche des Frostes, groß und fleischig der zu einem Lächeln geöffnete Mund, ein Geschenk für jeden von uns in der ununterscheidbaren Masse – das ist es, was ich zuvörderst von ihm sah, das ist es, was meine zur Verehrung schon geneigte Seele wie ein Blitzstrahl traf. Während ich ihn in solcher Weise bewundernd betrachtete, umarmten die großen Augen, aus denen die süße Bläue der Jugend leuchtete, und die heiter gebogenen Brauen mit einem einzigen Blick uns alle. In dieser Handvoll Sekunden konnte ich auch seine nicht übergroße und wohlproportionierte Statur erahnen, die starken Schultern, den freien, entschlossenen Schritt.

Er hatte mich erobert und Cloridia mit mir. Von diesem Moment an wandelte sich meine Zuneigung zu dem jungen Herrscher in leidenschaftliche Anhänglichkeit und Treue. Noch in die Betrachtung seiner Gestalt vertieft, sagte ich mir, dass ein derart vorzüglicher Spross das vollkommene Bild der heroischsten Tugenden sei, deren sich Ägypten mit seinem Vexori, Assyrien mit seinem Nino, Persien mit seinem Cyrus, Griechenland mit seinem Epaminondas und Rom mit seinem Pompeius rühmen durften. In nicht einmal sechs Jahren Regentschaft hatte er neunundzwanzig Siege davongetragen! Und mit welch unermüdlichem Eifer hatte er bei den berühmten Belagerungen Landaus gekämpft! Das Wagnis der Kühnsten galt vor ihm nur als Halbherzigkeit, die Kampfeslust der Veteranen erschien ihm als Trägheit, da in seiner Brust ein rasendes Verlangen nach Ruhm glühte, welches, in die kriegerischen Herzen der Germanen gepflanzt, gut zweimal den raschen Triumph an einer so bedeutenden Stätte herbeigeführt hatte, ob sie gleich mit mutiger Beharrlichkeit von den Tapfersten unter den Franzosen verteidigt worden war. Nicht einmal dem Durchlauchtigsten Prinzen Eugen war es gelungen, sie zu erobern! Wahrlich, die Siege des Erhabenen Joseph I. hatten ihresgleichen nur in denen des Altertums: jener des Königs Cyrus gegen Krösus, wodurch er das riesige lydische Reich eroberte; der Sieg des Themistokles gegen Xerxes, die Rache Griechenlands für die grausamste Sklaverei, nachdem es von einer Million bewaffneter Barbaren unterdrückt ward; jener Hannibals gegen die Römer bei Cannae, welcher den Ort der Schlacht für alle zukünftigen Jahrhunderte zum geflügelten Wort für eine vernichtende Niederlage machte; und schließlich der blutige Sieg Karls V. auf den Feldern von Pavia, bei dem Franz I., der Verwegenste jenes Jahrhunderts, bezwungen wurde. Recht betrachtet, sagte ich mir, nunmehr emporschwebend zu den Gipfeln der Bewunderung, waren die Triumphe Josephs des Sieghaften all diesen Heldentaten überlegen. Welcher der Römischen Kaiser konnte sich während seiner ganzen Regentschaft so überwältigender Erfolge rühmen wie er in nur drei Jahren? Seine Siege waren allenfalls jenen Cäsars gegen Pompeius, Vespasians gegen Vitellius oder Konstantins gegen Maxentius zu vergleichen, sämtlich denkwürdige Schlachten mit entsetzlichem Blutzoll und seltene Exempel dank des Heldenmuts der Soldaten, der Vielzahl der Legionen und der Erbarmungslosigkeit auf beiden Seiten.

Während ich mich so in meinem Räsonnement verlor, war der lange Zug der Schlitten in den mit Hunderten von Fackeln erleuchteten Innenhof der Residenz eingefahren und beschrieb nun feierliche Kreise von einer Seite des Platzes zur anderen, derweil das Volk applaudierte und seinem Jubel freien Lauf ließ.

Die Freude über unser neues Leben in der opulenten Hauptstadt jenseits der Alpen, der stille Zauber des fallenden Schnees, in dessen Gefolge hier, anders als in Rom, die tristen Klageweiber Armut und Hunger fehlten; die Lust auch an der Pracht des Kaiserlichen Hofes, welche hier – im Gegensatz zu jener von Versailles und des päpstlichen Hofes – kein Schlag ins Gesicht des notleidenden Volkes war, da jeder Arme in Wien wöchentlich zwei Pfund (zwei Pfund!) Fleisch erhielt, nun, all dies bewirkte, dass mein Weib und ich uns beglückt umarmten.

Resurrexit, sicut dixit, alleluia!

So lautete ein Vers aus der Arie des von Joseph I. selbst komponierten, herrlichen Regina Codi, dem wir immer wieder gerne in den Wiener Kirchen lauschten; und so jubelte unsere Seele angesichts der unerwarteten Auferstehung zu neuem Leben.

Tränen der Freude und des Überschwangs zurückhaltend, schenkten wir an jenem Tag unsere Herzen dem jungen Kaiser, der Verkörperung unserer Wiedergeburt in diesem großen, von grünenden Hügeln und üppigen Weinbergen umgebenen, unvermuteten Füllhorn, welches die Stadt Wien für uns war.

Ich hatte mich von süßen Erinnerungen ablenken lassen. Zerstreut kehrte ich zur Lektüre des Preisgedichts zurück:

Donau: Beim Blitz seiner Schwerter,

Fama: Im Glanz seines Ruhmes

Donau und Fama: Verdorren die lichten Blüten …

Donau: Und diesen Blüten zur Schmach,

Dem feindlich Regenten zum tiefen Gram

Schwindet den Baiern und Pannoniern

Der Hochmut, wiewohl noch infam.

Fama: O Kaiser, du hast mit Jupiter

Dein Reich geteilt,

Und mit Mars den Lorbeer

In der schönen Blüte deiner Lenzen,

Höre, dir zum Jubel angestimmt,

Meiner Posaune tönend Schall

Öffne dein Herz der Freude ohn Grenzen …

O ja, sogar in diesen öden Versen steckte Wahrheit. Um gefürchtet zu werden, hatte Joseph sich Mars erwählt, denn der Krieg, dessen harter Klang niemals allzu weit von Wien entfernt war, hatte ihn von seinen ersten Lebensjahren an begleitet. Doch dem Mars der Lobeshymne musste man noch eine andere Gottheit zugesellen, und das war Venus.

