Käyserliche Haupt-
und Residenz-Stadt Wienn

Samstag, den 18. April 1711

ZEHNTER TAG

Versunken in meine neue stille Welt, lag ich in meinem Bett. Soeben hatte ich von Cloridia erfahren, dass am gestrigen Tage die Sonne röter denn je aufgegangen war, wie eine Ankündigung, dass Joseph nun sein letztes Blut vergießen würde. Die Wiener hatten recht daran getan, dieses Phänomen als ein Vorzeichen nahenden Unheils anzusehen. Sofort waren Sonderbotschafter zum Reichstag in Regensburg geschickt worden, um den Kurfürsten den Tod des Kaisers zu verkünden. Prompt erschienen Fliegende Blätter in großer Fülle, insonderheit italienische:

Nel Fior degli Anni, ed in April fiorito

Il Maggior de’ tuoi Figli, AUGUSTA, muore:

Saggio fu nella Reggia, in Campo ardito,

Fù de Guerrieri, e de’ Monarchi il Fiore.

Lagrima Austria, e nel Dominio Avito … *

Aber ich musste an ganz andere Dinge denken: Der Grand Dauphin, der Sohn Ihrer Majestät des Allerchristlichsten Königs von Frankreich war tot. Die Nachricht war am Vortage nach Wien gelangt; heute hatte meine Frau mir die Fliegenden Blätter gebracht, die die Einzelheiten enthielten:

Der Dauphin war ohne Kommunion und Beichte verschieden, und der Erzbischof von Paris hatte sogar vergessen, das Geläut der Totenglocken in den Kirchen anzuordnen. Doch das Erstaunlichste war, dass einer der Medizi, Monsieur de Fagon, dem König kurz zuvor versichert hatte, dass er keineswegs in Gefahr sei. Noch in der Nacht, da er starb, hatte Monsieur de Boudin, sein Leibarzt, den König während des Abendessens aufgesucht, um ihm mitzuteilen, dass die Krankheit seines Sohnes ihren normalen Verlauf nehme und es ihm von Tag zu Tag besser gehe; doch schon eine halbe Stunde später musste er verkünden, dass die Fieberanfälle mit außergewöhnlicher Heftigkeit zurückgekehrt seien und das Leben des Dauphins auf dem Spiel stehe. Der König hatte sich augenblicklich vom Tisch erhoben und war ins Zimmer seines Sohnes geeilt. Der war schon nicht mehr bei Bewusstsein und hatte keine Zeit gehabt zu beichten, nachdem er die Letzte Ölung empfangen hatte. Doch da er noch am Ostersamstag gebeichtet und kommuniziert hatte, rügte man nur die Ignoranz der Medizi, weil sie die Akzidentia, welche dieser Krankheit eignen, nicht vorhergesehen hatten.

Die Medizi sagten später zu ihrer Entschuldigung, dass der Dauphin infolge eines Gehirnschlags durch Ersticken gestorben sei. Sein Körper war derart verfault, dass die Hofchirurgen ihn nicht hatten öffnen wollen, obwohl die inneren Organe und das Herz nach Val de Grâce gebracht werden mussten. Sie hatten Angst, an der Operation zu sterben. Und tatsächlich herrschte in dem Zimmer, wo der Dauphin verschieden war, ein so übler Geruch, dass man gezwungen war, den Leichnam zwei Tage später ohne Bestattung mit einer schlichten Kutsche nach Saint-Denis zu bringen, darinnen auch zwei Kapuziner saßen, ihn zu begleiten. Allein, sie konnten wegen des großen Gestanks nicht in der Kutsche bleiben, obwohl der Bleisarg fest verschlossen worden war.

Der Grand Dauphin war vom französischen Volke sehr geliebt worden, die Straßen von Paris waren voll weinender Menschen aus allen Ständen. Jeder wusste, dass Frankreichs große Gelegenheit, endlich in Frieden zu leben, mit seinem Tod verlorengegangen war.

Jetzt, wo alles vorbei war, stand mir nicht nur mein eigenes Scheitern vor Augen, sondern auch dasjenige Attos. Sein Plan (dem Krieg ein Ende zu setzen) war von den Ereignissen gänzlich überrollt worden.

Nur eine Mission war ihm gelungen: Cloridia mit ihrer Schwester Camilla zusammenzubringen.

Vor zwei Tagen, im klösterlichen Weinkeller, hatte meine Gattin mir alles erzählt, und alle Teile des Mosaiks waren endlich an ihrem Platz. Meine Frau hatte den Bericht mit ihrer türkischen Mutter begonnen, über die ich ihr bis jetzt nur schwer etwas hatte entlocken können. Sie war die Tochter eines Kompaniechirurgus der Janitscharen gewesen, erzählte Cloridia, und in Konstantinopel aufgewachsen. Von ihrem Vater hatte sie die Grundlagen einer uralten orientalischen Heilkunst gelernt, welche Krankheiten mit Dinkel kurierte. Doch bei einem Piratenüberfall war das eben erwachsene Mädchen geraubt und als Sklavin verkauft worden.

