Käyserliche Haupt-
und Residenz-Stadt Wienn

Mittwoch, den 15. April 1711

SIEBTER TAG

5.30 Uhr: Frühmesse. Von nun an folgt unaufhörlich Glockengeläut, das den ganzen Tag lang Messen, Andachten und Prozessionen ankündigt. Die Beisln und Bierhäusl öffnen.

«Morgen Nacht, verstehst du? Morgen Nacht werden sie es tun», sagte Cloridia mit vor Erregung bebender Stimme.

«Ja, und?»

Cloridia war in den frühen Morgenstunden erneut in das Palais des Prinzen von Savoyen gerufen worden: Der Aga würde noch einmal zu einer Audienz erscheinen, doch nicht um die Mittagszeit, wie üblich, sondern noch vor Sonnenaufgang.

Schon kurz darauf war mein liebes Weib heimlich zu mir zurückgekehrt. Sie hatte sich ein paar Minuten ihrer Arbeitszeit genommen, um mir die brisanten Neuigkeiten zu berichten, die sie soeben erfahren hatte.

Wie wir bereits wussten, hätte der Durchlauchtigste Prinz schon gestern, am Erchtag, an die Kriegsfront reisen müssen. Da der Zustand Ihrer Kaiserlichen Majestät sich offenbar weiter verbesserte, hatte der Heerführer nun beschlossen, morgen, am Donnerstag, dem 16. April, aufzubrechen. In einem Schreiben hatte er dem Kaiser offiziell mitgeteilt, dass er im Begriff sei, Wien zu verlassen. Diese letzte Nachricht ging auf einen der Skribenten Eugens zurück und schien daher gesichert. Doch das war es nicht, was Cloridia in Aufregung versetzte.

Vor seiner Abreise wollte Eugen noch einmal mit dem Aga zusammenkommen. Was sie sich zu sagen hatten (überdies zu dieser Stunde, wenn der gesamte Adel schläft), war mehr als rätselhaft, zumal sie sich erst vor zwei Tagen gesehen hatten. Doch auch das war nicht der Hauptgrund für Cloridias Besorgnis.

Sie hatte an diesem Morgen viel zu tun gehabt. Zuerst musste sie zwei Soldaten aus dem Gefolge des Agas in die Küche begleiten und ihnen unter der Hand alkoholische Getränke verkaufen. Dann hatte sie ein paar türkischen Milizsoldaten Rede und Antwort stehen müssen: Sie hatten das freizügige Verhalten einiger Pärchen während der Andacht beobachtet und wollten nun, höchst angeregt von den pikanten Szenen, mehr über die Gepflogenheiten der hiesigen Frauen wissen. Cloridia hatte sie natürlich davor gewarnt, die Wienerinnen zu belästigen – das hätte zu einem diplomatischen Eklat führen können. Darauf hatte sie einem anderen Osmanen, einem kontemplativen jungen Mann, Papier und Kohlestift besorgen müssen, da er eine Skizze von Eugens Palais in die Heimat mitzunehmen wünschte. Anschließend hatte sie einen Streit in der Küche schlichten müssen: Die zwei Soldaten waren wegen des hohen Preises mit einem der Köche des Durchlauchtigsten Prinzen aneinandergeraten. Schließlich hatte das Dienstpersonal des Palais Cloridia beauftragt, einige der Gäste daran zu erinnern, dass es verboten war, aus der Residenz Ihrer Hoheit Möbel, Vorhänge, Kandelaber oder jedweden anderen Gegenstand, einschließlich der kostbaren damastenen Polsterungen der Sessel und der Stuckarbeiten an den Wänden, als Andenken mitzunehmen. All das hatte Cloridia besorgt, während der Aga im Palais eintraf und sich zum Kolloquium mit Eugen zurückzog, dieses Mal in Privataudienz, begleitet nur von den offiziellen Dolmetschern und den engsten Ratgebern.

Als mein süßes Weib kurz darauf durch einen Flur ging, hatte sie das Gespräch zwischen einer kleinen Gruppe Türken (unmöglich zu sagen, wie viele es waren, vielleicht drei oder vier, auch der Derwisch war unter ihnen) und einer anderen, deutschsprachigen Person mitgehört. Einer der Anwesenden fungierte als Dolmetscher – aber warum hatte man Cloridia nicht dafür geholt? Die Sache schien von höchster Vertraulichkeit zu sein. Und tatsächlich, das war sie.

Das Ohr vorsichtig an die Tür gelegt, hatte sie vernommen, dass der Mensch deutscher Zunge niemand Geringeres war als der Kaiserliche Proto-Medicus, der Herr Doctor Mathias von Hertod.

«Der Kaiserliche Proto-Medicus!», rief ich aus. «Aber was tut er mit den Türken in Eugens Palais, obendrein vor Tagesanbruch?»

Dies sei nicht die erste Unterredung zwischen Ciezeber und dem Proto-Medicus Josephs I. gewesen, erklärte Cloridia. Die beiden und auch der Rest der Gruppe hätten Bezug auf frühere Gespräche genommen.

«Natürlich habe ich nicht alles verstehen können, doch die wichtigste Nachricht habe ich ganz deutlich gehört. Morgen Abend wird der Derwisch Joseph heilen.»

«Heilen?»

«Ja, er wird eine Behandlung bei ihm durchführen.»

«Dann ist die Besserung von Josephs Gesundheitszustand also auf den Derwisch zurückzuführen!», wunderte ich mich.

«Was er morgen tut, ist nur eine Wiederholung der bereits angewandten Therapie, und sie soll entscheidend sein. Von Hertod hat berichtet, dass der Zustand des Kaisers sich fortwährend bessert und dass die Behandlung morgen unter allen Umständen abgeschlossen werden muss. Wenn das Volk erfährt, dass die Ungläubigen an der Heilung des Kaisers mitwirken, könnte das großen Anstoß erregen.»

Der wichtigste Teil der Behandlung oblag Ciezeber. Bei der Unterredung in Eugens Palais war nämlich über die Instrumente des Derwischs gesprochen worden, über Einzelheiten der Therapie und über die geeignete Stunde, zu der er den Eingriff durchführen würde.

«Ob der Kaiserliche Proto-Medicus wohl begriffen hat, dass es eine Verschwörung gibt, die den Tod des Kaisers will?»

«Da bin ich sicher, bedenkt man die Uhrzeit, zu der sie sich besprochen haben, und ihre Heimlichtuerei. Der Proto-Medicus hat gesagt, so, wie die Dinge jetzt stehen, könne er nur noch auf Ciezeber vertrauen.»

«Das also war der Sinn der Rituale, die der Derwisch im Wald beim Schloss Ohne Namen durchgeführt hat», erkannte ich. «Ugonio hatte uns gesagt, sie dienten therapeutischen Zwecken, doch nie hätte ich mir vorgestellt, für wen sie bestimmt waren! Andererseits», wandte ich gleich darauf nachdenklich ein, «ist das wirklich eine aberwitzige Geschichte. Wir haben die Türken anfangs verdächtigt, den Kaiser vergiften zu wollen, und jetzt entdecken wir, dass sie ihn sogar heilen …»

«Das ist doch ganz einfach», entgegnete Cloridia. «Wenn der Kaiser stirbt, ersetzt ihn sein Bruder Karl auf dem Thron, und der Krieg endet. Es wirkt auf den ersten Blick widersinnig, doch wenn man es recht bedenkt, hat der Sultan ein Interesse daran, dass Joseph bei guter Gesundheit bleibt. Der Krieg würde weitergehen und das Reich und die anderen christlichen Mächte aufreiben. Ist das nicht eine ausgezeichnete Aussicht für die Osmanen?»

«Abbé Melani aber hat mir gesagt, dass Karl ein schwacher Charakter sei und Prinz Eugen ihn überzeugen werde, den Krieg fortzusetzen. Überdies denkt Joseph I. an ein Abkommen mit Frankreich, bei dem Spanien der französischen Krone überlassen werden soll und dem Bruder Karl nur Katalonien bleibt. Wenn es sich wirklich so verhält, ist es wahrscheinlicher, dass der Krieg unter Joseph endet als unter Karl.»

«Vielleicht wissen die Türken das nicht.»

«Das kann ich mir kaum vorstellen. Zumindest über die Friedensabsichten des Kaisers werden sie informiert sein.»

«Dann glauben sie vielleicht nicht an den Erfolg dieses Vorhabens. Man weiß ja, wie die Franzosen sind: Sie wollen alles, sonst gibt es Krieg», sagte Cloridia und deutete mit einer Handbewegung die Unerbittlichkeit Frankreichs an.

«Möglich», stimmte ich zu. «Doch wenn die Dinge so liegen, was wird dann aus Attos Theorie, dass Prinz Eugen gegen den Kaiser konspiriert, um Karl an seine Stelle zu setzen, weil dieser ein unschlüssiger Charakter ist und ihn, Prinz Eugen, den Krieg weiterführen lassen würde? Es wäre doch eigenartig, wenn sich ausgerechnet im Palais des Savoyers der Retter Josephs I. verbirgt!»

«Genau. Darum ist es auch denkbar, dass Eugen nichts damit zu tun hat.»

Cloridia hatte recht. Ich hatte mich daran gewöhnt, Attos Thesen immer für richtig zu halten; doch diesmal hatte er einen Fehler gemacht, und zwar einen kapitalen! War nicht auch seine Überzeugung, die Türken seien Meuchelmörder im Dienst innereuropäischer Fehden, von den Tatsachen schon kläglich widerlegt worden?

Cloridia kehrte in das Palais zurück, nicht ohne mich zuvor mehrmals zu ermahnen, an ihrer statt gut auf den alten Abbé achtzugeben. Darauf klopfte Simonis wie vereinbart an meine Tür. Nun, da der Kaiser wieder gänzlich genesen würde, konnte ich mich erneut der wichtigsten Arbeit widmen, die Ihre Kaiserliche Majestät mir aufgetragen hatte: Der Ort Ohne Namen erwartete uns.

Ich saß mit dem Kleinen und Simonis im üblichen Gasthaus beim Frühstück. Bei uns war Abbé Melani. Er war es nicht gewohnt, sich so früh zu erheben, jetzt kauerte er auf seinem Stuhl und stocherte lustlos in einem üppigen Mahl aus Würsten mit Senf herum. In einem Kaffeehaus hätte er sicherlich ein Frühstück bekommen, das seinem Geschmack eher entsprach. Doch nach dem, was Dragomir Populescu zugestoßen war und was ich über die Armenier gehört hatte, versetzte mich der Gedanke, ein Kaffeehaus zu betreten, in eine gelinde Aufregung.

Schon wollte ich dem Abbé von den Neuigkeiten erzählen, die Cloridia mir überbracht hatte, doch ich hielt mich zurück. Atto hatte mir zu verstehen gegeben, dass er Simonis nicht recht traute. Also beschloss ich zu schweigen und berichtete ihm stattdessen von dem fruchtlosen Verhör Gaetano Orsinis.

«Würdest du den Wirt bitten, mir die neueste Gazette zu bringen?», sagte Atto zu meinem Gehilfen, als der Bericht beendet war.

«Dies hier ist kein Kaffeehaus, Herr Abbé, hier gibt es keine Gazetten. Doch ich habe zufällig das Wiennerische Diarium dabei, ganz frisch aus der Presse», antwortete Simonis. Der Grieche hatte beim Eintreten in das Gasthaus die soeben im Palais Zum Rothen Igel erworbene Zeitung auf unseren Tisch gelegt. «Es ist die Ausgabe der letzten drei Tage.»

Was mochte der blinde Abbé wohl mit einer deutschsprachigen Gazette anfangen, dachte ich, während ich beim Wirt Wasser für den Knaben bestellte.

«Gut. Ich nehme an, es ist eine Zeitung, welche die Todesanzeigen aus der Stadt abdruckt», sagte Melani.

«Freilich.»

«Könntest du sie mir bitte vorlesen?»

Der Grieche sah mich fragend an. Ich bedeutete ihm mit einem Wink, der Bitte zu entsprechen.

Simonis schlug die Gazette auf.

«Liste der Verstorbenen in und vor der Stadt», hub er etwas ungelenk an. «Den 11. April 1711 starb das Töchterchen …»

«Nein, bitte nur die männlichen und Erwachsenen.»

«Mal sehen … aha, hier: ‹Christof Lang, alt 65. Jahr, und Matthias Koch, alt 76. Jahr, beede im Armen-Hauß; Franz Zintel, alt 32. Jahr, Bierbrauer in Spittelberg; Georg Schraub, alt 48. Jahr, Schneider auff der Windmühl; Adam Kugler, alt 40. Jahr, Guardi-Gefreyter in Neubau; Michael Wißhoffer, alt 40. Jahr, Steinmetz in Liechtenthal.›»

«Wie man sieht, stopfen diese Wiener sich voll wie die Schweine», unterbrach Atto mit angewiderter Miene. «Nur diese beiden im Armenhospiz sind in fortgeschrittenerem Alter gestorben. Die anderen sind alle jung krepiert, und ich wette, sie haben sich überfressen.»

«Soll ich fortfahren?», fragte Simonis.

Atto nickte.

«Den 12. Dito sind gestorben Franz Johannes, alt 74. Jahr, Kaspar Wolff, alt 40. Jahr, und Johann Graßberger, alt 58. Jahr, beede im Kranken-Hauss. Den 13. April …»

Während Simonis eifrig die Liste der Toten abspulte, sah ich Atto zu meiner großen Verwunderung gespannt zuhören, den Hals vorgereckt wie ein Spürhund.

«… Carl Dement, Student, auff der Landstraßen, alt 30. Jahr; Andre Treberitz, alt 45. Jahr, abgedanckter Soldat, auff der Wyden; Philipp Brixner, alt 58. Jahr, bürgerlicher Fischkäuffler …»

«Sucht Ihr jemand Bestimmtes?», fragte ich.

«Schsch!», herrschte er mich an.

«Am 14. April», las Simonis weiter, «sind verstorben Melchior Plaschky, alt 54. Jahr, in der Leopoldstadt; Rietter Blasi, alt 38. Jahr, Schneider, auff der Münich-Pastey; Leopold Löffler, Guardi-Gefreyter, auff der Kärntner-Pastey; Lorentz Kienast, alt 36. Jahr, Färber in der Leopoldstadt …»

«Wie ich’s mir dachte. Sie sind nicht dabei», bemerkte Melani, als Simonis die Lektüre beendet hatte.

«Wer?», fragte ich.

«Kannst du dir das nicht denken? Eure ermordeten Freunde. Und es ist kein Versehen, sondern eine bewusste Entscheidung, sie zu übergehen: Seit eh und je schon sterben Studenten scharenweise wegen ihrer Ausschweifungen, und man findet fast immer eine Todesanzeige.»

«Richtig», bestätigte Simonis nach einem erneuten Blick in die Gazette, «hier steht ja auch die Nachricht vom Tod dieses Carl Dement, der Student war.»

«Populescus Leiche haben die Kollegen eures Kutschers, dieses wie heißt er noch? … Penicek, beiseitegeschafft. Nun gut. Aber Koloman und die ersten beiden?»

«Ihr habt recht, verflucht», nickte ich, während sich mir der Mund vor Staunen öffnete und Simonis nachdenklich die Stirne runzelte. Kolomans Leiche hatte der Heurigenwirt direkt der Guardia übergeben; Danilo Danilowitsch war in der Nacht des 11. Aprils erstochen worden: Ein Toter auf den Bastionen konnte den Soldaten unmöglich entgehen. Hristo Hadji-Tanjov war am 13., also vor zwei Tagen, im Prater gestorben: Inzwischen war der Schnee völlig geschmolzen, und die Garden hatten ihn zweifellos gefunden.

«Aber wie ist das möglich?», fragte ich.

«Ganz einfach. Jemand hat dafür gesorgt, dass ihr Tod nicht in die Totenbeschauprotokolle eingetragen wurde.»

«Ich wüsste nicht, wie: Die Garden werden sofort den Amtsarzt der Stadt geholt haben, und …»

«Akkurat», kam er mir brüsk zuvor und gab mir damit zu verstehen, dass er nicht vor meinem Gehilfen sprechen wollte. «Ich muss kurz in mein Logis zurück, ich habe etwas vergessen.»

«Denkt Ihr, dass …?», beharrte ich absichtlich.

«Ich denke das, was du denkst», beschied er mich knapp. «Nun, begleitest du mich, oder muss ich alleine gehen?»

Als ich den Kleinen in Gesellschaft von Simonis zurückließ, damit die beiden ihr Frühstück beendeten, bemerkte ich, dass mein Geselle wieder den Sack um die Schulter trug, den ich schon am Vortage bei ihm gesehen hatte.

Atto und ich gingen zur Himmelpforte zurück. Er nahm das Gespräch wieder auf:

«Wer immer diese kleine Säuberung, nennen wir es einmal so, angeordnet hat, ist sehr mächtig. Auch wer sie durchgeführt hat, ist nicht unbedingt ein kleines Rad im Getriebe. Weißt du, was das bedeutet?»

Ich schüttelte den Kopf.

«Es bedeutet, dass hinter dem Tod dieser Jungen etwas Großes steckt, etwas sehr Großes.»

«Warum habt Ihr dann jedes Mal gelacht, wenn ich versuchte, mit Euch über das Thema zu sprechen?», fragte ich mit mühsam zurückgehaltener Verbitterung.

«Ich habe es dir in den vergangenen Tagen schon mehrmals gesagt, doch das reicht offenbar nicht: Ich glaube weiterhin nicht, dass sie wegen ihrer Nachforschungen über den Goldenen Apfel gestorben sind, aber ich habe nie gesagt, dass ihre Tode nichts miteinander zu tun haben.»

«Ihr dürft die Tatsachen nicht verdrehen, Signor Atto. Ich erinnere mich sehr gut: Ihr habt mir gesagt, dass Hristo ein Untertan der Osmanen war und Dragomir ebenso, und Ihr habt mir zu verstehen gegeben, dass das mit ihrem Tod zu tun hätte.»

«Ich habe mir eine Ungenauigkeit zuschulden kommen lassen, das gebe ich zu. In Wahrheit haben sich die Bulgaren, seit die Hohe Pforte ihr Land besetzt hält, in das hohe, unwegsame Gebirge geflüchtet, wo sie praktisch keinen Kontakt mit den Eroberern haben. Und auch Rumänien gehört nicht ganz zum Osmanischen Reich.»

«Was? Und das fällt Euch erst jetzt ein?», brüllte ich.

«Schsch! Sprich leise, verflixt», brachte er mich zum Schweigen, unwillkürlich den Kopf nach rechts und links drehend, als könnten seine blinden Augen einen heimlichen Spion entdecken. «Ich brauchte dich, um mit der Pálffy anzubändeln. Du solltest dir nicht den Kopf über den Tod dieser Draufgänger zerbrechen, das hätte dich nur abgelenkt», erklärte der alte Kastrat mit schroffer Unverblümtheit.

Im Himmelpfortkloster angelangt, klopfte Atto mit dem Knauf seines Spazierstocks an die Tür seiner Gemächer.

Domenico öffnete und kehrte, vom Fieber der letzten Tage geschwächt und von der Lungensucht erbärmlich mitgenommen, unverzüglich in sein Bett zurück, um dort weiterzuhusten.

«Ich muss dich um Verzeihung bitten, Junge.» Plötzlich sprach Atto mit düsterer Stimme. Er nahm meinen Arm. «Ich dachte, dass diese Morde nur das Reich angehen, während ich ja hier bin, um Frankreich zu dienen. Wenn nur mein Brief Joseph I. erreicht hätte, wäre ich schneller als alle anderen gewesen. Stattdessen …» Und er machte eine Pause.

O ja, dachte ich, als er mich in seine Gemächer eintreten ließ, niemals hätte Abbé Melani sich vorgestellt, dass die Interessen Frankreichs und Österreichs dieselben sein könnten. Auf dem Kriegsschauplatz schienen sie die beiden gegnerischen Feldherren zu sein. Stattdessen lagen der Kaiser und der Grand Dauphin gerade beide auf dem Opferaltar, während eine unbekannte Hand den Dolch über ihren Herzen hob … ihren Herzen?

«Da fällt mir etwas ein, Signor Atto», versetzte ich. «Was hattet Ihr eigentlich an jenem Abend in der Gasse hinter dem Kloster mit diesem Armenier zu schaffen?»

Melani zuckte zusammen.

«Was tust du jetzt, beschattest du mich?»

«Ich würde mich hüten, so etwas zu tun. Ich habe Euch auf dem Rückweg vom Gasthaus zufällig gehört. Der Armenier sprach von gewissen Leuten, die Euch für sehr viel Geld das Herz ihres Herren verkauft haben.»

«Hat er das wirklich gesagt? Ich weiß nicht …», stammelte Atto.

«Wort für Wort, ich entsinne mich genau. Er hat Euch einen kleinen Schrein ausgehändigt, und Ihr habt ihm ein Säckchen mit Münzen überreicht.»