Joseph hatte die Göttin der Liebe schon früh, in zartem Alter, kennengelernt, und das konnte anders nicht sein, da Mutter Natur ihn sehr großzügig beschenkt hatte. Mit vierundzwanzig war er schön, stark und so gut gewachsen wie seine robuste deutsche Mutter. Er trug keine einzige Spur des grässlich vorstehenden Kinns und des hängenden Mundes, welche seine Vorfahren seit Jahrhunderten entstellten, auch den Vater Leopold und den Bruder Karl, den derzeitigen Anwärter auf den spanischen Thron. Umgeben von den Missgestalten des Hauses Habsburg, ragte Joseph wie ein Schwan unter den hässlichen Enten hervor.

Die Frauen (Prinzessinnen, Hofdamen, schlichte Mägde) lieben den, der sich zu unterscheiden weiß, und er belohnte sie gerne des Nachts, eine nach der anderen, mit angemessenen Mitteln.

Und wie gewandt er war! Eloquenz, Brio und Phantasie – nichts fehlte ihm. Die Musen selbst waren ihm zu Hilfe gekommen und hatten ihre Talente über ihm ausgegossen. Der König von Frankreich kannte keine einzige Fremdsprache. Joseph sprach deren sechs, als wären sie seine Muttersprachen. Mit sieben Jahren schrieb er tadellos auf Französisch, mit elf auf Latein, und sechzehnjährig konnte er beide Idiome flüssig sprechen, außerdem Italienisch, und das mit guter Aussprache. Zwei Jahre später beherrschte er Tschechisch und Ungarisch. Er besaß viel Geschick für Musik und Komposition und spielte virtuos die Flöte. Seinen Körper stählte er mit Leibesübungen, durch die Jagd und die militärischen Disziplinen.

Ich griff nach dem zweiten Panegyrikus von einem gewissen Gian Battista Ancioni: «Josephi I., König von Teutschland und Röm. Kayser, gedruckt zu Wien in Österreich bey Gio. Van Ghelen, Italiänischer Hofbuchdrucker Ihrer Kayserlichen Majestät, Anno Domini 1709 Unter einem Stich mit der schönen Büste Josephs stand geschrieben: Tibi militat Aether: «Der Himmel kämpft an deiner Seite.»

Ich blätterte eilig, und bald fand ich die Aufzählung der kriegerischen Taten Josephs und seiner Generäle und Verbündeten. Der Autor wandte sich direkt an den Kaiser:

Auf gleicher Stufe mit den antiken stehen anjetzo die grossen Siege, welche Eure unüberwindlichen Heere und jene der Verbündeten, angeführet von den zwey Blitzen des Mars, Eugen und dem Hertzog von Marleburgo, auf den Feldern von Höchstädt über die Frantzosen errungen. Dank dieses unbesiegten Helden aus Gross-Brittannien ward bei dem großen Gefechte von Giudogna der grösste Theil Flanderns erobert, und dank des edelmüthigen Geistes von Karl dem Dritten wurden mit sonderlicher Furchtlosigkeit und Tapfferkeit die äussersten und verderblichsten Gefahren der Belagerung von Barcellona ertragen, so dass mit einem Siege ohngleichen gantz Katalonien befreit ward durch die eilige Flucht der zu Thode erschrockenen Feinde.

Aber in der wunderbaren Befreiung von Turin that sich der unübertreffliche Werth Eurer Armaden kundt, und hell strahlte die Glorie Eures Glückes. Der memorablen Standhafftigkeit der Sagontini gleich war die heftigliche Verteidigung dieser trefflichen Stadt, welche viel Monate lang mannhafft den frantzösischen Waffen trutzte. Allein, die wilde Gewalt der wiederholten Angriffe, die grosse Menge der Truppen, so sie umgaben, der Mangel an Munition, imgleichen an Verteidigern und die Schwierigkeiten jedweder Hilfe von aussen hatten die Verteidigung dieser so starcken & erhabnen Stadt aufs Äusserste erschöpft. Alsdann zog der höchlich gewitzigte Eugen samt Euren furchtgebietenden Legionen gen Süden, mit dem belagerten Turin das gantze freie Italien zu rächen wie ein zweiter Bellisario, und er überquerte nicht nur die entsetzlichen Gebirge Teutschlands und Italiens, sondern zog in langer Wanderung über die Etsch, den Po, die Dora & die an mannigfaltigsten Gefahren reichsten Gegenden gantz Italiens, immerfort bedrängt von einem starcken Heer der Frantzosen, und gelangte mit unglaublicher Schnelle vor das Angesicht Turins, und nachdem er sich mit dem wackeren Hertzog von Savoyen vereinigt, griffen beyde mit so gewaltiger Wuth die verschanzten Armeen der Frantzosen an, dass die wilde Attacke der Teutschen ein Gemetzel, nicht einen Kampff anzukündigen schien, und so grässlich waren die Confusion, der Schrecken und der Tod in diesem grossen Gefechte, dass die Feinde keinen andren gemeinsamen Gedanken hatten als nur den Sturz in den Abgrund, die Versprengung und die Flucht; dessenthalben Turin durch ein ungeheures Blutbad und Gefangenschafft der Franzosen befreit ward, und es zerstreuten sich in wenigen Monaten die frantzösischen Militzen in allen italiänischen Landen, und mit der Eroberung von Mailand gewann das Kayserliche Heer die gantze Lombardei & allzugleich bemächtigten sich Eure Waffen mit unglaublicher Raschheit des blühenden Reiches von Neapel, und Italien kehrte zum ursprünglichen Zustande der allsosehr ersehnten Freiheit zurück.

Ich schloss die Schrift mit dem Loblied. Was sagten mir diese, freilich recht pompösen, Zeilen über den Erhabenen Kaiser? Dass Joseph der Sieghafte sich nur allzu sehr von Maximilian dem Mysteriösen unterschied. Hier die Sanftmut, dort das glühende Soldatentum, im Ahnen das nachdenkliche Wesen, im Nachfahren das resolute Naturell. Das Leben Josephs schien sich bis jetzt in der Geschichte seiner Feldzüge und siegreichen Eroberungen zu erschöpfen.

Und doch einte etwas die beiden Imperatoren, den jungen Kaiser und seinen Vorfahren: Ersterer holte jetzt den Ahnen und den Ort Ohne Namen aus einem jahrhundertelangen Vergessen hervor, als wäre dies ein neuer Feldzug, mit Architekten statt mit Generälen geführt. Indem er seinen wohlwollenden Blick auf die Schöpfung Maximilians II. richtete, zog Joseph mit gezücktem Spaten gegen zeitlose Feinde ins Feld und forderte uralten Groll gegen das Reich der Christen heraus. Ein nie besänftigter Groll, wie der verheerende Überfall der Kuruzzen auf das Neugebäu vor wenigen Jahren gezeigt hat.

