Käyserliche Haupt-
und Residenz-Stadt Wienn

Sonntag, den 12. April 1711

VIERTER TAG

Wie ein schlafender Riese ruhte der Ort Ohne Namen unter einer Decke aus Schnee. Die blütenweißen Flocken vollführten einen anmutigen Tanz in der Luft, während ich durch den großen Garten mit den achteckigen Türmen schritt. Kein Wind wehte, die Luft war klar und reglos. Die Fialen der Türme, die an Minarette gemahnten, zierte ein phantasievolles, weißgesprenkeltes Muster.

Vor der Fassade des Schlosses musste ich mir die Hand vor die Augen halten, um nicht von dem leuchtenden Alabasterstein geblendet zu werden, dessen Wirkung der Widerschein im Schnee und der milchige Himmel vervielfachten. Die Flocken senkten sich wie ein Segen auf mein Haupt, alles strahlte wie im Paradies. Sogar die Bäume mit ihren kahlen, wie Klauen gekrümmten Zweigen erschienen freundlicher unter so viel unschuldigem Weiß. Ich wandte mich nach rechts, ging am maior domus vorbei und gelangte zum Hof hinter dem Haupteingang; von hier stieg ich die Wendeltreppe hinunter, die zum Gatter der wilden Tiere führte.

Während ich hinabstieg, erblickte ich durch die Fenster den Fischteich auf der Nordseite des Ortes Ohne Namen. Er war von einer dünnen Eisschicht bedeckt.

Als ich zur Löwengrube gelangte, erwartete Frosch mich schon.

«Da Mustafa is bäuli gangen. Aufm Boinschpüplotz is a grennt und daun is a vaschwundn.»

Wie war das möglich? Ich ließ mich von Frosch zum Ballhaus fuhren, insgeheim zweifelnd, ob er nicht wieder einmal zu tief ins Glas geschaut und schlichtweg vergessen hatte, wo er seinen Lieblingslöwen gelassen hatte.

«Doda, duatn is geschegn!»

Er zeigte auf das Fliegende Schiff, das immer noch mitten auf dem Platz des Ballspielhauses lag. Im Trubel der letzten Tage hatte ich es fast vergessen.

Mit einem ungläubigen Blick kündete ich Frosch von meinen Zweifeln. Ein Löwe löst sich nicht in Luft auf.

Da aber der Wächter des Ortes Ohne Namen weiterhin hartnäckig auf das alte Luftschiff wies (wenn es denn wirklich jemals geflogen war), beschloss ich, einen Blick daraufzuwerfen.

«Wenn Mustafa sich nähert, kommt Ihr mir sofort zu Hilfe!», ermahnte ich ihn.

Ich ging einmal um das Fliegende Schiff herum. Nichts. Im Schnee waren tatsächlich Spuren des Löwen zu sehen, doch sie verschwanden genau an der Stelle, an der ich stand, neben einem der großen Flügel.

Also erklomm ich den Flügel, ging an Bord und begann, den Innenraum des Schiffs zu erforschen. Und plötzlich begann es.

Zunächst war ein leichtes Rucken zu spüren, dann ein regelrechtes Stampfen, das immer stärker wurde. Es war, als breiteten sich vom Schwanz und von den Flügeln heftige Stöße aus, die sich dem Rest des Schiffs mitteilten und es zum Knarren und Ächzen brachten. Dann war es mit einem Mal still.

Frosch beobachtete mich aufmerksam, aber er schien nicht erstaunt zu sein. Das Schiff hob ab.

An einen der hölzernen Handläufe geklammert, sah ich, wie die mächtigen Mauern des Ballspielhauses rasend schnell in die Tiefe sanken, der Horizont sich auftat und das Dach des Ortes Ohne Namen mir entgegenkam. Die diffuse Helligkeit der winterlichen Landschaft öffnete sich weit, und das gesegnete Licht des Himmels umströmte mich von oben und unten und ringsumher, ganz so, wie ich mir die Ankunft im Paradies immer vorgestellt hatte. Das Fliegende Schiff hatte sich endlich wieder in die Lüfte erhoben. Ich hörte das Knarren des Steuerruders, drehte mich um und sah ihn: Der schwarze Steuermann blickte starr nach vorne, während er das Segelschiff mit sicherer Hand durch die luftigen Fluten lenkte. Doch bald ließ er das Steuer los, das sich wie von unsichtbaren Geistern beherrscht allein weiterdrehte; er bückte sich und tauchte mit einer Geige wieder auf. Den Bogen geschickt beseelend, ließ er die ersten Töne eines Motivs erklingen, das mir vertraut war. In diesem Augenblick erkannte ich ihn: Albicastro war es, der Violinist, dem ich vor vielen Jahren in der Villa des Schiffes begegnet war, und diese Musik war die portugiesische Folia, die er immer zu spielen pflegte.

Es war also die Wahrheit: Die Gazette, die Frosch mir zu lesen gegeben hatte, log nicht, auch vor zwei Jahren war dieser alte Kahn geflogen und wäre fast am Turm des Stephansdoms hängen geblieben, als er die Fiale streifte, über welcher sich der Goldene Apfel erhob. Und sein geheimnisvoller Steuermann – von wegen brasilianischer Geistlicher! – war niemand anderes als Giovanni Henrico Albicastro, der Fliegende Holländer auf seinem Geisterschiff. So hatte Atto Melani, versteinert vor Entsetzen, ihn angesprochen, als wir seiner zum ersten Male ansichtig wurden und es den Anschein hatte, als schwebte er dank seines Umhangs aus schwarzem Mull über den Zinnenmauern der Schiffsvilla.

Ich ließ den Blick über die Gärten des Ortes Ohne Namen und die schneebedeckte Simmeringer Haide schweifen und erkannte in der Ferne die Dächer Wiens und die Turmspitze des Stephansdoms. Mehr und mehr näherte ich mich Albicastro, der seine Folia spielte und mir zulächelte, doch als ich ihn umarmen wollte, war alles zu Ende. Hinter mir spürte ich ein erneutes Zittern und ein dumpfes, feindliches Brummen. «Das hätte ich mir denken können: Hier hat er sich versteckt», sagte ich in einer plötzlichen Eingebung, während ich mich schon umwandte und jene infernalische Stimme mit ihrem warmen, unmenschlichen Hauch über mich herfiel. Mustafa brüllte ein-, zwei-, dreimal, er traf mich mit der rechten Pfote und bohrte seine Krallen in meine Wange. Bevor ich starb, erhob sich noch ein verzweifelter Schrei: Es war mein eigener. Ich wachte auf.

Aus dem Albtraum, zu dem ich mich verdammt hatte, konnte nur ich selbst mich befreien, und das hatte ich getan. Das Laken war schweißnass, mein Gesicht heiß wie der Atem Mustafas, Hände und Füße kalt wie der Schnee in meinem Traum. Der Ort Ohne Namen begnügte sich nicht damit, meine Gedanken bei Tage zu beherrschen, jetzt wollte er auch in meine Nächte eindringen. Es war, als berge das Neugebäu zu viele Rätsel, um ihm allein mit der Vernunft beizukommen.

Cloridia und der Kleine waren schon aufgestanden. Sicher erwarteten sie mich zur Messfeier. Gott sei’s gelobt, dachte ich, Gebet und Kommunion würden mich vollends von den Trugbildern der nächtlichen Finsternis befreien.

5.30 Uhr: Frühmesse. Von nun an folgt unaufhörlich Glockengeläut, das den ganzen Tag lang Messen, Andachten und Prozessionen ankündigt. Die Beisln und Bierhäusl öffnen.

Während ich mich ankleidete, hörte ich ein gedämpftes Klopfen. Eine diskrete Hand hatte ein Billett unter der Tür hindurchgeschoben: Atto rief mich dringend zu sich, wir würden zusammen die Morgenmesse in St. Agnes, der Kirche des Himmelpfortkonvents, besuchen.

Der plötzliche Schneefall im April, selten, aber nicht unmöglich in Wien, hatte die Stadt mit einem dichten, anmutigen Mantel bedeckt, geradeso wie in meinem Traum. Ich ging mit Cloridia und unserem Söhnchen in die Rauhensteingasse, die Querstraße neben dem Kloster, wo sich das Hauptportal der Kirche befand. Am Eingang des Mittelschiffs stießen wir auf Atto und Domenico. Überrascht bemerkte ich, dass der Abbé zwar andere Kleider trug als am Vortage, doch auch dieses Mal in Grün und Schwarz erschienen war, als hätte er seine gesamte Garderobe nur in diesen beiden Farben erneuert.

Fröstelnd nahmen wir in den Bänken auf der linken Seite Platz.

«Heute feiern wir den ersten Sonntag nach dem Hochheiligen Osterfeste, welchselbiger auch der ‹Weiße Sonntag› oder Quasi Modo Geniti genannt wird», hub der Zelebrant an. «Das Evangelium, welches wir hören werden, ist dasjenige des Johannes 20 von des Thomae Unglauben.»

Aber meine Gedanken kreisten immer noch unaufhörlich um den Tod Danilos, den ich Cloridia noch in derselbigen Nacht nach meiner Rückkehr in die Himmelpforte ausführlich beschrieben hatte. Ich muss kaum erwähnen, dass jenes Geschehen uns beide in den Zustand allergrößter Sorge versetzt hatte. Die letzten Worte des Studenten ließen vermuten, dass der Mord von den Türken verübt worden war. Zudem wollte Danilo uns ja treffen, um uns die ersten Ergebnisse seiner Nachforschungen über den Goldenen Apfel mitzuteilen.

«Mit dem heutigen Tage», fuhr der Priester fort, «endigen die Feiern der Heiligen Passion, des Todes und der Auferstehung unseres Herren Jesu Christi, welche vor drei Wochen mit dem Schwarzen Sonntage, auch Judica genannt, begannen, als die Juden Jesu steinigten, wie im Johannesevangelium 8 berichtet. Es folgte sodann der Palmsonntag, als, wie man im Matthäusevangelium 21 liest, Jesus in Jerusalem einzog. Am vergangenen Sonntage, dem Hochheiligen Osterfeste, lasen wir den Bericht von der Auferstehung Unseres Herrn, so uns der Evangeliste Markus hinterlassen hat, am Ostermontage dann Lukas 24, den Gang nach Emmaus; am Dienstag idem, nämlich Jesu Segnung der Kinder. All dieses sind Kunden von Freude und Seligkeit.»

Doch was hatten die dunklen Worte zu bedeuten, die Danilo im Sterben gestammelt hatte? Waren es nur vage Erinnerungen an das, was er erfahren hatte? Oder finstere Drohungen, die seine Mörder gegen ihn ausgesprochen hatten, bevor sie ihn töteten? Cloridia und ich waren zudem höchst besorgt, dass jemand den Tod Danilos mit mir und Simonis in Verbindung bringen könne und wir in einen Prozess verwickelt würden.

«Aus diesem Grunde nun werden die vier folgenden Sonntage mit Worten des Jubeins und Hoffens bezeichnet: Misericordia, Jubilate, Cantate und Rogate. Und vergesset nicht des Wunders der Liebe und Vergebung, welches sich vor Jahrhunderten in ebendiesem Kloster ereignete, dahero es seinen Namen erhielt: Himmelpforte, lateinisch Porta Coeli: Es begab sich nämlich, dass die Schwester Pförtnerin auf Abwege geriet und mit ihrem Beichtvater floh. Da nahm die Muttergottes ihren Platz ein und verwandelte sich in die Gestalt jener Verderbten. Und erst als die Sünderin reuig zurückkehrte, gewahrte die Äbtissin jenen Ersatz, und die Heilige Jungfrau offenbarte sich und segnete die Sünderin, um sodann vor den bestürzten Augen aller Nonnen zu verschwinden. Also freuet Euch und hoffet auf die Barmherzigkeit des Allerhöchsten», schloss der Priester.

O ja, zum Hoffen bestand wahrlich Anlass, sagte ich mir bei den Worten, die da von der Kanzel kamen. Vorerst war noch niemand gekommen, uns daheim oder woanders zu suchen. Wenn alles gutging, wie mein Gehilfe vorhergesagt hatte, würde man den Tod von Danilo Danilowitsch zum traurigen Ausgang eines Streites zwischen Betrunkenen oder kleinen Kriminellen erklären. Für die Exequien würde eine mitleidige, wohltätige Bruderschaft sorgen.

Während der Messfeier hieß Atto seinen Neffen mal in diese, mal in jene Richtung blicken. Er suchte jemanden, und ich wusste genau, wen. Schließlich fragte er mich direkt nach der Person.

«Ist sie gekommen?»

«Wer?», stellte ich mich ahnungslos.

«Wer wohl? Die Pállfy, verdammt nochmal. Domenico hat sie sich unter einem Vorwand von einer der Ordensfrauen beschreiben lassen. Angeblich besucht sie oft hier in der Kirche die Frühmesse. Aber es ist niemand da, auf den die Beschreibung passt.»

«Da kann ich Euch nicht helfen, Signor Atto», antwortete ich, während uns aus der hinteren Bank jemand Schweigen gebot und böse Bemerkungen gegen die üblichen italienischen Schwätzer brummelte.

Ich richtete den Blick nach oben. Auf der Empore saßen die Nonnen, während die Laienschwestern vorne im Seitenschiff versammelt waren. Ich entdeckte auch die Chormeisterin: Über die Kniebank gebeugt, betete sie inbrünstig, das Gesicht mal zum Gekreuzigten, mal zur Statue der Heiligen Jungfrau der Himmelpforte aufrichtend. Ich spähte genauer hin: Camillas Schultern zitterten, mir schien gar, als weinte sie. Schon am gestrigen Abend hatte ich sie angespannt erlebt. Nun bemerkte es auch Cloridia, sah mich fragend an, und ich antwortete mit stummer Verwunderung. Ich hatte keine Ahnung, was unsere gute Freundin so bedrängen mochte.

Am Ausgang warteten Atto und Domenico, ob eine junge Dame, die der Beschreibung entsprach, auftauchen würde, doch vergebens.

Es gebe noch eine andere Möglichkeit, erklärte Domenico, nämlich dass die Gräfin Marianna Pállfy sich zum Gottesdienst um halb zehn, der Messe des Adels, in den Stephansdom begeben würde. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als einem weiteren Gottesdienst beizuwohnen, in der Hoffnung, dann mehr Glück zu haben.

Da noch ein wenig Zeit bis zum Beginn der Messe blieb, verweilten wir in der Kirche des Klosters. Cloridia suchte mit Blicken nach Camilla; sie wollte erfahren, was ihre Seele bedrückte. Atto hingegen hatte sich von Domenico zur Fräuleinmeisterin des Konvents geleiten lassen, in der Hoffnung, sie würde ihn zur Pállfy führen. Ich war ihnen gefolgt.

«Schwester Strassoldo?», fragte Atto in höflichem Ton auf Italienisch, da der Nachname der Ordensfrau italienisch war.

«Von Strassoldo, bitte sehr!», antwortete barsch die Schwester. Sie war von mittlerem Alter, hagerer Gestalt und hatte kleine, blaue, zornig blitzende Augen.

Atto wurde verlegen: Das «von» zu vergessen, welches das adelige Geblüt der Familie Strassoldo bezeugte, war gewiss kein guter Auftakt.