«Oh, das war nichts Wichtiges, nur ein …»

«Nein, Signor Atto. Fangt nicht wieder mit der üblichen Leier an, wenn Ihr wollt, dass ich Euch vertraue. Sonst drehe ich mich auf dem Absatz um und gehe, und dann zum Teufel mit Euch und dem Grand Dauphin.»

«In Ordnung, du hast recht», lenkte er ein, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte.

Er ertastete mit den Händen die Lade einer Kommode, öffnete sie und nahm den kleinen Schrein heraus, den er von dem Armenier erhalten hatte.

«Hier ist er. Ich übergebe ihn dir, zum Beweis, dass dein Vertrauen in mich erwidert wird», sagte er, indem er mir das kleine Behältnis reichte.

Ich versuchte, es zu öffnen, doch vergebens. Es war verschlossen.

«Ich werde dir den Schlüssel vor meiner Abreise geben. Das schwöre ich.»

«Mit Euren Schwüren habe ich bereits Erfahrung», erwiderte ich in skeptischem Tonfall.

«Du kannst ihn doch aufmachen, wann immer du willst! Er ist leicht aufzubrechen. Ich bitte dich nur darum, es jetzt noch nicht zu tun. Ich vertraue dir nämlich», fügte er in feierlichem Ton hinzu, «wenn du mir vertraust.»

Ein ausgemachter Sophist, der Abbé Melani, wenn es um Vertrauen ging. Freilich musste ich anerkennen, dass ich diesmal tatsächlich etwas Konkretes in den Händen hielt.

«Einverstanden», sagte ich, «was wollt Ihr im Tausch gegen den Schrein?»

«Dass du mir bis zu dem Moment, in dem du ihn öffnest, keine Fragen mehr nach dem Armenier stellst.»

«Wann gedenkt Ihr denn abzureisen?», fragte ich, nachdem ich den Schrein in meine Hosentasche gesteckt hatte.

«Sobald ich erkannt habe, wer der Hintergrundmann ist.»

«Der Hintergrundmann?»

«Der Mann, der das Verbindungsglied zwischen den Mördern Ihrer Kaiserlichen Majestät und des Grand Dauphin und den Auftraggebern ist.»

«Ein Geheimagent?»

«Hier in Wien gibt es jemanden, der die Aktionen der Täter überwacht und leitet. Es kann nicht anders sein.»

Der Hintergrundmann: Diese Rolle kannte Atto Melani nur allzu gut! Hatte er sie nicht selbst oft genug in seinem Leben gespielt? Wer hatte denn vor elf Jahren die Verschwörung organisiert, die zum Ausbruch des Erbfolgekriegs geführt hatte? Atto Melani war weder der Auftraggeber (das war Frankreich), noch der Täter gewesen (ein einfacher Skribent). Aber er hatte jene teuflische Maschinerie ersonnen, mit der das Testament eines Königs gefälscht wurde, drei Kardinäle Verrat am Papst übten und einer dieser drei sogar seine Wahl zum Papst bewirkt hatte.

Jetzt sah ich den Abbé zum ersten Mal von einem neuen Atto Melani verdrängt. Ein Mann, der zweifellos viel jünger war als er und im Sold anderer Mächte stand – Hollands, Englands, oder wer weiß, in wessen Diensten noch –, hatte den Platz des alten Kastraten eingenommen und setzte nun ein tödliches Räderwerk gegen den Kaiser in Gang.

«Dieser Hintergrundmann», überlegte ich, «beobachtet vermutlich auch unsere Schritte. Womöglich steckt er hinter den Morden an Danilo, Hristo, Dragomir und vielleicht auch Kolomans Tod.»

«Wenn es so ist, sollten wir ihn lieber entlarven, bevor wir ihn im Rücken haben.»

Für dieses eine Mal hatten wir uns ein wenig Bequemlichkeit gegönnt. Abbé Melani hätte sich gewiss nicht zu Fuß oder auf unserem ärmlichen Rauchfangkehrerkarren zum Neugebäu begeben können. Also hatte Simonis den Pennal bestellt, der uns weit komfortabler und schneller dorthin kutschieren würde. Eine dunkle Vorahnung hatte mich bewogen, den Knaben im Konvent zu lassen, in der Obhut Camillas, die großzügig eingewilligt hatte, ihn bis zu meiner oder Cloridias Rückkehr zu hüten.

Während Peniceks Kalesche hüpfend auf unser Ziel zusteuerte, zogen vor meinem geistigen Auge die toten Körper der armen Studenten vorüber: das maskenhafte Antlitz Danilos, das aufgedunsene blaue Gesicht Hristos, Dragomirs zerfleischte Scham und schließlich die Pfahlspitzen, die den armen Koloman durchbohrten. Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, im Versuch, Ekel und Entsetzen zu verscheuchen. Mit furchtbarer Gewalt hatte der Tod in der kleinen Gruppe Studenten gewütet. Wer war als Nächster an der Reihe? Penicek? Vielleicht sogar Simonis? Oder Opalinski? Ich betrachtete meinen Gehilfen, der mir gegenübersaß. Seine dümmlichen Augen waren zum Horizont gerichtet, der Blick teilnahmslos, als beschwerte ihn keine Sorge. Aber sicher trügte der Schein: Ich wusste, dass sein Ausdruck, und hätte ihn auch der grässlichste aller Schicksalsschläge erschüttert, derselbe geblieben wäre. Penicek saß abgewandt auf seinem Kutschbock; niemand befragte ihn, und darum schwieg er, eingesperrt in dem Käfig seines Daseins als Pennal, das ihn dazu verdammte, dem Schoristen ein Jahr, sechs Monate, sechs Wochen, sechs Tage und sechs Minuten lang zu dienen. Zuletzt dachte ich an Opalinski: Auch er hatte bei dem grauenhaften Anblick seines ungarischen Freundes gezittert. Dabei hatte Jan Janitzki bis vor kurzem keine Furcht gezeigt. Im Licht der darauffolgenden Ereignisse ein unerklärliches Verhalten. Ich fragte Simonis danach.

«Nun, Herr Meister, das liegt an seiner Beschäftigung. Neben dem Studium, versteht sich.»

«Was ist das für eine Beschäftigung?»

«Das ist etwas kompliziert, Herr Meister. Wisst Ihr, was hier in Wien das Quartierrecht ist?»

Seit unvordenklicher Zeit, erklärte Simonis, hatte der Kaiser das Recht, für sich und für den Hofstaat Mietwohnungen zu beanspruchen: Schon als die Kaiser der Antike durch ihre Länder reisten, erteilten sie ihren Hofmarschällen den Auftrag, Tag für Tag die notwendigen Unterkünfte für ihre Übernachtung zu requirieren. Dieser Brauch, der seinen Namen aus dem Recht auf Quartier herleitet, hatte sich im Laufe der Zeit auch in Wien verbreitet, als die Stadt Residenz eines zunehmend großen und bedeutenden Hofes wurde, wo die Zahl der Beamten, Cancellisten, Musizi, Kopisten, Tänzer, Soldaten, Truchsesse, Sänger, Poeten, Knechte, Köche, Lakaien, Kammerdiener, Gehilfen, Gehilfen der Gehilfen und Parasiten aller Art unaufhörlich wuchs.

«Viele glauben, einen Kaiserlichen Hofbeamten als Mieter zu haben sei wünschenswert und elegant. Das Gegenteil aber ist der Fall.»

Eines Tages klopfte ein Kaiserlicher Beamter mit einem Dekret in der Hand an eine beliebige Tür und verkündete dem Eigentümer, von diesem Moment an stehe ihm die Wohnung zur Verfügung. Der Besitzer und seine Familie mussten das Zusammenleben entweder akzeptieren oder binnen kürzester Zeit ausziehen. Weigerte er sich, wurden seine Wohnung oder Werkstatt oder sogar ein ganzes Haus, wenn es ihm gehörte, zwangsweise beschlagnahmt. Dann wurde ihm ohne Verhandlung von der Kaiserlichen Kammer ein lächerlich geringer Mietzins gezahlt. War der Hofbeamte nicht zufrieden, nutzte er die beschlagnahmte Wohnung nicht selbst, sondern vermietete sie weiter.

«Und das ist erlaubt?», fragte Abbé Melani.

«Natürlich nicht. Doch im Umkreis des Kaiserhofs ist alles möglich», grinste Simonis.

Der arme Wohnungseigentümer musste also mit ansehen, wie Unbekannte in seine Räume eindrangen, Möbel mitnahmen, Türen und Fenster herausrissen und häufig die Zimmer ihrerseits an nichtswürdigen Pöbel untervermieteten. Schließlich war die schöne Wohnung zu einem stinkenden Loch verkommen, wo Geschäfte jeder Art, einschließlich der Prostitution, betrieben und manchmal sogar Morde begangen wurden. Es hatte Fälle gegeben, wo die Besetzer, da sie zu faul waren, den Kamin zu benutzen, ein munteres Feuer auf dem Holzfußboden anzündeten und die ganze Wohnung in Schutt und Asche legten. Die stets hochverschuldete Kaiserliche Kammer versäumte unterdessen, die Miete zu zahlen. Und wenn der Eigentümer protestierte? Dann durfte der Hofbeamte ihn, dem alten Brauch gemäß, sogar mit Steinen bewerfen.

«Diese üble Sitte hat so um sich gegriffen», fügte mein Geselle hinzu, «dass manchmal die Kaiser selbst einschreiten und die Besetzer hinauswerfen. Ferdinand I. ließ ein ganzes Haus neben seiner Residenz leer räumen, weil die Beamten, die sich dort einquartiert hatten, fortwährend betrunken waren und so laut brüllten, dass die Sitzungen des Hofrates gestört wurden. Und sie waren so nachlässig im Umgang mit Öfen und Kaminen, dass sowohl das Haus als auch die Residenz abzubrennen drohten.»

«Und was hat das alles mit Opalinski zu tun?», fragte ich, als die Erklärung beendet war.

«Ganz einfach: Er verdingt sich als Makler für die Untervermietungen.»

«Hast du nicht gesagt, die seien gesetzwidrig?»

«Gewiss. Tatsächlich ist die Sache nicht ganz ungefährlich: zum Beispiel, wenn der Wohnungseigentümer seinerseits einen Freund bei Hofe hat und beschließt, sich an dem Beamten zu rächen, der ihn enteignet hat, oder eben auch am Makler. Opalinski ist das Risiko gewöhnt. Das muss man anerkennen, er ist wirklich ein mutiger Pole. Erst jetzt, nach dem, was mit Koloman passiert ist, habe ich ihn zum ersten Mal verstört gesehen.»

Als wir am Neugebäu ankamen, wurden wir vom hellen Schimmer seiner Steine begrüßt. Wie ein guter Sohn seinem müden Vater hätte ich Atto, wäre das Licht seiner Augen nicht erloschen, das majestätische Bauwerk Maximilians II. zeigen mögen, seine Gärten, die großen Fischteiche, die Türme, das Serail der wilden Tiere, den unendlich weiten Blick, den man von der Loggia auf der Nordseite genoss. Bevor wir am Ort Ohne Namen ankamen, hatte ich Abbé Melani in groben Zügen von seinen Schätzen und seiner Geschichte berichtet, damit er nicht gänzlich ahnungslos an diesen Hort der Erinnerung gelangte, wo zwischen der tragischen Vergangenheit Maximilians und der nicht weniger düsteren Gegenwart des jungen Joseph die Zeit stehengeblieben schien. Kurz hatte ich ihm die Kämpfe Maximilians gegen die Türken zusammengefasst, von der Entstehung des Neugebäus als Parodie auf die Zeltstadt Süleymans des Prächtigen, vom tragischen Tod des Kaisers und den Komplotten gegen ihn erzählt. Natürlich hatte ich das einzige Detail verschwiegen, dem niemand Glauben geschenkt hätte: das Fliegende Schiff und seine Zauberkräfte, deren Zeugen Simonis und ich gewesen waren.

Atto hatte meinen Bericht über die Geschichte des Ortes Ohne Namen außerordentlich interessiert angehört, bei den Einzelheiten, die er kannte, genickt, und bei jenen, die neu für ihn waren, geschwiegen.

Die Großartigkeit dieses Ortes, die zu erblicken seine blinden Augen ihm verwehrten, konnte ich ihm mit meiner erbärmlichen Rede freilich nicht vermitteln, und ich wusste – oder zumindest schien es mir so –, dass ihn dies zutiefst betrübte, war es doch der Beweis seines endgültigen Niedergangs. Vor achtundzwanzig Jahren hatte ich ihn als einen wissensdurstigen und neugierigen Menschen kennengelernt, den jedes Geheimnis lockte und der sich sogar in seiner Freizeit der Abfassung eines Romführers widmete, um seinen schöpferischen Elan und seine Lust an neuen Kenntnissen zu befriedigen. Jetzt ließ sein Körper ihn im Stich, all seine inneren Vermögen waren Sklaven der Umstände; die Neugierde musste der Resignation weichen, die Eile der Geduld, die Intelligenz der Unwissenheit. Atto würde das Neugebäu niemals erblicken.

Am Ziel angelangt, entließen wir den Pennal (er würde uns später wieder abholen) und begaben uns zunächst zu Frosch, um ihm unseren Begleiter vorzustellen. Denn der Wächter des Ortes Ohne Namen war bereits sehr überrascht gewesen, als er uns von weitem auf Peniceks Kalesche ankommen sah, und hatte einen skeptischen Blick auf Abbé Melani geworfen.

«Des is Ihna neicha Lehrbua? Haums in Klaan austauscht?», lachte er grob und zeigte auf Atto.

Frosch stellte keine Fragen nach unserem letzten Arbeitstag im Neugebäu. Wenn er kein geschickter Heuchler war (und das sind Trinker meist nicht), musste das wohl bedeuten, dass er uns mit dem Fliegenden Schiff weder hatte aufsteigen noch landen sehen. Insgeheim tat ich einen Seufzer der Erleichterung: Mit diesem versoffenen Zerberus hätte ich das unglaubliche Geheimnis des Fluges, den Simonis und ich getan hatten, wahrhaftig nicht teilen mögen.

Wir gingen am Ballspielplatz vorbei, und ich warf einen stummen Blick auf das Fliegende Schiff. Sanft auf den Boden geschmiegt, lag es dort, wo wir es zurückgelassen hatten. Niemals hätte sein plumpes wie bizarres Aussehen vermuten lassen, dass es leicht zwischen den Wolken zu schweben vermochte. Heimlich spähte ich zu Simonis hinüber: Beim Anblick des Schiffes schienen auch seine tumben Augen sich zu weiten und mit Tränen zu füllen. Sogar Abbé Melani wandte, als er am Stadion vorbeischritt, unmerklich den Kopf in die Richtung des Fliegenden Schiffes, als übe dieses eine unsichtbare magnetische Anziehung auf ihn aus. Die Macht der Blindheit!, dachte ich. Wer nichts sieht, kann gleichwohl wahrnehmen, was für unsereins unsichtbar ist.

Eine einzige Veränderung nur gab es im Ballhaus: Im Hintergrund des großen rechteckigen Feldes waren die Vogelkäfige mit ihren lärmenden Bewohnern aufgetürmt. Auch Atto nahm das Stimmengewirr der kleinen Flieger wahr und fragte mich danach. Ich wiederum bat Frosch um eine Erklärung.

«Marder. Letzte Nocht haums ma a hoibs Dutznd Truthendln ookraglt.»

Der Wächter erklärte, er habe die Käfige in das Stadion verfrachtet, weil die Tür des Stalles defekt war, was die nächtlichen Jäger sogleich genutzt hätten. In dieser Nacht aber könnten die Vögel des Ortes Ohne Namen in Ruhe schlafen, denn die Türen im Stadion seien in gutem Zustand. Sobald die Stalltür repariert sei, würden die Käfige an ihren Platz zurückgebracht. Da das Wetter mild geworden könnten die Vögel vorerst im Freien schlafen.

Atto war beeindruckt, als er das Brüllen der Löwen und Panther hörte. Es war die Stunde der täglichen Mahlzeit. Ich beschrieb Atto Aussehen und Neigungen eines jeden dieser Karnivoren und schilderte ihm, wie sie die roten Fleischstücke, welche der Wächter ihnen hinwarf, packten und zerrissen. Er fragte mich, ob die Gefahr drohte, dass sie flöhen. Darauf erzählte ich ihm von meiner Begegnung mit Mustafa bei meinem ersten Besuch im Ort Ohne Namen.

«Blind, wie ich bin, würde der Löwe mich sofort erwischen. Aber dann würden ihm meine Knochen zwischen den Zähnen stecken bleiben!», sagte er und lachte gehässig.

Während der ersten Arbeitsstunde war alles glatt verlaufen. Abbé Melani hielt sich in vorsichtigem Abstand zu uns. Auf einem Schemel sitzend, war er sorgsam darauf bedacht, nicht mit Kohlestaub beschmutzt zu werden. Kaum drang ihm eine schwarze Staubwolke in die Nase, bat er unter Niesanfällen und Flüchen darum, in größerer Entfernung platziert zu werden, damit seine Kleider, wie üblich in Grün und Schwarz, nicht schmutzig würden. Erstaunlich, dachte ich, wie sehr dem Abbé an seiner äußeren Erscheinung gelegen war, obwohl er sich doch nicht im Spiegel erblicken konnte.

Wir hatten die Arbeit an der Stelle wieder aufgenommen, wo wir beim letzten Mal aufgehört hatten. Durch das Hauptportal betraten wir das Schloss, um uns den großen Sälen im ersten Stockwerk zu widmen. Da wir mit der Eingangshalle in der Mitte und den beiden seitlich sich anschließenden Sälen bereits fertig waren, gingen wir nun nach links und schritten durch die große Loggia zum Westturm. Doch die Tür zum Turm war verschlossen.

«Wir müssen uns von Frosch die Schlüssel geben lassen», sagte ich, «einstweilen versuchen wir es auf der gegenüberliegenden Seite.»

Während wir zur anderen Seite hinübergingen, meinte ich ein langes, trompetendes Dröhnen zu hören, das ich schon einmal vernommen hatte. Aus welcher Richtung es kam, war nicht auszumachen, ja, die Sinneswahrnehmung war so vage, dass ich die anderen nicht um eine Bestätigung zu bitten wagte. Wir durchquerten also wieder die drei Eingangssäle und traten dann ins Freie, in die Loggia auf der entgegengesetzten Seite, an die sich der Ostturm anschloss. Hier war die Tür offen.

Im Inneren des Turms empfing uns ein weiter Raum, der mich an eine große Kapelle gemahnte.

«Ich glaube auch, dass dieser Raum dem Gottesdienst vorbehalten gewesen wäre», bestätigte Simonis meine Bemerkung, «wenn es dem armen Maximilian gelungen wäre, ihn fertigzustellen.»

Schnell erledigten wir unsere Arbeit, dann gingen wir ins Freie und betraten das Schloss erneut durch den Ostturm, da man von hier aus in das Kellergeschoss gelangte. Nach Froschs Worten hatte Rudolf der Wahnsinnige hier seine alchemistischen Experimente durchgeführt. Wir fanden jedoch keinerlei Anzeichen von Öfen, Kolben oder anderem Teufelswerk. Wenn dies wirklich der Ort war, wo Rudolf seine Narrheiten zelebriert hatte, musste die Zeit gnädig alle Spuren verwischt haben. Es gab nicht den geringsten Hinweis auf die Gespenster, von denen die Wiener (doch auch meine Landsleute, die Kaminkehrer) phantasierten.

In den Mittelteil des Schlosses führte eine lange Galerie mit rundgewölbter Decke, von niedrigen, breiten Fenstern erhellt, die auf die Nordseite blickten.

«Hier wollte Maximilian das Antiquarium einrichten, seine Sammlung an Mirabilien. Die Wände wollte er mit Tafelaufsätzen, Statuen, Gobelins und Waffen verzieren», erklärte Simonis.

Was sich jedoch unserem Auge darbot, war ein kahler Gang aus Stein, den nur die schönen Rundgewölbe an der Decke ein wenig freundlicher machten. Von jedem Stein schien Trauer über das unvollendete Schicksal dieses Ortes aufzusteigen.

«Habt ihr das gehört?», riss Abbé Melani mich aus meinen Gedanken.

«Was?», fragte Simonis.

«Viermal. Es hat sich viermal wiederholt.»

«Ein merkwürdiges Geräusch, nicht wahr?», sagte ich, an den eigenartigen Ton zwischen heller Trompete und Trommel denkend, den ich in der Loggia vernommen hatte.

«Kein Geräusch: eine Vibration. Wie ein Kanonenschuss, aber stumm.»

Simonis und ich wechselten einen Blick. Es überraschte uns nicht, dass Atto etwas vernommen hatte, das für uns nicht wahrnehmbar war. Blinde haben ein sehr scharfes Gehör, das ist bekannt. Doch es konnte sich genauso gut um die wunderliche Wahrnehmung eines verschrobenen Geistes handeln.