Fast sah ich ihn vor mir, wie er, angetrieben von dem Kleinmut seiner Vorväter, den bestürzten Baumeistern ankündigte, dass er nach den Erweiterungsarbeiten des Jagdschlösschens Schönbrunn den Ort Ohne Namen in seinem alten Glanze wiederherzustellen gedachte. Wer weiß, ob er ihm auch endlich einen Namen geben würde.

Erst in diesem Moment fiel mir ein, dass ich bei meinen beiden Besuchen des Ortes Ohne Namen keine Spur eines anderen Menschen gesehen hatte, der mit den Restaurierungsarbeiten betraut wäre. Nicht einmal Frosch hatte davon gesprochen, im Gegenteil, er schien von den Plänen des Kaisers gar nichts zu wissen. Vielleicht hatten auch die Baumeister und Zimmerleute es vorgezogen, die Schneeschmelze abzuwarten, sagte ich mir. Vielleicht würden auch sie in den nächsten Tagen eintreffen, um mit den Arbeiten zu beginnen.

Mich überkam große Müdigkeit, denn es war schon spät. So nahm ich mir vor, meine Lektüre über Joseph I. in den nächsten Tagen zu beenden. Ich wusste nicht warum, doch ich ahnte, dass sich in diesen alten Zeitungen, diesem wertlosen Papierkram, die Antwort auf meine Fragen nach dem Ort Ohne Namen verbarg.

23. Stunde, wenn man in Wien schläft (während in Rom das schändlichste Treiben anhebt)

Seit einigen Stunden schon lag ich in den Federn, ohne jedoch Schlaf zu finden. Es war mir nicht gelungen, mich von meinen Gedanken an den Ort Ohne Namen und den Erhabenen Herrscher zu lösen; von ihnen hatte mein erschöpfter Geist sich dem Fliegenden Schiff und seinem geheimnisvollen Steuermann zugewandt und war schließlich bei Seigneur Luigi angekommen, bei den von Atto tirilierten Arien Luigi Rossis, welche ich nie vergessen und welche nun wie eine flinke Beute eine nach der anderen im Wald meiner Erinnerungen jagte. Wie klang noch dieses Arpeggio, jene kühne Modulation, wie lautete jener Vers?

Ahi, dunqu ’è pur vero …5*

Plötzlich vernahm ich ein Geräusch. Es kam aus dem Korridor des Kreuzgangs. Jemand war offenbar übel gestolpert. Eine der Nonnen des Himmelpfortkonvents konnte es nicht sein: Das Dormitorium lag weit vom Gästehaus entfernt. Neben den unseren befand sich nur das Zimmerchen von Simonis. Doch der Grieche wusste genau, dass die Handwerksgesellen bei Strafe eines stattlichen Bußgeldes vor neun oder spätestens zehn Uhr abends heimkehren mussten. Er war überdies immer pünktlich gewesen. Noch heute Abend hatte ich ihm nach den Proben für den Heiligen Alexius einen kurzen Besuch abgestattet, damit wir uns für den nächsten Tag verabredeten, und ihn in seiner Kammer über die Studienbücher gebeugt vorgefunden. Am folgenden Montag endeten nämlich die Osterferien, und die Alma Mater Rudolphina, also die Universität Wien, würde ihre Tore wieder öffnen.

Wieder ein Geräusch. Bedacht, meine Lieben nicht zu wecken, kleidete ich mich an und ging hinaus. Ich war noch nicht im Kreuzgang angelangt, als ich die Stimme schon erkannte.

«… Und den Lorbeerkranz … ah, da ist er ja!», hörte ich ihn erregt wispern. Er sammelte einige Gegenstände ein, die ihm offenbar aus einem großen Leinensack gefallen waren.

«Simonis! Was tust du hier draußen zu dieser Stunde?»

«Äh … also …»

«Um diese Zeit müsstest du schon lang in deinem Zimmer sein, du kennst die Vorschrift», tadelte ich ihn.

«Verzeiht, Herr Meister, ich muss gehen.»

«Ja, ins Bett, und zwar schnell», entgegnete ich ärgerlich.

«Heute Abend findet eine Deposition statt.»

«Eine Deposition?»

«Ich gebe den Schoristen, ich darf nicht fehlen.»

«Den Schoristen? Aber was faselst du da?»

«Ich flehe Euch an, Herr Meister, ich darf nicht fehlen.»

«Was hast du da?», fragte ich und zeigte auf seinen Mantelsack, in dem sich etwas regte.

«Hm … eine Fledermaus.»

«Was? Und was willst du damit machen?», fragte ich zunehmend bestürzt.

«Die brauche ich, um nicht einzuschlafen.»

«Nimmst du mich auf den Arm? Willst du dir ein Bußgeld einhandeln? Du weißt genau, dass …»

«Ich schwöre es, Herr Meister: Wenn man eine Fledermaus dabeihat, schläft man niemals ein. Man kann aber auch ein paar Kröten vor Tagesanbruch fangen und ihnen die Augen ausstechen, dann hängt man sich ein Fläschchen aus Hirschleder um den Hals und tut die Krötenaugen und das Fleisch von Nachtigallen hinein. Das funktioniert genauso gut, aber mit der Fledermaus ist es einfacher …»

«Es reicht», sagte ich angewidert, während ich meinen wunderlichen Gehilfen an einem Arm fortzog.

«Ich flehe Euch an, Herr Meister! Ich muss gehen. Ich muss. Sonst verweisen sie mich der Universität. Wenn Ihr mit mir kommt, werdet Ihr verstehen.»

Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, war Simonis’ Stimme aufrichtig betrübt. Ich begriff, dass es sich um eine Sache von größter Wichtigkeit handeln musste, und beschloss, dass ich um nichts in der Welt Gefahr laufen wollte, ihn durch meine Schuld von der Alma Mater Rudolphina verwiesen zu sehen. Außerdem wusste ich, dass ich zu diesem Zeitpunkt ohnehin keinen Schlaf mehr finden würde. Den Rest besorgte die Neugierde.

Der Versammlungsort war eine alte Wohnung in der Nähe des Schottenklosters. Nach Simonis’ Aussage hatten einige seiner Studienkameraden sie gemietet. Kaum waren wir eingetreten, schien mir, als hätte ein Magier der Zeit mich in ein falsches Jahrhundert versetzt. Der Raum war voll junger Männer, allesamt wie alte Römer gekleidet. Sie trugen Toga und Pallium, Lorbeerkränze und an den Füßen Ledersandalen. Einige hatten Schriftrollen in der Hand, die alte Pergamente darstellten. Das Einzige, was die ganze Schar mit der heutigen Zeit verband, waren die zahllosen Bierkrüge, die kreisten und fröhlich hinuntergegossen wurden. Die Bierglocke, die ankündigte, dass von nun an nicht mehr getrunken werden durfte, hatte schon vor langer Zeit geläutet, doch diese sonderbaren Geheimbündler schienen sich darum nicht sonderlich zu bekümmern. Simonis leerte den mitgebrachten Sack, reichte mir einige Kleidungsstücke und nahm andere für sich. In diesem Moment entdeckte man ihn, und ich hörte ein erregtes Murmeln, das von einer Ecke des Saales zur anderen wanderte.