«Ihr gestattet, dass ich mich entschuldige, ich …»

«Ihr seid entschuldigt, doch ich ebenfalls. Ich habe eine Menge zu erledigen und spreche kein Italienisch. Die Chormeisterin wird all Euren Erfordernissen nachzukommen wissen», beschied ihn die von Strassoldo knapp, indem sie Melani und Domenico den Rücken zukehrte. Sie blieben betroffen, vor allem aber gedemütigt zurück, da auch die anderen Klosterfrauen Zeugen des kurzen Gesprächs geworden waren. Nicht einmal gegenüber einem Blinden konnte die mürrische Fräuleinmeisterin zartfühlende Umgangsformen wahren.

«Herr Abbé», flüsterte ich ihm ins Ohr, während die anderen Nonnen sich entfernten, «hier sind die Leute anders als in Italien und vielleicht auch in Frankreich. Wenn sie kein Gespräch wünschen, machen sie kurzen Prozess.»

«Oh, lass nur», schnitt mir Melani höchst verärgert seinerseits das Wort ab, «ich habe sehr wohl verstanden: Diese alte Gans italienischer Abstammung will mit ihren einstigen Landsleuten nichts zu tun haben. Es ist immer dasselbe: Nur weil sie ein, zwei Generationen weiter sind, tun sie so, als hätten sie ihre Wurzeln vergessen. Ganz genauso wie die Habsburger und die Pierleoni.»

Der zweite Name war mir vollkommen unbekannt. Was hatte dieses italienische Geschlecht mit den glanzvollen Habsburgern, der Familie des Kaisers, zu tun?

«Du weißt nicht, wer die Pierleoni sind?», fragte Atto mit einem boshaften Lächeln.

Der offiziellen Geschichtsschreibung zufolge, erklärte er, war das Reich der Habsburger aus der Asche des Römischen Reiches entstanden, das durch die Völkerwanderung der Goten und Langobarden unterging. Mit heldenhafter Tapferkeit hatte Karl der Große die Langobarden aus Italien vertrieben und war zum Römischen Kaiser ausgerufen worden. Dank der allgewaltigen Tugend des Deutschen Otto des Großen waren später der Name, die Insignien und die Macht des Römischen Reiches auf die ruhmreiche deutsche Nation übergegangen, und gegenwärtig ruhten sie auf dem österreichischen Geschlecht der Habsburger, einer Familie, darin die antiken Cäsaren wahrhaft wiedererstanden waren.

«Aber das sind die Lügenmärchen, die die Geschichtsschreiber erzählen», zischte Atto, wobei er einen hämischen Blick in Richtung der Strassoldo warf, «denn die Wahrheit über die Ursprünge der Habsburger ist eine Angelegenheit, an die keiner gerne rührt.»

Begonnen hat die Geschichte der habsburgischen Kaiser mit Rudolph L, der im Jahr des Herrn 1273 den Thron bestieg. Und in dem Punkt waren sich alle einig.

«Was aber vor diesem Tag geschah», sagte Abbé Melani, «weiß keiner.»

Einigen Gelehrten zufolge muss der Ursprung des habsburgischen Blutes auf einen gewissen Guntram zurückgehen, dessen Sohn um das Jahr 1000 ein Schloss mit Namen Hasburg erbaut haben soll. Andere beriefen sich auf einen gewissen Ottobert um 654, wieder andere auf Aeganus, den königlichen Hausmeier von Frankreich, welcher Gerbera ehelichte, die Tochter der Heiligen Gertrud.

Es gab jedoch auch Gelehrte, die empört erwiderten, dass die Habsburger nicht mal im Traum vom königlichen Blut der Merowinger abstammten. Fürst Sigbert, der Sohn Dietrichs von Austrasien, habe 630 vom König von Frankreich die Grafschaft Alemannien erhalten, und sein Nachfolger Sigbert II. habe sich den Titel eines Grafen von Habsburg verliehen. Von seinem Sohn Pabo vom Elsass stamme neunzehn Generationen später schließlich Rudolph I. ab.

Ganz falsch, donnerten Gelehrte, die noch gebildeter waren als die vorhergehenden: Die Habsburger gehen auf Adam zurück.

Die dynastische Folge (sie umfasste die Könige Babylons und Trojas, die Könige der Sigambrer, Könige und Grafen der Franken, Könige von Gallien und Austrasien, Herzöge aus dem Elsass und Alemannien und Grafen von Habsburg und Ergau) war nach Meinung dieser Experten sonnenklar, wiewohl es ein wenig Geduld bedurfte, um sie von Anfang bis Ende zu studieren: Adam, Seth, Enosch, Kenan, Mahalalel, Jered, Henoch, Metuschelach, Lamech, Noach, Kusch, Nimrod, Cres, Coelius, Saturn, Jupiter, Dardanus L, Erichthonios, Tros, Ilos, Laomedon, Antenor I., Marcomir, Antenor II., Priamos I., Helenus, Diokles, Bassanus, Cladomius I., Nicanor, Marcomir II., Clogio, Antenor III., Estomir II., Merodak, Cassandros, Antharius, Frankus, Chlodius, Marcomir III., Chlodomirus, Antenor IV., Ratherius, Richimerus, Odemar, Marcomir IV, Chlodomirus IV, Farabert, Hunnus, Hilderich, Quatherus, ein weiterer Chlodius, Dagobert, Genebald, ein weiterer Dagobert, Faremund, noch ein Chlodius, Merowech, Childerich, Chlodwig der Große, Chlotarius, Sigisbert oder Sigbert, Childebert, Theodobert, ein weiterer Sigisbert, noch ein Sigisbert, Otbert, Bebo, Robert, Hettobert, Rampert, Guntram, Luithard, Luitfrid, Hunfrid, ein weiterer Guntram oder vielleicht Gunstram, Betzo, Radpot, Werner, Otto, ein weiterer Werner, Albert der Göttliche, Albert der Weise und schließlich Rudolph I.

Gewiss, in dieser Rekonstruktion tauchten die Namen vieler Könige gleich mehrmals auf, zudem mit recht schwankender Orthographie (Bebo oder Pabo? Gunstram oder Guntram? Sigisbert oder Sigbert?), und das Ganze war nicht recht verständlich. Der Vorteil war jedoch, dass sich die Experten darüber nicht stritten, denn es war ihnen schlicht zu mühsam.

Es gab indessen andere, nämlich die klügsten und unermüdlichsten unter den Gelehrten, die behaupteten, Rudolph I. stamme von Albert dem Weisen ab. Nun gut, Albert der Weise war ein Nachfahre des Alberto Pierleoni, Graf von Monte Aventino und Mitglied einer alten, illustren römischen Familie. Nachdem er aus Rom in die Schweiz gegangen war, hatte Alberto Pierleoni die Tochter Werners, des letzten Grafen von Habsburg, geheiratet und so die dynastische Linie Habsburg-Pierleoni begründet. Die römische Familie ging auf Leone Anicio Pierleoni zurück, gestorben 1111, der von ausnehmend noblem Geblüt war, denn er stammte von niemand anderem als dem Römischen Kaiser Flavius Anicius Leo Celphus Olybris ab.

«Leider hat sich die Theorie der Abstammung von den Pierleoni, die unter Leopold L, dem Vater Josephs L, große Mode war, in eine Art Selbstmord verwandelt», lachte Atto gehässig, immer noch erbost über die Demütigung, die er durch die Strassoldo erlitten hatte.

Die Pierleoni, eine reiche und mächtige Familie, hatten ihren Namen nämlich, wie andere Experten zu bedenken gaben, mit einigen recht peinlichen Taten befleckt. In ihren Reihen gab es Kardinäle und Bischöfe, doch auch habgierige Händler und skrupellose Bankiers, die den Heiligen Stuhl in böser Absicht finanzierten, damit er sich der Simonie schuldig mache und sie, indem sie ihn erpressten, ihr eigenes Gärtchen beackern konnten. Ein Pierleoni war 1045 als Gregorius VI. zum Papst gewählt worden, doch dann entdeckte man, dass er sich die Papstwürde schamlos von seinem Vorgänger Benedikt IX. mit Geld erkauft hatte. Die Sache war dem Kaiser Friedrich III. zu Ohren gekommen, der darauf nach Italien kam und Gregor VI. zwang, zurückzutreten und ins Exil nach Deutschland zu gehen, wo der ehemalige Papst dann unter allseitiger Verachtung starb.

Ein weiterer Pierleoni war 1130 unter dem Namen Anaklet II. zum Papst gewählt worden, doch am Tag seiner Wahl hatte man schon einen anderen Kardinal als Innozenz II. zum Papst ernannt, was zu einem schweren Schisma führte, das der ganzen Christenheit jahrelange Sorgen bereitete (Anaklet musste sich nämlich mit fünf weiteren Päpsten auseinandersetzen). Einigen Stimmen zufolge waren die Pierleoni (die, wie viele römische Familien im Mittelalter, ein privates Heer sowie befestigte Schlösser in der Stadt besaßen und regelmäßig mit verfeindeten Familien Krieg führten) überdies in Wahrheit jüdischer Abstammung: Ihr Stammvater, ein gewisser Baruch, war nämlich ein zum Christentum konvertierter Jude, und die bekannte Legende, nach der einige Päpste in Wirklichkeit heimlich Juden gewesen sein sollen, beruht just auf der wahren Geschichte der Pierleoni. Die Juden aber waren Kaiser Leopold I. alles andere als lieb, ja, er hatte sie in Wien in ein Ghetto jenseits der Donau verbannt, die Leopoldinsel, just an den Ort, wo die Türken bei der Belagerung im Jahre 1683 ihr Lager aufgeschlagen hatten.

«Kurzum», schloss Atto, indem er mich lachend unterhakte, «die so glorreiche römische Familie, auf welche man das kaiserliche Blut der Habsburger zurückführen wollte, bestand aus Päpsten, die hier in Wien schon seit langem vielen gegen den Strich gehen, aus Juden, die dem Kaiser Leopold I. ein Dorn im Auge waren, und aus Italienern, die ohnehin unerwünscht sind – man sehe sich nur an, wie die Strassoldo, diese Gans, sich benimmt.»

Unterdessen waren wir auf Camilla de’ Rossi gestoßen. Cloridia hatte sie beiseitegenommen, und nun standen die beiden, in ein angeregtes Gespräch vertieft, vor einer kleinen Gruppe Elevinnen. Wir näherten uns der Gruppe und kamen in dem Moment hinzu, als meine Frau gerade Fragen der Novizinnen beantwortete, die auf diese sonderbaren Italiener aus der fernen Stadt des Papstes sehr neugierig waren. Camilla übersetzte aus dem Deutschen ins Italienische und umgekehrt.

Die jungen Mädchen (alle aus besten Familien und von wahrhaft vollkommenen Umgangsformen) fragten nach Rom und seinen Sehenswürdigkeiten, nach dem Papst und dem römischen Hof und schließlich nach unserer Vergangenheit. Ich spitzte ein wenig besorgt die Ohren, denn Cloridia musste den Makel des schändlichen Gewerbes verbergen, das sie, ein Opfer ihrer nachteiligen Lebensumstände, in der Jugend ausgeübt hatte.

«An meine Kindheit habe ich nicht mehr viele Erinnerungen», antwortete sie, «außerdem war meine arme Mutter eine Tü …»

Just als sie sagen wollte, dass ihre Mutter Türkin war, spürte ich, wie Atto leicht zusammenzuckte und seine runzelige Hand meinen Arm drückte. Camilla de’ Rossi riss die Augen auf und unterbrach Cloridias Rede brüsk: «Wohlan, meine Lieben, jetzt ist es Zeit, sich an die Arbeit zu machen, wir haben schon zu lange geplaudert.»

Kaum hatte sich das Grüppchen der Novizinnen entfernt, nahm Camilla meine Cloridia beim Arm und erklärte uns, warum sie die Konversation so abrupt beendet hatte.

«Vor einigen Jahren taufte Kardinal Collonitz in der Kirche der Heiligen Ursula in der Johannesgasse, nicht weit von hier, eine junge türkische Sklavin, die einem Hauptmann, dem Spanier Gerolamo Giudici, gehörte, und gab sie dann in dieses Pensionat in der Himmelpforte. Sofort protestierten die Nonnen, die ausschließlich Sprösslinge adeliger Familien beherbergten, denn sie fürchteten, die Himmelpforte könne ihren guten Namen verlieren. Giudici beharrte auf seiner Entscheidung, und der Streit ging bis vor den Kaiser und das Konsistorium. Diese aber gaben den Ordensfrauen recht: Die junge Türkin wurde abgelehnt.»

Die Ärmste hatte im Grunde Angst, in einem Kloster eingesperrt zu werden, fuhr Camilla fort. Da sie fürchtete, Giudici würde früher oder später eines finden, das sie aufnahm, floh sie eines Nachts. Trotz langer Suche gelang es niemandem herauszufinden, wohin sie sich geflüchtet hatte oder mit wem.

«Ihr werdet also verstehen, Freunde», schloss Camilla, «dass gewisse Themen hier nicht angesprochen werden können.»

Collonitz. Dieser Name kam mir bekannt vor. Wo hatte ich ihn schon einmal gehört? Doch ich fand keine Antwort auf meine Frage. Die Botschaft indes war eindeutig: Wenn jemand im Himmelpfortkonvent erfuhr, dass Cloridia Tochter einer türkischen Sklavin war, würden wir wahrscheinlich genötigt werden, das Haus unverzüglich zu verlassen.

Eine Viertelstunde später stand ich mit Atto und Domenico im Stephansdom. Cloridia war unterdessen in Eugens Palais gegangen.

Hier herrschte während der Messe eine ganz andere Atmosphäre als in St. Agnes. Dazu muss ich sagen, dass man unter der Woche in den Vespern nur ein Häufchen alte Weiber und ein paar Bettler sah, die Sonntagsmessen am späten Vormittag aber so überfüllt waren, dass man von Kirche zu Kirche laufen musste, um überhaupt einen Platz zu ergattern.

Auf dem Domplatz, der vom frischgefallenen Schnee leuchtete, stand einer jener Bettelmönche, wie man sie täglich vor den Wiener Kirchen antrifft: Gekleidet in eine hellblaue Soutane, hatte er sich eine Almosenbüchse an einem Riemen um den Leib geschnallt und bot selbige den Kirchgängern unter geräuschvollem Klappern dar. Gerade als wir näher kamen, sprang er auf wie ein Besessener und schrie in die Menge: «Geht’s zum Segen! Geht’s zum Segen!», sodass Abbé Melani und Domenico tüchtig erschraken. Das Rosenkranzgebet um neun war nämlich soeben beendet, und der Priester erteilte nun den Segen. Eine Horde von Menschen strömte eilig in den Dom, nicht wenige stolperten, und auch wir wurden mitgerissen im Strom schlammverschmutzter Stiefel, die Schnee und Matsch in den Eingang des Domes trugen. Den wenigen, denen es nicht gelang, in das Gotteshaus hineinzukommen, schrie der Bettler seine Flüche hinterher.

«Hier in Wien werden die Sonntage ja wahrhaftig geheiligt», bemerkte Atto, als wir im Dom waren. Er schüttelte sich den Schnee von den Schuhen, während der Neffe ihm den vom Gedränge verrutschten Hut und Überzieher zurechtzupfte.