Wir waren nun in der Mitte des Kellergeschosses angekommen. Genau über unseren Köpfen befand sich der Haupteingang des Schlosses. Dort, wo wir jetzt standen, teilten sich zwei Treppen, die weiter nach unten führten. An ihrem Ende war eine Tür, die sich auf die Rückseite des Neugebäus öffnete. Hier hatte man einen Blick auf die Gärten und den großen Fischteich im Norden, und fast endlos war die Aussicht auf die dahinterliegenden Felder und Wälder.

Nachdem diese kurze Perlustration abgeschlossen war, stiegen wir über die Treppe wieder hinauf und kehrten in den Mittelteil des Kellergeschosses zurück. Doch kaum hatten wir mit der Besichtigung des Westflügels begonnen, wo wir die südliche Mauer inspizierten, trat das sonderbare Phänomen wieder auf.

«Habt ihr gehört?», fragte Atto beunruhigt.

Dieses Mal hatte auch ich etwas wahrgenommen. Ein hohles, tonloses Dröhnen über uns und um uns herum, wie der gedämpfte Donner aus einer gigantischen Pauke. Simonis hatte nichts gehört.

«Wir müssen unsere Arbeit beenden», sagte mein Gehilfe ein wenig verärgert, weil er die Ohren nicht genügend gespitzt hatte.

«Du hast recht», pflichtete ich ihm bei, in der Hoffnung, mich getäuscht zu haben. Ich wollte die Erinnerung an dieses geheimnisvolle Signal so schnell wie möglich aus meinem Gedächtnis löschen.

Als ich in unserem Sack mit Werkzeugen nach dem Spatel suchte und zwischen allerlei Eisenzeug herumkramte, stießen meine Fingerspitzen auf einen quadratischen Gegenstand. Es war Hristos Schachbrett, noch immer von dem Säckchen umhüllt, das sein unglücklicher Besitzer ihm zugedacht hatte.

Um es nicht zu verlieren, hatte ich es zwischen unsere Gerätschaften gesteckt, die ich immer an einem sicheren Ort aufbewahrte. Ich zog es heraus und wischte den Staub von dem Gegenstand, der vor drei Tagen mein Leben, doch leider nicht dasjenige seines Besitzers gerettet hatte. Simonis und ich wechselten einen betrübten Blick.

«Armer Freund», flüsterte der Grieche.

«Er hatte lange vor Penicek begriffen, dass die Bedeutung des Satzes vom Aga allein in den Worten soli soli soli steckte», sagte ich.

«Was hast du gesagt?», fuhr Atto auf.

Also erklärte ich ihm, dass unser schachspielender Freund glaubte, das ganze Geheimnis des Satzes liege in der rätselhaften dreifachen Wiederholung des Wortes soli. Als wir Hristos Leichnam fanden, hielt der Ärmste eine Schachfigur, den weißen König, in der Hand. Und schließlich hatte ich in seinem Spielbrett ein Billett gefunden, wo vom Schachmatt die Rede war.

«Ja, am Tag seines Todes hat Hristo mir angedeutet, dass die Worte soli soli soli, also ‹ganz allein›, etwas mit dem Schachmatt zu tun hätten», präzisierte Simonis.

Abbé Melani schüttelte sich, als hätte ihn eine Wespe gestochen, und sprang auf:

«Einen Augenblick. Habe ich recht verstanden? Am Tag der Audienz hat der Aga zu Eugen gesagt, dass die Türken soli soli soli gekommen sind?»

«Sicher, was ist daran neu?»

«Und das hast du mir nie gesagt?»

«Was habe ich Euch nie gesagt?»

«Dass der Satz des Agas die Worte soli soli soli enthält!»

Atto brummelte eine Reihe nicht wiederzugebender Beschimpfungen in sich hinein, als wollte er mir die direkte Beleidigung ersparen. Dann sprach er wieder mit lauter Stimme:

«Was ist denn nur in dich gefahren? Ist dir klar, was du angerichtet hast?», fragte er in scharfem Ton.

Ich verstand immer noch nicht, auch Simonis schien verblüfft.

«Wirklich, Signor Atto, mir scheint, dass ich es Euch gesagt habe, und zwar deutlich. Habe ich Euch nicht erklärt, dass der Aga sagte: ‹Ganz allein sind wir zum Goldenen Apfel gekommen›?»

«Moment mal: Der Satz war doch lateinisch, oder?»

«Ja.»

«Sag ihn mir.»

«Soli soli soli ad pomum venimus aureum

«Und du Esel übersetzt mir soli soli soli mit ‹ganz allein›? Der Satz des Agas hat eine vollkommen andere Bedeutung, verflucht nochmal.»

Es war eine lässliche Sünde gewesen, doch schwerwiegend.

Nun, da der erste Teil der Arbeit beendet war, machten wir uns auf den Weg zurück zum Ballspielplatz, wo wir einen kleinen Imbiss einnehmen wollten. Unterdessen wurde geklärt, weshalb wir Atto gegenüber den lateinischen Wortlaut nicht erwähnt hatten.

Cloridia und ich hatten geglaubt, soli soli soli sei die sinnverstärkende Wiederholung ein und desselben Wortes, welches «allein» bedeute, deswegen hatten wir Atto gleich die Übersetzung geliefert: «ganz allein» oder «wirklich allein».

Melani war außer sich. Er zitterte vor Zorn.

«Ihr jungen Leute seid … ein Haufen verantwortungsloser Gesellen, das seid ihr! Das Einzige, was ihr könnt, ist, den Kopf zu verlieren und Desaster anzurichten! Oh, hättet ihr doch nur ein Zehntel der Geistesgegenwart, deren es bedarf, um sich mit solchen Dingen zu befassen! Und ich habe dich hierher, bis nach Wien, gebracht, damit du mir eine Hilfe bist!»

«Achtung, Signor Atto.» Im letzten Augenblick konnte ich ihn am Arm zurückhalten.

Während der alte Kastrat sich nämlich derart echauffierte, stießen wir kurz vor der Wendeltreppe, die zum Stadion und den Gehegen der wilden Tiere hinaufführte, auf etwas wirklich Sonderbares. In dem großen östlichen Hof prangte ein übelriechender, großer Haufen Kot.

«Gütiger Himmel, das muss Mustafa gewesen sein», bemerkte ich und hielt mir die Nase zu.

«Ich hätte nicht gedacht, dass Löwen derart große Geschäfte machen», lachte Simonis.

Atto beruhigte sich allmählich. Wir brachten ihn dazu, sich auf eine Treppenstufe zu setzen. Obwohl seine Hände vor Wut noch immer zitterten, entschloss er sich endlich, uns aufzuklären.

«Soli soli soli ist keine Wiederholung des Wortes soli! Im Gegenteil: Es handelt sich um ein berühmtes lateinisches Motto.»

Ich hörte gebannt auf.

«Wenn du die Wohlerzogenheit besessen hättest, mir den Satz des Agas auf Lateinisch wiederzugeben», schimpfte Abbé Melani, «statt mir deine dumme Interpretation zu liefern, hätten wir uns viele Tage vergeblicher Mühe erspart.»

«Was bedeutet denn nun soli soli soli?», fragte ich.

«Das erste soli ist der Dativ Singular des Adjektivs solus, einzig, und bedeutet demnach ‹dem oder der Einzigen›. Das zweite ist der Dativ des Substantivs sol, also Sonne. Das dritte ist der Genitiv von solum, Erde, daher bedeutet es ‹der Erde›.»

«Dann heißt soli soli soli also … ‹der einzigen Sonne auf der Erde›.»

«Akkurat. Oder auch: ‹der einzigen Sonne des Bodens›, wenn dir das lieber ist. In Frankreich ist es ein sehr bekannter Spruch, denn Ihre Majestät hat ihn auf die Kanonen seines Heeres gravieren lassen. Der Sonnenkönig liebt es, alle an seine Macht zu erinnern. Doch den Satz hat nicht er erfunden; Nostradamus zum Beispiel benutzte ihn bei einer seiner wirren Salbadereien. Und er muss ihn wiederum den alten Römern gestohlen haben.»

«Warum?»

«Soli soli soli liest man häufig auf Sonnenuhren, welche die Zeit anzeigen, indem der Schatten eines eisernen Stöckchens über ein Diagramm wandert. Vermutlich war das ein alter lateinischer Brauch, der weitergegeben wurde. Sein Ursprung interessiert uns jedoch nicht. Es gibt unzählige ähnlicher Motti, wie zum Beispiel sol solus solo salo, was bedeutet ‹Nur die Sonne herrscht über Erde und Himmel›, oder sol solus non soli, also ‹Es gibt für alle nur eine Sonne›, oder sol solus soles solari, ‹Nur die Sonne tröstet ohne Unterlass›.»

Während er sprach, hatte Atto sich wieder erhoben, und wir begannen nun, Ausschau nach Frosch zu halten, um ihn nach ein wenig Wasser oder Wein zu fragen. Atto war nach seiner Schimpfkanonade sehr durstig geworden. Doch der Wächter war unauffindbar. Er hatte die Eisen und Holzbretter, mit denen er die Tür reparieren wollte, neben dem Eingang zum Stall liegen gelassen. Plötzlich hörten wir ein Geräusch vom Stadion her, wo sich die Käfige befanden. Gleich darauf gerieten die Vögel in Aufruhr, und das Ballhaus füllte sich mit Zwitschern.

«Dann hat die Geschichte vom Tscherkessen also nichts damit zu tun. Aber warum hat der Aga ausgerechnet dieses Motto gewählt?», überlegte ich laut, während wir zu dritt auf den Ballspielplatz zugingen.

«Vielleicht wollte er Eugen damit eine Ehre erweisen», mutmaßte Simonis. «Vielleicht hat der Aga einfach sagen wollen: ‹Wir sind zur einzigen Sonne der Erde gekommen.›»

«Höchst unwahrscheinlich», entgegnete Atto. «Eugen ist die Sonne von gar nichts. Er ist der Oberbefehlshaber der Kaiserlichen Truppen, mehr nicht. Soli soli soli bezieht sich eindeutig auf einen Herrscher.»

«Also auf den Kaiser», schloss ich. «Aber warum haben sie den Satz dann bei der Audienz vor Eugen ausgesprochen statt in Josephs Gegenwart?»

Atto schwieg nachdenklich.

«Vielleicht hat der Satz eine doppelte Bedeutung», bemerkte Simonis.

«Welche?»

«Mal sehen … statt ‹Zur einzigen Sonne der Erde› könnte man vielleicht übersetzen ‹Zur Sonne, die allein auf der Erde ist›.»

«Ist das nicht dasselbe?»

«Nein, diese zweite Formulierung würde bedeuten ‹Zur einsamen Sonne der Erde›, also zum Kaiser», erklärte Simonis.

«Und warum sollte er einsam sein?», wunderte ich mich.

Doch ich erhielt keine Antwort. Wir hatten das Ballhaus betreten. In der großen Arena mit ihren hohen, zum Himmel aufragenden Mauern ertönten die kreischenden Rufe der Vögel. Papageien und Sittiche schrien aus voller Kehle und füllten das ganze Rund mit ihrem Gezeter.

«Warum machen die Vögel einen derartigen Lärm, Junge?», fragte Abbé Melani mich erstaunt, wobei er sehr laut sprechen musste, um sich Gehör zu verschaffen.

Wir hörten erneut zwei, drei Schläge, wie von einem Hammer, der gegen Holzbretter schlug. Ich erklärte Atto, dass Frosch sich wahrscheinlich zwischen den Käfigen befand und eine Platte für die neue Stalltür zusammennagelte (obwohl es tatsächlich nicht ganz einsichtig war, warum er das inmitten der Vögel tat).

Der Lärm, wiewohl schon gellend, wurde durch den dröhnenden Widerhall einer neuen Folge von Hammerschlägen fast unerträglich.

«Verflucht, diese grässlichen Vögel sind unausstehlich», rief Atto und versuchte, sich die Ohren zuzuhalten.

Indem ich mein Trommelfell ebenfalls mit den Händen schützte, ging ich auf die kleinen Volieren zu und bemerkte bald, dass sie dicht an der Mauer standen, dass also dahinter niemand sein konnte, auch Frosch nicht, der dieses unangenehme Getöse erzeugte.

«Simonis!», rief ich meinen Gesellen, der in Gesellschaft Attos zurückgeblieben war.

«Seht nur, Herr Meister, seht!», echote er, um seinerseits meine Aufmerksamkeit zu erregen.

Es stand zur entgegengesetzten Seite des großen Platzes gewandt, auf den Eingang blickend, durch den man das Ballhaus betrat und den auch wir kurz zuvor durchschritten hatten.

Wir waren nicht mehr allein. Ein ungeheures, behaartes zweibeiniges Wesen, mindestens wie zwei Menschen so groß, zeigte uns seine speicheltriefenden Reißzähne und knurrte uns böse an, obgleich ich das wegen des Heidenlärms der Vögel nicht hören konnte. Dann ließ es sich auf seine Vorderbeine herab und trabte auf uns zu, bereit zum Angriff.

Mit Raubtieren kannte ich mich nicht gut aus, doch mein Instinkt sagte mir, dass das Wesen Hunger hatte. Starr vor Entsetzen beobachtete ich das sich nähernde Tier, hörte währenddessen mit einem letzten Fühler des Bewusstseins, wie der unsichtbare Schmied mit nochmaligen Hammerschlägen das Chaos unter den Vögeln erneut entfachte, dann gewahrte ich das abschließende Knirschen, und erst in diesem Moment begriff ich, dass es noch eine weitere Eingangstür zum Stadion gab, direkt gegenüber derjenigen, durch welche der Bär hereingekommen war, der uns jetzt angriff.

Immer noch gellten die Schreie der Papageien mir in den Ohren, als ich plötzlich erkannte, dass die Vogelkäfige, die Frosch an der Mauer übereinandergestapelt hatte, diese zweite Tür verborgen hatten, und dass sie es war, der ein unbekannter Tischler mit seinen Schlägen zusetzte.

Während ich unwillkürlich der Zielgeraden des Bären auswich, welcher eindeutig auf mich zusteuerte, hatte ich Melani und Simonis aus den Augen verloren. Sie wurden jetzt vom Fliegenden Schiff verdeckt.

«Herr Meister!», hörte ich Simonis ein letztes Mal rufen. Dann ertönte ein lauter Knall, und eine Sintflut erbrach sich in das Stadion.

Wie im Traum eines Wahnsinnigen wurde mit explosionsartiger Geschwindigkeit die gesamte Schöpfung aus der Tür hinter den Käfigen ausgespien, als hätte ein launenhafter Gott hinter diesem Eingang das tierische Leben aller Zeiten und Orte zusammengedrängt. Eine chaotische Masse aus Fleisch, Blut, Muskeln, Krallen, Mähnen, Fellen und Zähnen brach mit Getöse in das Stadion ein und breitete sich augenblicklich darin aus, wie Gips, der in klares Wasser gegossen wird. Die Erde bebte unter den Tritten eines gewaltigen grauen Rüsselwesens, gefolgt von dem Dröhnen stampfender Stiere, von Panthern, die mit ihrem dunklen Fell das Licht ringsumher aufzusaugen schienen wie dämonische schwarze Sterne, von Tigern, die fächerförmig auseinanderliefen wie die Tentakeln einer einzigen, polypenartigen Raubkatze, von Luchsen, die von der Kraft, mit der die Detonation des Lebendigen sie auf den Ballspielplatz geschossen hatte, durch die Luft zu wirbeln schienen.

Die Vogelkäfige zerbarsten wie Holzhütten im Sturm; diejenigen geflügelten Wesen, welche von dem Aufprall der Tür nicht sofort getötet oder von den in das Stadion stürmenden Bestien nicht zertreten worden waren, flogen auf und erfüllten die Luft mit einer irrwitzigen vielfarbigen Wolke. Der riesige Bär aber, der uns kurz zuvor noch angegriffen hatte, war auf einmal nichts mehr.

Woher kam der Elefant, der die Tür aufgebrochen und die ganze Schar der Tiere anführte? Warum liefen die Raubtiere frei herum? Wie waren sie hinter die zweite Tür des Stadions gelangt? Keine dieser Fragen hatte Bedeutung. Denn während das tollwütige Gebrüll mir Kopf und Ohren schier zerschmetterte, sah ich ein ganzes Rudel Raubtiere auf mich zukommen, und meine Beine liefen wie von selbst in Richtung auf die einzige, wiewohl aberwitzige Fluchtmöglichkeit.

«Simonis!», schrie ich, ohne meine eigene Stimme zu hören, da sie vom mächtigen Trompeten des Elefanten übertönt wurde. Er hatte begonnen, im Halbkreis um das Fliegende Schiff herumzulaufen, von den Vögeln in dichten Schwärmen umflattert, während die Löwen einen Kampf mit den Bären aufnahmen und die Mauern des Stadions mit ihrem hasserfüllten Gebrüll zum Erzittern brachten.

Nie werde ich erfahren, wie ich dorthin gelangte, denn die Panik ist dem Gedächtnis feindlich. Mir ist, als hätte ich von dem Moment an, da der Elefant und sein bestialisches Gefolge in das Stadion einbrachen, ununterbrochen geschrien, bis ich mich, nachdem ich es mit affengleicher Geschwindigkeit erklommen, außer Atem und mit wunder Kehle an Bord des Fliegenden Schiffes wiederfand. So übermächtig war mein Entsetzen, dass ich erst, als ich sah, wie Simonis den Abbé auf das Schiff zu ziehen versuchte, wieder halbwegs zur Besinnung kam.

Ganz in der Nähe zerfleischte ein Bär etwas, das aussah wie ein großer Fasan, gleich darauf stürzten zwei Löwen herbei, verscheuchten den Bären mit Drohgebärden und fielen über die Beute her.

«Hier bin ich!», rief ich, auf meinen Gehilfen zulaufend.

Bei dem Versuch, auf das Schiff zu klettern, war Atto übel gestürzt, und Simonis musste ihm nun vom Boden hochhelfen, um ihn an Bord zu bekommen. Natürlich hätten die Tiere uns in das Schiff folgen können, doch vorerst war es besser als nichts.

Unterdessen musste der Geruch des Blutes der von Bären und Löwen getöteten Vögel den anderen Tieren zu Kopfe gestiegen sein; überall brachen Kämpfe zwischen den aggressivsten Raubtieren aus. Gerade zerriss ein gestaltloses Gewirr aus Köpfen, Hauern, Krallen und schnaubenden Nüstern Bauch und Geschlecht eines armen Ochsen, der auf die Hinterbeine gesunken war und die Augen im letzten Seufzer seines Todeskampfes zum Himmel hob.

Mit großer Mühe zogen Simonis und ich Abbé Melani langsam auf das Schiff. Ich sah, wie Attos fahle Lippen sich in einem stummen Gebet bewegten – wenige Schritte von uns entfernt knurrte ihn eine Löwin zornig an, die nur von dem närrischen Kreislauf, den der Elefant um das Fliegende Schiff vollführte, in Schach gehalten wurde.

Es war uns fast gelungen, uns selbst und den Abbé auf einen der Flügel zu ziehen, als ich einen scharfen, grausamen Hieb gegen meinen Kopf verspürte und dann tausend Stacheln, die meine Haut im Nacken und an den Schläfen marterten. Eine kleine Wolke irregewordener Vögel hatte sich auf uns gestürzt, und ein junger Raubvogel hackte auf meinen Schädel ein. Ich musste Atto loslassen, um mich zu verteidigen. Während ich mit halbgeschlossenen Augen wie verrückt um mich schlug, aus Furcht, geblendet zu werden, meinte ich, eine Gabelweihe, einige Sittiche und andere Flieger unbekannter Arten zu erkennen.

Die Löwin kam derweil immer näher, brüllte und bleckte die Zähne.

Plötzlich fuhr ein Ruck durch das Schiff wie der Stoß einer unsichtbaren Welle, und es begann zu schwanken. Der Elefant hatte seinen närrischen Ringelreigen beendet und begann nun, mit dem Rüssel rhythmisch gegen den anderen Flügel zu stoßen. An seiner Seite machte ein Panther, vielleicht derselbe, der es auf mich abgesehen hatte, bevor ich zum Fliegenden Schiff gestürzt war, Anstalten, auf das Schiff zu springen, und nur dessen fortwährendes Schwanken ließ ihn noch zögern.

Endlich ließen die kreischenden Vögel von mir ab. Ich fuhr mir über den Kopf und betrachtete meine Handflächen: Sie waren hellrot. Aus Myriaden kleiner Wunden, die ich von dem Angriff der Vögel davongetragen hatte, floss Blut, es benetzte mir das Haupt und floss mir über Stirn und Kinn. Nun hievten wir den leichenblassen, am ganzen Körper zitternden Abbé Melani auf den Flügel, doch wenig fehlte, und er hätte das Gleichgewicht verloren und wäre erneut hinabgestürzt. Denn das Schiff schwankte so heftig, dass wir uns kaum aufrecht halten konnten, als wir über die Brüstung in den Innenraum zu klettern versuchten.