Dann folgte ein Teil der Erzählung, den ich gut kannte. Cloridias Mutter war von den Odescalchi gekauft worden, jener Familie von Geldverleihern, für die auch mein seliger Schwiegervater gearbeitet hatte. Aus dem Schoß der sechzehnjährigen Türkin wurde dann meine Frau geboren. Als Cloridia zwölf Jahre alt war, hatte man die Mutter erneut verkauft und Cloridia nach Holland verschleppt.

Hier begann das, was ich noch nicht wusste. Ich bat meine Gattin mit Gesten, mir diese Geschichte mit gutem Ausgang immer wieder zu erzählen und meinen trüben Gedanken damit eine vorübergehende Labsal zu schenken, eine Zuflucht vor den traurigen Ereignissen der vergangenen Tage.

Cloridia drückte meine Hand, ihr schönes Gesicht war mit Tränen bedeckt, und während sie auf die Ankunft des nächsten Heilers für mich wartete, willigte sie ein. Schon drei Medizi waren gekommen und hatten allesamt dekretiert, dass ich vollkommen gesund sei; wahrscheinlich (nicht «sicherlich») würde die Stimme wiederkehren, hatten sie im Brustton der Überzeugung gesagt.

Die Odescalchi, erzählte mir Cloridia zum wiederholten Male liebevoll, während sie meinen Kopf streichelte, hatten ihre Mutter an Collonitz verkauft, jenen Kardinal, der zu den Helden der Belagerung Wiens gehörte.

Von diesem hatte sie 1682 eine zweite Tochter bekommen. Collonitz hatte das Kind heimlich von seinem spanischen Statthalter Gerolamo Giudici aufziehen lassen und ihm auch die Mutter anvertraut. Giudici behielt beide als Dienstmädchen in seinem Haus, wo die Mutter ihre Tochter in der Heilkunst unterwies und perfekte Kenntnisse der türkischen ebenso wie der italienischen Sprache an sie weitergab. Als das Mädchen dreizehn Jahre zählte, 1695, konnte es sich bereits einer beachtlichen Ausbildung rühmen, vorzüglich in der Musik. Die junge Frau komponierte sogar, besonders schön aber war ihr Gesang. Als der blutjunge feurige Deutschrömische König sie singen hörte, verliebte er sich sofort in sie. Collonitz hatte sie darob in Sicherheit bringen wollen: Er taufte sie persönlich in der Kirche St. Ursula in der Johannesgasse und bestimmte sie durch Vermittlung von Giudici für das Kloster in der Himmelpfortgasse.

Kurz, dies war die Geschichte der von den Nonnen des Klosters abgelehnten jungen Türkin, die Camilla selbst uns vor einigen Tagen erzählt hatte.

Die Ordensschwestern hatten sich gegen den Eintritt der Osmanin gewehrt, da sie nur adelige Zöglinge aufnahmen, während die Neuangekommene eine Sklavin war. Aus Angst, in die Klausur gesteckt zu werden (ein anderes Kloster hätte sie womöglich aufgenommen), war das Mädchen unterdessen geflohen. Niemand wusste, wohin sie gegangen war und mit wem.

«Sie war mit ihrem Musiklehrer Franz de’ Rossi geflohen», hatte meine Frau mir erklärt.

Der Hofmusikus des Kaisers Joseph und Enkel von Luigi Rossi gab ihr den Namen Camilla, denn so hieß seine römische Cousine aus Trastevere, an die auch Cloridia sich erinnerte.

«Unsere Mutter aber hatte er Maria genannt, wie ich auch», sagte Cloridia lächelnd und trocknete meine stummen Tränen, die das Kissen netzten.

Nein, ich war nicht gerührt von dieser Geschichte, die sich mit geradezu unverschämter Lebensfülle über den widernatürlichen Tod des Kaisers, des Grand Dauphins, Simonis’ und seiner Freunde erhob. Ich weinte aus einem ganz anderen Grund: Die Zuflucht, die ich in Cloridias Erzählung suchte, fand ich nicht. Ihre Erleichterung, endlich ein Grab zu haben, an dem sie ihre Mutter beweinen konnte, linderte meine Verzweiflung nicht; ihre Freude, in Camilla die blutsverwandte Schwester entdeckt zu haben, war mir kein Trost für das vergossene Blut.

In meiner Trauer kam mir der Gedanke, dass Cloridia sich in den fast dreißig Jahren unserer Ehe niemals geirrt hatte: Jedes Mal, wenn ich zweifelnd im Dunkeln tappte, hatte sie schon den Überblick und den rechten Rat für mich bereit. Jetzt aber hatte sogar sie geglaubt, der Derwisch habe zur Genesung des Kaisers beitragen wollen, wodurch sie sich und mich zu einem fatalen Irrtum verleitet hatte. Wie Atto war auch sie von den neuen Zeiten überrannt worden. Und ich begriff, dass jetzt nicht einmal mehr mein süßes kluges Weib mir Zuflucht vor dem Gefühl der Hekatombe bieten konnte, das meine Seele erfüllte.