«Nicht nur die Sonntage», erklärte ich lächelnd, meine Kleider ebenfalls glättend. «Allein hier in St. Stephan finden jeden Tag achtzig Messen und drei Rosenkranzandachten statt. Die Franziskaner feiern außerdem in regelmäßigen Abständen dreiunddreißig Messen am Tag, und in der Michaeierkirche gibt es alle Viertelstunde eine.»

«Jeden Tag?», riefen Atto und sein Begleiter voll Verwunderung aus einem Munde.

«Ich selbst habe es mir zum Vergnügen einmal ausgerechnet», setzte ich hinzu, «und herausbekommen, dass allein im Stephansdom jedes Jahr über vierhundert Pontifikalämter, fast sechzigtausend Messen und über tausend Rosenkranzandachten gefeiert werden, wozu etwa einhundertdreißigtausend Beichten und Kommunionen hinzukommen.»

Nicht gezählt die Segensandachten, fügte ich vor den verblüfften Mienen meiner Gesprächspartner hinzu. In einer der über hundert Kirchen oder Kapellen der Stadt fand immer gerade eine statt, ja, die städtischen Behörden hatten die Geistlichkeit oftmals schon gebeten, sich auf eine gemeinsame Uhrzeit zu einigen, damit das Volk nicht in der verzweifelten Suche nach dem Segen von einer Kirche zur anderen laufen musste.

Als wir weiter in den Dom hineingingen, sahen wir, dass es das Hochamt war und an etwa einem Dutzend Altären zugleich Messe gelesen wurde. Wo mochte sich die Gräfin Marianna Pállfy verbergen, vorausgesetzt, sie war hier? Die Suche nach ihr gestaltete sich schwieriger als gedacht.

Während wir durch das Mittelschiff nach vorn gingen, ließ ich meine Blicke in alle Richtungen schweifen. Adelige und Minister mit gepuderter Perücke standen mit dem Rücken zum Altar, boten einander Tabak an, lasen Briefe und erzählten sich von Ereignissen, über die sie in den Zeitungen gelesen hatten. An die Säulen der Seitenschiffe gelehnt, kommentierten sie die neueste Mode oder schauten einem schönen Frauenzimmer hinterher … Die gigantischen Ausmaße des Stephansdoms garantierten Ungestörtheit und Schutz vor Spionen. Die einzelnen Altäre waren regelrechte Treffpunkte, und man hatte ihnen zu diesem Behufe sogar Decknamen gegeben: «Wir sehen uns am Hurenaltar», hörte man sagen, oder auch: «bei der Gahrkuchel», «auf dem Guldenplatz», «im Jungferngäßl» und «bei den Pasteyhäuseln». All dies waren unflätige Anspielungen auf die Tatsache, dass diese Altäre sehr gern von übel beleumdeten Frauen besucht wurden, gegen deren peinliche Anwesenheit die armen Priester nicht das Geringste ausrichten konnten und darob oft verspottet wurden.

Die Sittenlosigkeit war so tief verwurzelt, dass einige Gottesdienste von daher schon schändliche Spitznamen erhalten hatten: So hieß die Messe um 10.30 Uhr in der Kapuzinerkirche unverblümt «Hurenmesse» und die um 11 im Stephansdom «Faullenzermesse».

Doch die Metzen und ihre Kunden waren nicht die einzige Plage des Doms. Auch an diesem Morgen (überdies war es der Dominica in albis!) sah man allerlei Bauern und Weiber aus dem Volk mit Spanferkeln unter dem Arm oder auch mit Bütten voll gackernder Hühner, Gänsen und Enten durch die Kirche spazieren; bequeme Adelsleute ließen sich bis vor die Altäre tragen, worauf ihre Diener die Sänfte dann einfach in der Kirche stehen ließen, da sie zu faul waren, sie nach draußen zu bringen.

Kurz, das Hochamt war wie ein riesiger Jahrmarkt: ein kunterbuntes Durcheinander von Menschen und Waren, begleitet von ständigem Stimmengewirr.

Zwar hatte Ihre Kaiserliche Majestät mittels eines Reichspatents Kommissare ernannt, damit diese durch die Kirchen zögen und denjenigen, die durch Schwatzen oder ungebührliches Verhalten die Messen störten, Bußgeld oder Arrest androhten. Doch diese Maßnahme hatte wenig gefrommt. Die Zirkulare des bischöflichen Konsistoriums klagten, dass «bey dem gemaynen Man das Fluechen und Schelten, wie auch das Vollsaufen und ungeschäuchte Schwäzen in denen Kirchen widerumben von neuem in Schwung zu gehen anfangen will». Allgemeine Gepflogenheit sei es, «hin und wieder zu spatzieren, dabey alleerhand Unterredungen zu führen, Welt-Händel abzureden, … ja diejenige, so darvon abmahnen, auszulachen, mit ehrenrührigen Worten schimpflich abzufertigen, und denselben noch bedrohlich zu seyn …»

Die Messe war zu Ende. Wieder standen wir vor dem Dom und sahen den Gläubigen zu, die aus der Kirche traten und sich allmählich unter die vorbeiziehende sonntägliche Menge mischten.

«Domenico», sagte Atto, «es ist zwar kühl, doch ich möchte eine kurze Rundfahrt in …»

«Einen Moment, Herr Onkel.»

Atto Melanis Neffe hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt. Er beobachtete eine Gruppe dreier Mädchen, aus der besonders eines von sehr großer Statur mit feuerrotem Haarschopf herausstach. Sie trug einen Hut, der für diesen Schneetag viel zu leicht war.

«Da ist sie, Herr Onkel! Sie macht sich gerade auf den Heimweg.»

«Folgen wir ihr! Junge, du kommst mit uns», sagte Melani zu mir gewandt.

Die drei jungen Frauenzimmer hatten sich gegen den Menschenstrom auf die Kärntnerstraße zubewegt und drangen nun durch das große sonntägliche Treiben, das im Stadtzentrum zusammenfloss. Wir folgten den Jungfern in geringem Abstand, ohne ihnen freilich allzu nahe zu kommen. Wir wollten nicht den Eindruck erwecken, unsere bizarre Dreiergruppe (ein blinder Alter, ein Kleinwüchsiger und nur ein Jüngling im heiratsfähigen Alter, also Domenico) wolle den liebreizenden jungen Damen Avancen machen.

«Sobald sie langsamer gehen, näherst du dich ihnen und stellst dich vor», befahl Atto dem Neffen. «Dann gibst du ihnen den Brief.»

«Welchen Brief?», schrak ich auf, denn ich dachte an den Brief, worin Eugen den Franzosen anbot, seinen Kaiser zu verraten.

«Nur ein Billett mit der ergebenen Bitte zweier italienischer Kavaliere: die Ehre, von der Gräfin empfangen zu werden und ihr unsere Dienste anzubieten.»

Die Gelegenheit bot sich schon nach wenigen Schritten. Die drei Jungfern hielten an, um eine alte Ordensfrau zu begrüßen, welche alsbald ihren Weg fortsetzte, blieben dann aber noch stehen. Domenico näherte sich und machte mit einer anmutigen Verneigung seine Aufwartung. Er war ein schöner Jüngling und gentil, mit einer sanften, freundlichen Stimme. Offensichtlich hatte er die besten Worte gewählt, um sich vorzustellen, denn wir sahen, wie seine Schmeichelei das Gesicht der Pállfy erhellte und einen Schatten von Traurigkeit verjagte. Ein heimlicher Kummer?, dachte ich. Artig unterhielt sich die Gruppe einige Augenblicke lang. Domenico griff in die Tasche seiner Weste, vielleicht hatte er Attos Billett schon in der Hand.

Doch schon seit einigen Minuten hörte man ein bekanntes, lautes Geräusch näher kommen. Eine Kutsche, ein schöner Zweispänner, fuhr rasselnd direkt auf die Pállfy, ihre Freundinnen und Domenico zu. Der Postillion grüßte die Gräfin mit einem Wink, welche sogleich ihre Aufmerksamkeit von Attos Neffen abwandte und den Gruß erwiderte. Die Kutsche war nunmehr zum Stehen gekommen, die Türen öffneten sich, und die drei Mädchen schickten sich an einzusteigen.

«Das Billett, hat er ihr das Billett gegeben?», fragte Melani eifrig, den Kopf vorgestreckt wie ein angebundenes Streitross.

In ebendiesem Moment entstiegen der Kutsche zwei Lakaien und halfen der Geliebten des Kaisers beim Einsteigen. Als sie auf dem Trittbrett war, reichte Domenico ihr das Billett. Sie nahm es entgegen, gab es ihm aber sogleich mit höflicher Geste zurück, ohne es zu öffnen. Inzwischen war ich mit Atto am Arm näher getreten. Kurz bevor sie in der Kutsche verschwand, sah ich, wie das Gesicht der Pállfy sich verzog und den Ausdruck heimlichen, unterdrückten Weinens annahm. Die Kutsche setzte sich in Bewegung, Domenico grüßte ein wenig schüchtern mit der Hand, aber es wurde ihm nicht geantwortet.

«Verflucht», schimpfte Atto zähneknirschend, als er vom Neffen persönlich erfuhr, wie das Manöver ausgegangen war. «Diese verliebten zwanzigjährigen Dinger haben nah am Wasser gebaut und begreifen gar nichts. Eine Gelegenheit wie diese wird sich uns nicht mehr so leicht bieten.»

73. Stunde: Der Adel speist zu Mittag. Der mittlere Stand begibt sich in die Kaffeehäuser, in den Theatern beginnen die Vorführungen.

Beim Abschied hatte Abbé Melani sich für die Mittagszeit mit mir verabredet: Wir wollten in einem öffentlichen Gasthaus zusammen speisen. Ich hatte ihm erklärt, dass es besser sei, vor dreizehn Uhr zusammenzukommen, da in Wien danach nur noch der Adel zu Mittag esse und die Preise in schwindelnde Höhen stiegen.

«Gut zu wissen», hatte er erwidert, «wir werden uns also nicht vor dreizehn Uhr sehen. Ich schätze es, die Tafel ausschließlich mit Personen meines Ranges zu teilen.»

Zur verabredeten Zeit führte ich ihn und Domenico in ein Gasthaus in der Nähe der Hofburg. Wir kamen gerade noch rechtzeitig, draußen begann es schon wieder zu schneien.

Sofort bat ich den Besitzer, uns an einen der abgelegenen Tische zu setzen. Der Kellner kam, um die reichbestückte Liste der Tagesgerichte herunterzubeten, wo es nicht an steirischen, polnischen, ungarischen, böhmischen und mährischen Spezialitäten fehlte, ja, für wenige Groschen mehr gab es sogar exotische Kleinigkeiten: Pomeranzen, Austern, Mandeln, Kastanien, Pistazien, Reis, Zibeben, spanischen Wein, holländischen Käse, Mortadella aus Cremona, Konfekt aus Venedig und indische Gewürze.

Wir bestellten, und bald wurde uns ein zartes Kalbsfilet, eine auf Holzkohle gegarte rosa Forelle und köstliche Palatschinken mit Creme serviert. Wie immer überstieg die Menge den Bedarf einer Person bei weitem. Atto und sein Neffe waren aufs angenehmste überrascht.

«Ich wusste gar nicht, dass man in Wien so gut isst! Ist dies womöglich ein besonderes Lokal?», fragte Domenico.

«Wir sind in einem Gasthaus, wie es in Wien viele gibt. Ich muss allerdings dazu sagen, dass man in dieser Stadt noch in der ärmlichsten Spelunke die schmackhaftesten Suppen, das knusprigste Backwerk und den saftigsten Braten essen kann», lobte ich meine Wahlheimat voller Stolz. «Alle Nahrungsmittel sind nicht nur von guter, sondern immer nur von der allerbesten Qualität, die Portionen stets großzügig, jedes Gericht frisch zubereitet. Und das alles zu populären Preisen.»

«In Paris dagegen findet man nur mehr ranzige Torten, Brot so hart wie Stein und Fische aus Abrahams Zeiten!», rief der Abbé voller Bitterkeit aus.

Innerlich jauchzte ich über Melanis Begeisterung und schilderte ihm ausführlich die gastronomischen Besonderheiten des paradiesischen Bodens, auf dem zu wandeln ich die Ehre hatte. Im Grunde aber hoffte ich vor allem, Atto abzulenken, damit seine Wachsamkeit nachließ und ich ihn so auf die Fragen vorbereiten konnte, die ich ihm in Kürze über den Tod von Danilo Danilowitsch stellen wollte. Ich kannte Melani – würde ich ihn direkt mit meinem Anliegen konfrontieren, kämen lediglich schlaue und heuchlerische Antworten zurück.

Wenn sich der Reichtum einer Nation an ihrer Nahrung messen würde, hub ich vor meinen beiden verblüfften Tischgenossen feierlich an, dann sei es in Österreich so, als hätte König Midas hier geweilt, um jedes Ding in Gold zu verwandeln. Eine normale dreiköpfige Familie isst ein halbes Kilo Fleisch am Tag, was in Rom unvorstellbar wäre; die Armen erhalten jede Woche zwei Pfund gutes Rindfleisch pro Person, und sogar die Reisenden aus Deutschland, wo man doch auch häufig schöne Rippenstücke zu essen pflegt, sind bass erstaunt angesichts der Menge an ungarischen Rindern und Ochsen, die jedes Jahr von den Wienern verzehrt werden: Es sind viele Tausende.

«Allein im Kloster der Barfüßigen Augustiner kommen pro Jahr zwanzig Rinder, hundert Hammel und Schafe, fünfundzwanzig Schweine, sechzig Enten und über vierhundert Hühner, Kapaune und Hühnchen in den Kochtopf», zählte ich beiläufig auf. «Der reiche wie der arme Mann können dasselbe Fleisch kaufen, denn der durchschnittliche Preis ist für jedes Stück gleich, damit derjenige, der weniger Geld hat, sich nicht mit den schlechteren Teilen begnügen muss.»

«In Paris hingegen kostet das Ochsenfleisch neun oder zehn Julier pro Pfund, das kann sich fast nicht einmal mehr der König leisten!», seufzte Domenico.

Verschwenderische Bankette hatte ich nicht wenige gesehen, als ich noch im Dienst des Vatikanischen Staatssekretärs Kardinal Fabrizio Spada stand. In seiner Villa auf dem Gianicolo-Hügel in Rom hatte ich selbst raffinierte Speisen, große Mengen Weins und üppige Gerichte zu Tisch getragen. Doch dieser Überfluss war sehr wenigen vorbehalten, also nichts im Vergleich zur wilden Opulenz, die auf jeder beliebigen Tafel Österreichs herrscht. Hier schlemmt man bei jeder Gelegenheit: bei Geburten und Hochzeiten, Abschiedsfeiern und Empfängen, aber auch, um einen Vertragsabschluss, einen Richterspruch oder ein Erbe zu feiern. Jedes Gewerbe versammelt sich außerdem auf eigene Rechnung: Händler oder Skribenten, Handwerker oder Geldleiher, Wächter oder Garden, und vielleicht auch die Diebe. Überall werden Fress- oder Saufgelage veranstaltet: zu Hause, am Arbeitsplatz, in einer beliebigen Kaschemme, während eines Ausritts, sogar im Krankenhaus oder bei Gericht.

