Rom

Januar 1711

«Wien? Was um alles in der Welt haben wir in Wien zu suchen?» In Erwartung einer Antwort starrte meine Frau Cloridia mich mit weit aufgerissenen Augen an.

«Meine Liebe, du bist in Holland aufgewachsen, hast eine türkische Mutter gehabt, bist als nicht mal Zwanzigjährige ganz allein bis hier nach Rom gekommen, und jetzt hast du Angst vor einer kleinen Reise ins Kaiserreich? Was soll ich denn da sagen, wo ich doch nie weiter als bis nach Perugia gekommen bin?»

«Du sprichst ja nicht von einer kleinen Reise; du erzählst mir, dass wir nach Wien fahren, um dort zu leben! Kannst du vielleicht Deutsch?»

«Nun ja, nein … noch nicht.»

«Gib das mal her», sagte sie und riss mir gereizt das Papier aus der Hand.

Sie las es erneut, zum wer weiß wievielten Mal.

«Und was zum Teufel soll das sein, diese Schenkung? Ein Grundstück? Ein Ladengeschäft? Eine Anstellung als Diener bei Hofe? Das hier erklärt überhaupt nichts!»

«Du hast doch selbst gehört, was der Notar gesagt hat: Wir werden es bei unserer Ankunft erfahren, aber es handelt sich bestimmt um eine Schenkung von großem Wert.»

«O ja, gewiss. Wir klettern über die Alpen, nur um die nächste der unzähligen Betrügereien deines Abbés zu erleben, dieses Gauners, der dich für irgendeine neue wahnsinnige Unternehmung ausnutzen und am Ende wie einen alten Lappen wegwerfen wird!»

«Cloridia, denk bitte einmal nach: Atto ist jetzt fünfundachtzig Jahre alt. Zu welchen wahnsinnigen Unternehmungen hätte er deiner Meinung nach noch die Kraft? Lange Zeit habe ich sogar geglaubt, er sei tot. Es ist schon viel, dass er einen Notar beauftragen konnte, um seine Schulden bei mir zu begleichen. Sicher hat er gespürt, dass das Ende naht, und wollte mit sich ins Reine kommen. Wir sollten dem Herrgott lieber dankbar sein, dass er uns in einem so schwierigen Moment eine solche Gelegenheit gewährt hat.»

Meine Gattin schlug die Augen nieder.

Seit zwei Jahren machten wir schlimme Zeiten durch. Der Winter des Jahres 1709 war äußerst streng gewesen, er hatte im Übermaß Schnee und Eis gebracht. Eine entsetzliche Hungersnot war daraufhin ausgebrochen, und zusammen mit dem verlustreichen Krieg um den spanischen Thron, welcher sich nun schon seit sieben Jahren hinzog, hatte sie das römische Volk ins Elend gestürzt. Meine Familie, in der Zwischenzeit um ein nunmehr sechs Jahre altes Söhnchen gewachsen, hatte diesem unglücklichen Schicksal nicht entrinnen können: Ein Jahr mit Unwettern und starkem Frost, wie man es nie zuvor in Rom gesehen, hatte unser bescheidenes Landgut unfruchtbar werden lassen und mein Gewerbe als Bauer zunichtegemacht. Der Niedergang der Familie Spada und der daraus folgende Verfall der Villa an der Porta San Pancrazio, wo ich viele Jahre lang oftmals einträgliche Dienste versehen hatte, hatte unsere Lage über alle Maßen verschlechtert. Ach, und ungenügend waren die Bemühungen meiner Frau Cloridia, dem wirtschaftlichen Ruin vermöge ihrer Gevatterinnenkünste Einhalt zu gebieten, die sie seit Jahrzehnten mit achtbarem Erfolg und tatkräftiger Hilfe zweier Jungfräulein, unserer Töchter von dreiundzwanzig und neunzehn Jahren, ausübte. Durch die Hungersnot war nämlich auch die Anzahl der Wöchnerinnen ohne jeden Heller gestiegen, und diesen stand meine Gemahlin mit derselben aufopfernden Hingabe wie den Edeldamen bei.

So wuchsen unsere Schulden, und schließlich hatten wir, um des bloßen Überlebens willen, den schmerzhaftesten Schritt nicht vermeiden können: Da wir die Geldverleiher bezahlen mussten, hatten wir unser Häuschen und das Landgut verkauft, das wir vor sechsundzwanzig Jahren mit den Spargroschen meines seligen Schwiegervaters erworben hatten. Wir fanden Zuflucht in der Stadt, eine Wohnstatt in einem Kellergeschoss, das wir zwar mit einer Familie aus Istrien teilen mussten, doch hatte es wenigstens den Vorteil, nicht allzu feucht zu sein und im Winter eine konstante Temperatur zu bewahren, die sogar dem strengsten Frost trotzte, da die Räume in Tuffstein gehauen waren.