Während ich so unter Tränen grübelte, fuhr Cloridia ahnungslos mit ihrer Erzählung fort. Franz und Camilla heirateten, und was von da an geschah, hatte die Chormeisterin selbst uns berichtet: Als der Krieg um die spanische Erbfolge ausbrach, kehrten sie nach Wien zurück, wo sie erfahren mussten, dass Camillas und Cloridias Mutter inzwischen gestorben war. Franz trat wieder in Josephs Dienste und mit ihm seine Frau. Aber der junge Deutschrömische König erkannte in ihr die türkische Sklavin, in die er sich einst verliebt hatte, nicht wieder. Ein Jahr später starb Franz.

Obwohl er nicht wusste, wer sie war, fühlte sich Joseph erneut zu Camilla hingezogen, ja, er gewährte ihr diesmal (wie wir schon von Gaetano Orsini wussten) sogar seine Freundschaft und sein Vertrauen. Um Joseph für seine Zuneigung zu danken, komponierte die junge Frau für ihn vier Jahre lang jedes Jahr ein Oratorium, doch sie wollte auf keinen Fall bezahlt werden, und das hatte mich so argwöhnisch gemacht.

Jetzt hatte Camilla es uns erklärt: Sie fürchtete, ihr Name könne den Zahlmeistern bekannt werden, die Josephs private Kassen oder auch die Kasse für die Hofbediensteten verwalteten. Dann hätte man ihr Fragen zu ihrer Person gestellt, und bei der Wiener Vorliebe für Genauigkeit hätte man früher oder später entdeckt, wer sie in Wirklichkeit war.

Also hatte sie es vorgezogen, ihren Unterhalt zu verdienen, indem sie durch Österreich reiste und sich als Heilerin mit dem Dinkelkorn verdingte, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte. Zum Glück stammte diese Methode aus derselben Tradition, von der sich vor Jahrhunderten auch die Heilige Äbtissin Hildegard von Bingen hatte leiten lassen, ein Umstand, der es Camilla gestattete, sich zu einer Schülerin Hildegards zu erklären und ihre orientalische Herkunft geheim zu halten. In Wien konnte sie nicht praktizieren, denn dort musste man examiniert und approbiert sein, das heißt, man benötigte eine Lizenz der Universität. Außerdem lebte Kardinal Collonitz noch bis 1707, es war also besser, sich nicht allzu oft in der Kaiserstadt blicken zu lassen.

Als Joseph sie am Ende des vergangenen Jahres 1710 gebeten hatte, sich in der Hauptstadt niederzulassen, da er ihren Rat brauchte, hatte sie sich wieder geweigert, Geld von ihm anzunehmen. Als Vorwand hatte sie angeführt, dass sie nicht mehr komponieren wolle. Stattdessen hatte sie den Wunsch geäußert, in ein Kloster zu gehen. Ihre Majestät hatte sie der Himmelpforte zugewiesen, gegenüber der Wohnstatt der jungen Pállfy, die Eugen von Savoyen im Straßoldischen Hause, unweit von seinem Palais, untergebracht hatte.

Als der Kaiser sie dann gebeten hatte, ein Oratorium zu Ehren des Päpstlichen Nuntius einzustudieren, hatte sie dafür die letzte ihrer Kompositionen gewählt, den Heiligen Alexius. Was ich noch nicht wusste, war, dass dieses Oratorium eine besondere Bedeutung barg: Camilla hatte sich selbst darin dargestellt, denn wie Alexius war sie zurückgekehrt, ohne dass jemand sie erkannte. Wer weiß, ob Camilla sich dem Kaiser bei ihrer letzten Begegnung doch noch offenbart hatte, so wie Alexius von den Eltern und der Braut erst auf dem Totenbett erkannt wird? Cloridia hatte mir berichtet, ihre Schwester wolle nicht darüber sprechen, sie bete Tag und Nacht, um ihrer Verzweiflung Herr zu werden.

Das Bildnis der kleinen Mädchen in dem herzförmigen Anhänger waren also nicht meine Töchter, sondern Cloridia und Camilla als Kinder. Das Halsband hatte ihrer Mutter gehört – es linderte den Schmerz über die ihr allzu früh entrissenen Töchter –, und nach ihrem Tod war es im Hause von Gerolamo Giudici geblieben, dem Statthalter Collonitz’.

Als Atto, Simonis und ich am gestrigen Tage vom Ort Ohne Namen nicht zurückkehrten, hatte Cloridia sich besorgt an die Chormeisterin gewandt. Sofort hatten sie sich mit einer kleinen Kutsche des Klosters gemeinsam auf den Weg zum Neugebäu gemacht. Camilla ahnte, dass etwas Ungewöhnliches vor sich gehen musste, und hatte vorgeschlagen, in dem Weinkeller, den die Schwestern der Himmelpforte in der Nähe besaßen, Unterschlupf zu suchen. Während der Fahrt hatte Cloridia, üble Machenschaften von Abbé Melani fürchtend, sich entschlossen, den Schrein aufzubrechen, den er mir anvertraut und den sie verwahrt hatte. Und sie hatte darin gefunden, was sie nie erwartet hätte: ihr eigenes Porträt als Kind, daneben dasjenige Camillas, die sich ebenfalls sofort erkannte. Da hatte die Chormeisterin ihr alles gebeichtet. Sie wusste es nämlich bereits, natürlich durch Atto.