Keine österreichische Region ist davon ausgenommen: Allein in Tirol gibt es siebenhundertfünfzig Schänken, von Wien und Umgebung geht das Sprichwort «Ganz Wien ist ein Beisi», über die Steiermark gibt es Geschichten von Hochzeitsfeiern, wo an einem einzigen Abend acht Ochsen, hundert Schöpse, fünfzig Kälber, fünfzig Lämmer, einhundert Mastschweine, achtzig Spanferkel, sechs Wildschweine, einhundert Fasane, einhundert Truthähne, einhundertsechzig Rebhühner, achtzig Gänse, einhundert Wildenten, vierhundert Schnepfen, zweihundert Kapaune, achthundert Hühner, dreihundert Wachteln, vierhundert Tauben, vierhundert Pfund Speck, eintausendzweihundert Zitronen, eintausendzweihundert Orangen und einhundert Granatäpfel verschlungen wurden.

In der französischen Hungersnot, schloss ich, hätte sogar der Allerchristlichste König Appetit auf die Küche der verhassten Wiener bekommen.

Während ich dergestalt vor den verwirrten Mienen Attos und seines Neffen predigte, schwoll das Lärmen an den Nebentischen so stark an, dass die beiden abgelenkt wurden.

Dies war die weniger poetische Seite der gastronomischen Freuden in der Kaiserstadt.

Domenico sah sich um, und sein erstaunter Blick blieb bei den anderen Tischgenossen in der Gaststätte haften: Der eine benutzte die Serviette, um sich zu schnäuzen, sich damit am Kopf zu kratzen oder den Schweiß abzutrocknen; ein anderer schüttete sich Wein in den Schlund und gurgelte damit, worauf die Flüssigkeit ihm über Kinn und Hals floss; einer schenkte dem Nachbarn unaufhörlich Wein ein und versetzte ihm freundliche, aber heftige Stöße in den Magen, wenn er nicht sofort alles austrank; der Nächste zog mit der Gabel die dicksten Stücke des Bratens vom Tablett in der Tischmitte auf seinen eigenen Teller, was eine peinliche Fettspur auf dem Tischtuch hinterließ; wieder einer leckte den Teller ab oder kratzte die Reste mit dem Fingernagel ab; einer nieste oder hustete so stark, dass über dem Nachbarn ein Sprühregen niederging; einer spuckte; ein anderer, der sich die Zunge an einem heißen Bissen verbrannt hatte, riss brüllend den Mund auf; und als das Essen beendet war, versteckte einer die üppigen Reste rasch in seiner Serviette, um sie heimlich mitzunehmen.

Bald schon zeichnete sich Bestürzung auf Domenicos Gesicht ab. Er warf mir einen fragenden Blick zu, den ich vorgab, nicht zu bemerken. Er wusste ja nicht, wie sehr die schlechten Tischsitten der Wiener den großen Prediger Abraham a Sancta Clara und andere berühmte Autoren beschäftigt hatten, wie oft sie die Gläubigen geduldig ermahnt hatten, sich weniger viehisch beim Essen zu benehmen!

«Domenico, ich höre Schreie. Was ist geschehen?», fragte Atto, während er an der Forelle herumstocherte.

An einem der mittleren Tische hatte sich eine recht unerfreuliche Szene abgespielt. Einer großen Gesellschaft war ein Spieß mit Bratenstücken serviert worden, der frisch aus dem Ofen kam. Um eine Schweinsstelze von der Asche zu befreien, hatte einer der Tischgenossen heftig auf den Spieß gepustet, und die heißen Glutreste waren der Dame ihm gegenüber direkt in die Augen geflogen. Ihr Ehemann hatte von dem Schuldigen auf der Stelle Entschädigung für dieses Unrecht gefordert. Sofort war zwischen den vom übermäßigen Weingenuss erhitzten Gemütern ein kleines Handgemenge entfesselt, das vom Personal nur mühsam geschlichtet werden konnte. Leider hatte der Gatte der beleidigten Dame noch Zeit gefunden, den glühend heißen Spieß in das Gesäß seines Gegners zu rammen, welcher eilig verarztet werden musste.

«Oh, nichts, Herr Onkel, eine kleine Diskussion», versetzte Domenico, im Versuch, die weniger noble Seite der von mir kurz zuvor noch so gepriesenen Wienerischen Lebensart zu verbergen.

«Ein Meinungsaustausch zwischen Freunden», suchte ich Domenicos Lüge zu bekräftigen, doch Atto ließ sich nicht täuschen.

«Diese Wiener und ihre Stadt sind genauso vulgär, wie man sie in Paris darstellt», sagte er in überheblichem Ton, der seine Befriedigung, endlich schlecht über sie sprechen zu können, kaum verbarg. «Sie mögen ja ungeheuer reich sein, aber die Straßen sind zum Beispiel so verschlungen wie ein Wollknäuel und so eng, dass die Fassaden, welche doch die größte Bewunderung verdienten, dem Auge nicht auffallen … obwohl mir das eigentlich herzlich gleichgültig ist, da ich das kostbare Gut des Augenlichts verloren habe und darum die Plätze Wiens vorziehe, wo ich mich, ohne irgend inkommodiert zu werden, ungehindert bewegen kann. Sie sind wohl mit sehr harten Steinen gepflastert, oder?»

«Ja, nicht einmal unter den schweren Rädern der Bauernkarren können sie so leicht zerbröckeln», bestätigte ich.

«Wie ich’s mir dachte. Misslich bleibt jedoch, dass die Zimmer in den Häusern aufgrund der engen Straßen außerordentlich dunkel sind und, der ärgerlichste Umstand überhaupt, dass es kein Gebäude gibt, wo nur fünf oder sechs Familien wohnen. Die vornehmsten Damen, ja sogar die Minister bei Hofe, leben Tür an Tür mit einem Schuster oder Schneider; es gibt niemanden, der mehr als zwei Etagen eines Hauses bewohnt: eine für sich und eine für die Dienerschaft. Den Rest vermieten die Hausbesitzer an wen auch immer; daher sind die Steintreppen in den Häusern immer schmutzig und in schlechtem Zustand, genau wie die Straßen. Aber man sieht ja ohnehin nichts: Die Gebäude sind viel zu hoch, die Straßen zu dunkel, und durch die Fenster fällt wenig Licht. Ich meine, ich sehe zwar nichts, leider, aber so erzählt man jedenfalls in Paris über Wien. Kannst du das bestätigen?»

«Oft ist es so, Signor Atto», stimmte ich zu, verletzt von seiner plötzlichen Böswilligkeit. «Gestattet mir dennoch, Euch zu sagen, dass die Innenräume der Wohnungen dagegen …»

«Ich weiß, ich weiß», kam mir der Kastrat zuvor, «ich habe gehört, dass es nichts Beeindruckenderes gibt als die Wohnungen der feinen Wiener Gesellschaft: eine Flucht von acht bis zehn sehr geräumigen Sälen; Türen und Fenster reich mit Schnitzwerk und Vergoldungen verziert; Möbel und Hausrat, wie man sie im übrigen Europa sogar in den Palästen der hochrangigsten Fürsten nur selten findet; Gobelins aus Brüssel, riesige Spiegel mit Silberrahmen, Betten und Baldachine aus Damast und Samt von erlesenstem Geschmack, große Gemälde, japanisches Porzellan, Kronleuchter aus Bergkristall …»

Während Atto seine Kenntnisse hervorkramte, dachte ich an die Gelegenheiten zurück, die mich dank meiner Arbeit in das Haus eines Reichen geführt hatten. Die Macht des Pariser Klatsches! Atto war blind, aber es schien, als hätte er alles mit eigenen Augen gesehen. In seiner Seele kämpften überdies Bewunderung und Neid auf die Feinde Frankreichs: Am Vortage, bei seiner Ankunft, hatte er mir noch ein Loblied auf Wien, auf die Kaiser und ihren behutsamen Umgang mit der Opulenz gesungen und gegen die arrogante Verschwendungssucht der Franzosen gewettert, die das Land zugrunde gerichtet hatte. Jetzt hingegen verführte ihn der Neid auf solch großen Wohlstand zu den gehässigsten Verleumdungen. Er widersprach sich beträchtlich, der alte Abbé Melani, dachte ich lächelnd. Es sei denn … Mir kam ein Zweifel: Und wenn Atto gestern nicht ehrlich gewesen wäre? Wenn er die Vernunft der Kaiser und die Üppigkeit ihrer Residenzstadt nur darum so emphatisch gepriesen hätte, um den Verdacht von sich abzulenken, er sei für ein Komplott mit den Türken nach Wien gekommen? Ich beschloss, eine erste Frage zu wagen:

«Signor Atto, was, glaubt Ihr, versucht der Aga bei Ihrer Kaiserlichen Majestät zu erreichen?»

«Das möchte ich auch gerne wissen. Es könnte für meine, für unsere Mission sehr hilfreich sein. Aber was wollte ich sagen? Die Vorstädte Wiens hingegen …», kehrte er zu seiner vorherigen Rede zurück, wobei er ein Stück Palatschinken mit Creme abbiss, «wie deine Josephina, sind ausgesprochen reizvoll. Wer weiß, wie oft auch du schon stehen geblieben bist, um dieses Schmuckstück, die Sommerresidenz des Vizekanzlers Schönborn, von außen zu bewundern. Gestern haben wir einen kleinen Rundgang um die Villa gemacht, bevor wir uns ins Theater begaben. Sogar in Versailles spricht man davon – wenn du wüsstest, was das für ein Garten ist! Und die Orangen- und Zitronenbäume, alle in vergoldeten Töpfen! So hat es mir jedenfalls mein Neffe beschrieben.»

Domenico nickte höflich. Ich ging wieder zum Angriff über, diesmal versuchte ich Atto mit einer ziemlich eindeutigen Provokation aus der Reserve zu locken.

«Frankreich käme es natürlich sehr gelegen», sagte ich, «wenn zwischen dem Reich und den Türken wieder ein Krieg ausbräche. Dann müsste Ihre Kaiserliche Majestät die Armee auch im Osten einsetzen. Den Allerchristlichsten König würde das gewiss nicht wenig erleichtern.»

«Ich kann mir durchaus nicht vorstellen, dass so etwas geschieht», erwiderte Atto in neutralem Tonfall. «Seit dem Friedensvertrag von Karlowitz herrscht im Osten Ruhe. Die vor kurzem eingetroffene türkische Ambassade hat einzig den Zweck, daran zu erinnern, dass der Sultan noch lebt, und mir scheint dieses Manöver nicht mehr als pure Effekthascherei zu sein.»

Er hatte sich widersprochen. Kurz zuvor hatte er noch behauptet, er habe keine Ahnung von den Absichten der osmanischen Gesandtschaft und dass es ihm nützlich sei, mehr darüber zu wissen.

«Apropos», hub er wieder an, erneut das Thema wechselnd, «wie ich dir andeutete, sind wir gestern Nachmittag im Theater gewesen. Man hat mir gesagt, dass Marianna Pállfy Komödien liebt, und ich hoffte, ihr zu begegnen. Wir haben eine Loge für vier Personen genommen, die Eintrittskarte hat nicht viel gekostet, einen Dukaten. Der Raum war viel zu dunkel und die Decke zu niedrig, aber ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht so gelacht! Dank der Hilfe meines Neffen, versteht sich.»

Ich antwortete nichts auf dieses Geplauder ohne Belang, doch Atto fuhr ungerührt fort:

«Es war eine Komödie, in der Jupiter die Gestalt Amphitryons annimmt, um dessen Gattin Alkmene ins Bett zu bekommen. Doch vor allem macht er einen Haufen Schulden an dessen Stelle, und die meiste Zeit sieht man den wahren Amphitryon, den armen Kerl, wie er von seinen Gläubigern verfolgt wird. Eine rechte Albernheit, dieses Stück, voll vulgärer Scherze, die man in Paris nicht mal einem Fischhändler nachsehen würde!»

Beharrlich ignorierte Atto meine Fragen nach der Gesandtschaft des Agas, die doch in Wien die aufregendste Nachricht der letzten Tage darstellte. Sein Verhalten war so offensichtlich, dass es Verdacht weckte.

«Auch die hiesige Mode ist grässlich, nicht wahr, Domenico?», fuhr er mit seinen Abschweifungen fort.

«Jawohl, Herr Onkel.»

«Mir ist unglücklicherweise das Licht des Tages verwehrt, lieber Neffe. Auch in einer so großen Stadt kann ich die Gepflogenheiten der Einwohner nicht mehr beobachten, doch mir entgeht nicht viel. Durch die Pariser Gazetten, die du mir vorliest, weiß ich genau, wie fürchterlich die Mode am Kaiserhof ist, vergleicht man sie mit der französischen oder englischen. Dass die Damen einen Rock tragen, ist das Einzige, was diesen Ländern gemeinsam ist. Alles andere an der Wiener Mode ist monströs und widerspricht in jeder Hinsicht dem gesunden Menschenverstand. Hier bestickt man noch den kostbarsten Stoff dicht mit Gold, und es genügt, sich ein teures Kleid machen zu lassen, um bewundert zu werden, es muss mitnichten auch geschmackvoll sein. An allen anderen Tagen aber kleidet man sich nur in einen schlichten Umhang und trägt darunter, was man will. Ist es nicht so, mein lieber Neffe?»

«Jawohl, Herr Onkel», wiederholte Domenico.

Langsam wurde ich ungeduldig.

«Zum Beispiel gilt es hier in Wien als besonders schön, so viele Haare zu haben, wie ein Fass von mittlerer Größe nicht zu enthalten vermöchte. Also lassen die Damen sich enorme Gerüste aus gestärkter Gaze anfertigen und befestigen diese mit Bändern am Kopfe. Sodann werden sie vermittels jener eisernen Ringe gestützt, an welche bei uns die Milchfrauen ihre Eimer hängen. Schließlich bedecken sie das teuflische Machwerk mit künstlichen Haaren, die allen Frauen hierorts ungeheuer elegant erscheinen.»

«Signor Atto», versuchte ich vergeblich, ihn zu unterbrechen.

«Und um den Unterschied zu den echten Haaren zu verbergen», fuhr er unerschütterlich fort, «streuen sie pfundweise Puder auf das ganze Gebilde und flechten drei oder vier Diamantenketten hinein, die mit riesigen Spangen aus Perlen oder roten, grünen und gelben Steinen befestigt werden. Zuletzt vermögen sie sich mit dieser Apparatur auf dem Kopf kaum mehr zu bewegen! Ihr könnt euch gut vorstellen, wie eine derart abenteuerliche Weise, sich zu kleiden, die natürliche Hässlichkeit, mit welcher die hiesigen Frauen auszustatten der Natur beliebte, betont und verstärkt. Ganz zu schweigen davon, wie sauertöpfisch und griesgrämig sie sind. In Paris hat man mir erzählt, nichts und niemand sei hier lebhaft, sondern alles von Phlegma durchdrungen, und keiner errege sich je wirklich, außer in Fragen, die das Zeremoniell betreffen. Hier würden die Wiener ihre hemmungslosesten Leidenschaften austoben. Stimmt das denn?»

«Nicht dass ich wüsste», antwortete ich, verärgert über die Reihe böser Gerüchte über meine Wahlheimat. Wenn er so schlecht über Wien dachte, hätte ich ihm sagen wollen, warum hatte er mich dann hergeschickt?