«Der Elefant …», keuchte ich und wies Simonis auf das gewaltige Untier hin, um ihm zu erklären, warum das Schiff so stark schaukelte.

Mittlerweile war der Gigant jedoch ebenfalls von den Vögeln angegriffen worden und hatte aufgehört, gegen das Schiff zu stoßen, um stattdessen wieder wie wahnsinnig im Kreis herumzulaufen, wobei er sich die Vögel mit dem Rüssel von den Augen verscheuchte und mit seinen schmetternden Rufen Löwen, Panther und Luchse einschüchterte. Von diesem Pandämonium verwirrt, hatte die Löwin ihre Absicht, uns anzugreifen, aufgegeben und es vorgezogen, sich einer Gruppe Artgenossen anzuschließen, die mittlerweile den Ochsen zerfleischte. Doch das Schiff hatte bereits einen neuen Gast: den Panther.

«Allmächtiger Gott, beschütze uns», murmelte Abbé Melani bebend.

Die Bestie war auf den gegenüberliegenden Flügel gesprungen und näherte sich uns nun mit kleinen Schritten.

Es blieb keine Zeit, das Für und Wider abzuwägen. Simonis ergriff aus dem Schiffsinneren die einzige Waffe, die uns zur Verfügung stand: einen Rauchfangkehrerbesen.

«Ich hatte ihn beim letzten Mal hier vergessen, Herr Meister.»

Inzwischen beendete die gutorganisierte Gruppe der Fleischfresser ihr tödliches Werk an dem Ochsen, der bereits in einem See aus Blut und Eingeweiden am Boden lag. Unweit davon hatten zwei Stiere einen aussichtsreichen Kampf gegen einen Löwen aufgenommen, indem sie ihm den Bauch mit den Hörnern aufrissen; der am Boden sich windenden Raubkatze quoll schon das Gedärm aus dem Bauch, unter verzweifeltem Gebrüll schlug sie mit schwachen Tatzenhieben vergeblich nach ihren Schlächtern. Ringsumher gab es jetzt nichts als Gräuel, Blut und Wahnsinn. Wenigen Tieren war es gelungen, aus den beiden Türen des Stadions zu entfliehen, der größte Teil schien im Tollhaus dieser Arena gefangen.

Der durchdringende Geruch des Blutes schien den Panther, der auf den Flügel des Schiffes gesprungen war, höchlich zu erregen, denn er betrachtete uns mit heißhungriger Wut. Wir hockten zu dritt, eng aneinandergepresst, im Inneren des Schiffes. Doch kaum war die Raubkatze in unser Gehäuse gesprungen, versetzte mein Gehilfe ihr einen tüchtigen Schlag auf den Schädel. Groß war das Erstaunen des Panthers: Auf Widerstand schien er durchaus nicht gefasst. Jetzt schwankte das Schiff ein paarmal. Ringsumher beruhigte sich unterdessen das Treiben der Vögel, das anfängliche ohrenbetäubende Krächzen war verstummt. Viele waren davongeflogen, andere hatten sich hier und da hingehockt, wieder andere waren zerquetscht oder von den Prankenhieben der wilden Tiere zerrissen worden. Jetzt überwog das sonore Gebrüll der Bestien, die in Ermangelung anderer Opfer (der Ochse war den stärksten, selbstsichersten Tieren vorbehalten) knurrend um das Schiff strichen. Der erste Rausch war verflogen, nun witterten sie ihre nächste Beute: uns. Sogar der Elefant hatte sein Kreisen beendet und sich dem Schiff genähert, um uns mit dem schmetternden Laut einer Bucina zu bedrohen, den er mit seinem Rüssel erzeugte. Das also war der dröhnende Trompetenklang, den ich schon vor zwei Tagen im Neugebäu vernommen hatte! Und jetzt erklärte sich auch, von wem die donnernden Schritte stammten, die wir wenige Stunden zuvor durch das Schloss hatten hallen hören.

Gleichsam als Vorgeschmack auf den Angriff verbiss sich der Panther derweil zum Vergnügen in den Besenstiel, den Simonis ihm entgegenhielt, indem er nach ihm schnappte und ihn mit den Krallen zu ergreifen suchte. Doch es gelang meinem Gehilfen, dem Tier den Besen aus dem Maul zu reißen und ihm einen zweiten kräftigen Stockhieb auf den Kopf zu verpassen. Wütend zog der Panther sich zurück. Simonis aber ging auf ihn zu, den Besen nunmehr in umgekehrter Richtung haltend, und stieß ihm die harten Borsten ins Gesicht. Der Panther wich mit einem Satz zurück und brüllte überrascht, dann begann er, sich mit einer Pfote über das rechte Auge zu wischen. Eine Borste musste ihm ins Auge gedrungen sein. Er schüttelte sich und warf uns einen eisigen Blick zu. Jetzt war genug gespielt, das Tier bereitete sich auf den Sprung vor. Zuerst würde er Simonis zerreißen, der ihn gereizt hatte, dann mich, der ich wegen meiner Wunden am Kopf nach Blut roch, und schließlich Atto.

Das Fliegende Schiff zitterte. Ich drehte mich um: Ein neues, gewaltiges Gewicht hing schwer am anderen Flügel. Ein großer Löwe, weit furchterregender als Mustafa, näherte sich mit mörderischen Absichten. Wir waren umzingelt, ich bereitete mich auf das Ende vor.

Da fuhr wieder ein Ruck durch den Schiffsrumpf. Während der Löwe sich auf den Flügel des hölzernen Vogels schwang, spannte auf der gegenüberliegenden Seite der Panther seine Muskeln, bleckte die Zähne, brüllte und setzte zum Sprung an. Ich hatte nicht einmal mehr Zeit, ein stummes Gebet an die Jungfrau Maria zu richten, und als das Tier schon fast zwischen uns war, schrie ich vor Verzweiflung laut auf. Vor sich hielt Simonis mit ausgestreckten Armen den nutzlosen, lächerlichen Besen.

Es waren dieselben gnädigen Götter wie beim letzten Mal, welche über unser Schicksal entschieden. Das Schiff wurde erneut von einem heftigen Beben erschüttert und stieg auf, indem es sich gleichzeitig um die eigene Achse drehte.

Die zentripetale Bewegung schleuderte uns alle drei in den hintersten Winkel des Schiffsbauchs, während ich aus dem Augenwinkel die schwarze Silhouette des Panthers nach vorne schießen und mit der Schnauze gegen den Kiel prallen sah. Das Tier stieß einen grimmigen, heiseren Klagelaut aus, doch seine Wut war vergeblich: Das Fliegende Schiff vollführte eine Reihe abrupter Kurskorrekturen, mit denen es den Panther von sich abschüttelte. Wie ich alsbald entdecken sollte, hatte unser Segler uns auf ebendiese Weise auch von dem Löwen befreit, gleich einer trägen Färse, die mit gleichgültigem Schwanzschlag lästige Mücken wegfegt.

«Was … was ist geschehen?», hörte ich Abbé Melani murmeln. Halbtot vor Angst kauerte er, das Gesicht zu Boden gesenkt, auf den Bohlen des Schiffes, derweil wir hörten (denn ich bin sicher, dass nicht nur ich es vernahm), wie eine fürchterliche, urzeitliche Kraft gewaltig aus dem dunklen Bauch der Natur selbst zu blasen begann und uns so leicht in die Höhe hob, wie der Frühlingswind in den Weinbergen von Nußdorf die anmutigen Sporen des Löwenzahns in alle Winde verstreut.

Und dann folgte jener Klang, das zarte Sirren der Bernsteine, die über unseren Köpfen an den Zugstangen hingen und eine Art urtümlicher Hymne anstimmten, mit welcher das Gefährt unseren Aufstieg in den Himmel feierte. Es erfüllte das Schiff und verwandelte unseren ärmlichen Verschlag in einen erhabenen Garten der Harmonien. Alles war nun möglich: Es war derselbe Laut wie beim ersten Mal, und doch auch ein anderer, er war überall und nirgends, ich hörte ihn und hörte ihn auch nicht. Er war süß wie eine Flöte und scharf wie ein Cembalo, wäre ich ein Dichter gewesen, ich hätte ihn «Hymne auf das Fliegen» getauft, denn die menschliche Schwäche pflegt das Unbegreifliche mit ausschmückenden Namen zu bedenken. Sie taucht den trügerischen Pinsel der Erinnerung in kräftige Farben, um eine nie da gewesene Landschaft auf die Leinwand zu zaubern, dem verträumten Trinker gleich, der einen leeren Kelch an die Lippen setzt und in der Erinnerung die Chimäre des Weines kostet, den er nie trank.

Den Kontrapunkt zum himmlischen Wohlklang der Bernsteine bildete, wie schon beim vorherigen Flug, ein gedämpftes Brausen: Das war die Luft, die durch die Röhren im Bauch des Schiffes strömte! Am Heck begann die Fahne mit den Insignien des Königreichs Portugal fröhlich unter dem peitschenden Winde zu knattern.

«Simonis!», schrie ich und erhob mich endlich von den Planken des Schiffsbodens, wo ich mich flach ausgestreckt hatte, um dem tödlichen Sprung des Panthers zu entkommen.

«Herr Meister!», antwortete er mir und stand ebenfalls auf. Sein Gesicht leuchtete von trunkener Begeisterung.

«Es fliegt wieder, Simonis, jetzt fliegt es wieder!», rief ich vor dem erstarrten Abbé Melani aus und umarmte, glücklich über die überstandene Gefahr, meinen Gehilfen, während wir von unten das Grunzen der Bestien hörten, denen wir mit unserem Abflug einen üblen Streich gespielt hatten.

Ich betrachtete Atto: Er trug die Brille mit den schwarzen Blindengläsem nicht mehr. Wahrscheinlich hatte er sie in dem Hexenkessel verloren, dem wir soeben wunderbarerweise entronnen waren. Er stand ebenfalls auf den Beinen und hatte eine Hand auf das linke Ohr gelegt, als müsse er sich vor der Hymne des Schiffes schützen. Mit der anderen Hand hielt er sich an den vertikalen Stangen fest, welche die Streben mit den Bernsteinen über unseren Köpfen stützten.

Das Gesicht des Abbé Melani war, bis auf die violetten Abdrücke der Gläser, von einer wächsernen, irrealen Blässe. Es schien, als hätte ein verrückter Maler ihm zum Scherz das Gesicht mit Bleiweiß bestachen, Asche auf die Augenhöhlen und die krumme Nase gestreut und ihn so in ein Abbild des Pulcinella verwandelt. Mit verdrehten Pupillen starrte er hinaus in die Tiefe.

«Aber ich … wir … wir fliegen!», stammelte er fassungslos, dann verlor er das Bewusstsein und ringelte sich wie eine vertrocknete Schlangenhaut auf dem Schiffsrumpf zusammen.

Da begriff ich, was ich vielleicht immer geargwöhnt hatte: Atto konnte sehen.

Mein Gehilfe – er war immerhin Student der Medizin – tastete seinen Puls, untersuchte die nach innen gedrehten Pupillen und ließ Atto schließlich dank einiger schallender Ohrfeigen wieder zu Bewusstsein kommen.

Die Perücke schief auf dem Haupt, die wenigen eigenen Haare vom erbarmungslosen Wind gepeitscht, blickte Abbé Melani mich aus hervorquellenden Augen und mit dem verzerrten Mund einer tragischen Maske an. Er stieß ein tiefes, monotones «Oooh» aus, ein Mittelding zwischen Röcheln und Ausruf der Verwunderung. Von Simonis gestützt, näherte er sich der Brüstung, dann kehrte er zurück, beugte sich gleich darauf aber wieder hinüber, und so ging er zwei- oder dreimal hin und her, bestürzt über die schwindelerregende Höhe, in der wir uns jetzt befanden.

Von unten brüllten Löwen, Tiger und Bären uns ihre ohnmächtige Wut hinterher; wie eine Drohgebärde reckte der Elefant seinen Rüssel in die Höhe; die Vögel, noch immer begierig auf Tumult, umflatterten uns, angelockt von unserem Gefährt, das leicht in der Luft schwebte, obwohl die Flügel unbeweglich blieben. Es mag Einbildung gewesen sein (ja, das war es gewiss), doch als ich die Augen schärfte, entdeckte ich dort unten den Panther, den Simonis mit dem Besen in Schach gehalten hatte, und mir schien, als blitzte in seinen weit entfernten Augen ein stummes Versprechen glühenden Hasses auf.

«Ja, Signor Atto, wir fliegen», bestätigte ich ihm, «und Ihr könnt sehr gut sehen, wie es scheint.»

«Meine Augen sehen, ja», gestand er, während er seinen Blick über den Horizont schweifen ließ, ohne darauf zu achten, was er sagte, so überwältigt war er von dem imposanten Anblick, der sich uns ringsum bot.

Starr und reglos durchschnitt Atto Melanis Nase die Luft, ähnlich dem hölzernen Adlerkopf des Fliegenden Schiffes, der sich geheimnisvoll in die Unendlichkeit vorstreckte.

«Könnte … könnte man nicht ein wenig tiefer fliegen?», bat er.

Simonis und ich sahen uns an.

«Ja, Signor Atto, versucht Ihr doch einmal, ihm das ins Ohr zu flüstern!», sagte ich, auf den adlergleichen Kopf am Bug des Schiffes zeigend, und die unerträgliche Spannung, die mich schier zerriss, entlud sich in einem höhnischen Gelächter. «Euch gehorcht er ja vielleicht.»

Simonis stimmte in das befreiende Gelächter ein, und als wir uns beruhigt hatten, erklärten wir Atto, dass dies nicht unser erster Flug war, denn vor zwei Tagen hatten wir das unbegreifliche Vermögen des Fliegenden Schiffes schon einmal erfahren.

«Du hast alles vor mir verheimlicht, Junge …»

«Dafür habt Ihr den Blinden gespielt», erwiderte ich.

«Es ist nicht, wie du denkst. Das habe ich getan, um mich zu schützen», verbesserte er mich lakonisch und spähte dann über den Rand des Schiffs nach unten.

Sein Blick wanderte über den Kahlenberg, die Dächer und Kirchtürme Wiens, die Stadtmauern und das weite Glacis, die Donau mit ihren Schleifen, die Ebene jenseits des Flusses, die sich, so weit der Blick reichte, bis ins Königreich Polen und dasjenige des Zaren erstreckte; und dann über Gebäude, Brücken, Alleen, Villen, Gärten, über die Hügel mit ihren Weinstöcken, gepflügte und bestellte Felder, die Straßen, die sich von Wien aus in die Vorstädte und das Land ausbreiteten, Flüsschen und Bäche, Hänge und Schluchten: Das alles schrumpfte zu einem winzigen Ameisenhaufen, und wir durften uns dessen allmächtige, stolze Götter dünken.

«Sagt mir: Wie lenkt man dieses Schiff? Wie kann es fliegen?»

«Das wissen wir nicht, Signor Atto», antwortete Simonis.

«Was? Nicht ihr beiden habt es in die Luft aufsteigen lassen?», rief er aus, und ich sah, wie panischer Schrecken sich auf seinem Gesicht abzeichnete.

Der arme Abbé hatte geglaubt, dass Simonis und ich die Urheber unseres Aufstiegs in den Äther gewesen waren und darum auch Herrscher über die Lenkung des Schiffes. Also versuchte ich, Melani zu erklären, dass das Fliegende Schiff sich auch beim letzten Male nicht deshalb in die Lüfte erhoben hatte, weil es von uns in irgendeiner Weise angetrieben wurde, sondern allein darum, weil es – wie es schien – unsere Wünsche erahnte und erfüllen wollte: beim ersten Mal die Absicht, das Geheimnis des Goldenen Apfels zu ergründen; beim zweiten Mal das verzweifelte Verlangen, den Raubtieren vom Neugebäu zu entkommen.

«Ein Wunsch? Der Wille allein reicht nicht aus, eine Gabel zu bewegen, vom Fliegen gar nicht zu reden. Sagt mir, dass ich träume», erwiderte Melani.

Gerade in diesem Augenblick änderte das Fliegende Schiff mit einem sanften Rütteln seinen Kurs.

«Was geschieht hier?», fragte Atto beunruhigt. «Wer lenkt das Schiff in diesem Moment?»

«Es ist schwer zu verstehen, Signor Atto, aber es lenkt sich von allein.»

«Es lenkt sich von allein …», wiederholte Melani verwirrt, warf erneut einen bestürzten Blick nach unten und schwankte leicht.

Simonis eilte herbei, ihn zu stützen.

«Mein Gott», sagte Atto erschauernd, während der Grieche ihm Arme und Oberkörper rieb, «es ist schrecklich kalt hier oben, schlimmer als auf dem Gipfel eines Berges. Und wie kommen wir wieder hinunter? Werden wir nicht am Boden zerschellen?»

«Beim letzten Mal ist das Schiff auf den Boden des Ballspielhauses zurückgekehrt.»

«Aber wir können nicht in das Stadion zurück», nuschelte Atto, der wieder kreidebleich wurde, «dort sind diese … Hilfe! Großer Gott! Heilige Jungfrau!»

Das Schiff hatte urplötzlich gewendet. Mit einem sanften, aber entschiedenen Ruck war das Gefährt nach links abgebogen und hatte Abbé Melani mit seiner Zentrifugalkraft auf den Abgrund zugeschleudert. Zum Glück konnte Simonis, der an seiner Seite geblieben war, ihn gerade noch am Zipfel seiner Kleidung packen. Auch ich hatte mich, um das Gleichgewicht zu halten, fest an eine der Stangen klammern müssen.

Einige Minuten lang herrschte zwischen uns Stille, nur das überirdische Klingeln der Bernsteine erfüllte die Leere. Attos Blick verlor sich jetzt im Abgrund; wie einen Rosenkranz flüsterten seine Lippen schwache, ungläubige Gebete zum Allerhöchsten, zur seligen Jungfrau, zu allen Heiligen.

Unterdessen fuhr das Schiff fort, seinen Kurs in regelmäßigen Abständen zu korrigieren, und umrundete so, Abschnitt für Abschnitt, den gesamten Luftraum über der Stadt. Bei jeder neuen, abrupten Wendung von Simonis gestützt, kommentierte Atto fluchend und vor Erschütterung stammelnd unseren Flug:

«Ein Leben … ein ganzes Leben …», lallte er, «ein ganzes Leben hat mir nicht genügt, um die Welt zu begreifen. Und jetzt, wo ich krepieren muss, widerfährt mir auch noch das hier …»

Das Schiff hatte unterdessen seinen Rundflug über Wien beendet. Da hörte ich es: Das harmonische Rauschen der Bernsteine schwoll an und schmückte sich mit bizarren, unbeschreiblichen Variationen, indem es sich selbst einen Kontrapunkt aus Geflüster und Geklingel in fortwährendem Crescendo schuf. Schließlich beschenkten uns die leuchtenden Steine wie freundliche Orchestermusiker mit einem blaugoldenen Läuten, und eine unwiderstehliche Süße verbreitete sich über das ganze Schiff. Den wunderlichen Symphonien verwandt, welche man kurz vor dem Einschlafen vernimmt, erklangen nun unbeschreibliche konzertante Wonnen im Fliegenden Schiffe, und ich wusste, dass Simonis und Atto sie mit mir teilten und dass sie wie ich davon berauscht wurden. Ich musste nicht einmal fragen: «Hört ihr das auch?», weil all das um uns und in uns war.

«Soli soli soli … Vae soli», murmelte Atto. «Diese Bernsteine … Ich kenne dieses Motiv. Es ist eine Sonate für Basso solo von Gregorio Strozzi. Aber wie können sie …»

Er hielt kurz inne, dann reckte er sich zu unserem Erstaunen kerzengrade in die Höhe, krümmte sich wieder, und kurz bevor er nach hinten fiel, rief er:

«Vae soli, quia cum ceciderit, non habet subblevantem se!», skandierte er mit Stentorstimme zu den Steinen gewandt, welche bunte Arabesken aus Licht auf sein Gesicht zeichneten.

«O Gott, ihm wird übel!», rief ich meinem Gehilfen zu, das Schlimmste fürchtend, während wir beide herbeiliefen, ihn zu stützen, damit er nicht auf dem Schiffsboden aufschlug.

«Der Ekklesiast. Er zitiert aus dem Ekklesiasten!», sagte Simonis, der ebenfalls außer sich war, doch, wie mir schien, eher wegen der Worte, die Atto gesprochen hatte, als wegen seiner körperlichen Verfassung.

Wir legten den Abbé auf die Bohlen des Schiffsbodens. Er war nicht ohnmächtig geworden, schien aber auch nicht bei klarem Bewusstsein. Bevor er fiel, hatte er mit seinen welken Fingerspitzen einen der Bernsteine gestreift, und die Musik hatte augenblicklich ausgesetzt, um nur das ursprüngliche Rauschen zurückzulassen. Simonis rieb dem alten Abbé Schläfen, Brust und Füße.