«Der Schorist, der Schorist ist kommen!», sagte ein jeder zum Nachbarn, stieß ihn mit dem Ellenbogen an und zeigte auf Simonis.

Einige Studenten kamen uns entgegen und empfingen meinen Begleiter mit überschwänglichen Umarmungen. Simonis grüßte die gesamte Schar mit einer ausholenden Geste, auf welche man ihm mit Applaus antwortete. Umringt von all den wehenden Togen, meinte man, im römischen Senat nach einer Rede Ciceros zu stehen.

Auf einmal fühlte ich mich ein wenig verloren: Simonis, der Grieche, mein Werkstattgehilfe, mein Untergebener, war der König des Abends. Ich dachte an seine Erzählung von heute Morgen über die Geschichte des Ortes Ohne Namen und seinen Schöpfer, Kaiser Maximilian II. Ganz offensichtlich besaß mein bizarrer Gehilfe verborgene Qualitäten.

Kaum hatte auch er sich wie ein römischer Senator gekleidet, geleitete man ihn zu einer kleinen hölzernen Tribüne mitten im Saal.

Auch ich hatte soeben Toga und Sandalen angelegt, die freilich viel zu groß waren, als sich erneut ein aufgeregtes Gemurmel erhob. Eine Tür zu einem anliegenden Zimmer hatte sich geöffnet. Daraus trat eine Gruppe junger Männer, die einen Gefangenen zu eskortieren schienen. In ihrer Mitte ging ein recht kurioses Wesen, besonders wegen seiner Verkleidung: ein schüchterner, schmächtiger Jüngling, der sich zögernd umblickte. Er trug einen Hut, aus dem zwei enorme Eselsohren aus Stoff und ein noch größeres Paar Kuhhörner herausragten. Aus beiden Mundwinkeln ragten die riesigen Hauer eines Wildschweins hervor, die man offenbar mit Leim an seinen Zähnen befestigt hatte. Er trug einen weiten schwarzen Umhang, der ihm etwas Trauriges und gleichzeitig Plumpes verlieh. Man hatte ihn mit einem Stock in unseren Saal getrieben, und immer noch wurden ihm Schläge auf den Rücken versetzt, wie man es bei Lasttieren macht.

«Der Beanus, der Beanus!», jubelte die Menge der Umstehenden, als der junge Mensch auf der Schwelle erschien.

Sofort erhob sich ein Gesang im Chor, misstönend und laut:

Salvete candidi hospites

Conviviumque sospites,

Quod apparata divite

Hospes paravit, sumite.

Beanus iste sordidus

Spectandus altis cornibus,

Ut sit novus scholastichus

Providerit de sumtibus

Mos est cibus magnatibus …

Da ich mich inmitten dieser rauflustigen Truppe etwas verloren fühlte, ging ich auf Simonis zu. Ich bemerkte, dass er sich eine Darmsaite an den Gürtel geknüpft hatte, wie man sie für Lauten, Gitarren oder Theorben benutzt.

«Das ist ein feierlicher Hymnus, mit dem der Novize willkommen geheißen und der Vorsatz kundgetan wird, aus ihm einen richtigen Studenten zu machen», erklärte er, wobei er mir ins Ohr schrie, um das betrunkene Grölen seiner Freunde zu übertönen.

«Was bedeutet Beanus?», fragte ich Simonis.

«Oh, ein Italiener, auch ich spreche deine Sprache!», mischte sich ein großgewachsener, dickbäuchiger Student ein. Er hatte die blitzenden Augen, das freundliche Gesicht, die feisten, roten Wangen und das dunkle, dichte Haar der Menschen aus dem Osten.

«Das ist Hristo Hristov Hadji-Tanjov», sagte Simonis. «Er kommt aus Bulgarien, aber er hat lange in Bologna studiert.»

«Wohl wahr, ich habe meinen Wissensdurst an den Brüsten der Alma Mater Studiorum gestillt», bestätigte dieser, indes er den Bierkrug erhob.

«Jetzt stillt er seinen Durst auf andere Weise», scherzte ein neu Hinzugekommener, eine Bohnenstange mit einem Rücken wie ein Schrank, der sich als Jan Janitzki Graf Opalinski vorstellte und Pole war. «Davor noch dürstete ihn nach meiner Schwester Ida, die ist nämlich beim Ballett.»

«Schweig, du Trunkenbold. Der Beanus, den andere auch Bacchanten nennen», setzte Hristo zu einer Erklärung an, nachdem er sich das Bier in die Kehle gegossen hatte, «ist noch kein Student und darum nicht mal ein Mann. Er hat gebeten, in die Universität aufgenommen zu werden, aber sein Wesen ist noch viehisch, wie das eines Schweins, einer Kuh oder eines Esels. Er muss beweisen, dass er imstande ist, sich über seine animalischen Leidenschaften zu erheben, aber erst wenn er die Prüfung der Deposition besteht, wird ihm gestattet, Teil einer menschlichen Gesellschaft zu werden.»

«Der Deposition?»

«Der depositici cornuum», versetzte wieder ein anderer, ein Jüngling mit rabenschwarzem, wallendem Schopf, einem schönen Schnurrbart und schlauen, braunen Augen. «Heute Abend wird er die Hörner des Viehs ablegen und endlich ein menschliches Wesen werden!»

«Diese brillante Erklärung hat Euch soeben ein guter Freund von mir geliefert», verkündete Simonis. «Ich stelle Euch den Baron Koloman Szupán vor. Er kommt aus Warasdin in Ungarn und besitzt einen großen Bauernhof mit über achtzehntausend Schweinen.»

«Ja, genau, und ich habe achtzigtausend Schweine», verspottete ihn ein rundlicher und fast kahler kleiner Mann, der mir vorgestellt wurde als der Fürst Dragomir Populescu, gebürtig aus Rumänien. «Koloman trägt denselben Namen wie Sankt Koloman, der Schutzheilige der Studenten, aber er lästert ihn mit seinen Lügen, denn wenn er ein Baron ist, bin ich der Papst; ein Zigeunerbaron, das ist er, mehr nicht, hahaha! Wenn er wirklich achtzehntausend Schweine hat, wie er erzählt, warum hat er uns dann noch nie einen Schinken mitgebracht?»

Die Freunde brachen in Gelächter aus, aber Koloman gab sich nicht geschlagen:

«Und was ist mit dir, Populescu, der du dich immer dann als Fürst ausgibst, wenn du hinter Frauen her bist?»