«Freilich habe auch ich mich kundig gemacht, und an der Poststation habe ich gehört, vor kurzem seien des Nachts zwei Kutschen in einer Gasse zusammengestoßen, und keine der Damen, die darin saßen, wollte nachgeben – also zurückfahren und der anderen den Vortritt lassen –, da beide von gleichem Rang waren. Fast die ganze Nacht haben sie damit zugebracht, einander die verdienten Ehrungen ihres gesellschaftlichen Standes aufzuzählen, um die andere zu überzeugen, sie müsse zurückweichen. Die Sache artete so aus, dass man schon bald in allen umliegenden Straßen ihre Schreie hörte. Es scheint sogar, als hätten sie den Kaiser geweckt, der seine Leibgarde schicken musste, um sie zum Schweigen zu bringen, wiewohl es dieser erst gelang, der Sache Herr zu werden, als sie auf die Idee kam, beide Kutschen gleichzeitig rückwärts aus der Gasse zu ziehen und sie dann auf getrennte Wege umzuleiten …», schloss er mit einem impertinenten Gelächter.

Mir blieb nur noch der Versuch einer letzten Offensive:

«Signor Atto, es hat einen Mord gegeben», sagte ich unvermittelt.

Endlich hatte das Geschwätz Melanis ein Ende.

«Einen Mord? Aber was erzählst du mir da, Junge?»

«Gestern Nacht. Ein Freund von Simonis, meinem Handwerksgesellen. Simonis hatte versprochen, einige seiner Kommilitonen, die auch ich kennengelernt habe, als Spürnasen auf die Fährte dieses sonderbaren Goldenen Apfels zu schicken, von dem der Türkische Aga während der Audienz bei Prinz Eugen gesprochen hat.»

«Ich erinnere mich sehr gut. Und dann?»

«Gestern Nacht hatten Simonis und ich mit einem dieser Studenten eine Verabredung auf den Bastionen. Er hieß Danilo, Graf Danilo Danilowitsch. Als wir ihn fanden, lag er im Sterben. Man hat ihn erstochen, er ist in unseren Armen gestorben.»

Abbé Melani wandte seinen blinden Blick von mir ab, seine Miene wirkte kummervoll und besorgt zugleich.

«Das ist wirklich traurig», sagte er, nachdem er einige Augenblicke geschwiegen hatte. «Hatte er Familie?»

«Nicht in Wien.»

«Hat euch jemand gesehen, als ihr diesem Grafen Danilo beistandet?»

«Wir glauben nein.»

«Gut. Dann werdet ihr wahrscheinlich nicht in die Sache hineingezogen», sagte er mit einer Spur Erleichterung in der Stimme. Er hatte wohl kurz um sein eigenes Wohl gebangt.

«Danilowitsch hieß er, hast du gesagt? Das ist kein deutscher Name. Woher kam er?»

«Aus Pontevedro.»

«Aha, nun, das sind keine gesitteten Leute. Von wegen Graf!

Pontevedro! Das sind Völker von einer Brutalität und Rohheit sondergleichen …»

Abbé Melani schien genauso zu denken wie Simonis, der für sie sogar den Begriff «Halb-Asien» geprägt hatte.

«Ich wette, er ging irgendeiner niederen Arbeit nach, um seine Studien zu finanzieren», vermutete Atto.

«Spion. Gegen Bezahlung denunzierte er Personen, die die Gesetze über die Angemessenheit der Gebräuche übertreten.»

«Ein gewerblicher Spion! Und du wunderst dich, dass so einer, sintemal aus Pontevedro, erstochen wird? Junge, es ist zwar eine traurige Angelegenheit, aber dieser Tod hat nichts Überraschendes. Vergiss ihn und Schluss», fertigte Melani mich ab, dem offenbar entfallen war, dass auch er ein bezahlter Spion war.

«Und wenn es stattdessen die Türken gewesen wären? Danilo sammelte Informationen über den Goldenen Apfel. Kurz vor seinem Tod hat er uns seltsame Dinge zugeflüstert.»

Interessiert hörte Atto sich an, was der arme Student genuschelt hatte, bevor er sein Leben aushauchte.

«Der Schrei der vierzigtausend Märtyrer», wiederholte er nachdenklich, «und dann dieser geheimnisvolle Eyyub … Das scheint mir das Delirium eines unglücklichen Sterbenden zu sein. Danilo Danilowitsch mag sich ja nebenbei auch über den Goldenen Apfel informiert haben, doch für mich ist die Angelegenheit sonnenklar. Die Türken haben nichts damit zu tun, euer Freund hat das traurige Ende genommen, das man als pontevedrischer Spion erwarten darf.»

Das Mittagessen mit Atto Melani hatte mich aus zwei Gründen beunruhigt: Gänzlich ungeniert war der Abbé meinen Fragen nach der türkischen Ambassade ausgewichen, als wäre dieses Ereignis vollkommen unbedeutend, um mich stattdessen mit einer unerquicklichen Abfolge läppischer Betrachtungen über die Wiener Lebensart zu überhäufen. Eine gar zu kühle Reaktion, sagte ich mir, für einen eingefleischten Diplomaten wie Atto, der nach jeder Intrige, jedem Spiel hinter den Kulissen, jeder kleinsten Neuigkeit auf der politischen Bühne gierte.

Den zweiten Grund zur Beunruhigung gab die Art und Weise, wie er den Tod des armen Danilo Danilowitsch heruntergespielt hatte. Warum nur hatte er einerseits die letzten Worte, die Danilo vor seinem Hinscheiden ausgesprochen hatte, mit Interesse vernommen, andererseits aber jeden Verdacht von den Türken ablenken wollen?

Nun kündigte Atto mir an, am Nachmittag werde er wieder versuchen, sich der Pállfy zu nähern. Ich schwieg dazu. Soll er doch allein sehen, wie er zurechtkommt, dachte ich.

Ich hatte mit Simonis eine wichtige Verabredung: Seine Studienkameraden würden sich versammeln und mir berichten, was sie über den Goldenen Apfel herausgefunden hatten.

Wenig später saß ich schon neben Simonis auf Peniceks Kalesche. Allmählich lernte ich es zu schätzen, dass mein Gehilfe einen gehorsamen Pennal einschließlich Beförderungsmittel zur Verfügung hatte, mochte er auch hinken. Simonis hatte einen Sklaven, dessen konnte nicht einmal ich, obgleich ich sein Brotherr war, mich rühmen.

Zu Beginn unserer Fahrt herrschte Schweigen. Die Erinnerung an Danilos Tod stand zwischen uns. Leicht ließ sich behaupten, er sei seiner gefährlichen Tätigkeit als Denunziant geschuldet, wie Melani sofort geschlossen hatte. Doch der Verdacht, dass der Ärmste wegen seiner Kenntnisse über den Goldenen Apfel ermordet worden war, geisterte uns in den Köpfen, obwohl wir keinen genauen Anhaltspunkt hatten, und ließ Tropfen bitterer Reue wie Schwefelsäure auf unser Herz fallen. Ich begegnete Simonis’ Blick, der gedankenschwer auf mir ruhte.

«Herr Meister, Ihr habt mich noch gar nicht gefragt», begann er, sich zu einem Lächeln zwingend, «welchem Gewerbe meine Kameraden nachgehen, um sich das Studium zu finanzieren.»

Der Grieche versuchte, den Vorhang des kummervollen Schweigens zu zerreißen.

«Stimmt», gab ich zu, «ich weiß fast nichts über sie.»

Angesichts der dubiosen Beschäftigung des armen Danilo und der rechtswidrigen Peniceks war ich neugierig und misstrauisch zugleich.

«Koloman Szupán ist der Reichste von allen», informierte mich Simonis, «denn er arbeitet als Ober. Dass unser hier anwesender Pennal Kutscher ist, wisst Ihr bereits. Dragomir Populescu hat wenig Zeit, sich seine Brötchen zu verdienen: Er ist fast ununterbrochen mit Frauen beschäftigt. Bei allen versucht er es, aber er hat fast nie Erfolg. Koloman hingegen versucht es kaum, hat aber immer Erfolg.»

«Ach ja? Und wie macht er das?»

«Er verfügt über … wie soll ich sagen … außergewöhnliche Fähigkeiten», sagte Simonis lächelnd. «Die Kunde hat sich unter den jungen Wienerinnen verbreitet, die genau das zu schätzen wissen, und bei Koloman sind sie immer sehr zufrieden. Wenn Ihr Glück habt, Herr Meister, erhalten wir binnen Kürze einen Beweis seines Könnens.»

«Einen Beweis?»

«Es ist drei Uhr nachmittags, und um diese Zeit ist Koloman immer am Werk. Er hat einfach zu viel Energie; jeden Tag um diese Zeit muss er sich ausleben, sonst wird er traurig. Wenn er kein Täubchen zur Hand hat, egal wo, ist er imstande, zum erstbesten Fenster hinaufzuklettern, über Dächer und Kamine zu steigen, um zu einer willigen Schönen zu gelangen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.»

Wir waren vor einem bescheidenen Häuschen bei den Bastionen angekommen. Nachdem er Penicek befohlen hatte, draußen auf uns zu warten, klopfte der Grieche an die Tür. Ein junger Mann öffnete, der uns sofort warnte:

«Er ist oben und hat zu tun.»

Simonis antwortete mit einem verschwörerischen Lächeln. Wir traten ein, und er erklärte mir, das ganze Haus, ein kleines, zweistöckiges Gebäude, sei an eine Gruppe Studenten vermietet, welche die Gewohnheiten ihrer Mitbewohner genau kannten. Wir setzten uns in dem engen Eingangsraum auf eine Bank, vor der eine Stiege in das obere Geschoss führte. Ich hatte kaum Zeit, mir den Schnee von der Pelerine zu schütteln, als uns ein Schrei aus der oberen Etage traf:

«Aaaaahhh! Jo, guat, hör net auf!», kreischte eine Frauenstimme.

«Es wird nicht mehr lange dauern, Koloman weiß, dass wir nicht zu spät kommen dürfen», flüsterte Simonis mir augenzwinkernd zu.

«Du bist a Viech, a Stier … noamoi, heast, i bitt di!», fuhr das teutonische Weib fort.

Koloman schien jedoch vernommen zu haben, dass wir eingetroffen waren. Wir hörten ihn höfliche Einwendungen machen. Die Diskussion zog sich hin und wurde dann lebhafter. Plötzlich hörte man eine Tür laut zuschlagen und Schritte die Treppe herunterkommen. Wir sahen die junge Frau (recht anmutig, blondes, im Nacken zusammengebundenes Haar, schlichte, aber neue Kleider), schäumend vor Wut, an uns vorbeiflitzen. Bevor sie durch die Haustür trat, drehte sie sich noch einmal um und schrie, unbekümmert um unsere Anwesenheit, eine letzte Schmähung gegen Koloman die Treppe hinauf:

«Du bist jo nur a ölenda Lakai, ungarischa, du gsöchta Mööwurm!»

Dann riss sie die Tür so gewaltsam zu, dass der Boden bebte.

«Das übliche Benehmen der Wienerinnen», sagte Simonis mit einem beschwichtigenden Lächeln.

Gleich darauf stieg unser Mann die Treppe herab und knöpfte sich mit einer Mischung aus Verlegenheit und Belustigung das Hemd zu.

«Eigentlich bin ich ein Baron, der siebenundzwanzigste Koloman Szupán unserer Familie, um genau zu sein, und Ober bin ich nur, um mein Studium zu bezahlen», sagte er, als wäre die junge Dame noch zugegen. «Entschuldigt bitte die unangenehme Szene, aber so sind sie nun mal, die Wienerinnen: Wenn man eine Verpflichtung hat und die Sache etwas abkürzen muss, werden sie wütend. In Italien dagegen …»

«… sind die Frauen geduldiger?», wagte ich zu fragen, während Koloman seinen Umhang überwarf.

«In Italien kürze ich die Sache nie ab», grinste Koloman, gab Simonis einen Klaps auf den Rücken und ging durch die Tür.

Die Kalesche des Pennals setzte sich langsam wieder in Bewegung und rollte über die weiche Schneedecke in Richtung Populescus Wohnung, wo vor zwei Tagen die Deposition stattgefunden hatte. Hier sollte der Kommers abgehalten werden. Jeder hatte Auskünfte über den Goldenen Apfel eingeholt, und man würde sich gewiss einiges zu erzählen haben. Aber der plötzliche Tod Danilos würde wie ein Schatten über der Zusammenkunft liegen, denn diejenigen, die er am meisten getroffen hatte, waren natürlich seine Freunde.

Auch Koloman Szupán wurde nach der anfänglichen Heiterkeit nun schweigsam. Um seine traurigen Gedanken zu verscheuchen, versuchte ich, während der Fahrt ein Gespräch anzuregen, wie Simonis es eben bei mir getan hatte. Ich fragte ihn, ob er mit seiner Arbeit als Ober zufrieden sei.

«Zufrieden? Im Moment danke ich erst mal dem Himmel, dass die Fastenzeit vorbei ist», sagte Koloman und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er sich den Schweiß abwischen.

«Aber warum denn? Ich dachte, in der Fastenzeit würden die Ober in den Beisln weniger arbeiten, da man ja kein Fleisch isst und die Gerichte leichter zuzubereiten sind.»

Koloman fing an zu lachen. «Was meinst du, wie wir in der Fastenzeit schwitzen müssen, um all diese komplizierten Fischgerichte zu kochen! Gerösteter Aal in Speck, Hecht in saurer Sahne, im Ofen gebackene Krebse mit Petersilienwurzeln, in Öl geschmort mit Zitronensaft und Austern, gebratener Stockfisch mit Radi, Senf und Butter, ganz zu schweigen vom gebratenen Biber …»

«Gebratener Biber? Aber das ist kein Fisch.»

«Erklär das mal den Wienern! Und wir müssen sie sogar fangen gehen, diese verfluchten, haarigen Dinger. Zum Glück gibt es ja noch die Eier Luthers.»

«Die Eier Luthers?»

«Ja, die, die Luther niemals gegessen hätte. Es sind die Eier der Fastenzeit. Sie heißen zum Scherz so, weil die Katholiken sie essen, um Abstinenz vom Fleisch zu üben, während die Protestanten sich ins Fäustchen lachen und alles zu sich nehmen, worauf sie Lust haben. Aber hauptsächlich gibt es Fisch.»

Während der österlichen Abstinenz, erklärte Koloman, fand man in den Küchen der Wiener Gaststätten eine unvorstellbar große Menge an Fischen, zudem von einer Vielfalt, wie nicht einmal in Italien üblich. Sogar in den Bergen Tirols gab es Menschen, wie den berühmten Arzt Guarinoni (wieder ein Italiener), die zu vorsichtigem Umgange mit dem überreichen Angebot rieten: Fische aus Gebirgsbächen, Flüssen, Teichen oder dem Meer, die aus so abgelegenen Gegenden stammten wie dem ungarischen Plattensee, aus Böhmen, Mähren, Galizien, Bosnien oder von der italienischen Küste bei Triest. Aus Venedig kamen mit der Eilpost Berge von Austern, Seeschnecken, Miesmuscheln, Krebse und Seeigel, Frösche und Meeresschildkröten an, und andere Spezialitäten gelangten auf Sondertransporten sogar aus Holland oder dem weit entfernten Nordmeer nach Wien.