Hier endete der Bericht meiner Frau. Nachdem ich sie gebeten hatte, mir die Geschichte viermal zu erzählen, entließ ich sie. Das Schweigen, in das ich zurückfiel, trocknete meine Tränen und ließ Raum für klarere Überlegungen, bei denen sich alles nach und nach in seinen Platz fügte. Die Anfänge der Bekanntschaft zwischen Atto und Camilla zum Beispiel.

Im September 1700 erzählte Camilla dem Abbé ihre eigene und die Geschichte ihrer Mutter. Da er um die Vergangenheit meiner Frau wusste, erkannte Atto sofort, dass die zukünftige Chormeisterin und Cloridia Töchter derselben Mutter sein mussten. Er vertraute Camilla seine Eingebung an, täuschte jedoch vor, nicht zu wissen, wo Cloridia zu finden sei … obwohl er soeben aus Rom zurückgekehrt war, wo er meiner Gemahlin zehn Tage lang fast täglich begegnet war.

Wie immer ging es Melani auch hier nur um seine eigenen Interessen. Er wollte nicht, dass Franz de’ Rossi und Camilla nach Rom gingen, was sie gewiss getan hätten, wenn sie erfahren hätten, dass Camillas Schwester dort lebte. Nach all den Intrigen, für die er mich benutzt hatte, wollte er verhindern, dass Cloridia der Schwester von seinen Missetaten berichtete. Außerdem war ihm viel mehr daran gelegen, dass Franz und Camilla nach Wien zurückkehrten. Dort konnten sie ihm überaus nützlich sein, da der Ausbruch des Krieges um die spanische Erbfolge unmittelbar bevorstand. Und es war ihm nicht schwergefallen, das Paar zu überzeugen, im Reich zu bleiben: Er hatte behauptet, Wien sei der wahre Mittelpunkt der italienischen Musik, während das Papsttum im Niedergang begriffen sei, Frankreich an den irrwitzigen Ausgaben für Krieg und Ballette kranke und das Goldene Zeitalter Kardinal Mazarins seit langem schon beendet sei.

Er würzte seine Darlegungen mit einer Halbwahrheit: Er sei mir und Cloridia etwas schuldig (das war die Wahrheit), weshalb er versuche, uns ausfindig zu machen (das war gelogen, er wusste sehr wohl, wo er uns finden würde, hatte er uns doch kurz zuvor in der Villa Spada schmählich im Stich gelassen). Schließlich versprach er, Camilla von den Fortschritten seiner Suche auf dem Laufenden zu halten. Damit hatte er einen Vorwand, Kontakt zu Camilla und Franz zu halten, falls er in Wien eine Gefälligkeit benötigte …

Und dies war ein weiterer der vielen Gründe, die Atto bewogen hatten, seine Schuld endlich zu begleichen und mir durch einen Wiener Notar eine Hinterlassenschaft überschreiben zu lassen: Er wollte endlich die Begegnung zwischen Camilla und Cloridia herbeiführen. Doch davor hatte er noch ein weiteres Hindernis eingeplant: Die Chormeisterin durfte sich meiner Frau erst zu erkennen geben, wenn er selbst aus Wien abgereist war. «Ich möchte keinen Dank», hatte er Camilla mit falscher Bescheidenheit gesagt. Der Grund war ein ganz anderer: Er fürchtete den Zorn meiner Frau, wenn sie entdecken würde, dass Atto ihr die Schwester gut elf Jahre lang vorenthalten hatte.

Der alte Abbé hatte gehofft, vor dieser Enthüllung aus Wien abreisen zu können. Doch die Ereignisse hatten es ihm verwehrt, sich davonzustehlen und uns sitzenzulassen, wie er es vor elf Jahren in Rom und davor noch, bei unserer ersten Begegnung vor achtundzwanzig Jahren, getan hatte. Zu anderen Zeiten wäre ich mit Anklagen, einem Haufen Fragen und schweren Vorwürfen herausgeplatzt, jetzt nicht. Selbst wenn ich gewollt hätte, ohne die Gabe der Stimme vermochte ich es nicht mehr. Und das war besser so: Cloridia, gerührt von den durchsichtigen Winkelzügen des alten Kastraten, hatte ihm sofort verziehen.

Und schließlich zerstreute Cloridias Erzählung den letzten Schatten, der noch auf Atto lastete. Der Satz, den ich jenen Armenier zu Atto hatte sprechen hören, nämlich dass die Diener des Hauses «das Herz ihres Herrn verkauft hatten», bedeutete einfach, dass Atto vermittels des Armeniers den Diebstahl des herzförmigen Anhängers für viel Gold in Auftrag gegeben hatte! Das Ganze hatte also nichts mit dem Kaiser oder den Armeniern des Agas zu tun.

Im Stillen lachte ich bitter über all diese Verwicklungen, die mich im Kreis hatten irren lassen, während sich hinter meinem Rücken die ganze Welt umzukehren begann: Die Erde würde zu Wasser werden, das Wasser zu Erde und der Himmel zu Feuer.

Endlich verklang der Ton, der meine Gedanken betäubte, und ich hörte nur noch ein fernes Echo. Ich schlief ein.