«Wie geht es ihm?», fragte ich ängstlich.

«Seid unbesorgt, Herr Meister. Er ist erschüttert, erholt sich aber schon wieder.»

Ich seufzte erleichtert, doch insgeheim verfluchte ich den Aga und den ewig kränkelnden Domenico. Recht bedacht, war es verrückt gewesen, den Abbé mit zur Arbeit zu nehmen. Hätten wir natürlich gewusst, was uns im Ort Ohne Namen erwartete …

«Wir kehren zurück», beobachtete der Grieche, «wir verlieren bereits an Höhe.»

Das Fliegende Schiff sank. Der Adlerkopf am Bug, dessen leere, hölzerne Augen in die Unendlichkeit starrten, hatte seinen Schnabel schon auf die Felder von Ebersdorf und Simmering gerichtet.

Würden wir erneut im Ballspielhaus landen? Wenn ja, kämen wir dann heil davon? Unterdessen war Atto wieder bei Sinnen.

«Wir müssen den Kurs ändern!», rief ich.

Die ersten Versuche waren vollkommen fruchtlos. Wir begannen damit, dass wir uns vorsichtig alle drei auf eine Seite des Schiffes stellten, dann auf die andere, in der Hoffnung, damit eine Veränderung der Flugrichtung zu bewirken, doch vergebens.

«Es fällt stracks und unbeirrt wie ein Stein», bemerkte mein Gehilfe. «Der einzige Unterschied: Es ist langsamer.»

Auch als wir uns alle am Bug und am Heck zusammendrängten, schienen wir die Fahrtrichtung des Schiffes nicht sonderlich zu beeinflussen. Erst in diesem Moment kam mir eine Idee. Was hatte Penicek von dem Jesuiten Francesco Lana und dessen Experimenten erzählt? Um sein Schiff in diese oder jene Richtung zu steuern, hatte er ein System aus Zugstangen ersonnen. In unserem Falle musste man aufs Geratewohl vorgehen, doch den Versuch lohnte es allemal.

Ich reckte mich in die Höhe und zupfte an einer der Stangen, an denen die Bernsteine hingen. Die gelblichen Brocken hüpften unordentlich auf und ab, ohne ihr undefinierbares himmlisches Surren einzustellen, während die Stange wie eine Lautensaite vibrierte. Diese leise, formlose Melodie zu stören war, als würde man in den natürlichen Lauf der Dinge eingreifen. Eine numinose Ahnung ließ mich blitzartig erkennen, dass das Fliegende Schiff und die Musik der Bernsteine ein und dasselbe waren, und mir schien, als sei dies immer schon so gewesen und könne anders nicht sein. Wie absonderlich es auch anmuten mochte, dieses dunkle Empfinden war keine Illusion: Zu meinem größten Erstaunen vollführte das Schiff nach einigen Augenblicken eine Wendung nach links, dann nach rechts und dann wieder nach links.

«Jesus, hilf uns! Was geschieht jetzt?», rief Abbé Melani aus, prompt Simonis’ Arm umklammernd.

Es ist also wahr, dachte ich, die Bernsteinstücke waren in gewisser Weise mit dem Antrieb des Schiffes verbunden. Welche Art Verbindung das war, konnte ich noch nicht wissen (und erwartete auch nicht, es je zu entdecken), doch vorerst genügte es mir, auf die Bewegung des Schiffes Einfluss nehmen zu können. Da bemerkte ich, dass der Himmel, der seit Beginn des Tages heiter gewesen war, sich jäh verfinstert hatte. In Wien gestaltet sich der Wechsel von Sonne und Wolken anders als in Rom: In der Stadt der Päpste ist er wie ein friedlicher Dialog zwischen Gelehrten, in Wien wie der Streit zweier misstrauischer Liebender: Alle drei Minuten verkehren sich die Fronten, Recht und Unrecht überschneiden sich ohne Maß und Ordnung.

«Haltet euch gut fest», warnte ich meine beiden Reisegefährten und wiederholte das Experiment, wobei ich dieses Mal ein wenig stärker an der Zugstange mit den Bernsteinen rüttelte.

Ich hatte übertrieben. Der Segler der Lüfte erbebte heftig, der Bug begann, in waagerechter Richtung hin- und herzuschwanken, als versuche der Raubvogelkopf, zu seiner Fahrtrichtung zurückzufinden. Sich auf den Beinen zu halten wurde nun zu einem schwierigen Unterfangen.

«Treiben wir es nicht ein wenig zu weit, Herr Meister?», protestierte Simonis besorgt, während Abbé Melani sich mit seinen knöchrigen Händen an ihm festkrallte.

Nachdem ich meinen Kameraden in der Not genug Zeit gegeben hatte, sich gut festzuhalten, unternahm ich weitere, vorsichtigere und konzentriertere Versuche, immer bedacht, die Gefahr, von den Schwankungen des Schiffes in den Abgrund geworfen zu werden, geringzuhalten.

Unterdessen verringerte sich zunehmend unsere Flughöhe und mit ihr der Abstand zwischen uns und dem Ort Ohne Namen, welcher sich schon deutlich in der großen Ebene der Simmeringer Haide abzeichnete. Die ersten Regentropfen fielen.

«Herr Meister, es hat den Anschein, als kehrte das Schiff in seinen Hafen zurück», unterrichtete mich Simonis.

Ich kontrollierte die Lage: Wir steuerten geradewegs auf das Stadion zu. Noch konnte ich nicht sehen, ob die wilden Tiere uns im Inneren des großen Rechtecks erwarteten; auf jeden Fall aber war es sehr wahrscheinlich, dass einige der Bestien hungrig umherstreiften, wenn nicht im Ballspielhaus, dann zweifellos in der Umgebung. Zumindest eines der Raubtiere verlangte gewiss, uns wiederzusehen: der Panther, den Simonis mit dem Besen am Auge verletzt hatte.

Die Tropfen am Himmel wurden schwarz und vermehrten sich. Nun war keine Zeit mehr zu verlieren.

«Was zum Teufel willst du mit den Stangen machen, Junge?», fragte Abbé Melani mit besorgter Miene.

«Verhindern, dass wir im Maul einer Großkatze landen.»

Weder Simonis noch Atto hatten dagegen etwas Sinnvolles einzuwenden. Es lag auf der Hand, dass schnell eine Lösung des Problems gefunden werden musste. Wir flogen nicht mehr sehr hoch; also zog ich an drei oder vier Zugstangen gleichzeitig und ließ sie losschnellen wie einen Bogen.

Das Schiff erfuhr eine so starke Erschütterung, dass ich gewiss gefallen wäre, hätte ich mich nicht mit aller Kraft festgehalten. Atto und Simonis hatten sich am Boden hingekauert. Immer noch steuerten wir auf das Ballspielstadion zu. Welch einen unwürdigen Steuermann hatte das Fliegende Schiff in mir gefunden! Die erhabene Arche der Wahrheit, das edle Segelschiff, das aus dem äußersten Westen gekommen war, um Österreich zum Sieger im Krieg zu machen, das Gefährt, welches die höchste Spitze des Stephansdoms mit dem Goldenen Apfel krönen sollte, war jetzt ein Opfer meiner plumpen Sabotageversuche. Nachdem uns das Schiff gerettet hatte, verrieten wir es, indem wir versuchten, den natürlichen Verlauf seines Fluges umzulenken und es auf den Boden zu zwingen. Vom Regen durchnässt, reckte ich mich in die Höhe und zog erneut, noch stärker.

Jetzt war das Schwanken so heftig, dass auch ich das Gleichgewicht verlor, hinfiel und entsetzt erwartete, wir würden auf der Stelle abstürzen. Atto und Simonis fluchten beide. Ich hatte nicht einmal den Mut, unseren Kurs zu kontrollieren, denn ich fürchtete, der nächste unerwartete Rückstoß des Schiffs würde mich über Bord werfen. Nachdem ich mich erhoben hatte, klammerte ich mich an die Zugstangen und zog abermals mit Gewalt daran. Endlich geschah es.

Das Surren der Steine hatte aufgehört. Ich blickte nach oben: Die gelbbraunen Brocken vibrierten nicht mehr aus eigener Kraft; es war, als zehrten sie jetzt von einer Art Restenergie. Das ganze Fliegende Schiff bebte wie ein riesiger Vogel, der an einem lebenswichtigen Organ getroffen worden war. Es war ein leidendes, fiebriges Zittern, das Vorspiel zur Katastrophe. Hätten wir Schießpulver an Bord gehabt, ich hätte schwören können, dass wir binnen Kürze in die Luft geflogen wären.

«Mein Gott, wir sind alle tot!», hörte ich Abbé Melani flüstern, der Simonis wie ein kleines Kind umarmt hielt.

Ich richtete mich auf und ging schwankend zur Brüstung, um einen Blick nach draußen zu werfen. Endlich hatten wir die Richtung gewechselt. Nachdem es zunächst höher gestiegen war, hatte das Fliegende Schiff einen Sinkflug zur linken Seite begonnen; jetzt zielte es auf eine Ecke in der Simmeringer Haide, einen mit Gras bewachsenen, freien Platz nordöstlich vom Ort Ohne Namen. Dort, dessen war ich gewiss, würden wir abstürzen.

Während wir uns auf den Aufprall vorbereiteten, wurde der Regen zu einem kräftigen Gewitter. Besser so, vielleicht würde auf diese Weise niemand unserer Landung zusehen. Einige Sekunden lang verwandelte ein Blitz unser Segel in einen silbernen Halbmond, der aus seinem Himmelsabschnitt gefallen war und nun auf dem einzigen Zipfel Erde niederging, der willens war, ihn zu beherbergen.

«Haltet euch gut fest!», schrie ich, während der Bauch des Fliegenden Schiffes schon Baumwipfel und Pflanzen streifte und sich zum Aufprall anschickte. Gerade als in der Nähe ein lauter Donner losbrach, spürte ich den ersten Kontakt mit dem Boden und schlug ein Kreuzzeichen.

«Wozu dienen die Bernsteine? Wie kommt es, dass sie auf diese Weise erklingen? Kann jemand von euch mir das erklären?»

Tropfnass, ermattet, aber lebendig waren wir gelandet. Zu unserer Überraschung hatte sich die Ankunft auf der Erde in einem leichten Hüpfen erschöpft; das Fliegende Schiff hatte Kontakt mit dem Boden aufgenommen, ohne zu zerschellen oder kopfüber umzustürzen, und es hatte genügt, sich gut festzuhalten, um nicht herauszupurzeln.

Kaum war er zu Boden gesunken, hatte der gefiederte Segler sich wieder in die Lüfte erhoben und Kurs auf den Ort Ohne Namen genommen.

«Vielleicht kehrt er ins Ballspielhaus zurück», vermutete Simonis.

Während das Schiff sich entfernte, hatte ich ihm einen letzten Blick nachgeschickt: Würde ich es je Wiedersehen?

Unser Landeplatz lag nicht weit vom Weinkeller des Himmelpfortklosters entfernt. Auf unserem Weg dorthin waren unsere Füße bis zu den Knöcheln im Schlamm der Felder versunken. Was nach unserer Flucht in den Himmel am Ort Ohne Namen geschehen war, wussten wir nicht. Ob die Tiger und Löwen immer noch frei herumliefen?

Jetzt trockneten wir unsere Kleider in dem kleinen Salon des Kellers vor dem Feuer. Zum Glück war uns auf dem kurzen Fußmarsch niemand begegnet: Denn was taten zwei Rauchfangkehrer mitten auf dem Land, in Gesellschaft eines hinfälligen, kahlköpfigen Greises (der Abbé hatte seine Perücke verloren) mit Bleiweiß im Gesicht und karmesinroten Wangen? Tatsächlich wirkte Atto, dessen Miene vom Schrecken der Ereignisse noch verzerrt war, die dunklen Kleider schmutzig und zerrissen, der Rücken gebeugt und der Gang schwerfállig, wie ein übel zugerichteter, aus einer Phantasiewelt geflüchteter Elfe.

Nun aber saßen wir in der behaglichen Wärme des Feuers, die Hände um einen schönen Kelch heißen Weines gelegt, halbnackt, derweil unsere über dem Kamin hängenden Kleider trockneten, und besprachen die Situation. Abbé Melani hatte seine Geistesgegenwart zurückgewonnen und bestürmte uns mit einem Hagel von Fragen.

Welche Funktion hatten die den Rumpf formenden Röhren, durch die geräuschvoll ein Luftstrom floss? Waren sie es womöglich, welche die notwendige Kraft zum Fliegen gaben? Und warum lief das Schiff unter portugiesischer Flagge?

All diesen Fragen hatten wir nichts entgegenzusetzen als unsere traurige Unkenntnis, der nur die Einbildungskraft Linderung verschaffte. Die Röhren schienen in der Tat als Antriebskraft zu dienen, obwohl wir keinerlei Beweis dafür hatten. Die Fahne des Königreichs Portugal indes hatte mit der Herkunft des Schiffes zu tun. Die zwei Jahre alte Gazette, die Frosch mir gezeigt hatte, berichtete, dass das Luftschiff aus Portugal gekommen war. Das stimmte mit Ugonios Informationen überein: Das Fliegende Schiff war auf Wunsch der Königin von Portugal, der Schwester des Kaisers Joseph I., mit dem Auftrag nach Wien geschickt worden, den Goldenen Apfel, der auf ungeklärten Wegen aus östlichen Landen nach Portugal gelangt war, auf die Turmspitze des Stephansdoms zu setzen. Nur so würde das Reich im Krieg gegen das Frankreich Ludwigs XIV. triumphieren.

Doch die Frage, die Atto am meisten beschäftigte, war, wie zum Teufel die Bernsteine es vermocht hatten, die Sonate für Basso solo von Gregorio Strozzi zu spielen?

«Warum interessiert Euch das so sehr?», fragte Simonis.

«Was geht dich das an?», erwiderte Melani unhöflich. Die ständige Gegenwart meines Gesellen machte ihn nervös.

Der Grieche verlor nicht die Fassung.

«Warum seid Ihr jetzt nicht mehr blind?», stichelte er mit der dümmsten Miene der Welt.

«Hör mal, Junge», sagte Atto zu mir, seinen Ärger mühsam unterdrückend, «ich rate dir, deinen Werkstattgesellen loszuschicken, damit er aus gebührender Entfernung einen kurzen Blick auf diese verlassene Hütte, wie heißt sie noch gleich?, Neugebäu, wirft. Wir müssen herausfinden, ob die Lage sich beruhigt hat.»

Der Abbé wollte meinen Gehilfen loswerden, er war ihm lästig.

«Draußen regnet es immer noch in Strömen, Signor Atto», wandte ich ein. «Vorzüglich aber würde auch ich gerne etwas mehr über die wunderbare Wiedergewinnung Eures Augenlichts an Bord des Fliegenden Schiffes erfahren.»

Atto senkte den Blick.

Ich griff ihn mit Fragen an. Warum hatte er die ganze Zeit diese schwarzen Gläser auf der Nase getragen? Wollte er so vielleicht leichter über die Grenze kommen und in der Kaiserstadt unbeobachtet bleiben?

«Aber was soll ich denn anderes machen mit diesen Blutsaugern, meinen Verwandten?», hub der Abbé an.

«Euren Verwandten?», frage ich verwundert.

«Meine Neffen, ja, diese Profiteure. Glaub nur nicht, dass ich gut sehe. Alles andere als das, der graue Star wird immer ärger. Darum hat mein Medikus in Paris mir geraten, mich immer in Grün und Schwarz zu kleiden, zwei Farben, die die Augen heilen, wie er sagt. Und aus dem gleichen Grunde schlafe ich mit bloßen Füßen, sogar im Winter – das soll sehr gut für die Sehkraft sein. Was den Rest betrifft, geht es mir, Deo gratias, sehr gut.»

Abgesehen von den güldenen Adern und dem Steinleiden, erläuterte Atto, sei er in seinem ehrwürdigen Alter immer noch gesund an Leib, Seele und Geist. Das einzige Problem seien seine Neffen aus Pistoia. Nichts anderes täten sie, als immerfort Geld zu verlangen.

«Geld, Geld, immer nur Geld! Sie möchten, dass ich zwei kleine Landgüter in Pistoia kaufe, nach denen es sie gelüstet, und dass ich dafür das Depot auflöse, das ich auf dem Monte del Sale besitze. Aber mit den Alemannen vor der Tür würde man mir höchstens drei Prozent geben! Und sie wünschen, dass ich auf dem Gut in Castelnuovo die Fässer mit Eisen beschlagen lasse. Meine Güte, welch ein Luxus, glauben sie denn eigentlich, dass ich das Geld auf der Straße finde?»

Erstaunlich, Atto schien die wundersamen Vermögen des Fliegenden Schiffes schon wieder vergessen zu haben und wetterte stattdessen gegen seine Verwandten: Offenbar schätzten seine Neffen nicht besonders, was der alte Herr Onkel für die Familie tat, denn jeder sah nur auf den eigenen Vorteil.

«Sie haben sogar die Impertinenz besessen, mich um das Geld für den Erwerb einer ganzen Bibliothek zu bitten! Darauf habe ich geantwortet, dass ich vielleicht bald derjenige bin, dem sie Geld schicken müssen! Ergebnis: Sie lassen nichts mehr von sich hören. Feine Dankbarkeit. Und das, wenn man bedenkt, dass ich ganze vier Jahre lang einen Vermittler bezahlt habe, damit er eine Frau für Domenicos Bruder Luigi sucht, die seiner in Abstammung und Mitgift würdig ist! Sie haben sich erst wieder an mich erinnert, als das richtige Mädchen gefunden war. Denn sie besaßen die Unverschämtheit, mich zu bitten, ihr das Hochzeitskleid aus Paris zu schicken, diese Knauser! Ich habe geantwortet, das Kleid komme gewiss nicht mehr rechtzeitig zur Hochzeit an, und vorgeschlagen, die gleiche Schneiderin zu nehmen wie die Durchlauchtigste Fürstin der Toskana und ihre Hofdamen. Dann habe ich ihnen erlaubt, die Diamanten aus einem Porträt in meiner Galerie zu nehmen, um daraus zwei Ohrgehänge und ein kleines Kreuz für eine Halskette aus schwarzer Seide fertigen zu lassen. Aber das war ihnen nicht genug, o nein!»

Der Abbé redete wie ein Wasserfall. Ich hatte den Eindruck, in Wirklichkeit wolle er über andere Dinge mit mir sprechen und wartete nur auf den Moment, da Simonis von der Bildfläche verschwand.

«Aber nein, sie bestanden auf dem Hochzeitskleid», fuhr Atto unterdessen fort, «und ließen ganz außer Acht, dass die Galeote, die den Kurier von Lyon nach Genua gebracht hätte, gewiss von den Korallenfischerbooten von Oneglia und den bewaffneten Schiffen von Finale ausgeraubt worden wäre und dass dem Fräulein Braut ein Kleid aus Paris zu senden bedeutet hätte, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen, wie eine Dame es tat, die der Nichte des Papstes zwei Kleider schickte. Ich habe der Diskussion ein Ende gesetzt, indem ich versprach, falls meine Einkünfte in Frankreich sich stabilisierten, würden sie mich vielleicht noch vor Johanni in Pistoia sehen. Bei der Gelegenheit könne ich dann der Braut das Hochzeitskleid persönlich bringen.»

Doch nachdem die Braut sich damit abgefunden hatte, in einem toskanischen Kleid vor den Traualtar zu treten, und alsbald Mutterfreuden entgegensah, erzählte Atto weiter, seien die Neffen wieder zum Angriff übergegangen.

«Das Kind ist wirklich schön, wie mir Madame Konnetabel schrieb, die es gesehen hat. Also ließ ich mir das Versprechen entschlüpfen, der jungen Mutter Perlenketten und einige andere Galanterien zu schicken. Ich habe auf eine günstige Gelegenheit gewartet, um sie ohne die Gefahr von Raubüberfällen schicken zu können, doch die Gelegenheit ist nie gekommen; und es tut mir leid, dass die Zeitläufte mir nicht gestatten, all das zu tun, was ich möchte, doch wie ich dir schon sagte, in Paris sieht man nur mehr Banknoten, und wenn man sie auslösen will, verliert man die Hälfte. Diese Billetts sind und waren der Ruin Frankreichs.»

Das Einzige, was sie könnten, sei, um Geld zu bitten, ereiferte sich der Abbé, in dessen Gedächtnis die Erinnerung an die Raubtiere nunmehr vor der Wolke des Zorns über seine Angehörigen verblasst war. Die Reichtümer, welche sie selbst erwarben, behielten sie jedoch sorgsam für sich, genauso wie alles Gute, was ihnen widerfahre:

«Sie haben alle geschwiegen, diese Füchse, als der Durchlauchtigste Großherzog unserer Familie letztes Jahr das Adelspatent zweiten Grades verlieh und ankündigte, in fünf Jahren werde er sie in den eigentlichen Adelsstand versetzen. Ich habe es von meinen Landsleuten erfahren müssen.»