«Reg dich nicht auf, Dragomir, bleib ganz ruhig!», brummelte Dragomir in sich hinein, erglühte dabei vor Zorn und richtete den Blick nach oben.

«Was heißt hier aufregen, du bist doch besoffen wie ein Esel!», mischte sich Hristo, der Bulgare, ein.

«Und du bist ein Schwamm in einem Bierfass», wurde ihm wiederum von einem Schönling beschieden, der so aussah, als genösse er das Leben in vollen Zügen. Er hörte, wie mir erklärt wurde, auf den Namen Graf Danilo Danilowitsch und kam aus Pontevedro, einem kleinen Staat, von dem ich noch nie gehört hatte.

«Entschuldigt bitte: Aber wie kommt es, dass ihr alle meine Sprache so gut beherrscht?», fragte ich erstaunt.

«Das ist doch klar: Wir haben alle in Bologna die Medizinische Wissenschaft studiert», antwortete Hristo.

«Aaah, die Italienerinnen!», schmachtete Opalinski.

«O ja, Weiber, Weiber, Weiber!», seufzte Danilo Danilowitsch augenzwinkernd.

«Die Italienerinnen … reg dich nicht auf, Dragomir!», brummte Populescu mit träumerischem Blick.

«Doch dann ist vor zwei Jahren mit dem Krieg und der Hungersnot dieser abscheulich eisige Winter gekommen», erzählte Hristo weiter, «und wir sind alle nach Wien gezogen.»

«Und das haben wir nicht bereut!», ergänzte Koloman. «O Österreich! Vortreffliches Land, reich an strömenden Wassern, mit Weinbergen bepflanzet, strotzend von Früchten und Fischen, reich an Holz! Und du, mächtige Donau, größter Fluss Europas, edel ist dein Ursprung bei den Schwaben im Schwarzwald, breit durchquerst du Bayern, Österreich und Ungarn, mächtig teilst du Serbien und Bulgarien, mündest mit sechzig starken Armen ins Schwarze Meer, und mit deinen erhabenen Wassern schmückest du viele prächtige Städte, deren keine jedoch reicher, keine bevölkerter, keine anmutiger ist als Wien!»

Ein Applaus brach los, und natürlich wurden die Krüge erhoben. An den Reden und der Vertraulichkeit, die diese Studenten im Umgang miteinander pflegten, erkannte ich, dass sie alle Kameraden waren, gewöhnt, ihr Bier, ihre Plaudereien, manch seichten Spaß und die ausgelassene Lebensfreude der Zwanzigjährigen in ein und demselben Pokal zu mischen. Was diese Spaßvögel an der Universität von Bologna oder Venedig zuwege gebracht hatten, nun, das mochte Gott wissen. Sah man sich jedoch an, mit welchem Genuss sie ihr Bier herunterschütteten und sich in Scherzen und Possen ergingen, ja, sich überdies als Grafen, Barone und sogar Fürsten ausgaben, konnten einem Zweifel kommen, ob sie je etwas Sinnvolles auf die Beine gestellt hatten. Und betrachtete man ihre Kleider und Schuhe unter der römischen Toga genauer, entdeckte man überall die gleichen schwarz angelaufenen Kragen, die gleichen Flicken, die gleichen durchlöcherten Sohlen. Sie waren, wie mein Gehilfe, nichts anderes als Bettelstudenten und fröhliche Taugenichtse, in der Kunst des Sich-Durchwurschtelns weit geübter als in den Wissenschaften.

«Sympathisch, deine Kameraden, Simonis», sagte ich.

«Ihr seid sehr freundlich, Herr Meister. Einige von ihnen kommen von weit her, von jenseits der Grenzen des Reiches, aus Halb-Asien», flüsterte mir der Grieche zu, als wolle er sie entschuldigen.

«Halb-Asien?», wiederholte ich, ohne zu verstehen.

«Oh, das ist meine persönliche Bezeichnung für einige Länder, die sich östlich von Wien erstrecken, jenseits von Schlesien und den Karpaten, wie zum Beispiel Pontevedro; Länder, die zwischen dem gebildeten Europa und der öden Steppe liegen, durch welche asiatische Nomaden ziehen, und das meine ich nicht bloß geographisch …», antwortete Simonis, wobei er die letzten Worte vielsagend betonte.

«Mir scheinen sie ganz normale junge Männer zu sein, so wie du», erwiderte ich verständnislos.

«Ihr dürft Euch nicht mit dem bloßen Schein begnügen, Herr Meister: Ich bin Grieche», versetzte er stolz. «Einige von ihnen hingegen sind nicht nur durch die Sprache oder durch Grenzpfähle von unserem Europa geschieden. Die weiten Ebenen und sanften Hügelketten ihrer Heimatländer, welche sich, wie ich bereits sagte, jenseits der schlesischen Grenze und jener der Karpaten hinziehen, erinnern nicht bloß landschaftlich an Gegenden nahe dem Ural oder im tiefen Mittelasien. Ihre Ähnlichkeit mit diesen Welten, die von der unseren so sehr verschieden ist, geht viel tiefer.»

Ich hatte keine Ahnung, was der Ural oder Mittelasien war, und da ich den Sinn dieser unerwarteten Rede nicht verstand, schwieg ich.

Die kameradschaftliche Stimmung ermutigte mich, das Thema zu wechseln und Simonis eine weitere Frage zu stellen.

«Warum haben dich anfangs alle den Schoristen genannt?»

«Das werdet Ihr jetzt sehen, Herr Meister.»

«Silentium, Freunde!»

Die Aufforderung eines jener Studenten, die den Beanus hereingeführt hatten, ließ die Versammlung augenblicklich verstummen. Der Grieche stieg auf die hölzerne Tribüne. Der Beanus wurde zu ihm gebracht, und Simonis verkündete mit ernster Stimme:

«Zuvor warst du ein unvernünftig Wesen, ein Vieh, ein unflätiger Schulfuchs; nunmehr wirst du ein Mann. Deine schmutzigen Zähne verwehrten dir, maßvoll zu essen und zu trinken, und verdunkelten darob deinen Geist. Jetzt wirst du zur Vernunft gebracht.»

«Heute Abend macht Simonis den Depositor», flüsterte mir Koloman mit seinem singenden ungarischen Akzent zu, «das ist derjenige, der die Zeremonie leitet. Er hat den Beanus mit einem Fuchs verglichen, weil dieser sich in den Erdlöchern versteckt wie die Schüler zwischen den Schulpulten. Darum heißt die Deposition auch Fuchsentaufe. Will man ein Mann werden, muss man hinaus ins Freie, nach Wissen streben, indem man die Universität besucht und die Welt des Lasters und der Zerstreuung hinter sich lässt. Der Beanus dieses Abends hat sich seinen Schoristen persönlich ausgesucht, er hat nämlich schon viel von ihm gehört und bewundert ihn. Simonis’ Tugenden werden ihm gewiss sehr nützlich sein.»