«Zugegeben, sie werden unter Eisblöcke gelegt, aber fragt mich nicht, wie zum Teufel sie nach einer so langen Reise frisch ankommen können, denn das habe ich auch nie begriffen», setzte Koloman hinzu.

Da die meisten Wiener es schwer ertrugen, bis Ostern auf den Genuss von Fleisch zu verzichten, und Wassertier ja eben Wassertier ist, tauchten auf den Speisekarten der Fastenzeit nebst Fischen und Krustentieren sogar Otter und Biber auf!

Abraham a Sancta Clara hatte wahrhaftig recht, dachte ich, als er sagte, in Wien könne sich kein Tier, lebe es nun auf der Erde, in der Luft oder im Wasser, sicher wähnen, nicht im Kochtopf zu landen.

«Diese Wiener», fügte Koloman hinzu, «haben ihren Appetit nicht mal gezügelt, als ihnen die Türken im Nacken saßen.»

«Was haben die Türken damit zu tun?»

Er erklärte mir, dass selbst während der berühmten Belagerung von 1683, die bereits in die Geschichte eingegangen war, den Wienern die Lust am guten Essen nicht vergangen sei. Während die Stadt kurz davor stand, erobert und dem Erdboden gleichgemacht zu werden, verließen Scharen von Wienern, darunter auch Frauen und Kinder, unter großer Gefahr nachts die Festung und gingen Brot von den Türken kaufen.

«Die Türken verkauften ihnen Brot?»

«Unter ihnen gab es viele sehr arme Soldaten, die Geld brauchten. Und im türkischen Lager fehlte es nie an Brot.»

Wer sich eines solchen Handels schuldig machte, wurde in beiden Lagern bestraft, sowohl bei den Christen (dreihundert Peitschenhiebe) als auch bei den Osmanen. Dennoch konnten derlei Umtriebe durchaus nicht eingedämmt werden, erklärte Koloman. Und außerdem war in Wien der Durst ein Problem.

«Ja, natürlich, das Wasser …», nickte ich.

«Nein, Wasser gab es genügend. Es fehlte ihnen an Wein.»

Da in der Seele des Wiener Bürgers der Feinschmecker immer über den Soldaten triumphiert, wurden häufig ganze Wagenladungen Wein aus den umliegenden Anbaugebieten abgefangen und bei Anbruch der Dunkelheit heimlich in die Stadt geschafft. Manchmal ereigneten sich schier unglaubliche Dinge. Zum Beispiel gelang es den Belagerten, sich während der hitzigsten Gefechte hinter den türkischen Linien (wie das möglich war, ist ein Geheimnis) eine ganze Rinderherde aus über hundert Tieren zu besorgen.

Mit kaum verhehlter Enttäuschung vernahm ich von diesen Ereignissen im Hintergrund der großen Belagerung. Wie oft hatte ich an den heroischen Widerstand der Wiener gedacht! Und jetzt musste ich entdecken, dass er alles andere als das gewesen war.

«Von wegen Helden ohne Furcht und Tadel!», bemerkte ich entsetzt.

«Furcht hatten sie gewiss nicht. Tadeln musste man sie dagegen schon: wegen all der Wein- und Fettflecken an Kragen und Ärmeln», lachte Koloman.

Man stelle sich nur vor, erzählte er zum Abschluss, dass es während der Belagerung von 1683 sogar einen Verräter gab, der den Türken eine überaus wertvolle Information aus der belagerten Stadt übermittelte: Im Inneren der Festung sei der Zusammenhalt zwischen der Zivilbevölkerung und den Soldaten erschüttert; die Wiener seien erschöpft und wollten sich ergeben.

«Es war der 5. September. Fast niemand weiß von dieser Begebenheit, die den Lauf der Geschichte hätte ändern können. Aus unerfindlichen Gründen griffen die Türken nicht sofort an, zum Glück! Sechs Tage später traf die Verstärkung ein, und die christlichen Armeen siegten.»

Ich hingegen wusste, warum die Türken Wien nicht sofort angegriffen hatten. Ich hatte es vor zwanzig Jahren in Rom, zusammen mit Abbé Melani, herausgefunden. Aber das war eine zu komplizierte Geschichte, und wenn ich sie Koloman erzählt hätte, hätte er mir nicht geglaubt.

Inzwischen waren wir angekommen. Nachdem wir uns den Schnee abgeschüttelt hatten, wurden wir von Dragomir Populescu hereingebeten. Zusammen mit Jan Janitzki Opalinski empfing er uns mit ängstlicher Miene. Diesmal kam auch Penicek mit hinein, er grüßte in die Runde, plump und unbeholfen wie immer. Seine unschönen, kleinen Augen erinnerten an ein bebrilltes Frettchen.

«Ich habe Neuigkeiten», sagte Opalinski sofort.

«Ich auch», fügte Populescu hinzu.

«Wo ist Hristo?», fragte Koloman.

«Er hat zu tun. Er kommt etwas später, hat er mir gesagt», antwortete Simonis. «Derweil können wir anfangen.»

«Aber du, Koloman, wieso bist du um diese Zeit schon hier? Haben die Wienerinnen dich heute sitzengelassen?», lachte Dragomir mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme.

«Im Gegenteil. Du mit deinem Spatzenstängelchen lässt sie mir ja immer so aufgegeilt zurück, dass mir bei jeder drei Minuten genügen, um sie zu befriedigen.»

«Reg dich nicht auf, Dragomir, bleib ganz ruhig …», brummte Populescu mit geballten Fäusten.

«Schluss mit den Scherzen», mahnte Simonis, «Danilo ist tot, und wir müssen jetzt alle sehr aufpassen.»

Einen Augenblick lang war es still.

«Freunde», ergriff ich das Wort, «ich danke euch für die Hilfe, die ihr mir bei der Frage nach der Bedeutung des Goldenen Apfels leistet. Doch jetzt, wo euer Kamerad tot ist, kann ich euch nicht verdenken, wenn ihr Abstand davon nehmt.»

«Aber vielleicht wurde Danilo von jemandem kaltgemacht, der sich für sein Spionieren rächen wollte», brummelte Opalinski nachdenklich.

«Womöglich einer seiner Landsmänner aus Pontevedro», schloss sich Populescu an, «das sind wahre Teufel, nicht zu vergleichen mit uns Rumänen.»

«Außerdem ist er mitnichten der erste Student, der dran glauben musste», fügte Koloman hinzu.

Und sogleich übertrumpften sie einander mit Erinnerungen an die traurigen Fälle, bei denen Studenten aus den unterschiedlichsten Gründen eines gewaltsamen Todes starben: einer im Duell, ein anderer, weil er beim Stehlen erwischt wurde, einer wegen Schmuggels et coetera et coetera.

«Und alle kamen aus Halb-Asien», flüsterte mir Simonis mit bedeutungsvollem Blick zu, als wollte er die besondere Neigung jener Völker zu einem kruden Lebenswandel unterstreichen.

«Vielleicht haben die Türken ja gar nichts zu verbergen», wagte Opalinski schließlich zu sagen.

«In der Tat kann ich mir nicht vorstellen, dass der Aga diesen Satz öffentlich ausgesprochen hat, wenn wirklich etwas dahintersteckt», meinte Populescu.

«Vielleicht wollten sie jemandem eine verschlüsselte Botschaft zukommen lassen und waren sich sicher, dass keiner Verdacht schöpfen würde», vermutete Koloman.

«Das käme mir nicht besonders klug vor», erwiderte Populescu.

«Nun ja, es sind ja auch Türken …», lachte Simonis.

Bei dieser Bemerkung lachten auch die anderen. Fast hätte ich ihnen erzählt, wie ich den Derwisch des Agas bei seinen schauerlichen Ritualen beobachtet, ja, dass Cloridia mitbekommen hatte, wie er konspirierte, um jemandes Kopf zu bekommen, und dass dies der Grund sei, warum wir nach dem Goldenen Apfel forschten. Schließlich hatten alle, die bei der Audienz des Agas zugegen gewesen waren, nicht den geringsten Verdacht geschöpft und den Satz «Soli soli soli ad pomum venimus aureum» als eine Erklärung friedlicher Absichten aufgefasst.

Ich vermutete, dass der Optimismus dieser jungen Männer auch in der Belohnung begründet lag, die ich ihnen in Aussicht gestellt hatte. Doch jetzt war Danilo tot, das Spiel wurde gefährlich, und wahrscheinlich war es richtig, ihnen reinen Wein einzuschenken. Simonis, der meine Gedanken erriet, hieß mich mit einem Blick schweigen. Und abermals hielt ich feige den Mund.

Nun, da über das traurige Ende des Kameraden alles gesagt war, kamen die Studenten auf den Goldenen Apfel zu sprechen.

Populescu berichtete uns, er habe in einem Kaffeehaus eine hübsche brünette Kellnerin kennengelernt. Zunächst habe er sie einfach umgarnt, doch dann sei er auf die Idee gekommen, ihr ein paar Fragen über den Goldenen Apfel zu stellen, denn der Kaffeehausbesitzer, ihr Arbeitgeber, kam aus östlichen Landen.

«Eine Damenbekanntschaft in einem Kaffeehaus?», wunderte ich mich. «Und ich dachte, ihr Studenten hättet Bibliotheken und Archive durchforstet!»

Nun erklärten mir Simonis’ Freunde, dass man aus Büchern nichts Nützliches erfahre, außer Informationen über den Reichsapfel oder über die Sphärenkugel, die entfernten Verwandten des Goldenen Apfels.

«Der Reichsapfel», erläuterte Opalinski, der sehr gebildet war, «besteht, wie ihr alle wisst, aus der Erdkugel, die vom Kreuz Christi überragt wird. Der Erzengel Michael hält in der einen Hand den Apfel, mit der anderen aber erhebt er das Kreuz wie ein Schwert und stürzt Luzifer in die Hölle, welcher gegen den Allmächtigen aufbegehrt und sich mit Neid, Hochmut und Eitelkeit befleckt hat. Nicht zufällig bedeutet der Name ‹Michael› auf Hebräisch: Wer ist wie Gott? Darum ist der Reichsapfel zur Kaiserlichen Insignie geworden und wird den Kaisern des Heiligen Römischen Reiches bei der Krönung überreicht, als Wahrzeichen desjenigen, den Gott auserwählt hat, auf dass er die Christenheit regiere und vor dem Bösen beschütze. Der Reichsapfel stammt von der Sphärenkugel, einer Darstellung des Himmels, der die Erdkugel umgibt. Auch die Sphärenkugel war ein Sinnbild der Macht: Bei den Griechen und Römern wurde sie Jupiter, dem obersten aller Götter, zugeschrieben.»

«Was redest du für einen Unsinn!», protestierte Populescu. «Von wegen Erdkugel! Jeder weiß doch, dass man in der Antike glaubte, die Erde sei eine Scheibe!»

«Da haben wir’s. Natürlich musst du dich sofort wieder als der Ignorant zu erkennen geben, der du bist», tadelte ihn Koloman Szupán, ein enger Freund des Polen. «Das wird doch nur gesagt, damit wir klüger und weiter entwickelt dastehen als die Menschen früher. Und du bist voll drauf reingefallen.»

«Richtig, Koloman», lobte Opalinski, «die Griechen und Römer wussten ganz genau, dass die Erde rund ist, man denke nur an Parmenides und den Mythos von Atlas, der die Erdkugel auf dem Rücken trägt. Und auch im Mittelalter wussten es alle. Hat der Heilige Augustinus etwa nicht gesagt, die Erde sei moles globosa, also eine Kugel? Außer Cosma Indicopleuste und Severian von Gabala erzählte nur noch Lattanzio überall herum, dass die Erde flach sei, doch zu seiner Zeit hat keiner ihm geglaubt. Später sind leider einige Kathederesel auf die Phantastereien Lattanzios gestoßen und haben sie als die vorherrschende Lehre des Mittelalters ausgegeben.»

«Diese verdammte Geschichtsschreibung!» Der Ungar spuckte auf den Boden.

«Wie auch immer», hub Populescu wieder an, «das mit dem Goldenen Apfel ist eine ausschließlich türkische Geschichte, und sie ist immer nur mündlich tradiert worden. Ich wollte erzählen, dass meine Brünette …»

«Ja, ja, von Mund zu Mund …», höhnte Koloman. «Unser kluger Dragomir hat sich von seiner Brünetten oral belehren lassen!»

«Bist du neidisch, weil dir nichts Besseres eingefallen ist, als die Fratres, diese warmen Brüder, zu fragen?», gab der Rumäne zurück.

«Ach übrigens, sie lassen dich grüßen. Sie bewahren unvergessliche Erinnerungen an dich, haben sie mir gesagt.»

«Reg dich nicht auf, Dragomir … bleib ganz ruhig!», knurrte Populescu, dem der Wortwechsel zwischen Koloman und Opalinski auf die Nerven ging.

Schließlich erzählte Populescu uns, was ihm seine Brünette über die Geschichte des Goldenen Apfels erzählt hatte.

«Wenn in Konstantinopel der neue Sultan gekrönt wird, wird er mit einem Geleitzug in ein Heiligtum vor der Stadt geführt. Es ist das Grab des Bannerträgers Mohammeds II., jenes Heerführers, der Konstantinopel erobert und die Stadt so den Christen entrissen hat. Hier wird dem neuen Herrscher der Heilige Säbel umgegürtet. Dann kehrt er nach Konstantinopel zurück und reitet zur Kaserne der Janitscharen, der erlesenen Leibgarde des Sultans, wo der Kommandant der 61. Kompanie, das ist einer der vier Bogenschützenverbände, ihm einen mit Scherbett gefüllten Pokal reicht. Der neue Sultan trinkt den gesamten Inhalt des Pokals, füllt ihn sodann mit Goldstückchen und gibt ihn zurück mit dem Schrei: Kizil Elmada görüsürüz!, was bedeutet: ‹Beim Goldenen Apfel sehen wir uns wieder!› Das ist eine Aufforderung, den christlichen Westen zu erobern, auf dessen Kirchen der Reichsapfel des Erzengels Michael thront, also die vom Kreuz Christi überragte, vergoldete Kugel, und die wichtigste von allen ist die goldene Kugel des Petersdoms. Darum hat Danilo auch von Rom gesprochen.»

«Aber das wussten wir in groben Zügen schon», wandte ich ein. «Was wir gerne erfahren möchten, ist, wie es zu dem Namen ‹Goldener Apfel› gekommen ist. Andernfalls werden wir nie begreifen, aus welchem Grund die Türken mit Eugen von Savoyen darüber gesprochen haben und warum sie gesagt haben, dass sie soli soli soli, also ganz allein gekommen sind. Und wir werden auch nicht verstehen, was Danilo uns sagen wollte, bevor er starb.»

«Einen Moment», sagte Populescu, «ich bin ja noch nicht am Ende.»

In Wirklichkeit, erklärte er, beginne die Geschichte im Jahr 1529, während der ersten großen Belagerung Wiens durch die Türken. Mir war dieses Datum inzwischen vertraut: In jenem Jahr hatten die Heere Süleymans des Prächtigen ihr Hauptquartier in der Simmeringer Haide aufgeschlagen, wo Maximilian später das Schloss Ohne Namen erbauen ließ.