Fortwährend bereiteten die Neffen in Pistoia Probleme, erklärte Abbé Melani weiter: Erst hätten sie ihm unbedingt Domenico nach Paris schicken wollen, damit er auf seine Habe aufpasse, dann seien sie neidisch aufeinander geworden und hätten sich gegenseitig verdächtigt.

«Domenico ist Advokat, und der Durchlauchtigste Großherzog der Toskana hat ihm eine Anstellung als Sekretär der Consulta von Siena verschafft. Ich wollte nicht, dass er nach Paris kommt, ich brauche niemanden. Ich habe gesagt, dies sei nicht die Zeit, eine solche Reise zu unternehmen, zu viele Morde geschehen auf dem Land, ob des Darbens und elenden Daseins der kleinen Leute; außerdem herrschten viele Krankheiten mit bösem Fieber und Petechien. Wir sind schon auf eine so geringe Zahl geschrumpft, wir müssen bedacht sein, uns zu erhalten! Das habe ich diesen Blutsaugern geschrieben, in der Hoffnung, sie würden mich in Ruhe lassen. Aber nein: Sie wandten sich an den Großherzog, und Ihre Königliche Hoheit schrieb mir, er halte es für überaus zweckmäßig, dass Domenico, der jüngste Spross der Familie, sich nach Paris begebe, sintemal er nicht verpflichtet sei, wie der Älteste, die Interessen unseres Hauses zu wahren; und ich solle mich nicht um seinen Posten sorgen, den werde er während seiner Abwesenheit für ihn freihalten. Domenico solle jedoch nicht eher mit mir oder allein nach Pistoia zurückkehren, bevor er sich – hört, hört! – über meine sämtlichen Zinseinkünfte informiert habe. Und darauf musste ich dem Durchlauchtigsten Großherzog sogar höflich antworten, ihm untertänigst für die übergroße Güte danken, die er mir erwies, et coetera et coetera

Simonis blickte mich an. Ich begriff, dass er es vorzog, sich vom Gewitter noch einmal durchnässen zu lassen, um diesem senilen Geschwätz nur ja schleunigst zu entkommen. Doch draußen ging eine Sintflut nieder, daher bedeutete ich meinem Gehilfen, noch ein wenig zu warten.

So habe sich Domenico, fuhr Melani fort, vor einem Jahr bei seinem Herrn Onkel einquartiert. Nichts hatten Attos Empfehlungen genützt, der Neffe möge doch bitte nur wenige Sachen mitbringen, «denn das selbige Gewand, das er am Leibe trägt, und ein halbes Dutzend Hemden werden genügen»: Monatelang war er geblieben, und der alte Herr Onkel musste ihm obendrein eine neue Garderobe kaufen. Mehr noch: Melani hatte ihm sogar Geld für die Reise schicken müssen, und da dreißig Dublonen den Verwandten zu wenig erschienen waren, hatten sie Domenico sogar ohne einen Diener nach Paris geschickt.

«Wie habe ich mir gewünscht, er würde einen Diener mit sich führen, der ein wenig zu kochen verstand, damit ich mal italienische Speisen vorgesetzt bekomme! Egoisten und Geizhälse, das sind sie! Und ich weiß, wovon ich spreche, denn ich bin über die großen Erträgnisse der Familie gut informiert. Als Domenico das Amt des Sekretärs der Consulta in Siena erhielt, ließ mir der Großherzog die Nachricht über alle Bezüge und Ehrungen zukommen, die der Neffe fortan genoss. Eines Tages werde ich damit herausrücken und diesen Raben schreiben, sie sollen mit ihrem alten Onkel nicht immer Versteck spielen, denn der Großherzog erzählt mir ohnehin alles brühwarm.»

Doch mit der Zeit hatte der alte Abbé den Neffen liebgewonnen, ja, ihn sogar zum französischen Bürger machen lassen.

«Aber da brach es erst recht los. Die anderen Neffen wurden neidisch, denn sie fürchteten, ich würde ihm Vorteile verschaffen.»

Und Atto erklärte Simonis und mir, die wir seinem Salbadern stumm und müde zuhörten, dass die gesamte Verwandtschaft ihm hingegen für diese Entscheidung hätte dankbar sein sollen, denn wenn er stürbe, würden seine Möbel und alle Einkünfte, die er aus dem Landhaus nahe Paris beziehe, dem Erstbesten gegeben, der danach verlangte.

«Das ist ein Recht der Krone, in Frankreich heißt es aubaine, und darum holen die meisten Fremden einen Verwandten zu sich, um ihn naturalisieren zu lassen.»

Tatsächlich war dies nicht der erste Neffe, den Abbé Melani bei sich aufnahm.

«Vor drei Jahren habe ich meinen lieben Neffen Leopoldo verloren. Er war blond und von anmutigstem Äußeren. Ich war untröstlich, er starb mit nur vierunddreißig Jahren. Nach über zwanzig Tagen unablässigen Fiebers mit Hauptweh und Delirium ist er verschieden. Gott, der Herr, hat in seiner Güte gewollt, dass er rechtzeitig alle Sakramente erhielt, so ist er als Heiliger gestorben, und das ist der einzige Trost, der mir bleibt. Er war zu einem so tüchtigen jungen Manne gereift, mit engelsgleichen Manieren; alle, die Umgang mit ihm hatten, liebten und schätzten ihn. Auch ich erkrankte in jener Zeit, da er daniederlag, und Gott in seiner Barmherzigkeit hat mich verschont, auf dass die Frucht all meiner Mühen nicht verlorengehe.»

Hier machte Atto eine gerührte Pause, doch gleichzeitig spitzte er die Ohren, um zu hören, ob es draußen noch regnete. Es regnete. Mit einem verzweifelten Blick auf Simonis, der keine Miene verzog, hub Melani wieder an.

Dank jener Neidereien zwischen den Verwandten, erzählte er, habe er Domenico zu Beginn der kalten Jahreszeit wieder nach Hause schicken können. Doch dann sei der Neffe zurückgekehrt, und das habe er genutzt, um sich von ihm nach Wien begleiten zu lassen, statt einen Sekretär zu dingen.

«Ich wollte mich wenigstens zum Teil für das entschädigen, was mir meine Verwandten genommen hatten. Doch nun ist Domenico krank. Wenn wir aus Wien abreisen, schicke ich ihn geradewegs nach Pistoia zurück, zusammen mit der Mortadella.»

«Der Mortadella?», fragte ich verwundert.

«Bevor wir die Reise nach Wien antraten, hatte ich die Neffen gebeten, mir kandierte Orangen zu schicken, nebst zwei der besten Mortadellas, die man in Pistoia macht. Sie sollten sie in die Weinkisten stecken, mit denen Ihre Königliche Hoheit, der Großherzog, mich beehrt. Denn ich wollte sie zum Frühstück essen, zumal ich die Reise ohnehin in der Sänfte machen musste und darum auch ein paar Flaschen Wein mitnehmen konnte. Aber diese Geizhälse haben mir ungenießbare Mortadella geschickt, hart und übermäßig stark gepfeffert, und von kandierten Orangen keine Spur!»

Fordern sei das Einzige, was diese Neffen könnten, donnerte Melani, der schon in nichts mehr an den zitternden Greis auf dem Fliegenden Schiff erinnerte. Wäre er nicht gewesen, sie wären immer noch die armseligen Großneffen eines Glöckners statt Nachfahren eines venezianischen Edlen, erläuterte er, um zu betonen, dass die Republik Venedig ihn geadelt hatte.

«Ich bin es gewesen, der durch heraldische Forschungen entdeckt hat, dass Machiavello in seiner Geschichte der Republik einen Ort Rocca del Melano erwähnt. Dort herrschte ein gewisser Biagio del Melano, von dem unser Name abstammt, mit dem diese Taugenichtse jetzt so sehr prahlen!»

Derweil ließ der Regen endlich nach. Simonis befühlte seine Kleider, und obwohl sie noch ein wenig feucht waren, begann er sich unter Melanis hoffnungsfrohen Blicken anzuziehen.

«Aber erst muss man das Amt des Statthalters auszuüben verstehen, bevor man dasjenige des Hauptmanns bekleiden darf! Das habe ich ihnen in einem Brief geschrieben. Sie sollen sich umtun, wie ich es getan habe, sich ihr täglich Brot im Schweiße ihres Angesichts verdienen», tönte er sentenziös, wobei er ganz vergaß, dass seine Fortune mit einem kaum wünschenswerten Ereignis begonnen hatte: der Entmannung.

Zuletzt jedoch, schloss der Abbé, sei es fast unmöglich geworden, sich den unaufhörlichen Forderungen dieser Hyänen zu entziehen.

«Also habe ich, um mich nicht weiter aussaugen zu lassen, vortäuschen müssen, ich sei erblindet, könne Ihrer Majestät fürderhin nicht mehr dienen und lebte darob in beschränkten Verhältnissen. Und ich muss sagen, langsam habe ich Geschmack daran gefunden: Die Blindheit erspart mir einen Haufen Ärger, auch mit dem Großherzog.»

«Mit dem Großherzog?», staunte ich.

«Ja, er hat in Frankreich einige Mündel ganz ohne Talente, sie taugen weder zum Soldaten noch zum Höfling, und da sie keine sittliche Führung haben, handeln sie unbesonnen. Darum will er, dass ich, da ich mich am Orte befinde, ihnen ihre Ausgaben vorstrecke. Und wer garantiert mir, dass ich mein Geld jemals wiedersehe? Noch dazu, wo in ganz Europa Krieg herrscht und überall Banditen und Piraten umherziehen? Was habe ich denn mit den Mündeln des Großherzogs zu schaffen? Solche Kreaturen können meiner Meinung nach nur noch Mönch werden, unter der Bedingung, dass sie niemals ins Chorgestühl gehen, sondern immer bei Tische oder im Bett bleiben.»

Kurzum, wenn man Atto hörte, wollte ihn jeder ausnutzen.

«Und wie du weißt, hat mir der Notbehelf mit den Augen zu guter Letzt gestattet, ungestört nach Wien hereinzukommen.»

Ich wandte ein, dass auch sein Neffe Domenico an die Blindheit des alten Herrn Onkel zu glauben schien. Es sei denn, dachte ich im Stillen, er wäre wie sein Vorfahr ein großer Schauspieler. Und außerdem hatte mir der Abbé am gestrigen Tage viele Dinge gebeichtet, sogar dass der Brief, in dem Prinz Eugen seinen Kaiser verriet, eine von ihm selbst in Auftrag gegebene Fälschung war (doch das hätte er vor Simonis abgestritten). Warum also hatte er mir nicht enthüllt, dass er gar nicht blind war?

«Domenico weiß, dass ich sehen kann; wenig allerdings, was im Übrigen auch stimmt. Und in Anbetracht des Neides seiner Brüder hat er kein Interesse daran, mich zu verraten. Was deine zweite Frage betrifft, so offenbare ich niemals etwas, wenn ich nicht dazu gezwungen bin.»

Wohl wahr. Nach der schlechten Nachricht von den vermeintlichen Blattern des Grand Dauphin hatte Atto keine andere Wahl gehabt. Er musste mir sagen, dass Eugens Brief gefälscht war, denn wie hätte er sich sonst meine Unterstützung sichern können? Wenn er mir aber auch gebeichtet hätte, dass er nicht wirklich blind war, hätte er jede Glaubwürdigkeit bei mir verloren.

Unterdessen war Simonis bereit, zum Ort Ohne Namen aufzubrechen. Er schulterte das Säckchen, von dem er sich in letzter Zeit nicht mehr trennte, legte sich ein Wachstuch über den Kopf, das er im Keller gefunden hatte, und schlüpfte durch die Tür.

«Wir müssen unbedingt herausfinden, wie dieses verteufelte Schiff zu fliegen vermag!», wechselte Atto abrupt das Thema, kaum dass der Grieche verschwunden war. «Es ist die größte Erfindung aller Zeiten! Ein Heer, das ein solches Schiff besitzt, würde jeden Krieg gewinnen. Man könnte daraus Bomben abwerfen, die viel besser treffen als Kanonen. Man könnte die Aufstellung der feindlichen Bataillone ausspionieren, ihre Stärke, die Beschaffenheit des Bodens, alles! Ja, man wüsste sogar im Voraus, ob ein Sturm naht oder ob ein Fluss ausgetrocknet ist – alles, was für die Kriegsführung nützlich ist.»

Typisch, dass Abbé Melani an dem Fliegenden Schiff nur die möglichen militärischen Verwendungszwecke lobte! Er blieb der immergleiche Intrigant. Je mehr ihn etwas zu erschüttern vermochte, wie dieses geheimnisvolle Gerät, welches unser ganzes Wissen von der Welt in Frage stellte, umso mehr flüchtete er sich in den praktischen, harten Kern seines Gewerbes als Spion.

«Könnte ich doch nur dem Allerchristlichsten König davon erzählen …», seufzte er. «Das wäre eine triumphale Rückkehr! Alle würden sagen: Abbé Melani berät Ihre Majestät wieder in kriegswichtigen Angelegenheiten.»

«Ich habe keine Ahnung, Signor Atto, wie dieses Schiff …», schüttelte ich den Kopf.

«Wir sprechen später darüber», schnitt er mir das Wort ab. «Jetzt, wo dieser scheinheilige Idiot gegangen ist, muss ich dir etwas Wichtigeres erzählen.»

Es ging um die Melodie von Gregorio Strozzi, die Atto aus der Musik der Bernsteine gehört zu haben meinte.

Melani erklärte, auf den handschriftlichen Kopien der Sonate Strozzis, welche zur Zeit ihrer Entstehung vor etwa dreißig Jahren zirkulierten, sei am Rande ein Satz des Ekklesiasten notiert gewesen: Vae soli, quia cum ceciderit, non habet sublevantem se, was bedeute: «Wehe der Sonne, denn wenn sie fällt, wird sie niemanden haben, der ihr aufhilft.» Dies war der Satz, der Atto plötzlich in den Sinn gekommen war, als er hörte, wie die Bernsteine Strozzis Sonate spielten (wenn man es so nennen durfte).

«Dann hat Simonis recht gehabt», sagte ich.

«Was meinst du?», fragte Atto sogleich misstrauisch.

«Euch ist übel geworden, darum habt Ihr es nicht gehört, aber er hat sofort erkannt, dass Eure Worte aus dem Werk des Ekklesiasten stammten.»

«Sieh an, sieh an», bemerkte Atto, «das ist ja eine Gelehrtheit, die eines Bibelforschers würdig wäre! Findest du das nicht ein wenig eigenartig für einen Schornsteinfegergehilfen?»

«Simonis ist ein Bettelstudent, Signor Atto, und die können durchaus sehr gebildet sein.»

«Na gut», winkte er ärgerlich ab. «Kannst du mir aber vielleicht auch erklären, wie und warum die Bernsteine diese Sonate von Strozzi gespielt haben?»

«Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Fast würde ich sagen, das Schiff hat uns die Lösung für soli soli soli mitteilen wollen.»

Atto machte eine verdrossene Geste. Wie ich schon früher bei ihm beobachtet hatte, wehrte er sich gegen die Vorstellung, geheimnisvolle Kräfte seien am Werk. Unerklärliche Ereignisse begründete er lieber damit, dass das menschliche Wissen, seines eingeschlossen, schlicht nicht ausreiche.

Melani fuhr fort: Wie den Satz des Agas könne man auch das Zitat des Ekklesiasten auf andere Weise übersetzen, indem man mit den unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes soli spiele.

«Nicht ‹Wehe der Sonne›, sondern ‹Wehe dem, der allein ist›. Wehe dem, der allein ist, wie Joseph, denn wenn er fällt, wird er niemanden haben, der ihm aufhilft», schloss der Abbé.

«Dann hätte das soli soli soli im Satz des Agas eine doppelte Bedeutung», folgerte ich. «Also hatte Hristo recht!»

«Ach ja, dieser bulgarische Student. Jetzt sag mir genau, was er in diesem Billett geschrieben hat, bevor er starb.»

«Das Zettelchen, das im Schachbrett versteckt war? Er hat geschrieben: ‹Schah matt, Schachmatt, der König ist erledigt.› Und als wir seine Leiche gefunden haben, hielt er einen weißen König in der Hand.»

«Tatsächlich», bemerkte Melani zufrieden, doch sofort verfinsterte sich seine Miene: «Wenn du mir das allerdings früher gesagt hättest …»

Dann schwieg er. Wahrscheinlich hatte er begriffen, dass ich ihm von Hristos Tod nicht genauer erzählt hatte, weil ich Atto zu dem Zeitpunkt noch nicht getraut hatte. Im Übrigen hatte auch ich jetzt, wo mein Argwohn verflogen war, keine Lust, das Thema wieder aufzurühren. Er hub unterdessen wieder an:

«Habe ich dir die Geschichte von den zwei Belagerungen erzählt, die Joseph in Landau anführte?»

«Natürlich, Signor Atto.»

«Und habe ich dir auch von dem französischen Kommandanten Melac erzählt, der Joseph ritterlich anbot, nicht auf ihn schießen zu lassen?»

«Ja, ich erinnere mich.»

«Gut. Dann wirst du dich auch meiner Erklärung dieses Verhaltens entsinnen: Die guten alten militärischen Regeln ähneln jenen des Schachspiels, wo der gegnerische König niemals getötet werden kann. ‹Schachmatt› bedeutet nämlich ‹der König ist besiegt›, ‹der König hat keinen Ausweg mehr›, aber nicht ‹der König ist tot›. Euer bulgarischer Freund muss sich mit diesem Gedanken gequält haben, dem Gedanken an den König und sein Schicksal.»

«Und was bedeutet das?»

«Es bedeutet, dass das Billett eures bulgarischen Freundes und soli soli soli … nun, dass beides ein und dasselbe ist.»

«Wie das?»

«Soli soli soli kann nämlich noch anders übersetzt werden», fuhr Atto fort, «wenn das erste und dritte soli in der Bedeutung verwendet werden wie in dem Satz, der auf die Kanonen des französischen Königs graviert ist, während man das zweite nicht als Dativ Singular von sol, ‹Sonne›, sondern als gleichbedeutend mit dem ersten sol auffasst, also mit ‹Einsamer› oder ‹Mann, der allein ist› übersetzt.»

«Dann käme dabei heraus … ‹Zum einzigen Mann, der allein auf Erden ist›?»

«Genau.»

«‹Zum einzigen Mann, der allein auf Erden ist› … das klingt etwas seltsam», bemerkte ich.

«Aber es passt. Wenn diese Erklärung richtig ist, hatte euer Freund, bevor er starb, den wahren Sinn der Botschaft der Türken begriffen: ‹Wir kommen zum Goldenen Apfel, also Wien, zum einzigen Mann, der allein auf Erden ist.› Ein einsamer Mann, wie der König, wenn er zum Opfer des Schachmatts wird: Der König ist erledigt, der König ist allein.»

«Und warum sollte Joseph dem Schachmatt zum Opfer fallen?»

«Auch das müsstest du aus dem schließen können, was ich dir in den vergangenen Tagen erzählte», erwiderte Melani.

Ich schwieg, meine Gedanken ordnend.

«Ja, ich verstehe, was Ihr meint», sagte ich schließlich in die Stille hinein, die zwischen uns entstanden war. «Joseph ist allein, und er weiß es. Darum versucht er ja auch, mit sämtlichen alten Feinden Frieden zu schließen: im Westen mit Frankreich, im Osten mit den Osmanen und den ungarischen Rebellen, im Süden, in Italien, mit dem Papst, gegen den er vor drei Jahren sogar eine Armee geschickt hat. Die Verbündeten Ihrer Kaiserlichen Majestät sind die Holländer und Engländer, in Wirklichkeit aber sind sie seine schlimmsten Feinde. Sie verhandeln heimlich mit Frankreich und fürchten, dass Joseph, wenn er siegreich aus dem Krieg hervorgeht oder mit dem Sonnenkönig Frieden schließt, ihren Plan vereiteln könnte, den Platz der alten europäischen Mächte einzunehmen. In Spanien schließlich kämpft sein Bruder Karl gegen die Franzosen, doch er hasst Joseph seit seiner Kindheit. Auch Eugen, der Oberbefehlshaber seines Heeres, hasst ihn, weil Joseph in Landau seinen Ruhm geschmälert hat. Der Kaiser ist allein. So allein wie niemand sonst auf der Welt.»

«Und schwebt jetzt überdies in Lebensgefahr», ergänzte Atto.

«Aber warum haben die Türken sich Eugen ausgerechnet mit diesem Motto vorgestellt? Was wollten sie ihm sagen?»

«Das ist die einzige Frage, auf die ich keine Antwort weiß. Noch nicht.»