Das mochte ja sein, dachte ich, aber dieser ganze Schwarm fideler Studenten schien nach nichts weniger als nach Tugend und Wissen zu streben. Unterdessen wurde Simonis ein mit Stoff umwickelter Gegenstand gereicht. Es war ein Batzen schwarzen Fettes, mit dem er dem Beanus nun einen schönen Vollbart aufs Gesicht zu malen begann. Die Operation, die der Beanus stumm ertrug, wurde mit Applaus und rohem Gelächter begrüßt. Gleich darauf hielt Simonis eine kurze Rede auf Deutsch, worin der arme Beanus aufgefordert wurde, sein liederliches Leben aufzugeben, sich vom Laster zur Tugend zu wenden und mit Hilfe des Studiums der finsteren Ignoranz zu entrinnen.

«Gleich beginnt die Lateinprüfung», flüsterte mir der Ungar Koloman Szupán lachend ins Ohr.

Der Beanus wurde aufgefordert, das Substantiv cor zu deklinieren, das lateinische Wort für Herz. Er begann korrekt: Nominativ, Genitiv, Dativ und so weiter, alles im Singular.

«Cor, cordis, cordi, cor, corde, cor», sagte der Beanus fürchterlich nuschelnd, da ihn die Wildschweinzähne am Sprechen hinderten.

«Numerus pluralis», befahl Simonis nun.

«Corda, cordarum, cordis … aua!»

Kaum hatte der arme Beanus das Wort corda ausgesprochen, das «die Herzen», aber auch «die Saite» bedeutet, hatte Simonis begonnen, ihn mit der Darmsaite zu peitschen, die er sich vorhin angeknüpft hatte.

«Auf dass deine Halsstarrigkeit als Beanus und deine widrige Natur verschwinden!», donnerte er, während er den Unglücklichen peitschte, der mit den Armen nur schlecht Gesicht und Hals schützen konnte.

Die Zuschauer bogen sich vor Lachen, applaudierten und hoben die Bierkrüge bis zur Decke.

Es folgten weitere Fragen und Antworten mit kruden Wortspielen, die unvermeidlich zu neuen Peitschenhieben und schadenfrohem Gelächter führten. Dann stellte man die Sangeskünste des Kandidaten auf die Probe, indem man ihn zwang, ein Studentenlied vorzutragen, welches der Bedauernswerte mit den riesigen Wildschweinhauern im Mund nur spuckend hervorbringen konnte: also wieder Peitschenhiebe und höhnische Pfiffe.

Anschließend musste der Beanus sich bäuchlings auf dem Boden ausstrecken. Einige Studenten begannen, ihn mit einer groben Wurzelbürste auf grausame Weise zu kämmen, während andere versuchten, ihm gewaltsam einen großen Löffel in die Ohren zu stecken, wie um sie zu säubern.

«So wirst du sowohl den Unflat wie die Hoffart meiden, und deine Ohren werden immer offen sein für die Tugend der Weisheit», rezitierte Simonis in der Rolle des Depositors mit Nachdruck, «und du wirst dich von den schmutzigen Tönen der Dummheit und Bosheit befreien.»

Von irgendwoher tauchten nun plötzlich ein Tischlerhobel, ein Hammer und ein Bohrer auf. Drei Berserker besprangen den armen Prüfling, der von der Behandlung mit der Bürste noch übel zugerichtet war, und begannen, ihm zunächst auf den Rücken und dann auf den Bauch zu hämmern, ihn abzuhobeln und anzubohren. Ich betete insgeheim, es möge kein Blut fließen.

«So können Kunst und Wissenschaft deinen Leib schmieden und formen», sprach Simonis feierlich, während der Rest der Truppe sich schier totlachte.

Man hieß das Opfer aufstehen.

Nun stellten sie einen großen Eimer voll Wasser vor ihn hin, und er musste sich den Kopf einseifen, waschen und mit einem wollenen Lumpen abtrocknen. Dabei musste er schwören, ein neues, tugendhafteres Leben zu beginnen.

Aber die Quälereien waren noch nicht beendet. Jetzt hatten sie ihn auf einen Stuhl gesetzt und ihm die enormen Wildschweinzähne gewaltsam aus dem Mund gerissen.

«Damit deine Worte niemals zu viel Biss haben», verkündete der Depositor.

Unterdessen säuberten zwei Studenten mit einer groben Feile die Fingernägel des Beanus, auf dass er sich, wie mir erklärt wurde, für immer von Waffen und Duellen fernhalte und seine Hände nur noch Bücher und Manuskripte berührten. Natürlich war die Feile so klobig, dass sie die Fingerkuppen des Beanus mit abfeilte, der linkisch um Erbarmen flehte. Dann schoren sie ihm den zuvor aufs Gesicht gemalten Bart, doch statt Seife, Rasiermesser und Handtuch wurden ein Ziegelstein, ein Stück Holz und ein altes Leinentuch verwendet, sodass das Gesicht des Unglücklichen am Ende der Verrichtung aussah, als sei ein Pflug darübergefahren. Sodann setzten sie ihn an einen Tisch und legten ihm Würfel und ein Kartenspiel vor, um zu prüfen, ob er ein zum Laster des Spiels neigendes Wesen offenbare. Der Ärmste rührte sich nicht einmal, so böse war er zugerichtet. Darauf wurde ihm ein Notenbuch vor die Nase gehalten, und man ermahnte ihn, wenn er eines Tages vom vielen Studieren müde sei, solle er seine Seele mit Musik und ausschließlich damit von Mühsal und Beschwernis erleichtern. Endlich wurde dem Beanus der hässliche Hut mit den Eselsohren und den Hörnern abgenommen. Simonis, dergestalt seine Aufgabe als Schorist versehend, schnitt ihm mit einer alten Schere die Haare ab, sodass dem Beanus zuletzt nur noch ein paar spärliche, unordentliche Büschel auf dem Kopf blieben, die Spinatpflänzchen glichen. Dann setzten sie ihm den Hut wieder auf.

In diesem Augenblick trat mit strengem und gemessenem Gebaren ein älterer Herr in den Saal, bei dessen Ankunft sich sofort ein Gemurmel ehrerbietiger Aufmerksamkeit erhob.

«Das ist der Dekan der philosophischen Fakultät», erklärte mir Koloman Szupán.

«Der Dekan? Ein Professor?», wunderte ich mich.

«Aber gewiss doch! Seit jeher obliegt es dem ältesten Professor der philosophischen Fakultät, das Attest der Deposition auszustellen.»