Wir aßen dunkles Brot und des Abends Suppe mit Brennnesseln und Kräutern. Und am Tag behalfen wir uns mit Eicheln und anderen Hülsenfrüchten, die wir überall auflasen und zu Mehl mahlten, um daraus eine Art Grütze zu kochen, der wir kleine Rübchen beigaben. Schuhe waren alsbald zum Luxus geworden und mussten auch im Winter Holzpantinen und Pantoffeln weichen, die wir daheim aus alten Lumpen und Schnüren aus Hanf zusammennähten.

Arbeit hatte ich keine mehr gefunden, zumindest nichts, was diesen Namen verdiente. Meine geringe Körpergröße verwehrte mir viele Gelegenheiten, zum Beispiel mich als Auslader oder Lastenträger zu verdingen. So war ich schließlich so tief gesunken, das niedrigste und schmutzigste aller Gewerbe auszuüben, zu dem kein Römer sich je herabgelassen hätte, jedoch auch das einzige, bei dem ich im Vergleich zu Familienvätern von größerer Statur im Vorteil war: Schornsteinfeger.

Damit bildete ich eine Ausnahme: Schornsteinfeger und Dachdecker kamen gewöhnlich aus den Alpentälern, vom Comer und vom Langensee, aus dem Camonica-Tal, dem Brembana-Tal und ebenso aus dem Piemont – überaus arme Gegenden, wo der Hunger die Familien sogar zwang, ihre sechs- und siebenjährigen Kinder zu bestimmten Jahreszeiten den Schornsteinfegern zu überlassen, welche sie unter Lebensgefahr die engsten Rauchabzüge reinigen ließen.

Mit kindlichen Körpermaßen, doch mit der Kraft eines Erwachsenen ausgestattet, konnte ich wie niemand sonst meine Arbeit nach allen Regeln der Kunst ausüben: Ich schraubte mich geschickter durch die engen Schächte und kletterte gewandter die rußigen Rauchabzüge empor, ebenso kratzte ich fachmännischer, als ein Kind dies vermocht hätte, die schwarzen Wände der Abzugshaube und des Rauchfangs frei. Zudem bewahrte mein geringes Körpergewicht die Ziegel vor Schäden, wenn ich auf das Dach kletterte, um den Schornstein zu säubern oder instand zu setzen, gleichzeitig aber drohte mir weniger Gefahr zu fallen und am Boden zu zerschellen, wie es den blutjungen Kaminkehrern leider nur allzu oft widerfuhr.

Zu guter Letzt war ich als ortsansässiger Schornsteinfeger das ganze Jahr über verfügbar, während meine Kollegen aus den Alpen erst Anfang November nach Rom herunterkamen.

Um die Wahrheit zu sagen, war auch ich genötigt, mein lebhaftes Söhnchen mitzunehmen, niemals aber hätte ich ihn einen Schornstein hinaufklettern lassen; ich begnügte mich damit, ihn als Lehrjungen und Gehilfen zu beschäftigen, da dies ein Gewerbe ist, wo man mindestens zu zweit sein muss.

Um die Kunden meiner Geschicklichkeit zu versichern, brüstete ich mich damit, eine lange Lehrzeit in den Bergen der Abruzzen absolviert zu haben (denn auch dort gab es, wie in den Alpen, eine große Tradition der Kaminkehrerkunst). Rechte Erfahrung besaß ich in Wahrheit jedoch nicht. Ich hatte die Anfangsgründe dieser Kunst einzig in der Villa Spada gelernt, bei jenen Gelegenheiten, wo man mich gerufen hatte, damit ich in Rauchabzüge hinaufstieg, um einen unvorhergesehenen Schaden zu beheben oder das Dach zu reparieren.

Und so lud ich Nacht für Nacht meine Werkzeuge auf den Karren – Schultereisen, Spatel, Kehrstangenhaspel, Leinsterne, Kugelschlag, ein Seil, eine Leiter und Zuggewichte – und machte mich auf den Weg, freilich nicht, ohne mir zuvor die traurige Umarmung meiner Gemahlin und des noch schlaftrunkenen Kleinen anzusehen. Cloridia hasste mein gefahrvolles Gewerbe, sie verbrachte schlaflose Nächte mit Bittgebeten, mir möge ja nichts zustoßen.

Fest in mein kurzes, schwarzes Mäntelchen gewickelt, war ich, wenn das erste Licht des Morgens graute, schon bis in die hintersten Stadtviertel oder umliegenden Dörfer gelangt. Hier bot ich mit dem Ruf «Schornsteinfeeeeger, Schornsteinfeeeeger!» meine Dienste an.