«Es ist bekannt», sagte Populescu, «dass Süleymans Armee nach der langen Belagerung auf die Erstürmung der Stadt verzichten und in die Heimat zurückkehren musste, weil ein besonders harter Winter ausgebrochen war und die Osmanen in ihren Zelten die Kälte nicht ertrugen.»

Da wies Süleyman auf den Turm des Stephansdoms, den man vom türkischen Lager aus deutlich sehen konnte. Er hätte den Befehl geben können, ihn mit Kanonen zu beschießen, doch stattdessen sagte er zu seinen Männern: «Für dieses Mal müssen wir uns versagen, Wien zu erobern. Aber eines Tages wird es uns gelingen! An dem Tag wird der Turm, den ihr dort seht, ein Minarett für das moslemische Gebet werden, und daneben wird eine Moschee stehen. Darum will ich, dass der Turm auch mein Wahrzeichen trägt!»

Süleyman ließ also eine mächtige Kugel aus massivem Gold anfertigen, so groß, dass sie drei Scheffel Korn enthalten konnte, und er sandte sie den Wienern mit einem Angebot: Wenn sie die Kugel auf die Spitze des Glockenturms von St. Stephan setzten, würde er, Süleyman, darauf verzichten, den Turm mit Kanonen zu zerstören. Der Kaiser willigte ein, und von da an thronte die Kugel auf der Spitze des Turmes.

«Darum wird Wien seither der Goldene Apfel von Deutschland und Ungarn genannt», schloss Populescu.

«Aber ich habe noch mehr herausbekommen», versetzte Opalinski. «Ich habe nämlich einen ungläubigen Stallknecht aus Ofen befragt, dem ungarischen Buda also, und der hat mit Yussuf, dem Grenzdolmetscher aus dem Gefolge des Agas, welcher ebenfalls aus Ofen stammt, gesprochen.»

Ein anerkennendes, aber gleichzeitig banges Gemurmel erhob sich: Einem aus ihrer Gruppe war es gelungen, direkt bei den gefürchteten Osmanen Auskünfte einzuholen.

«Es war nicht einfach», erläuterte Janitzki, «anfangs war er sehr misstrauisch. Er sprach weder Italienisch noch Deutsch. Nur die lingua franca, das osmanische Kauderwelsch, welches venezianische und genuesische Händler in Konstantinopel eingeführt haben, verstand er ein wenig.»

Opalinski hatte sich dem ungläubigen Stallknecht genähert und zum Gruße mehrmals «Allah» gerufen, um keinen Verdacht zu erregen. Dann hatte er mit seinen Fragen begonnen, aber sein Gegenüber hatte sich nicht täuschen lassen und sofort seinerseits gefragt:

«Türke, sagen, wer er ist da? Anabaptista? Zwinglista? Koffita? Hussita? Morista? Fronista? Sein Pagana? Lutherana? Puritana? Bramina? Morina? Zurina?»

«Mohammedana, Mohammedana!», hatte Jan auf die aufgeregten Fragen des anderen geantwortet, ob er womöglich anderen Glaubens sei.

«Ili valla! Ili valla!», hatte der Stallknecht erleichtert ausgerufen. «Wie die Nama?»

«Schordina», hatte Opalinski gelogen.

«Sein gut Türke, der Schordina?», hatte er darauf mit erhobenem Zeigefinger gefragt, um sich der Treue des Polen zum Sultan zu versichern.

«Jok, jok», hatte dieser ihn beruhigt.

«Nicht sein Intriganta? Nicht Maleficanta?»

«Nein, nein, nein!»

Darauf hatte der Ungläubige zu singen begonnen:

Für Schordina, Mahometa,

Früh und späta beta, beta!

Wollen machen Paladina

Aus Schordina, aus Schordina,

Zu beschütza Palästina!

Kriegen Sabul und Turbanta

Und Galeera und Briganta.

Für Schordina, Mahometa,

Früh und späta beta, beta!

Das war der traditionelle Gruß in der lingua franca, mit dem das Vertrauen in den Gesprächspartner erklärt wurde. Von nun an konnte Opalinski den ungläubigen Stallknecht um jeden Gefallen bitten.

«Uff», murrte Populescu ungeduldig, eine Spur Neid in der Stimme, «wir haben verstanden, wie gelehrt du bist, und alle bewundern dein unendliches Wissen. Aber jetzt komm bitte zur Sache!»

Von dem Stallknecht hatte Opalinski erfahren, dass Ferdinand I., der Bruder des Kaisers, kaum dass Süleymans Armeen vor Wien abgezogen waren, ein christliches Kreuz auf der Kugel hatte anbringen lassen. Als Süleyman das erfuhr, geriet er fürchterlich in Harnisch und kündigte einen erneuten Feldzug an. Also wurde unter großen Opfern aus den Kassen des Sultans und seiner (durch die gescheiterte Belagerung fast ruinierten) Geldgeber wieder eine Streitmacht aufgestellt, die im Jahre 1532 in die Steiermark einfiel und sie mit Feuer und Schwert verheerte. Zum Glück gelang es Süleyman auch dieses Mal nicht, in Wien einzumarschieren, im Gegenteil, er kam nicht einmal so weit: Die Festung Gün in der Steiermark und ihr heroischer Kommandant Niklas Jurischitsch leisteten erbitterten Widerstand, obwohl sie genau wussten, dass sie dem sicheren und grausamen Tode entgegengingen. So konnten sie die Hauptstadt um den Preis ihres eigenen Lebens retten. Denn das Kaiserliche Heer, von Karl V. persönlich angeführt, traf rechtzeitig ein, schlug Süleyman in die Flucht und fügte ihm überdies den Verlust von zehntausend Mann zu.

«Das Jahr 1532 stand wirklich unter einem guten Stern», seufzte der Grieche Simonis, entzückt über die Niederlagen der verhassten Osmanen. «Unter Führung des Genuesers Andrea Doria konnten die Kaiserlichen nämlich auch Patras und andere Städte in Zentralgriechenland von den Türken befreien. Ah, welch gloriose Zeiten! Freue dich, Penicek!»

Und Penicek, den Befehlen seines Schoristen wie üblich gehorchend, begann zu lachen.

«So doch nicht!», mäkelte Simonis. «Mehr Zufriedenheit, Genugtuung!»

Also mimte Penicek Zufriedenheit: Er nickte heftig mit dem Kopf und schwenkte die vorgestreckten Fäuste, eine pathetische Szene, die alle zu spöttischem Gelächter reizte.

«Mehr!», befahl der Grieche.

Penicek erhob sich und fuhr stehend mit denselben Gesten fort, bis Opalinski ihm grinsend einen kräftigen Tritt in den Hintern versetzte. Der arme, hüftlahme Pennal, der sich ohnehin schlecht auf den Beinen hielt, stürzte unglücklich zu Boden.

«Er versteht also auch Italienisch», bemerkte ich.

«Ja, aber er gehört nicht zu unserer Gruppe aus Bologna. Er hat in Padua studiert, dieser Esel, und das merkt man auch!», lachte Opalinski.

Den Kaiser aber, fuhr er fort, nachdem Penicek gedemütigt zu seinem Stuhl zurückgekehrt war, dünkte es nun klüger, das Kruzifix von der goldenen Kugel abnehmen zu lassen und einen Friedensvertrag mit dem Sultan zu schließen. Seither blieb die Kugel für die Türken das Symbol Wiens; und ihr Angriffsziel.

«Moment mal, da stimmt etwas nicht», wandte ich ein. «Du, Simonis, hast mir erzählt, dass der Goldene Apfel für die Osmanen nicht nur Wien, sondern ebenso auch Konstantinopel, Buda und Rom symbolisiert. Aber wenn ich mich recht erinnere, wurde Konstantinopel schon vor vielen Jahrhunderten von den Türken erobert.»

«Ja, 1453», antworteten Koloman und Dragomir wie aus einem Munde. Offensichtlich hatten die beiden zwischen ihren galanten Abenteuern noch genügend Zeit, das eine oder andere historische Datum zu lernen.

«Also lange bevor Süleyman 1529 Wien angriff», gab ich zu bedenken. «Warum wird dann auch Konstantinopel als ‹Goldener Apfel› bezeichnet, wenn dieser Name doch erst während der späteren Belagerung Wiens entsteht, als Konstantinopel lang schon erobert war?»

«Ganz einfach: weil es auch in Konstantinopel eine vergoldete Kugel gab», mischte sich Koloman ein. «Wie Ihr wisst, habe ich mich bei den Mönchen umgehört, die immer über alles unterrichtet sind. Im Augustinerkloster habe ich mit einem italienischen Pater gesprochen, welcher die türkischen Kriegsgefangenen, die zum Wahren Glauben konvertieren wollten, katechisiert und getauft hat.»

Nach dem, was dieser Mönch Koloman berichtet hatte, ging alles auf eine uralte byzantinische Legende zurück, als in Konstantinopel noch die antike Statue des Kaisers Konstantin stand. Andere behaupten, die Statue stelle den Kaiser Justinian dar. Wie auch immer, die gänzlich vergoldete Statue stand jedenfalls vor der gewaltigen Kirche der Heiligen Sophia auf einer hohen Säule. In der ausgestreckten linken Hand hielt der Kaiser einen ebenfalls goldenen Apfel, mit dem er drohend gen Osten wies.

«Das war eine Art Warnung für die Völker des Orients. Es sollte bedeuten, dass der Kaiser die Macht in der Hand hatte, symbolisiert durch den Apfel, und dass sie nichts gegen ihn vermöchten. Einige behaupten, auf dem Apfel habe sich das Heilige Kreuz befunden, also war es eher ein Reichsapfel als ein Goldener Apfel.»

Andere türkische Gefangene indes, fuhr Koloman fort, hatten dem Mönch erzählt, dass die Statue vor der Kirche der Heiligen Sophia nicht Justinian oder Konstantin, sondern die Muttergottes darstelle. Sie stand auf einer grünen Säule, und in der Hand hielt sie einen geheimnisvollen Stein aus rotem Granat, so groß wie ein Taubenei. Die Gefangenen sagten, der Glanz dieses Steins habe das ganze Gebäude erstrahlen lassen, und aus allen Ländern seien Reisende gekommen, um diesen Stein zu bewundern, aber auch, weil am Fuß der grünen Säule die Gebeine der Heiligen Drei Könige bestattet waren. Doch in der Nacht, als der Prophet, wie die Türken Mohammed nennen, geboren wurde, stürzte die Statue der Muttergottes um.

«Und der Granatstein?», fragten wir alle.

«Laut Aussage des Paters meinen einige, er befinde sich jetzt in Kizil Elma, das heißt, im Goldenen Apfel. Anderen zufolge ist er gestohlen und nach Spanien gebracht worden. Und wieder andere sagen, er sei in die Fassade der Kirche der Heiligen Sophia eingemauert worden, die nach Jerusalem gewandt ist.»

Wir blickten einander ein wenig ratlos an.

«Das ist alles noch sehr undurchsichtig», erklärte ich. «Und außerdem weiß man immer noch nicht, wer Eyyub und die vierzigtausend Märtyrer sind, von denen der arme Danilo gesprochen hat.»

«Vielleicht ist das irgendein finsterer pontevedrinischer Kram, der nichts mit dem Goldenen Apfel zu tun hat», mutmaßte Opalinski.

«Wir werden noch mehr Informationen sammeln müssen», sagte Populescu. «Vielleicht kann meine Brünette aus dem Kaffeehaus uns helfen. Ihr müsst wissen, dass sie mir die Zukunft vorhergesagt hat!»

«Liest sie aus der Hand?», fragte Koloman.

«Nein, aus dem Kaffeesatz. Ich habe zum ersten Mal gesehen, wie man das macht.»

Die junge Frau hatte Populescu einen schönen heißen Kaffee serviert und ihn gebeten, die Tasse nicht leer zu trinken, sondern einen kleinen Rest am Boden zu lassen. Darauf hatte unser Freund auf ihre Anweisung mit der linken Hand die Tasse dreimal geschüttelt, um die Flüssigkeit zu verrühren, dann hatte er sie auf den Untersatz tropfen lassen und zuletzt die Tasse dem Mädchen gereicht. Nachdem sie die vagen Gebilde, die als Kaffeesatz am Tassenboden geblieben waren, gründlich studiert hatte, war ein klarer, unmissverständlicher Orakelspruch von der jungen Frau ergangen:

«Herausgekommen sind die Trompete, das Rechteck und die Ratte», sagte Populescu sichtlich erregt.

«Und was bedeutet das?», fragte Opalinski.

«Die Trompete kündigt große Veränderungen durch eine neue Liebe an.»

«Das stimmt, man verändert sich durch die Liebe», sagte Koloman spöttisch. «Und du bleibst tatsächlich immer so gleich, dass dir nicht mal mehr die Fingernägel wachsen!»

«Witzbold. Dann das Rechteck: Es kündigt aufregende erotische Abenteuer an. Damit hat sie bestimmt ins Schwarze getroffen.»

«Wieso, hat man dich vergewaltigt?», fragte Simonis.

«Idiot. Ihr hättet sehen sollen, wie die Kleine mich angesehen hat, als sie mir das Rechteck erklärte. Als ob sie mir sagen wollte: ‹Du wirst dich noch wundern, was ich alles mit dir anstelle …»›

«Alles klar, Nostradamus», sagte Koloman mit einem skeptischen Lächeln, «und die Ratte?»

«Nun ja, das ist das weniger günstige Zeichen von den dreien, aber nach eurem blöden Gerede zu urteilen, trifft auch das zu. Es bedeutet nämlich, man solle sich vor seinen Freunden hüten.»

«Aber wenn du doch gar keine hast!», rief Koloman aus, und als die ganze Gruppe in ein wildes Gelächter ausbrach, riss Populescu endgültig der Geduldsfaden.

«Lacht ihr nur, ich hoffe jedenfalls, dass meine kleine Brünette aus dem Kaffeehaus …»

«Hoffen ist zwecklos, mit dir geht sie sowieso nicht», lachte Koloman.

«Mit dir noch weniger: Sie hasst Schweißgeruch unter den Achseln.»

17. Stunde: Die Sonntagsvorführungen in den Theatern enden. Handwerker, Sekretäre, Sprachlehrer, Priester, Handelsdiener, Lakaien und Kutscher speisen zu Abend (während man in Rom gerade die nachmittägliche Zwischenmahlzeit einnimmt).

Nachdem wir uns von Koloman und Opalinski verabschiedet hatten, freilich nicht, ohne ihnen einen ersten Lohn für die geleistete Arbeit auszuzahlen, nahmen Simonis und ich mit Penicek und Dragomir in einer nahe gelegenen Garküche rasch eine Stärkung zu uns (Hühnersuppe, gebratenen Fisch, verschiedene Brötchen, Kochfleisch, Kapaun und Wildhuhn). Danach schickte ich mich an, in die Himmelpforte zurückzukehren.

Doch da überraschte Simonis mich mit einer unerwarteten Neuigkeit:

«Wir müssen uns sputen, Herr Meister, Hristo könnte uns schon erwarten», sagte er und forderte mich auf, wieder in Peniceks Kalesche zu steigen, dem er bereits Order gab, in Richtung des großen Jagdreviers zu fahren, welches Prater genannt wurde.

«Ach ja, Hristo. Hattest du nicht gesagt, er würde später zu uns stoßen?»