«Es ist ein offizieller Akt: Wenn der Beanus die Prüfung der Deposition nicht besteht, kann die Alma Mater Rudolphina ihn nicht aufnehmen», ergänzte Hristo.

Simonis trat vor, erstattete dem Dekan einen zusammenfassenden Bericht vom Ablauf des Examens und bat, dem Kandidaten möge das Attest ausgestellt werden. Der Beanus erhob sich respektvoll, wenn auch ein wenig schwankend.

Der Dekan nickte leicht mit dem Kopf, sprach einige lateinische Formeln und richtete eine väterliche Ermahnung an den Beanus. Dem jungen Mann wurde ein Glas mit einer dunklen Flüssigkeit gebracht, das er sofort austrank, und aus einem kleinen Behälter wurde ihm ein weißes Pulver auf den dafür wieder entblößten Kopf gestreut, was ihm winselnde Schmerzlaute entlockte.

«Wein und Salz», erklärte mir Hristo, der Bulgare. «Sie sollen die Worte und Taten des Beanus mit Gelehrtheit und Weisheit würzen und ihn dazu bringen, Ratschläge und Ermahnungen zu befolgen.»

Der Beanus war nun eher tot als lebendig. Angespornt von seinen Peinigern, fand er noch die Kraft, zu Simonis gewandt, mit hauchdünner Stimme die rituelle Formel zu sprechen, welche die Zeremonie beendete:

«Accipe Depositor pro munere munera grata, et sic quaeso mei sis maneasque memor

Während Depositor und Beanus sich unter erneutem Applaus umarmten, nahmen einige dem Prüfling den Hut mit den Hörnern vom Kopfe und legten ihn zu Boden: eine symbolische Geste, mit welcher die Deposition vollendet war. Auch der schwarze Umhang wurde ihm abgenommen und das Gesicht endlich mit einem sauberen Taschentuch gereinigt. In dem nun ausbrechenden Freudengeschrei konnte ich kaum hören, was Hristo mir erklärte:

«Jetzt ist der Beanus ein Pennal geworden. Er ist noch kein richtiger Student, aber bald wird er es sein. Von nun an ist der Depositor sein Schorist.»

«Und was bedeutet das?»

«Wenn der Schorist Hunger hat, wird der Pennal ihm zu essen geben. Wenn er Durst hat, wird er ihm zu trinken geben. Wenn er müde ist, wird er ihm eine Schlafstatt bereiten. Was der Schorist verlangt, beschafft ihm der Pennal.»

Ich wagte nicht, weiterzufragen; die Antwort ließ vermuten, dass Qual und Demütigung für den armen angehenden Studenten, obwohl er im Rang aufgestiegen war, mitnichten ein Ende hatten. Derweil drängte sich ein Haufen Zuschauer um den Neuling, Simonis und den Dekan, um Glückwünsche und saftige Kommentare auszuteilen.

«Und wie lange dauert es noch, bis er ein richtiger Student wird?»

«Nicht lange. Die Wartezeit ist in den Universitätsregeln festgelegt: Von heute Abend an müssen ein Jahr, sechs Monate, sechs Wochen, sechs Tage, sechs Stunden und sechs Minuten vergehen.»

Einige Augenblicke später konnte ich mich endlich dem armen Märtyrer dieser irrwitzigen Inszenierung nähern. Es war ein hagerer Jüngling, das Gesicht zu einem verwirrten, abwehrenden Lächeln verzogen. Hinter seiner kleinen Brille, deren Gläser von der Hitze in dem Festraum beschlagen waren, verbargen sich zwei flinke, aufgeweckte Äuglein, die von dem großen Radau, den man um ihn herum veranstaltet hatte, nur vorübergehend getrübt waren. Erst als ich ihn aufstehen und gehen sah, bemerkte ich die Eigenschaft, die ihn besonders kennzeichnete: Der Arme war hüftlahm.

In diesem Augenblick wurde ich von lautstarken Rufen abgelenkt, mit denen die Studentenschar jenen Mann verabschiedete, der gekommen war, um dem Abschluss der Deposition feierlich beizuwohnen.

«Und das war wirklich der Dekan?», fragte ich Hristo, der wieder an meiner Seite war.

«Natürlich war er es. Schließlich sind wir hier nicht in der philosophischen Fakultät von Bologna! In Wien ist alles familiärer.»

«Familiär bedeutet in diesem Fall», warf Dragomir Populescu ein, sich bei Hristo unterhakend, «dass die Universität hier nicht besser gestellt ist als die Familie dieses Hurensohns, hahaha!»

«Seid still, ihr Schwachköpfe! Das Masturbieren hat euch schon wieder das Gehirn aufgeweicht», unterbrach ihn Koloman Szupán. «Ich erkläre unserem Freund, wie es in Wien zugeht.»

Die Universität der Kaiserstadt war vom Erhabenen Kaiser Rudolf IV. im Jahr des Heils 1365 gegründet worden; daher ihr Name Alma Mater Rudolphina. Dies waren die ruhmreichen Anfänge der Universitäten, als Scharen von Studenten aus ganz Europa nach Paris und Bologna strömten, voller Wissensdurst und zu jedem Opfer bereit, um die Vorlesungen der großen Gelehrten zu hören, die dort dozierten.

Die Alma Mater Rudolphina stand dem nicht nach: Hier hatten hervorragende und von Gott beseelte Geister wie Heinrich von Hessen, Nikolaus Dinckelsbuchl und Thomas Hasselbach gelehrt (Letzterer wurde jedoch von manchen beschuldigt, er habe das erste Kapitel des Buches Jesaja mehr als zwanzig Jahre lang kommentiert, ohne es verstanden zu haben).

Leider setzte um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts in ganz Europa der Verfall ein: Wegen des protestantischen Schismas wurde es zur Lieblingsbeschäftigung an Universitäten, Parteien für und wider die Römische Kirche zu bilden und sich mit theologischen Traktaten gegenseitig gehörige Hiebe zu versetzen.

«Auf die Seite Luthers», hub Koloman zu einer Aufzählung an, «hatten sich, wenn ich mich recht erinnere, die angesehenen Universitäten Altdorf in Franken, Erfurt und Jena in Thüringen, Gießen und Rinteln in Hessen, Gripswalde in Pommern, Halle im Herzogtum Magdeburg, Helmstadt in Braunschweig, Kiel in Holstein, Königsberg in Preußen, Leipzig in Meißen und Rostock in Mecklenburg gestellt.»

«Du hast Straßburg im Elsass, Tübingen in Württemberg und Wittenberg in Sachsen vergessen, du Depp», tadelte ihn Populescu.

«Und auch Loden und Uppsala in Schweden und Kopenhagen in Dänemark», setzte Hristo nach.