Nicht selten erhielt ich als Antwort böses Gebrummel und hässliche Gesten, die das Unheil abwenden sollten: Der Schornsteinfeger kommt im Winter, mit ihm bricht das schlechte Wetter an, also gilt er als Unglücksbringer. Öffnete man uns jedoch die Tür, bekam der Kleine, wenn wir Glück hatten, von einer mitleidigen Hausfrau eine Tasse heiße Brühe und Brot.

Das schwarze Wams, dessen Knöpfe links unter dem Arm saßen, damit sie sich nicht im Kamin verfingen, bis zum Hals zugeknöpft und auch die Ärmel am Handgelenk mit Bändern zugezogen, damit kein Ruß eindrang, die Kniehosen aus glattem, einfachem Barchent, der keinen Schmutz aufnahm, Flicken zur Verstärkung auf Knien, Ellenbogen und Gesäß, jenen Stellen, die sich am stärksten abnutzten, wenn ich durch die engen Schächte kletterte – das war mein Dienstkleid, welches mich, da es so eng saß und gänzlich schwarz war, fast so klein und mager wie mein Knäblein aussehen ließ, sodass viele mich für seinen um wenige Jahre älteren Bruder hielten.

Wenn ich mich durch den Rauchfang nach oben schlängelte, steckte ich den Kopf in einen am Hals dichtverschlossenen Leinensack, um mich wenigstens teilweise vor dem Einatmen des Rußes zu schützen. In solcher Vermummung gemahnte ich an einen zum Tod durch den Strang Verurteilten. Ich war vollkommen blind, doch im Schornstein musste man ohnehin nicht sehen können: Man arbeitete, indem man sich mit den Händen vorantastete und mit dem Schultereisen kratzte.

Der Kleine blieb unten, und jedes Mal zitterte er vor Angst, mir könne etwas zustoßen und ich würde ihn ganz allein lassen, weit weg von seiner lieben Mama und den Schwestern.

Allerdings blieb ich barfüßig, wenn ich durch den Kamin und aufs Dach stieg, um mich besser abstützen und hochstemmen zu können. Das Problem war nur, dass ich meine Füße auf diese Weise zu unförmigen, mit Blutergüssen und Wunden übersäten Gebilden machte und mich den ganzen Winter lang, also in der Zeit, wo es am meisten Arbeit gab, nur unsicher und humpelnd fortbewegen konnte.

Auf den Dächern zu arbeiten, konnte sehr gefährlich werden, und trotzdem war es eine Kleinigkeit für jemanden, der wie ich einmal die Kuppel von St. Peter bestiegen hatte.

Doch das leidvollste Kapitel unserer Armut war nicht einmal mein erbärmliches Gewerbe, sondern das Schicksal unserer beiden Mädchen. Meine Töchter waren leider immer noch unverheiratete Jungfern, und alles ließ befürchten, dass sie es noch lange bleiben würden. Der Herrgott, ihm sei gedankt, hatte sie mit einer eisernen Gesundheit ausgestattet: Trotz der Entbehrungen waren sie schön, rosig und frisch geblieben («Einzig das Verdienst der dreijährigen Ernährung mit Muttermilch!», erklärte Cloridia immer wieder stolz). So prächtig und glänzend war ihr Haarschopf, dass sie jeden Samstagmorgen auf dem Markt ein paar Heller für die Haare bekamen, die bei der morgendlichen Toilette im Kamm geblieben waren. Ihre Gesundheit war wahrhaftig ein Wunder, denn um uns herum hatten Frost und Hungersnot eine große Anzahl Opfer gefordert.

Meine beiden Jungfräulein hatten, liebenswürdig, gesund, schön und tugendhaft, wie sie waren, nur einen einzigen Makel: Sie verfügten über keinen Heller Mitgift. Mehrmals schon waren die Nonnen des Klosters von Santa Caterina Sopra Minerva zu uns gekommen, das die Familien armer Mädchen, welche die Gelübde ablegen sollten, jedes Jahr mit ansehnlichen Summen bedachte. Sie wollten mich überreden, meine Töchter gegen ein Häufchen Geld dem Kloster zu überlassen. Die robuste körperliche Verfassung und gute Gesundheit der beiden Mägdlein weckte Begehrlichkeiten bei den Schwestern, brauchten sie doch kräftige Mitschwestern von niedriger Herkunft für jene Arbeiten im Kloster, die den Ordensfrauen aus adeligen Familien nicht zuzumuten waren. Doch auch in den bittersten Momenten hatte ich ihr Anerbieten stets höflich zurückgewiesen (weniger freundlich war Cloridia, die die Klosterfrauen unter wütendem Schütteln ihrer Brüste anschrie: «Habe ich sie etwa drei Jahre lang gestillt, damit sie so enden?»), und im Übrigen zeigten auch meine Mädchen selbst nicht die geringste Neigung, den Schleier zu nehmen.