Als ich erwachte, erblickte ich Atto, der auf einem Sessel an meinem Kopfende saß. Nunmehr waren unsere Geschicke enger verbunden denn je. Wien hatte uns nichts mehr zu bieten, und Atto würde uns mit nach Paris nehmen. Eine großzügige Geste, die er sich noch wenige Jahre zuvor nie erlaubt hätte. Jetzt, am Ende seines Lebens, gewährte er uns diese Gunst nur allzu gerne, wie alle, die in Gottes Gnade sterben möchten. Er hatte Cloridia überzeugt, sein Angebot anzunehmen. Wir würden in seinen Diensten fürstlich entlohnt werden, und er würde dafür sorgen, dass unser Kleiner eine angemessene Ausbildung erhielt.

«Ich bin sicher, dass der Allerchristlichste König mich bald nach Pistoia zurückkehren lassen wird; dann kommst du und deine Familie mit mir», hatte er angekündigt.

Camilla sah ich nicht mehr. Wo war sie? Wieder betrachtete ich Cloridia und liebkoste ihre tränenfeuchten Wangen, außerstande, sie zu trösten. Sie hatte eine Schwester wiedergefunden, Fleisch von ihrem Fleische, aber sie hatte den Mann verloren, den sie kannte. Jetzt hatte sie einen anderen, weniger fröhlichen, der weniger taugte, ihr Liebe zu zeigen. Aber es war ein sehr entschlossener Mann. Schon fühlte ich in mir den Wunsch heranreifen, das Schwert zu ergreifen, ein ganz besonderes Schwert. Die Zeit dafür würde bald kommen.

Während sich in meinem Geist die Gedanken an die Vergangenheit drängten, versank Wien in Trauer. Wäre Joseph noch am Leben gewesen, hätten an diesem Samstag Handwerker und Kaufleute mit ihren Gesellen das Vierzigstundengebet sprechen müssen. Doch jetzt stand uns etwas ganz anderes bevor. Statt uns zum Gebet zu versammeln, würden wir uns unter die Wartenden einreihen, um seinem Leichnam die letzte Ehre zu erweisen. Wir hatten es von den Schwestern der Himmelpforte erfahren: Einbalsamiert von den Leib-Barbieren und hergerichtet für die Totenwache, lag der arme geschundene Körper Ihrer Kaiserlichen Majestät auf einer Parada-Bühne in der Ritterstube der Residenz. Am heutigen Abend würde die Totenwache beginnen, freilich nur für die Angehörigen des Hochadels, welche die ganze Nacht lang und am folgenden Tag zu jeder Stunde jeweils zu zweit eintreten und ihrem Kaiser den letzten Gruß erweisen würden. Von morgen an durfte auch das Volk in die Ritterstube strömen und an den vier Altären Totenwache halten, die aus diesem Anlass bis zum 20. April, dem für die Exequien festgesetzten Tag, dort aufgestellt waren.

Und endlich erfuhr ich, wo Camilla war. Täglich zwischen zehn und elf sowie zwischen achtzehn und neunzehn Uhr sollten die Hofmusizi vor dem kaiserlichen Leichnam den fünfzigsten Psalm auf Lateinisch singen. Auf ausdrücklichen Wünsch von Joseph, der dies alles vor seinem Ende in geistiger Klarheit angeordnet hatte, würde die Chormeisterin sie dirigieren.

Atto hatte Camilla gebeten, ihn mitzunehmen, und eben kehrte sie zurück, um ihn abzuholen. Der Abbé wollte sich von mir verabschieden, doch ich protestierte mit wilden Handbewegungen: Wie konnte ich denn fehlen bei dem letzten Gruß an den Kaiser, den ich hatte sterben sehen? Ich stand aus meinem Bett auf, entwand mich dem liebevollen Griff Cloridias, legte meine besten Kleider an und schloss mich ihnen trotz ihrer Warnungen an.

Während wir auf der Straße warteten, dass Camilla uns mit der Kalesche abholte (sie wollte uns nicht einen Schritt zu Fuß machen lassen), kam Atto der Frage zuvor, die ich ihm hatte stellen wollen und die er durch meinen Blick erraten hatte:

«Nein, ich gehe keinerlei Risiko ein, wenn ich mich blicken lasse. Der Plan der Verfluchten ist gelungen, der Kaiser ist tot. Und nach einem Staatsverbrechen pflegen die Meuchelmörder und ihre Auftraggeber immer zu verschwinden. Einige gehen fort, wie Eugen, andere bleiben, doch versteckt, um die Situation zu kontrollieren, aber generell gilt: zwei bis vier Tage lang gar nichts tun. Sie werden sehen, dass wir Totenwache am Sarg halten, aber sie werden nicht einschreiten. Sie wissen, dass wir nun nichts mehr unternehmen können.»

In der von unzähligen Kerzen erleuchteten Ritterstube bezogen Hartschiren und Trabanten Wache vor dem Katafalk. Dieser stand auf einem dreistufigen Podest und war mit Stuckwerk in brüniertem Gold geschmückt, darüber prangte ein Baldachin aus schwarzem Samt mit Seidenfransen.