«Ihr seid so kleinkrämerisch wie zwei alte Jungfern», entgegnete Koloman, stahl einen halbleeren Bierkrug vom Nebentisch und setzte ihn sich gierig an den Mund.

«Mit Calvin hingegen», fuhr er dann fort, «hielten es Duisburg, Frankfurt an der Oder, Heidelberg in der Pfalz, Marburg in Hessen, Cantabrigum und Oxfurth in England, Dovay, Leiden und Utrecht in Holland, Franecker und Groningen in Friesland und Basel in der Schweiz.»

«Du hast Dole im Burgund vergessen, Idiot», sagte Populescu.

«Dem Papst blieben nur wenige Hochschulen in Deutschland treu: Breslau in Schlesien, Köln am Rhein, Dillinga in Schwaben, Freiburg im Breisgau, Ingolstadt in Bayern, Mainz am Rhein, Molzheim, Paderborn und Würzburg in Franken. In Frankreich aber waren es Aquae Sextiae, Angiò, Angieri, Avignon, Bordeaux, Bourges, Cadruciensis, Caen, Cahortana, Grenoble, Montpellier, Nantes, Orleans, Paris, Poitier, Reims, Saumur, Toulouse und Valence. In Portugal Coimbra; in Spanien Complutum, Granada, Sevilla, Salamanca und Taraco; in Italien Bologna, Ferrara, Florenz, Neapel, Padua, Pavia, Perugia und Pisa.»

«Du hast Krakau in Polen vergessen.»

«Und Prag in Böhmen.»

«Und Lovanio in Brabant», versetzte Hristo.

«Die habe ich aus Mitleid verschwiegen, denn in Lovanio sind sie impotent und bigott wie ihr beiden. Meine armen kleinen Jungfern, euch hat es schon lange keiner mehr besorgt, deswegen seid ihr so sauertöpfisch», antwortete Koloman, indem er Populescu packte, ihm den Gürtel aufriss und den Rest Bier, den er noch im Krug hatte, in die Hosen goss. Es folgte ein wildes Handgemenge zwischen den dreien, das jedoch alsbald wieder erstarb, weil alle zu sehr lachen mussten.

Schon zur Zeit der religiösen Auseinandersetzungen, ging Kolomans Erzählung weiter, nachdem die drei zu passablem Benehmen zurückgefunden hatten, zählte Wien nicht mehr zu den Stätten der Sapientia Universalis. Die Kaiserstadt musste nämlich gegen andere Feinde kämpfen: die fortwährende Bedrohung durch die Pest, die türkische Gefahr, die immer vor der Tür stand, und vor allem die chronische Geldnot der öffentlichen Kassen, welche sich in der miserablen Ausstattung der Universität niederschlug. Die Professoren wurden mit Verspätung bezahlt, manchmal erst nach Monaten, überdies mit Wechselbriefen statt mit Bargeld. Die besten Dozenten hatten begonnen, das Wiener Athenäum zu vernachlässigen, und überließen mittelmäßigen oder kaum qualifizierten Kollegen das Feld. Viele zierte nicht einmal mehr ein Professorentitel, sie waren schlichte doctores. Das beständige Kommen und Gehen der Lehrkräfte, die immer auf der Suche nach einem besseren Posten waren, hatte alles über die Jahre nur noch schlimmer gemacht. Das Niveau der Lehre war gesunken, die Studienbücher jedes Jahr schlechter geworden, alles wurde beherrscht von einem Gefühl der Nutzlosigkeit des Wissens. Während des Dreißigjährigen Krieges, welcher den gesamten Kontinent vor etwa einem halben Jahrhundert in die Knie gezwungen hatte, waren auch die Lebensart und die guten Sitten der Studenten verfallen. Im Jahre 1648 hatte der Thronerbe Ferdinand, Sohn des Kaisers Ferdinand III. und ein äußerst gelehriger junger Mann, beschlossen, sich an der Alma Mater Rudolphina zu immatrikulieren, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Der Fünfzehnjährige war der erste Habsburger, der sich an einer Universität einschrieb. Doch sein Studium währte nur kurz: Sechs Jahre später starb Ferdinand plötzlich an den Blattern und hinterließ den Thron Kaiser Leopold, seinem jüngeren Bruder, der leider weit weniger begabt war als er. Die Studenten aber waren alsbald wieder grob geworden, sie gaben sich lieber der Völlerei und dem schönen Leben hin als der Gelehrsamkeit. Raufereien und Duelle waren an der Tagesordnung, ohne Gottesfurcht brachten die jungen studiosi Aufruhr in Wirtshäuser, verprügelten Wachleute, griffen wehrlose Passanten an und raubten sie aus, ganz zu schweigen von den Judenverfolgungen. Die Universität und ihre Mitglieder genossen jedoch noch viele der Privilegien, welche das Reich ihnen seit unvordenklichen Zeiten gewährte, und so geschah es, dass Studenten, die des Mordes oder anderer schwerer Verbrechen für schuldig erkannt worden waren, begnadigt wurden oder sich den Prozessen mit Leichtigkeit entziehen konnten. Sogar im ruhigen Wien war es durchaus nichts Ungewöhnliches mehr, wenn die Leiche eines Studenten gefunden wurde.

Wenig nur hatte das gute Beispiel gefruchtet, das Kaiser Joseph I. vor zehn Jahren hatte geben wollen, indem auch er – mit Ingenium und Wissen nicht weniger begabt als sein Vorgänger Ferdinand, der verstorbene Bruder seines Vaters – sich an der Alma Mater Rudolphina immatrikulierte.

Es gab nur noch eines, was in der Universität der Kaiserlichen Hauptstadt reibungslos ablief: Vergnügungen.

«Wenn wir Depositionen oder andere Feste veranstalten, klappt alles vorzüglich. Der Dekan kommt immer, denn er respektiert die alten Traditionen», schloss Koloman, nunmehr sturzbetrunken. «Ein großer Mann, der Dekan, ehrlich und aufrichtig!»

«Du hast vergessen, dass er auch sympathisch ist», tadelte ihn Populescu, zum x-ten Male seinen Bierkrug hebend.

«Und dass er ein wirklich tüchtiger Kerl ist», ergänzte Hristo und unterdrückte mühsam einen kräftigen, mit Hopfen gewürzten Rülpser.


1 * Himmel, erbarmender Himmel …

2 ** Einen Speer, einen Blitz, einen Pfeil / Erwarte ich von dir. / Verwunde, hemme, entseele / Den, der mir keine Treue erwies …

3 * Hoffnung, bei deiner Blässe / weiß ich, du hoffst nicht mehr, / dennoch hörst du nicht auf, / meinem Herzen zu schmeicheln

4 ** Da die Hoffnung fehlte

5 * O weh, also ist es doch wahr …