Stattdessen lechzten die beiden, die dank ihrer Erfahrung als Hilfshebammen bereits tiefe Einblicke in die Freuden der Mutterschaft gewonnen hatten, danach, so bald wie möglich einen Ehemann zu finden.

Irgendwann hatte die Kälte geendet und die Hungersnot mit ihr. Doch das Elend wollte nicht weichen. Zwei Jahre später warteten meine Töchterchen noch immer.

Mich packte die Wut, wenn ich sah, wie das feine Gesicht der Älteren, ohne dass sie sprach, plötzlich einen abwesenden und traurigen Ausdruck annahm (sie zählte schon fünfundzwanzig Jahre!). Aber mein Zorn war nicht gegen ein blindes und grausames Schicksal gerichtet. Ich wusste ja nur allzu gut, wer die Schuld an unserem Unglück trug: Es war weder die Kälte noch die Hungersnot, die ganz Europa getroffen hatten. O nein. Es war Abbé Melani.

Verschlagener Ränkeschmied, erprobter Spitzel, ein Mann für hundert Betrügereien; Bannerträger der Lüge, Prophet der Hinterlist, Orakel der Täuschung und Fälschung: Das alles und viel mehr noch war der Abbé Atto Melani, ein berühmter Sänger längst vergangener Zeiten, vor allem aber ein Spion.

Vor elf Jahren hatte er mich übel ausgenutzt und dabei sogar mein Leben aufs Spiel gesetzt, alles mit dem Versprechen einer Mitgift für meine Jungfräulein:

«Nicht nur Geld: Häuser. Eigentum. Grundbesitz. Ich werde deine Töchter mit einer Mitgift ausstatten. Einer großen Mitgift. Und wenn ich groß sage, übertreibe ich nicht.» So hatte er mich umgarnt. Diese Worte hatten sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt, wie in nacktes Fleisch.

Er hatte mir erklärt, dass er mehrere Ländereien im Großherzogtum der Toskana besitze: alles wertvolle Güter mit ausgezeichneten Erträgen, hatte er erläutert, und sogar ein schriftliches Versprechen aufgesetzt, darin er sich verpflichtete, im Namen meiner Töchter einen Brautschatz zusammenzutragen, entweder aus «mehr als ansehnlichen» Besitzungen oder aus deren Erträgnissen, welche in Gegenwart eines Notars der Stadt Rom festzulegen seien. Doch zu diesem Notar hatte er mich nie geführt.

Nachdem er meine Dienste erhalten hatte, war er klammheimlich nach Paris zurückgekehrt, und ich war von Anwalt zu Anwalt, von Notar zu Notar geirrt, um jemanden zu finden, der mir ein klein wenig Hoffnung machen konnte. Doch es hatte nichts genützt. Ich hätte einen sehr teuren Prozess gegen ihn in Frankreich anstrengen müssen. Kurzum, jenes Papier mit seinem Versprechen war wertlos.

Und so genoss er jetzt seinen Reichtum, während ich verzweifelt versuchte, mich und die Meinen aus dem Unrat des Elends zu ziehen.

Doch siehe da, nun erhielt ich plötzlich einen Bescheid von einem römischen Notar. Dieser hatte von einem Kollegen in Wien den Auftrag erhalten, mich ausfindig zu machen und mir eine von Abbé Melani unterzeichnete Schenkungsurkunde auszuhändigen.

Worum es sich genau handelte, war freilich noch ein Rätsel. Das Zugeeignete, welches nach Meinung des Notars etwas von großem Wert war («ein Grundstück oder ein Haus», hatte er vermutet), wurde mit Kürzeln und Zahlen beschrieben, die wahrscheinlich auf Wiener Register hinwiesen, jedoch vollkommen unverständlich waren. Abbé Melani hatte außerdem bei einer Wechselbank ein unbegrenztes Darlehen zu meinen Gunsten eingerichtet, damit ich für die Erfordernisse der Reise ohne jede Einschränkung Sorge tragen konnte.

Meinerseits sollte ich nur bei einer bestimmten Adresse in der Kaiserlichen Hauptstadt vorstellig werden, wo ich dann alles erfahren und erhalten würde, was mir zustand.

Ich muss zugeben, ein wenig enttäuschte mich, dass es sich nicht um eine Schenkung im Großherzogtum der Toskana handelte, wie der Abbé sie mir seinerzeit in Aussicht gestellt hatte, sondern um etwas viel weiter Entferntes, das sogar jenseits der Alpen lag.

Doch in der Entbehrung, in der wir lebten, bedeutete es ein wahres Manna vom Himmel. Wer hätte es ablehnen können?