Ihre Kaiserliche Majestät bot einen makellosen Anblick. Der Leichnam lag genau dort, wo Joseph viele Male Besucher und Ehren empfangen hatte, wo er in seinem kurzen Leben zahlreichen Versammlungen und Zeremonien vorgesessen hatte. Gewand und Umhang waren aus schwarzer Seide mit gleichfarbiger Spitze; auf dem Haupt die rotblonde Perücke und ein schwarzer Hut; der Degen an der Seite und ein kleines Wappen mit dem Goldenen Vlies um den Hals. Der Sarg, in dem er lag, war mit karmesinfarbenem Samt ausgeschlagen und ebenfalls mit schwarzem Goldstuck verziert; der Kopf ruhte auf zwei Kissen. Der Einbalsamierer hatte gute Arbeit geleistet. Mich überraschte das Fehlen der Blatterngeschwüre auf dem Gesicht – Folge der Mumifizierung oder Zeichen eines gewaltsamen Todes?

Vor dem Kaiser hing ein großes Kruzifix aus Silber, daneben stand das Weihwasserbecken. Rechts waren die Kaiserlichen Insignien aufgestellt: die Krone, der Reichsapfel, das Szepter und das Goldene Vlies auf einem vergoldeten Kissen; zur Linken die Kronen der Reiche Ungarn und Böhmen. Nah dabei standen, mit schwarzem Taffet bedeckt, ein silberner Kessel und ein Becher. Den Gebräuchen des Hauses Habsburg gemäß enthielt einer Herz und Zunge Josephs, der andere Hirn, Augen und Eingeweide. Auf zwei schwarz überzogenen Betstühlen saßen der Hof-Cappellan und vier Patres der Barfüßigen Augustiner, welche das Toten-Offizium murmelten.

Und dann sah ich sie von weitem alle wieder: den Kastraten Gaetano Orsini (er zeigte noch Spuren blauer Flecke), die Landina, Sopranistin und Gattin des Theorbenspielers Francesco Conti, und die anderen. Ich machte mich nicht bemerkbar – wie hätte ich sie grüßen können, stimmlos, wie ich war? Ich beobachtete sie: die Gesichter waren eingefallen, abwesend die Blicke. Sie hatten sich vom Heiligen Alexius verabschieden müssen; die Aufführung des Oratoriums zu Ehren des Nuntius war abgesagt worden. Was würde aus ihnen werden, nun, da der geliebte Joseph tot war, nun, da ihr junger Wohltäter nicht mehr lebte?

Würde sein Bruder Karl, wenn er aus Barcelona kam, um sich auf den langersehnten Kaiserthron zu setzen, sie behalten oder allesamt entlassen?

Vinzenz Rossi kam uns entgegen, er tauschte mit Camilla Gesten des Trostes, und während die Chormeisterin sich anschickte, die Sänger zu dirigieren, wies er uns Plätze in einem Winkel an, wo wir uns bis zum Ende der Darbietung würden aufhalten können. Ich kannte Psalm 51 und wiederholte die Worte im Geiste:

Entsündige mich mit Ysop, dann werde ich rein.

Wasche mich, dann werde ich weißer als Schnee.

Sättige mich mit Entzücken und Freude!

Jubeln sollen die Glieder, die du zerschlagen hast.

So geschah es, dass die allgemeine Trauer eins wurde mit der Leere, die in mir herrschte. Das Leid jedes kaiserlichen Untertanen war in mir, durchquerte meinen Körper, und ich wurde zu einem Funken aus Schmerz, den der Wind dieses flehenden Gesangs mit sich trug. Meine Gedanken jedoch wurden nicht milde gestimmt. Während um mich herum unterdrücktes Weinen die Luft erzittern ließ, blieb ich kalt und abweisend. Der Gleichmut des Kummers fokussierte jedes Ereignis, das ich gleich einem geschickten Chirurgus mit dem Messer scharfen Nachdenkens sezierte.

Neben Atto, der auf einem unbequemen Samtstuhl saß, grübelte ich erneut und maß die Gegenwart an der Elle der Vergangenheit.

Zur Zeit unserer ersten Begegnung im September 1683 war Abbé Melani nach Rom gekommen, um die geheime Mission zu erfüllen, die der König von Frankreich ihm aufgetragen hatte. Danach hatte er freilich selbst Erkundigungen einziehen müssen, weil er herausgefunden hatte, dass niemand ihm die wahre Natur seines Auftrags erklärt hatte.

Als wir uns im Juli 1700 wiederfanden, war Atto eben in Rom eingetroffen und unerklärlicherweise mit einem Messer am Arm verletzt worden. Er hatte eine Reihe von Nachforschungen anstellen müssen, um herauszufinden, wer ihn bedrohte. Doch in Wahrheit hatte er auch damals eine geheime Mission für seinen König zu erfüllen und wusste von Anfang an genau, welche Schritte er tun musste: ein Testament fälschen, sich der Hilfe seiner intriganten Freundin Maria Mancini bedienen, einen fingierten Streit mit Kardinal Albani, dem zukünftigen Papst, vom Zaun brechen und so weiter, immer mit der teuflischen Gerissenheit, die ihm eigen war.