So versanken wir in Schweigen und blickten nachdenklich in das Feuer, das ich von Zeit zu Zeit schürte, sorgsam bedacht, keine Funken auffliegen zu lassen, welche unsere zum Trocknen aufgehängten Kleider versengen könnten. Bald schlummerte Atto ein. Die Aufregungen der letzten Stunden waren zu viel für den über Achtzigjährigen gewesen; man musste sogar staunen, dass ihm nicht schon bei dem Einbruch der Tiere in das Stadion die Sinne geschwunden waren.

Ich dachte an seine vorgetäuschte Blindheit und lächelte. Abbé Melani war im Alter zu einem Geizhals geworden, den die Verwandten bedrängen. Während ich grübelte, spürte ich, wie die Müdigkeit mich übermannte. Im Halbschlaf dachte ich noch einmal an Hristo, an den Satz des Agas und an seine neue Bedeutung, die Atto mir soeben enthüllt hatte. Und in dem Moment, da die Vernunft dem Traume weicht, kam mir die Erleuchtung.

Jetzt wusste ich endlich, warum der Aga diesen Satz zu Eugen gesprochen hatte.

Es genügte, zwei und zwei zusammenzuzählen und zu berücksichtigen, was Cloridia an diesem Morgen über Ciezeber berichtet hatte.

Die osmanische Gesandtschaft war in höchster Eile aus Konstantinopel gekommen, in ihrem Gefolge den Derwisch, damit er das Leben Ihrer Kaiserlichen Majestät rette. Sie war gerade noch rechtzeitig eingetroffen, just an dem Tag, da Joseph I. bettlägerig wurde. Wahrscheinlich hatte jemand, der auf Seiten des Kaisers stand, erfahren, dass man Joseph nach dem Leben trachtete, und hatte – warum nicht? – den Sultan um Hilfe gebeten. Denn im Osmanischen Reich verfügte man über ein medizinisches Wissen, von dem man in Europa nur träumen konnte. Und der Sultan, für den es nur von Vorteil sein konnte, wenn Joseph bei guter Gesundheit war (wie Cloridia erkannt hatte), hatte Ciezeber geschickt.

Wer hatte die Türken gerufen? Die Antwort war eindeutig: Niemand anderer als Eugen konnte es sein. Es war gewiss kein Zufall, dass die osmanische Ambassade ausgerechnet in seinem Palais empfangen worden war und dass dort auch jetzt die geheimen Treffen zwischen dem Derwisch und dem Kaiserlichen Medikus stattfanden.

Auch in diesem Punkt hatte Cloridia richtig vermutet: Eugen zählte nicht zu den Feinden des Kaisers, wie Atto meinte, sondern zu seinen wenigen Freunden, ja, vielleicht war er sogar sein einziger.

In diesem Augenblick weckte ein Geräusch von Schritten vor der Tür Atto aus seinem Halbschlaf. Simonis war von seiner Erkundung zurückgekehrt. Ich musste warten, bis ich Atto meine neueste Erkenntnis mitteilte, denn er hatte mir deutlich zu verstehen gegeben, dass er meinem Gehilfen nicht traute.

«Dem Gebrüll des Elefanten nach zu urteilen scheint mir, dass die Situation sich keineswegs gebessert hat», verkündete der Grieche.

Und so diskutierten wir, wie es zu dem vor wenigen Stunden überstandenen Abenteuer gekommen war.

Der Einbruch der Bestien in das Ballspielhaus hatte geschehen können, weil sie sich in dem engen Raum hinter dem Stadion aufgehalten hatten: einer Art Sackgasse, begrenzt von der Außenmauer des Stadions, dem Ostturm des Schlosses und einer weiteren Mauer. Dorthin waren die Tiere über einen unterirdischen Gang gelangt, von dem ich vermutete, dass er in ihre Gräben führte.

Doch von wo kam dann der Elefant her? Wie war es möglich, einen solchen Giganten zu verstecken? In den Gräben der anderen Tiere hatten wir keine Spur von ihm gesehen.

«Auch im Ostturm gab es eine Öffnung, Herr Meister», teilte mir Simonis mit.

Also rekonstruierte ich im Geiste die Ereignisse. Zweimal hatte ich die Gegenwart des Elefanten wahrgenommen: Zunächst hatte ich in der großen Loggia im oberen Stockwerk des Schlosses sein Trompeten gehört, das dem Ton einer Bucina ähnelte, dann, als wir uns im Westteil der Galerie im Untergeschoss des Gebäudes befanden. Offenbar hatte die riesige Bestie ihren Unterschlupf im Westturm, am äußeren Ende der Loggia, direkt über der Galerie. Es war dies der Turm, den wir nicht betreten konnten, weil Frosch uns keinen Schlüssel gegeben hatte. Von hier war das Tier durch die Loggia in den Eingangssaal gelangt und schließlich aus dem Schloss entwichen, um unter dem Bogen des maior domus hindurch auf die linke Seite zu wandern. Im östlichen Hof, dem des Haupteingangs, angekommen, hatte es defäkiert – von ihm mussten also jene außergewöhnlich großen Kotballen stammen, auf die wir gestoßen waren!

In Ermangelung anderer Fluchtwege war der Elefant dann in den Ostturm eingedrungen, dessen Eingang zum Hof, wie ich selbst hatte feststellen können, immer offen stand. Im Inneren des Turmes war er sofort nach rechts in den engen Gang abgebogen, der in die Sackgasse hinter dem Stadion führte, wo er dann auf die anderen Tiere traf, die ihre Gräben über den unterirdischen Ausgang verlassen hatten. An dieser Stelle muss der Andrang von wilden Tieren aller erdenklichen Rassen, sonderlich aber der angriffslustigen, der wilden Fleischfresser, einen ins Unerträgliche gesteigerten Tumult ausgelöst haben. Tiger, Löwen und Bären hatten sich Aug in Aug mit dem Elefanten gesehen, überdies eng aneinandergedrückt, in einem erstickenden Gemenge, von welchem sie in der Ruhe ihrer friedlichen Gefangenschaft keinerlei Vorstellung hatten. Die Panik hatte ihren Raubtiergeist vernebelt und ihnen verwehrt, auf die einzig mögliche Lösung zu kommen, nämlich einer nach dem anderen in den Ostturm zu schlüpfen, aus dem der Elefant hervorgekommen war, und von dort in den Haupthof zu gelangen. Der Elefant hatte die verworrene Situation gelöst, indem er die Tür zum Stadion aufbrach, und so war es zu jener Explosion von Tieren in der Arena gekommen, darin das Fliegende Schiff lag. Durch das Einstoßen der Tür hatten der Elefant und der Rest der Truppe die Vogelkäfige zerschmettert und so ein umfassendes Chaos ausgelöst.

Bis hierhin war alles klar – doch wer hatte die wilden Tiere aus ihren Gräben befreit und den Elefanten aus seinem Versteck im Westturm? Wo steckte Frosch? Warum hatte er uns die Existenz des Elefanten verschwiegen? Und wie zum Teufel war dieser Koloss eigentlich in einem der Türme des Neugebäus gelandet?

17. Stunde, Ende des Arbeitstages: Werkstätten und Kanzleien schließen. Handwerker, Sekretäre, Sprachlehrer, Priester, Handelsdiener, Lakaien und Kutscher speisen zu Abend (während man in Rom gerade die nachmittägliche Zwischenmahlzeit einnimmt).

Eine halbe Stunde später saßen wir in der Kalesche des Pennals, den wir auf dem Weg zum vereinbarten Treffpunkt abgefangen hatten. Wir wollten unbedingt vermeiden, den Mauern des Ortes Ohne Namen zu nahe zu kommen. Sofort bot sich uns eine angenehme Überraschung: Penicek hatte zum Schutz vor dem Regen eine kräftige Leinwand über sein Gefährt gebreitet. Er zeigte sich ein wenig erstaunt, uns hier an der Straße anzutreffen, mit dem todmüden Abbé ohne Perücke. Nachdem er uns hatte einsteigen lassen, fuhr er los, ohne viele Fragen zu stellen. Simonis hatte ihm den Mund gestopft, indem er ihn wie üblich sehr grob behandelte.

Während der Wagen sich in Bewegung setzte, fragte ich mich, wo Frosch wohl stecken mochte. Er würde Schwierigkeiten bekommen, wenn er seine Abwesenheit ausgerechnet in dem Moment, als die Tiere sich aus ihren Gefängnissen befreiten, nicht rechtfertigen konnte.

«Ich werde der Kaiserlichen Kammer melden müssen, was heute geschehen ist», sagte ich zu Simonis. «Sie werden morgen zu einer Ortsbesichtigung kommen, bei der wir zugegen sein müssen. Sicher stellen sie mir eine Menge Fragen, doch als Hofbefreiter Rauchfangkehrer kann ich den Behörden nicht verschweigen, was sich zugetragen hat.»

«Ich komme mit», sagte Atto eilig.

Ich ahnte, warum. Der Abbé hatte nicht die Absicht, Wien zu verlassen, ohne mehr über das Fliegende Schiff zu erfahren. Wenn er dem Allerchristlichsten König Genaueres darüber berichten konnte, würde seine Reise in die Kaiserstadt zumindest von einem Erfolg gekrönt werden. Ich protestierte nicht. Es war ohnehin aussichtslos, sich der Sturheit des Abbés zu widersetzen. Und niemand würde gegen einen blinden, hinfälligen Greis Verdacht hegen; schlicht gekleidet, ohne Schminke und Perücke, würde ich ihn als einen Verwandten vorstellen, auf den ich achtgeben müsse.

«Einverstanden, Signor Atto», antwortete ich nur.

Die Kutsche des Pennals kam auf der schlammigen Straße nur langsam voran. Als ein neues Gewitter losbrach, luden wir an der Straße einen Bauern auf.

Kaum war der Landmann eingestiegen, hub er unter wildem Gestikulieren in einem stark mundartlichen Idiom zu erklären an, dass er gerade einen Löwen habe herumlaufen sehen. Wir heuchelten natürlich ungläubiges Staunen: Das ist doch verrückt, ein Löwe in dieser Gegend? Darauf meinte der Mann, eines der wilden Tiere aus dem Neugebäu, welche eine Attraktion für die Besucher des Schlosses seien, müsse sich wohl der Überwachung durch den Tierwärter entzogen haben. Auf die Kunde, dass es im Neugebäu nicht nur eines, sondern viele wilde Tiere gebe, simulierten wir wieder große Verwunderung; worauf der Bauer erwiderte, in den umliegenden Dörfern kursiere sogar das Gerücht, dass es im Neugebäu einen Elefanten gebe.

Wir rissen die Augen auf und baten um Erklärungen. Also erzählte er uns, Kaiser Maximilian II., der Gründer des Neugebäus, habe einst aus Afrika einen Elefanten zum Geschenk erhalten. Maximilian hatte ihn auf dem Landwege über Spanien nach Wien kommen lassen und so den deutschen Völkern zum ersten Male Gelegenheit gegeben, die Spezies der Dickhäuter zu bewundern. Das Riesenvieh beeindruckte sie so sehr, dass jede der Herbergen, in denen das Tier auf seiner Reise verweilte, später den Namen «Gasthaus zum Elefanten» annahm. Mit der Einfalt des Mannes aus dem Volk erzählte der Bauer sodann, wie begeistert die Wiener auf die Ankunft des Elefanten reagiert hätten: In der Menge, die herbeilief, war eine junge Mutter, welcher vor Staunen die neugeborene Tochter aus den Armen fiel. Doch unter dem Geschrei der Menge fing der Elefant die Kleine mit dem Rüssel auf und legte sie in die Arme ihrer Erzeugerin zurück.

Maximilian ließ den Elefanten zunächst in ein zu diesem Behufe erbautes Serail in Ebersdorf nahe beim Ort Ohne Namen unterbringen. Dann aber, im Dezember 1553, starb das Tier, und ein Stuhl, aus dem Knochen seines linken Vorderbeins geschnitzt, war alles, was von ihm blieb. Alles? Nein, nicht alles, verbesserte sich der Bauer. Bevor er starb, hatte der Elefant sich nämlich als eine Elefantendame entpuppt, indem er (was bei den kolossalen Rüsseltieren angeblich äußerst selten geschieht) ein hübsches Paar kleiner Elefantenkinder gebar. Der Wächter der Elefantendame, Urgroßvater des jetzigen Tierhüters im Neugebäu, war überzeugt, dass der Tod der Elefantenkuh den übermäßigen Strapazen geschuldet sein müsse, denen sie durch das Zeremoniell des Kaiserhofes ausgesetzt war. Da er fürchtete, früher oder später werde jemand kommen und die beiden Elefantenkinder aus ihrer bequemen Unterkunft in Ebersdorf reißen, hatte er die Nachricht von ihrer Geburt geheim gehalten und sie in einem Stall in der Umgebung untergebracht, wo er sie mit Hilfe seiner Verwandten heimlich großzog. Als Maximilian starb, wurden die Tiere in das Schloss Neugebäu verlegt, welches nach dem Hinscheiden seines Schöpfers verwaiste und verwahrloste. Ihr Schicksal schien besiegelt: Als Opfer einer Unterschlagung waren sie dazu verdammt, allein in der Dunkelheit des Ortes Ohne Namen zugrunde zu gehen. Doch da die Barmherzigkeit von Mutter Natur keine Grenzen kennt, ist zwischen Tieren sogar die inzestuöse Liebe erlaubt und fruchtbar: Die beiden Elefantenkinder waren nämlich Bruder und Schwester, und so wurde schon beim ersten Aufkeimen jugendlicher Brunst ein hübscher Elefantenjunge geboren, eben jener, welcher noch heute im Neugebäu bewacht wird, ein gesundes, aufgewecktes Tier von ausnehmend ungestümem Wesen. Es sei zwar mittlerweile in die Jahre gekommen, habe seine Unbefangenheit aber bewahrt.

«Das haben wir gemerkt!», wollte ich schon herausplatzen, an den entsetzlichen Lärm zurückdenkend, mit dem der Elefant in das Ballspielhaus eingebrochen war. Doch ich wusste den Mund zu halten.

«Und die beiden Eltern? Sind die gestorben?», fragte Simonis.

«Gfladert haums as im Dreißgjärign Kriag. Gfressen haums as. An Hunga haums hoid ghobt», antwortete der Bauer lakonisch.

Atto, Simonis und ich zuckten zusammen. Pater Abraham a Sancta Clara hatte wahrlich recht: Bei dem Appetit der Wiener konnte sich kein Tier in dieser Stadt sicher fühlen.

«Aa, Hiniche!», sagte der Bauer, «heid haums an gefundn in Woid omad.»

«Ach ja? Und wo?», fragte ich.

«Bei de zwa Aufgnepftn.»

Vor Überraschung stockte mir der Atem. Der Bauer bemerkte es.

«Wissn Euer Gnadn ned, wo des is? Glei bei Salmannsdorf.»

Nachdem wir unseren Passagier an einer Kreuzung abgesetzt hatten, überlegten wir nicht zweimal. Wir hatten uns noch von ihm erklären lassen, was die Zwei Gehenkten waren: eine Lichtung im nördlichen Teil des Wienerwalds. Sie hieß so, erklärte er uns, weil man dort einmal die baumelnden Leichen zweier am Galgen gerichteter Männer gefunden hatte, wahrscheinlich Wegelagerer.

Wir erreichten den Platz nach fast zwei Stunden Wegs, erst in der Kutsche und dann zu Fuß durch die Umgebung des reizenden Örtchens Salmannsdorf. Unser Ziel hatten wir erreicht, indem wir den Neugierigen folgten, die durch den Wald streiften. Zuvor freilich hatte ein Umweg die Fahrt erheblich verlängert: Wir hatten Atto, der zu müde war für jedwede weitere Unternehmung, ins Kloster an der Himmelpforte gebracht. Bei meiner Rückkehr würde ich ihm berichten, was Cloridia in Eugens Palais entdeckt hatte.

Ugonios Körper lag bäuchlings auf dem vom Regen noch feuchten Gras. Sein Anblick war nicht viel schlimmer als gewöhnlich (und konnte es nicht sein). Die Kapuze bedeckte die spärlichen grauen Haare, die er noch auf dem Kopf hatte; im Gesicht sah man die immergleiche faltige Haut; aus dem schmierigen Umhang ragten der schwärzliche Hals und die krummen, fleckigen Hände hervor; unbezwinglich umhüllte ihn der vertraute Stallgeruch. Nur ein dünnes Rinnsal grünlichen Schleimes, das über sein Kinn lief, zeugte vom Geschehenen. Wären wir nicht in Kenntnis gesetzt worden, wir hätten glauben können, er schlafe.

Unversehens brach der Himmel auf. Ein Sonnenstrahl drang durch die Baumkronen und fiel auf die Kiepe, die Ugonio mitgenommen hatte und die noch neben ihm lag. Aus dem Behältnis ragten einige Gegenstände heraus: zwei kleine gläserne Ampullen und ein Korb. Der Sonnenstrahl durchdrang die Ampullen und ließ die Flüssigkeit darin aufleuchten, eine golden, die andere von rubinroter Farbe.

Simonis und ich bahnten uns einen Weg durch die Neugierigen, welche die Entdeckung des Toten unbefangen kommentierten. Nichts ist unterschiedlicher in Rom und Wien als das Verhältnis zwischen Lebenden und Toten. In Rom sind alle überzeugt, dass es Unglück bringt, vom Tod auch nur zu sprechen; in Wien hingegen ist der Große Befreier und alles, was ihn begleitet (Ursachen und Umstände des Ablebens, Bestattung, Erbschaft, Bankett), Gegenstand ungezwungener Konversationen. In Rom verspottet man die Wiener: Wie zum Teufel können sie fröhlich über Trauerfälle sprechen? Aber die Römer vergessen, dass der Tod in der Stadt der Päpste, vorzüglich der gewaltsame Tod, zwar weniger diskutiert, aber häufiger praktiziert wird.

Ugonio hatte in Rom und Wien gelebt und nun italienische und österreichische Bräuche verbunden: Er war im Wienerwald von der Hand eines Italieners gestorben. Ja, ich konnte dem Mörder einen Namen geben, es war nur allzu eindeutig: Al. Ursinum, wie auf Ugonios Merkzettel geschrieben stand, oder auch Alessium Ursinum, der Kastrat Gaetano Orsini, der die Rolle des heiligen Alexius sang. Geh mit Gott, Ugonio, Adieu für immer, mein guter Freund; du hast das Geheimnis, das dich an Orsini band, mit ins Grab genommen. Und für immer dahin war auch der Satz des Erzengels Michael: Jetzt, wo Atto und ich endlich begriffen hatten, was die Worte des Agas bedeuteten, würde er uns nicht mehr viel nützen, obwohl ich gerne gewusst hätte, welche Botschaft der Erzengel mit dem Schwert in die Spitze des Stephansdoms geritzt hatte, auf jenen Sockel, der einst den gotteslästerlichen Apfel Süleymans des Prächtigen getragen hatte und gemäß der Prophezeiung noch immer darauf wartete, den wahren Goldenen Apfel zu tragen.

Verstohlen beobachtete ich Simonis’ Gesicht, das vor Angst aschfahl war. Wieder war einer aus unseren Reihen gestorben und machte das Knäuel der Ereignisse noch unentwirrbarer. Im Geist die tausend Morde erwägend, welche jedes Jahr die Ewige Stadt besudeln, betrachtete ich das leblose Antlitz Ugonios und dachte wieder an sein sonderbares Schicksal. «Nachdem du dich in Rom Gefahren jeder Art ausgesetzt hast», überlegte ich im Stillen, «musstest du hier in Wien ein gewaltsames Ende nehmen.»

«Der Oame!», bemerkte unterdessen ein altes Paar in der Nähe, «der hot des foische Gmias darwischt!»

«Blede Geschicht. Oba wos wüsd mochn …», fiel ein anderer ein.

Das falsche Kraut? Ich trotzte dem Gemurmel des umstehenden Publikums (überwiegend alte Menschen, die gerne ihre Nase überall hineinstecken) und trat zu dem Toten. Dann nahm ich die Ampulle mit der goldenen Flüssigkeit und hielt sie gegen das Licht.

«Es scheint Öl zu sein», sagte Simonis, der mir gefolgt war.

Ich zog den kleinen Korken von der Flasche, ließ einen Tropfen auf meine Daumenspitze fallen und kostete. Er hatte recht.

Sogleich überprüften wir, ob sich in der anderen Ampulle, wie nunmehr zu vermuten stand, Essig befand. So war es. Das Körbchen war voll grüner, frischgepflückter Salatblätter.

In diesem Moment wurde unsere Untersuchung von drei Mitgliedern der Stadtguardia unterbrochen, welche gekommen waren, um die Leiche in Augenschein zu nehmen. Unfreundlich rissen sie uns die Ampullen und den Salat aus den Händen, um sie genau zu untersuchen. Dabei schüttelten sie den Kopf, wie um einen Unglücksfall zu bestätigen, welcher hätte vermieden werden können.

«Scho wieda ana, wos si teischt hot …», sagte der größte der drei Männer, während er die grünen Blätter aufmerksam betrachtete. «Maigleckerln san holt ka Bärlauch.»

«Bärlauch?», fragte ich die Gendarmen.

Die drei sahen sich an, dann brachen sie in unbändiges Gelächter aus, der Leiche nicht achtend, die zu ihren Füßen lag.

«Heast, Italienischa, pass guad auf, sunst host a Gift stod an Solod!», antwortete mir einer von ihnen spöttisch.

Jetzt war alles klar. Nachdem wir von den Gendarmen einige Erklärungen auf Wienerisch erhalten hatten (leider sprechen die Vertreter der städtischen Institutionen Wiens fast immer stark mundartlich), gab Simonis mir auf dem Rückweg zur Kalesche eingehend Aufschluss.

Allium ursinum war der wissenschaftliche lateinische Name des Bärlauchs oder wilden Knoblauchs, eines Krautes mit langen Blättern und scharfem Geschmack, das den Boden des Wienerwalds in diesen Frühlingstagen alljährlich mit einem leuchtenden Smaragdgrün dicht bedeckte und die Luft mit seinem Knoblauchduft erfüllte. In Wien war es weithin Brauch, das wilde Kraut zu pflücken und im Salat oder mit anderen Speisen verkocht zu essen; eine Gepflogenheit, die in Rom seit langem verschwunden war. Ugonio schien das Kraut roh zu bevorzugen, darum hatte er sich ein wenig Ol und Essig mitgenommen. Das also sollte die Notiz «Al. Ursinum» auf Ugonios Merkzettel bedeuten: nicht den heiligen Alexius und Gaetano Orsini, sondern den wilden Knoblauch. Er hatte schlicht vorgehabt, frische Kräuter zu pflücken! Es war dieses die «dringstliche und delikatlichste» Angelegenheit, auf die der Heiligenfledderer mit seiner letzten Bemerkung angespielt hatte, etwas gänzlich anderes als ein Komplott mit Orsini! Der Zusatz zu Ugonios Anmerkung, also der Name «Die Zwei Gehenkten», bezeichnete den Ort, den der Heiligenfledderer als eine Stelle kannte, wo reichlich Bärlauch zu finden war. Und wo er stattdessen den Tod gefunden hatte. Denn wie die Gendarmen erklärt hatten, glich der Bärlauch fast aufs Haar einer anderen Pflanze, dem Maiglöckchen, dessen Blätter ein rasch wirkendes, tödliches Gift enthalten. Auch erfahrenen Kräutersammlern war diese Verwechslung schon unterlaufen, und sie hatten sie mit dem Leben bezahlt, wie Ugonio. Ach, welch ein hinfälliges Geschöpf ist doch das Menschenwesen, dachte ich, wenn das Leben eines verwegenen, mit jedweder Mühe und Gefahr vertrauten Reliquienjägers von einem bescheidenen, wilden Pflänzchen dahingerafft werden kann!

Darum also hatte Gaetano Orsini, als Simonis und seine Gefährten ihn während des Überfalls nach den Zwei Gehängten gefragt hatten, erstaunt geantwortet, er gehe fast nie vor die Stadtmauern! Er kannte den Namen dieses Ortes und begriff nicht, warum man ihn danach fragte.

Alles war vergeblich gewesen. Auch der letzte dünne Faden, der uns mit der Lösung des Rätsels zu verbinden schien, hatte sich unter unseren Händen aufgelöst. Wenn Ugonio nichts mit Gaetano Orsini zu tun hatte, blieb unser Verdacht gegen die Musiker von Camilla de’ Rossi reine Vermutung, nein, pure Einbildung, da es ja keinen einzigen Anhaltspunkt gab. Ugonio hatte nichts weiter getan, als Ciezeber den falschen Kopf von Kara Mustafa zu liefern, war also nur seinem gewohnten Handel mit gefälschten Reliquien nachgegangen.

Für mich bedeutete der Tod des Heiligenfledderers einen weiteren, schmerzhaften Bruch. Vor achtundzwanzig Jahren war ich Ugonio in Rom begegnet, zur gleichen Zeit, als ich, ein unerfahrener Hausbursche in einer römischen Pension, Atto Melani kennengelernt hatte und durch ihn die große, verworrene Welt und das närrische Rad der Fortuna, das ihren Lauf bestimmt.

Schon damals hatte ich dem Tod ins Gesicht gesehen. Jetzt schloss Ugonios Verscheiden den Kreis, der in jenen fernen Tagen in Rom begonnen hatte. Der Eindruck der Vollendung (nicht der Vollkommenheit), mit dem die Ereignisse von Wien meine frühesten Erinnerungen auffrischten wie stumme Restauratoren, bereicherte sich jetzt um einen neuen Farbton. Eine traurige, grausame Nuance.

Wenigstens blieb mir der Trost, dass Ugonio keines gewaltsamen Todes gestorben war; im Gegenteil, er hatte sich sogar noch den Bauch vollgeschlagen. Ich warf einen letzten Blick auf seinen entseelten Körper. Solange er lebte, hatten die Schatten der Unterwelt und der Pesthauch der römischen Kloaken mardergleiche Züge in sein Gesicht gemeißelt. Im Tode wurde es nun barmherzig von der frischen Wiener Luft liebkost, und mütterlich legte sich die Aprilsonne, die zitternd durch das Blattwerk brach, auf sein Antlitz, als wolle sie mir den verborgenen göttlichen Funken offenbaren, der in jedem Menschen wohnt. Und so wirkte der Tod des alten, erschöpften Heiligenfledderers auf mich weniger wie ein Hinscheiden als wie eine Erhebung vom Menschlichen zum Übermenschlichen. So dachte ich im Weggehen, und nachdem ich mich bekreuzigt hatte, sprach ich ein kurzes Gebet für seine wunderliche Seele.

Auf dem Rückweg war ich bei der Kaiserlichen Kammer vorbeigefahren, um dort Meldung über die Flucht der wilden Tiere aus dem Ort Ohne Namen zu machen. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte der Angestellte die Anzeige aufgenommen.

Zurück in der Himmelpforte scheiterten alle Versuche, Atto Bericht zu erstatten: Er lag fast leblos in seinem Bett, so stark hatten ihn die Abenteuer des Tages mitgenommen. Domenico, der endlich wieder bei Kräften war, bat mich, ihn nicht zu wecken. Es sei besser, ihn bis zum nächsten Tage schlafen zu lassen.

«Heute werden wir uns an das vierte Gespräch begeben: Von dem Kauffen und dem Verkauffen», begrüßte mich Ollendorf mit seinem üblichen teutonischen Lächeln, bei dem uns Italienern stets ein Schauder über den Rücken läuft.

In Gedanken mit ganz anderen Dingen beschäftigt, ließ ich die Deutschstunde über mich ergehen. Zum Glück nahmen der Knabe und Cloridia die Unterweisungen unseres tüchtigen Lehrers weit anstelliger auf.

«Was für Wahren wollen die Herren haben? Sie gehen herein in den Laden, und schawen, was Ihnen beliebet», rezitierte mein Weib eifrig.

Kurz darauf klopfte es an die Tür. Es war Simonis. Er hatte ein Billett von Opalinski in seiner Kammer gefunden. Jan wollte uns am nächsten Tag sprechen und nannte einen Treffpunkt um sieben Uhr morgens in einem Haus bei den südlichen Bastionen.

Noch lustloser als zuvor kehrte ich zur Lektion zurück, und erst als Ollendorf endlich gegangen war, konnte ich Cloridia von den Neuigkeiten berichten, in primis vom Tod Ugonios.

Die Nachricht betrübte sie, wenngleich, was verständlich war, weniger als mich. Für sie war der Heiligenfledderer nur eine Bedrohung gewesen, kein Wesen, zu dem man Zuneigung fassen konnte. Wir sprachen nur kurz darüber, um den Kleinen nicht zu ängstigen.

Darauf widmete ich mich der Zeitungslektüre und griff natürlich zum Corriere Ordinario. Ich musste mir eingestehen, dass ich, seit die Probleme begonnen hatten, immer weniger Neigung verspürte, mich den Gepflogenheiten meiner Wahlheimat anzupassen, und das deutsche Idiom gehörte zu den ersten Opfern.

Cloridia hatte unterdessen aus der Klosterküche etwas zu essen besorgt, denn da ich noch nicht zu Abend gespeist hatte, knurrte mir tatsächlich der Magen.

«Mein Kleiner», sagte sie zu unserem Söhnchen, als sie mit dem Tablett in der Hand zurückkam, «komm, hilf der Mama, den Tisch für den Papa zu decken.»

«Ich gehorsambe», antwortete mein kleiner Lehrjunge lustig auf Deutsch und deckte meinen Platz sogleich gewissenhaft mit Besteck, Serviette und Glas.

Wieder einmal war das gesamte Mahl auf der Basis des gestrengen Dinkelkorns zubereitet, und ich wusste natürlich, wem ich das zu verdanken hatte. Wie hätte ich mich weigern können? Die fixe Idee der Chormeisterin, dass es nichts Gesünderes gebe als den Dinkel, wurde in jeder Hinsicht von Cloridia geteilt, die sie wiederum von ihrer Mutter geerbt hatte. In all den Jahren in Rom hatte meine Frau im Grunde recht wenig Gebrauch von den mütterlichen Rezepten gemacht; doch jetzt, von Camilla angesteckt, war auch sie zur fanatischen Anhängerin dieser Diät geworden. Anfangs ließ ich es mir gerne gefallen, umso mehr, als das lebenspendende Korn, die Lieblingsspeise der alten Römer, meinen Kleinen im Handumdrehen von allen Krankheiten befreit hatte. Doch im Laufe der Zeit war ich seiner überdrüssig geworden. Lustlos in diesem Mahl für Wiederkäuer herumstochernd, machte ich mich an die Lektüre des Corriere Ordinario, den Cloridia mir wie immer aus der Druckerei van Gehlens besorgt hatte.

Die Depeschen aus Madrid, daselbst am 9. März abgesandt, berichteten, dass man sich in Portugal (wo Josephs Schwester Königin war) zur Kampagne gegen den Herzog von Anjou rüstete. So musste ich wieder an den Goldenen Apfel und das Fliegende Schiff denken, das die Königin von Portugal nach Wien geschickt hatte. Sodann las ich über den Zank zwischen dem Herzog von Vendôme und der Fürstin Orsini, «welcher mit jedem Tage ärger wird, sintemal der Herzog zürnt, er könne nicht verstehen, dass man den Rath einer Frau in Angelegenheiten befolge, so ihrem Geschlechte nicht einmal zu Ohren kommen dürfften.» Dass der Herzog von Vendôme sich gegen das schöne Geschlecht empörte, war durchaus verständlich, dachte ich: Gehörte er, nach dem, was Atto erzählte, nicht auch zur großen Schar der Frau-Männer? Der Name der Orsini, der berühmten, allseits bekannten Intrigantin, erinnerte mich hingegen an ihren nichtadeligen Namensvetter, den Kastraten, den ich einen Augenblick lang für den Mörder des armen Ugonio gehalten hatte …

Welch eine sonderbare Lektüre des Corriere war das heute Abend!, sagte ich mir verdrossen: Statt mich abzulenken, erinnerte mich jede Nachricht an etwas, was ich soeben erlebt hatte. Wenn solche Zufälle überhaupt einen Sinn haben, was wollten sie mir dann sagen? Ich ging zu den Depeschen aus Rom über, welche ebenfalls nicht gerade brandaktuell waren, vom 28. März, doch hier war der erste Name, auf den mein Blick fiel, der des Konnetabel Colonna. Er hatte mit Seiner Heiligkeit, Papst Clemens XL Albani, am Fest der Allerheiligsten Verkündigung teilgenommen. Der Konnetabel war der Sohn von Maria Mancini. Kurzum, wohin mein Auge auch fiel, diese Gazette berichtete mir überall von mir selbst.

Ich warf sie verärgert auf den Boden und nahm das beigefügte Fliegende Blatt zur Hand, das jedoch nur Nachrichten von sehr weit entfernten und mir vollkommen unbekannten Orten brachte, wie Mitau, der Hauptstadt eines gewissen Herzogtums Kurland. Unten auf der Seite gab es endlich die neuesten Nachrichten aus Wien:

Da Ihre Kayserl. Majestät schon seit dem Mittwoch an den Blattern leidend ist, werden bis zum Sonntage öffentliche und allgemeine Gebete angeordnet …

Das alles wusste ich schon. Ich las weiter:

Der Kayserliche General Hofkriegsrath Gundacker Ludwig Graf Althan reiste in diesen Tagen mit der Postkutsche nach den Niederlanden ab.

Der Graf Althan hatte Wien also schon verlassen. Umso eigenartiger war es, dass Prinz Eugen immer noch zögerte. Wer weiß, ob er am nächsten Tag wirklich abreisen würde, wie er angekündigt hatte.

Das waren alle Nachrichten aus Wien. Ich durchsuchte das Blatt noch einmal, denn da war etwas, was mich störte, oder besser: was mir fehlte. Fehlte? Natürlich! Die Nachricht von dem Augustinermönch, der wegen Mordes und Vergewaltigung arretiert worden war! Die italienische Zeitung sagte nichts darüber.

«Cloridia, das Wiennerische Diarium! Wo ist das Wiennerische Diarium?», rief ich, vom Sessel aufspringend.

«Hier, hier ist es doch!» Meine Gemahlin zeigte auf das Tischchen neben mir, wo sie es immer hinlegte, nachdem sie es, wie üblich, beim Rothen Igel für mich gekauft hatte.

Die Nachricht fand sich nicht einmal in der deutschsprachigen Zeitung.

Penicek hatte uns gestern gesagt, man spreche überall darüber. Er war ganz überrascht, dass wir nichts davon wussten. Doch in den Gazetten stand kein Wort. Ich ging zu Cloridia, die damit beschäftigt war, meine Arbeitskleidung auszubürsten, und fragte sie, ob sie etwas von der Sache gehört habe, aber sie schüttelte den Kopf und zeigte sich sogar erstaunt: Gewöhnlich erfuhr man im Palais des Durchlauchtigsten Prinzen jeden Klatsch im Voraus – und die Verhaftung eines Mönches ganz sicherlich! Auch von den schweren Verbrechen, die jener begangen haben sollte, hatte sie bis jetzt nichts gehört.

«Seltsam», bemerkte meine Frau, «von wem hast du diese Nachricht denn?»

«Von Penicek.»

«Aha.»

«Meinst du, er hat sie erfunden, vielleicht, um …?»

In diesem Augenblick fiel eine kleine Schachtel aus der Hose, die Cloridia in der Hand hielt. Es war der Schrein, den Atto mir übergeben hatte.

«Was ist das?», fragte Cloridia und hob ihn auf.

Ich erzählte ihr, dass der Schrein, Abbé Melanis Worten zufolge, die Erklärung seiner Begegnung mit dem Armenier enthalte; doch er habe mir das Versprechen abgenommen, ihn vor seiner Abreise aus Wien nicht zu öffnen.

«Und wenn er leer ist?», wandte sie ein.

Ich fühlte, wie ich erbleichte. Dann schüttelte ich ihn ein wenig. Im Inneren hörte man einen Gegenstand klappern. Ich atmete auf.

«Gut, etwas hat der Abbé hineingetan», gab sie zu. «Aber bist du wirklich sicher, dass das seine Begegnung mit dem Armenier erklärt? Vielleicht ist es nur ein Stein oder etwas in der Art.»

Ich fühlte mich wie auf glühenden Kohlen.

«Fast möchte ich ihn aufmachen», sagte ich.

«Dann würdest du dein Wort brechen.»

«Was soll ich denn tun?», jammerte ich.

«Ich bin fast sicher, dass dein Abbé diesmal die Wahrheit gesagt hat. Sobald dir ein Verdacht kommt, kannst du den Schrein ja immer noch öffnen.»

20. Stunde: Die Beisln und Bierbeisln schließen ihre Pforten.

Ich saß an meinem gewohnten Platz in der Kaiserlichen Kapelle, es war die Stunde der Proben zum Heiligen Alexius. An diesem Abend spielte das Orchester mit größerem Eifer als sonst, denn die Aufführung des Oratoriums stand nun kurz bevor.

Nach Ugonios Tod – Gott hab ihn selig – waren die Musiker wieder zu den unschuldigen Künstlern geworden, für die ich sie immer gehalten hatte. Dennoch stellte ich mir einige Fragen, während ich Camilla de’ Rossi von hinten betrachtete. Sie fuchtelte heftig mit den Armen, um den Geigen ein intensiveres Vibrato und den Kontrabässen ein freundlicheres Brummen zu entlocken.

Warum hatte sie über Anton de’ Rossi gelogen? Die Rossi sind nicht unbedingt alle miteinander verwandt, hatte sie mir gesagt. Doch der ehemalige Kammerdiener von Kardinal Collonitz war wirklich mit ihrem verstorbenen Ehemann Franz verwandt. Kardinal Collonitz: Das war jener Kardinal, der vor vielen Jahren das türkische Mädchen getauft hatte, das dann von den Schwestern der Himmelpforte abgelehnt worden war, wie Camilla selbst uns erzählt hatte. Franz und Anton de’ Rossi, Franz und Camilla, Anton de’ Rossi und Collonitz, doch auch Collonitz und die Himmelpforte und schließlich die Himmelpforte und Camilla: Welche Logik, wenn es denn eine gab, verbarg sich hinter diesem Gewirr?

Und warum hatte die Chormeisterin sich niemals für die Arbeit bezahlen lassen, die sie für den Kaiser verrichtet hatte? Das hatte mir Gaetano Orsini erzählt, dessen Unschuld, also auch Vertrauenswürdigkeit, ich erst jetzt erkannt hatte. Wer nicht für Geld arbeitet, überlegte ich, erhält auf jeden Fall eine andere Art von Entschädigung. Welches war die ihre? Als Joseph sie aufgefordert hatte, auf ihre Tätigkeit als Heilerin mit Dinkel zu verzichten, war sie ihres Lebensunterhalts verlustig gegangen. Doch statt sich für ihre musikalischen Kompositionen bezahlen zu lassen, hatte sie Ihre Kaiserliche Majestät gebeten, im Kloster an der Himmelpfortgasse wohnen zu dürfen, etwas, was in Wirklichkeit eher einer Strafe denn einer Belohnung gleichkam.

Vor Jahren waren Camilla und ihr Ehemann Franz bis in die weit entfernte Hauptstadt Frankreichs gereist, um Atto Melani zu besuchen. Hatten sie den Schüler des Seigneur Luigi oder den Spion des Allerchristlichsten Königs kennenlernen wollen? War es denkbar, dass Camilla wirklich nichts mit den dunklen Geschäften zu tun hatte, in die Atto seit eh und je verstrickt war? Ich bemerkte, dass Cloridia mich traurig ansah: Sie wusste um meine Überlegungen und teilte sie, aber ihr Herz schwankte zwischen Argwohn und Zuneigung zur Chormeisterin.

Aus dem Mund des Soprans, der fülligen Maria Landini, die ich gestern noch der schändlichsten Taten für fähig gehalten hatte, sang die Braut des Heiligen Alexius nun süß von den Wundern der Liebe:

Basta sol che casto sia

Che diletta sempre amor … 1*

Nein, das konnte nicht sein. Hinter Camillas Flunkereien musste sich etwas verbergen. Ich beobachtete die Chormeisterin, während sie dirigierte, und dachte nach.

E fa’poi che eterna sia

Fiamma ascosa entro del cor. 2**

Als ich den Sopran die Worte über die ewige Flamme der Leidenschaften singen hörte, kam mir der Gedanke, dass der Zweifel auch ein Feuer war, das quält und unaufhörlich lodert, wie die Liebe. Meine Bedenken gegenüber den Musikern hatten sich zerstreut, doch meine nagenden Zweifel an der Chormeisterin wurden mit jeder Stunde bedrückender. Die Himmelpforte und Camilla waren der Ausgangspunkt meines Aufenthalts in Wien gewesen. Und nun, nach zahlreichen blutigen Abenteuern, schien alles wieder in das Kloster mit seiner rätselhaften Meisterin zurückzuführen.

Der Tod der Studenten bot uns keine Spur mehr, die wir verfolgen konnten. Über die geheimnisvolle Erkrankung des Kaisers gab es hingegen noch viel zu viele offene Fragen. Und was verband Camilla mit Joseph dem Sieghaften? Welchen Lohn erwartete die Chormeisterin für den Dienst, den sie Ihrer Kaiserlichen Majestät leistete?

Ich wusste nicht, warum, doch ich fühlte, dass der nächste Tag ein wenig Licht in meinen verdunkelten Verstand bringen würde.


1 * Es genügt allein, dass sie keusch sei / So erfreut Liebe immer …

2 ** … Und macht, dass sie ewig währt / Die heimliche Flamme im Herzen.