Dieses Mal, im Wien des Jahres 1711, waren die Dinge gänzlich anders verlaufen. Der Abbé war in die Kaiserstadt gekommen, um Eugen von Savoyen zu bewegen, den Krieg zu beenden. Er wusste zwar auch jetzt von Anfang an, was er zu tun hatte (dem Kaiser den gefälschten Brief aushändigen), doch aufgrund der Krankheit Josephs hatten sich seine Versuche bald als vergeblich herausgestellt. Schließlich waren sie von den dunklen Manövern eines Mannes hinweggefegt worden, der viel mächtiger war als Atto, aber kein Gesicht hatte. Jetzt wussten wir, dass es ein ganzes Netz von Verschwörern gewesen war, nicht nur eine Person.

Dies war der Niedergang des Abbé Melani, wie er selbst klar erkannt hatte. Nachdem er in jenem heißen römischen Juli vor elf Jahren den Gipfel seiner diplomatischen Macht erklommen hatte, war sein Stern nun gesunken. Neue Zeiten waren angebrochen. Atto war nur mehr ein alter Mann, eine Erinnerung an vergangene Zeiten.

Und dies waren nicht die einzigen Parallelen zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Joseph der Sieghafte war tot, doch seine Totenwache führte zurück zu einem anderen traurigen Tag: dem Tod Maximilians des Mysteriösen. Wie viel Großes verband diese beiden unglücklichen Kaiser!

Beide hatten im Krieg ihr Heer persönlich angeführt, beide hatten gegenüber den Anhängern Luthers Toleranz geübt. Beide waren für immer mit dem Ort Ohne Namen verbunden: Maximilian, weil er ihn geschaffen, Joseph, weil er seine Restaurierung gewollt hatte, bis der Tod seine Pläne zunichtemachte. Auch Schönbrunn war von Maximilian gegründet und zum größten Teil von Joseph erweitert worden. Beide waren in vielen Sprachen gewandt und mit weit mehr Intellekt begabt als die meisten ihrer Vorgänger und Nachfolger.

Doch all ihre Größe war im Nichts zerronnen: Maximilian war bald vergessen worden, und so wird es (darauf wette ich) auch Joseph ergehen, wenn die dunklen Mächte hinter Ciezeber-Palatino nicht aufgehalten werden.

Beide starben vorzeitig an einer Krankheit und wurden ärztlichen Heilmethoden unterworfen, die suspekt waren. Beiden folgte ein Bruder auf den Thron, nicht der eigene Sohn. Oh, wie leicht ist es noch für den arglosesten Geist, in diesen beiden Schicksalen die Spur eines einzigen mörderischen Willens zu entdecken!

Dies war nicht das erste Mal, dass ich den Mord an einer angesehenen Persönlichkeit aus nächster Nähe erlebte. Vor achtundzwanzig Jahren war ich Zeuge des Todes von Nicolas Fouquet gewesen, Oberintendant der Finanzen des Allerchristlichsten Königs. Es war der unvermeidliche Abschluss eines von Verleumdungen heimgesuchten Lebens. Nachdem er beseitigt worden war, hatte man sein allseits mit Neid bedachtes Schloss Vaux-le-Vicomte geplündert und so zur Verwahrlosung verdammt wie den Ort Ohne Namen. Kurz, Fouquet war geendet wie Maximilian und Joseph.

In der Ritterstube hallte unterdessen der traurige Chorgesang wider, dessen Bitten ich mir zu eigen machte:

Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz

Und gib mir einen neuen, beständigen Geist!

Oh, sieghafter Joseph! Dein Tod selbst zeigt auf den Schuldigen und holt ihn aus seinem Versteck. Niemals könnte der Mord an dem Helden von Landau das Werk eines ihm Gleichgestellten sein. Wenn der Sonnenkönig sich sogar, als es ein Leichtes für ihn gewesen wäre, geweigert hatte, dich entführen oder töten zu lassen, warum hätte er dich dann heimlich meucheln sollen? Niedrig sind die, die dich töteten, niedrig im Geiste. Dein Tod ist das Ende einer Epoche, der Zeit der großen Könige, der großen Gestalten. Einer Zeit, da die Herrscher nicht wagten, den Kopf eines anderen Königs rollen zu lassen, wie Abbé Melani mich lehrte. Ein neues Jahrhundert hat Einzug gehalten, wo dunkle Mächte sich erheben, wo Komplotte geschmiedet werden von Menschen, die kein Gesicht und keinen Namen, vor allem aber kein Gesetz haben.

Der Chor, den die überirdisch schönen Stimmen Orsinis und der Landina veredelten, mahnte, auf die unendliche göttliche Weisheit zu vertrauen:

Dann lehre ich Abtrünnige Deine Wege,

Und die Sünder kehren um zu Dir.

Ich sah Atto still beten und von Zeit zu Zeit den faltigen Hals recken, um einen Blick auf den Leichnam des Kaisers zu werfen. Er hatte die neuen Zeiten als Erster erkannt. Waren nicht alle irgendwie Teil dieser grausamen Tragödie? Zwar ward Josephs Tod von den neuen Machthabern gelenkt, doch auch alle anderen, bis hin zu den Löwen, die ich über den Kadaver des Ochsen im Neugebäu herfallen sah, haben von diesem Tod ihren Nutzen gehabt. England und Holland, die Erfinder des Komplotts, haben verhindert, dass das Reich zu mächtig wurde, indem sie das Gleichgewicht zwischen den europäischen Mächten störten. Dann sind da die Helfershelfer: Die Jesuiten haben sich an dem einzigen Kaiser gerächt, den sie nicht erzogen und der sich ihrer zudem entledigt hatte; der Bruder Karl, der jetzt Kaiser wird, hat seinem Hass auf den älteren Bruder die Krone aufgesetzt; die Minister der alten Garde, die Joseph verjagt oder zum Gehorsam gezwungen hatte, lehnen sich zufrieden zurück; Eugen von Savoyen oder Madame L’Ancienne hat sich für die Demütigung von Landau gerächt, als der junge Naseweis Joseph den größten General-Invertierten aller Zeiten verdrängt hat. Schließlich die Meuchelmörder: Der Islam ist, wie immer, benutzt und vom Okzident vor den eigenen Karren gespannt worden.

Wer ist es also gewesen? Alle. Alle haben einem Derwisch mit hundert Namen die Waffe in die Hand gedrückt, Palatino oder Ammon oder Ciezeber, der vielleicht wirklich siebenhundert Jahre alt ist. Oder vielleicht war es umgekehrt: Es waren der Derwisch und jene, die wie er viele Namen, aber keinen Nachnamen haben, die England, Holland, Jesuiten, Minister und sogar Eugen und Karl manövrierten, damit die ruchlose Tat geschah.

Es war heiß in der Aufbahrungshalle, unter den Perücken rann der Schweiß hervor, Müdigkeit machte sich breit.

Vielleicht, überlegte ich, hatte Joseph der Sieghafte den Ort Ohne Namen restaurieren wollen, weil er sich stark genug wähnte, um den Gegnern des Neugebäus und Maximilians die kalte Schulter zu zeigen. Stattdessen …

Wieder schaute ich Atto an. Diesmal erwiderte er meinen Blick, und einen kurzen Moment lang schien es, als sprächen seine traurigen Augen zu mir. Doch es war gewiss nur ein Traum, was ich jetzt hörte:

«Präge dir Josephs wächsernes Gesicht gut ein, mein Junge. Herrscher wie ihn wirst du niemals mehr sehen. Die Könige der Zukunft werden nur Marionetten in der Hand von Gruppierungen ohne Anführer, von Ungeheuern ohne Kopf sein, die niemanden anhören, der nicht aus ihren Kreisen stammt. Doch wer dort eintritt, wird ihr Gefangener. Es wird ein Tag kommen, da das Volk auf die Straßen geht, und man wird nicht wissen, woher es kam, wie während der Fronde am Tag der Geheimnisvollen Barrikaden, als das Nichts nach allen Seiten Scharen von Fanatikern ausspie, die bereit waren, alles niederzureißen, jede Autorität, jedes heilige Symbol, jede menschliche Grenze. Wie in Prag während der Funeralien Maximilians II. Doch diesmal wird es nicht ein oder zwei Tage dauern. Nein, der Tag wird kommen, da der Terror jahrelang nackt durch die Straßen läuft, bewaffnet mit Beilen und Sensen, um der Wahrheit die Zunge und den Gerechten den Kopf abzuschneiden. Sie werden ihn Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit nennen, aber er wird nur Gemetzel und Tyrannei sein

Ich wandte den Blick von Attos Augen. Eine Gruppe Nonnen war in die Aufbahrungshalle gekommen und stimmte ein Rosenkranzgebet an. Dann blickten Atto und ich uns wieder an:

«Du wirst keine Lehren mehr von mir hören. Mit deinem jetzigen Wissen wirst du die kommenden Ereignisse verstehen. Die zukünftigen Bündnisse, Kriege und Krisen – all das wird von den Söhnen, Enkeln und Urenkeln der Mörder Josephs planmäßig inszeniert sein

Da dachte ich zurück an die Zeit, als mein seliger Schwiegervater vor fast dreißig Jahren gegen die Ehe zwischen Blutsverwandten bei den Monarchen aller Länder, diesen ewigen Inzest der Herrscherhäuser, gewettert hatte. Mit einem jähen Flackern in den Augen sagte mir Atto, dass es jetzt um etwas ganz anderes ging:

«Von nun an werden die Ehebündnisse, die Geschlechterlinien, die Blutsverwandtschaften streng geheim gehalten werden. Nichts wird mehr unter dem Licht der Sonne geschehen, damit keiner mehr auf die Wahrheit zeigen kann. Und wer es trotzdem versucht, wird sogar als verrückt gelten

Und ich dachte an Albicastro, den wunderlichen Violinisten, dem ich vor elf Jahren, bei meinem zweiten Abenteuer mit Atto, begegnet war. Auch er hatte eine ähnliche Prophezeiung gemacht, aber jetzt erst verstand ich ihren ganzen Sinn: Es war die notwendige Lehre, um dieser neuen Welt entgegenzutreten.

Der erste, geheimnisvolle Steuermann des Fliegenden Schiffes, der aus Portugal gekommen war, wie die Folia, war heimlich hingerichtet worden. Das verlassene Luftschiff, das doch immer noch fliegen konnte, war das himmlische Zeichen dafür, dass überall Kräfte wüteten, die jenen Lehren zuwiderliefen.

Und ich schwieg. Aber war das richtig?