«Ich muss für diese kleine Notlüge um Verzeihung bitten, Herr Meister. Wie Ihr seht, ist er gar nicht gekommen. Nicht, dass er nicht hätte kommen können. Aber er wollte nicht vor allen sprechen.»

«Warum denn das nicht?»

«Ich weiß es nicht. Heute Morgen habe ich ihn kurz gesehen, und er hat mir gesagt, es sei ihm lieber so. Es gebe da etwas, was ihn misstrauisch mache.»

«Und das wäre?»

«Das hat er mir nicht verraten. Er hat mir allerdings gesagt, seiner Meinung nach sei die wahre Bedeutung des Satzes des Agas ausschließlich in den Worten soli soli soli enthalten.»

«Und wie kommt er darauf?»

«Er hat gesagt, es habe etwas mit dem Schachmatt zu tun.»

«Mit dem Schachmatt?», fragte ich erstaunt und ein wenig misstrauisch. «In welcher Weise denn das?»

«Ich habe keine Ahnung. Aber an Eurer Stelle würde ich mich auf seinen Spürsinn verlassen. Hristo ist ein Meister des Schachspiels.»

Hristo Hristov Hadji-Tanjov, erklärte Simonis, bestritt seinen Lebensunterhalt, indem er sich zu bezahlten Schachspielen herausfordern ließ, die er sämtlich gewann. Die Wiener Nacht war nämlich das unangefochtene Reich der Glücksspieler. An allen Ecken und Enden der Stadt – in Beisln, Kaffeehäusern, in Lokalen für Reiche und den übelsten Spelunken – forderte man spielend das Schicksal heraus.

Plötzlich machte die Kalesche einen Satz, Penicek war schlagartig abgebogen.

«Was ist los, Pennal?», fragte Simonis.

«Das Übliche: eine Prozession.»

Es waren die Oratorianerpatres des Heiligen Philipp Neri. Darum hatte Penicek jäh die Richtung gewechselt und war in eine Querstraße abgebogen. Wenn wir nämlich von dem Umzug der Gläubigen gesehen worden wären, hätten wir anhalten, niederknien und geduldig warten müssen, bis das Allerheiligste langsam vorübergetragen wurde. Damit hätten wir riskiert, zu spät zu unserer Verabredung mit dem Bulgaren zu kommen.

«Hristo spielt gewöhnlich im Wirtshaus Zum Grünen Baum in der Wallnerstraße», sagte Simonis, «eine schöne Schänke, immer gut besucht.»

Hier traf man nicht nur Handwerker, Kaufmänner und Leute aus dem Volk, erklärte er, sondern auch reputierliche Aristokraten mit klingenden Namen und Kleriker von mustergültigem Ruf, die alle bereit waren, sich von gewerblichen Glücksspielern mit Würfeln oder Karten ausnehmen zu lassen, sei es beim Bassette, beim trente-et-quarante, beim Trick-Track oder eben beim Schach.

«Die meisten von ihnen kommen aus Eurer Heimat, Italien, und sie sind die Besten, einschließlich der Schachspieler. Hristo spricht mir oft von einem Gioacchino Greco, einem Kalabresen, der seiner Meinung nach der größte Spieler aller Zeiten war. Auch sie spielen um Geld, viel Geld», fügte Simonis hinzu.

Wieder wurden wir unterbrochen. Peniceks Gefährt hatte erneut einen jähen Schwenk zur Seite gemacht.

«Und was ist jetzt los?», rief mein Gehilfe streng.

«Noch eine Prozession.»

«Schon wieder? Was geht denn da heute vor?»

«Ich habe keine Ahnung, Herr Schorist», antwortete Penicek mit größter Ehrerbietung, «diesmal ist es die wällische Bruderschaft der unbefleckten Empfängnis Maria. Sie ziehen alle zum Stephansdom.»

Ich blickte hinaus, und bevor unser Wagen sich durch die Seitenstraße entfernte, hatte ich Zeit, die betrübten Gesichter der Teilnehmer und ihren ungewöhnlich inbrünstigen Gesang zu vernehmen.

Jede Nacht, erzählte Simonis unterdessen weiter, wechselten ganze Vermögen den Besitzer und landeten, Tränen, Verzweiflung und Selbstmordgedanken hinter sich lassend, in den Taschen irgendeines italienischen Glücksritters: Gold, Ländereien, Häuser, Juwelen, und von denen, die nichts anderes mehr bieten konnten, sogar Hände und Augen.

«Augen als Einsatz beim Spiel?»

«Das sind Dinge, die einem Menschen, der sein Geld mit ehrlicher Arbeit verdient und nachts zu Hause bleibt, nicht im Traum einfallen würden, Herr Meister. Nun, um gewisse Exzesse einzudämmen, ist immer noch eine alte städtische Ordonnanz aus dem Jahre 1350 in Kraft, welche jenen, die kein Geld mehr haben, aber ein Pfand einsetzen möchten, verbietet, beim Spiel ihre Augen, Hände, Füße oder Nase zu verwetten. Es gibt durchaus Leute, die das getan – und verloren haben. Auch darum musste Kaiser Leopold vor etwa fünfzehn Jahren die öffentliche Verdammung des Glücksspiels erneuem, da es die Menschen in Elend und Verzweiflung stürzt.»

Während Simonis mir noch die Geheimnisse des Wiener Nachtlebens erläuterte, wurde die Fahrt der Kalesche durch eine Menschenansammlung aufgehalten.

«Pennal, was zum Teufel passiert denn jetzt schon wieder?», fragte Simonis.

«Verzeiht, Herr Schorist», sagte dieser mit demütiger Stimme, «dieser Prozession habe ich beim besten Willen nicht ausweichen können.»

«Was ist denn heute nur los?», wunderte ich mich, da so viele Prozessionen innerhalb derart kurzer Zeit nicht einmal in einer so bigotten Stadt wie Wien üblich waren.

«Diesmal ist es die Innung der Messerschmiede. Und auch sie zieht zum Stephansdom», teilte uns Penicek mit.

«Dort scheint eine große Versammlung zum Gebet stattzufinden. Weißt du etwas darüber, Pennal?», fragte der Grieche.

«Leider nein, Herr Schorist.»

Tatsächlich wurde die Straße durch die Ankunft einer Prozession versperrt, die sich mit durchdringendem Glockengeläut ankündigte. An ihrer Spitze gingen zwei Straßenkehrer, die den Schnee zur Seite schaufelten, um dem Venerabile Platz zu machen. Wie es in Wien Brauch war, mussten wir alle aussteigen und eine Minute lang niederknien, das Kreuzzeichen machen und uns an die Brust schlagen, idem sämtliche Passanten in der Umgebung.

«Verflucht, wir werden zu spät kommen», jammerte Simonis, während die Kälte uns in die Knochen drang.

Unterdessen kam die Prozession näher, angeführt vom Priester, der das Allerheiligste hocherhoben vorantrug. In der Menge bemerkte ich viele weinende Menschen. Neben uns hatte eine Gruppe junger Leute einen Gleichaltrigen am Nacken gepackt und ihn zu Boden geworfen, um ihn zum Knien zu zwingen. In der Kaiserstadt waren die Protestanten (der Unglückliche musste einer von ihnen sein) bei solchen Anlässen nämlich nur gehalten, den Hut abzunehmen, doch in Wirklichkeit wurden sie häufig gewaltsam genötigt, sich wie alle anderen hinzuknien. Man erzählte, dass ein solcher Zwischenfall sich einmal sogar mit dem preußischen Botschafter ereignet habe, den der Kaiserhof dann öffentlich um Entschuldigung bitten musste.

Die Verspätung wurde derweil gravierender: Andere Kutschen hatten wegen der Prozession anhalten müssen. Ihre Insassen hatten sich im Wagen niedergekniet. Das Volk auf der Straße warf ihnen feindselige Blicke zu. Wären wir in den Vorstädten gewesen, wo die Sitten immer etwas rauer sind als in der Stadt, hätte man sie wahrscheinlich mit Gewalt gezwungen auszusteigen und sich auf die Knie zu werfen.

Beim Klang des Glöckchens (das wusste ich aus Erfahrung) hatten überdies alle Bewohner der umliegenden Häuser zu arbeiten aufgehört, um sich dem feierlichen Ritual anzuschließen.

Sogar eine Marionettentheatergruppe, die bis eben noch ein skurriles Schauspiel dargeboten hatte, war nun wie durch Zauber versteinert: Beim Vorbeizug des Sanktissimums verwandelten sich die Gaukler in vorbildliche Gläubige.

Kaum war das Ende des frommen Umzugs um die Straßenecke gebogen, kehrte alles und jeder zu seiner Beschäftigung zurück, als wäre nichts geschehen.

«Ich verstehe ja, dass man beim Karten- oder Würfelspiel alles riskiert und verliert. Diese Spiele sind ja dafür bekannt, dass sie zum Ruin führen», sagte ich zu Simonis, als die Kalesche sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. «Aber Schach? Wer lässt sich denn freiwillig von einem Schachspieler rupfen?»

«Gewiss könnte Hristo Euch mehr darüber sagen. Doch jedermann weiß, dass Schach die erhabenste und edelste aller Zerstreuungen ist. Viele behaupten, das Schachspiel sei aufgrund seiner Subtilität das einzige Spiel, das sich für Fürsten und Könige eignet. Ihr habt vielleicht gehört, dass es im Wiener Adel Mode ist, Unterricht in der Schachspielkunst zu nehmen, so wie man es einst in der Musik, der Philosophie oder Medizin tat.»

Tatsächlich hatte ich während meiner Inspektion der Rauchabzüge in den Häusern der Reichen gesehen, dass dort im Salon fast immer ein Schachspiel aus feinintarsiertem Holz oder aus schönen farbigen Steinen zu finden war.

«Die besten Schachfiguren werden heutzutage in Lyon, Paris oder München hergestellt», fügte mein Gehilfe hinzu. «Und vor dem Krieg wurden die schönsten von ihnen auch nach Wien importiert. Jedenfalls wird Schach immer mehr zu einem Spiel der Reichen. Hristo unterrichtet es sogar, vorausgesetzt, die Schüler bezahlen gut. Auch wenn er um Geld spielt, ist der Gegner meist ein wohlhabender junger Herr. Darum verdient Hristo im Grunde ganz ordentlich.»

«Aber Leute wie Hristo, also gewerbsmäßige Spieler, müssen doch auch manchmal verlieren.»

«Wir Studenten werden durch eine besondere Gesetzgebung geschützt. In einem alten Privilegium des Herzogs Albrecht aus dem Jahr 1267 ist festgelegt, dass ein Student beim Spiel nur das Geld verlieren kann, das er bei sich trägt, keinen Pfennig mehr, und er darf weder seine Bücher hergeben noch seine Kleider. Außerdem ist der Gewinn beim Spiel nur gültig, wenn ein Pfandner zugegen ist, der die Einnahmen der Spieler verwaltet. Und da Hristo ohne Pfandner spielt, führt er in den seltenen Fällen, in denen er verliert, diesen Vorwand ins Feld, von dem seine Herausforderer nichts wissen. Und zahlt nicht. Wenn der Verlierer freilich kein Kavalier ist und argwöhnt, er sei betrogen worden, könnte es passieren, dass er sich rächt.»

Wir hatten inzwischen die Leopoldinsel am anderen Ufer eines der Donauarme erreicht, jenes Viertel also, in dem vom morgigen Tag an die Gesandtschaft des Agas logieren würde. Nachdem wir über eine lange Allee gefahren waren, überquerten wir auf einer Brücke einen Kanal, welcher die Leopoldinsel von dem ausgedehnten Jagdgebiet Prater trennt.

Hristo musste uns wahrhaftig etwas sehr Geheimes und Dringendes zu sagen haben, dachte ich, wenn er uns bei diesem Frost hierher bestellte.

Wir fuhren über die Brücke, vorbei an der Villa der adeligen Familie Häckelberg zur Rechten und dem Besitz derer von Löwenthurm zur Linken, und näherten uns der weiten Fläche des Praters.

Gleich hinter der Brücke hielten wir an, wir waren allein. Simonis und ich stiegen von der Kalesche. Penicek blieb auf dem Kutschbock sitzen und nickte, als mein Gehilfe ihm befahl, sich bis zu unserer Rückkehr nicht von der Stelle zu rühren.

Das winterliche Wetter hatte die Straßen geleert, vor allem aber diesen, nächst den kalten Wäldern und feuchten Wiesen gelegenen Teil der Stadt.

«Das Tor ist verriegelt», bemerkte ich, auf den großen Eingang weisend.

«Natürlich, Herr Meister, dies ist ein kaiserliches Jagdrevier. Folgt mir, bitte», sagte er und begann, rechts vom Eingang am Zaun entlangzugehen.

«Mit Cloridia bin ich aber einmal durch genau dieses Tor gegangen, und wir haben hier fast einen ganzen Tag verbracht», wandte ich ein, während wir voranschritten.

«Bei Paaren von respektablem Äußeren drücken die Forstmeister schon mal ein Auge zu. Doch im Allgemeinen ist der Eintritt dem gemeinen Volk verboten. Nur Ihre Kaiserliche Majestät, Damen und Kavaliere, Kaiserliche Räte, Kanzlisten und Hofkammerbeamte dürfen das Gelände betreten. Es war übrigens just Maximilian II., der aus dem Prater das große Jagdrevier gemacht hat, das es jetzt ist. Er ließ einfach Grundstücke, die früher getrennt waren, zusammenlegen. Vorher gehörten einige Teile zum Beispiel dem Himmelpfortkloster. Die Nonnen haben einmal halb Wien besessen.»

«Stimmt, sie eignen ja auch noch diesen Weinberg in Simmering, unweit des Ortes Ohne Namen.»

«Hier im Prater», berichtete mein Gehilfe weiter, «ließ Maximilian auch die große Allee anlegen, die Ihr bei Eurem Besuch gewiss gesehen habt.»

Wieder einmal wandelten wir also auf den Spuren Maximilians II., des Herren über den Ort Ohne Namen, dachte ich. Wer weiß, ob das ein Wink des Schicksals war.

Endlich blieb Simonis stehen und zeigte mir eine Stelle in der Palisade, wo man durch eine breite, hinter einem Busch verborgene Öffnung ins Innere schlüpfen konnte.

«Die Kinder von der Leopoldinsel nutzen diese Öffnungen, wenn sie im Prater spielen und Schlitten fahren möchten. Wenn es diskret zugehen muss, halten meine Freunde und ich es ebenso», erläuterte Simonis.

Kaum waren wir durch den Spalt gekrochen, empfing uns eine idyllische, unwirkliche Landschaft. Das ganze Revier lag unter einer dichten Schneedecke. Die Gipfel der Bäume bohrten sich in die milchige, unermessliche Weite des Himmelsgewölbes, jedes Ding schien mit dem Schnee zu verschmelzen, und was im Sommer grüne Erde und blauer Himmel waren, vereinigte sich jetzt im reinsten Weiß einer leuchtenden Umarmung. In dieser Märchenwelt verbargen sich Fasane, Rehe und Hirsche, die Beute der Jagdleidenschaft des Kaisers.

«Seltsam», sagte Simonis, während er sich umblickte, «Hristo müsste schon längst hier sein. Diese verflixte Prozession, ich weiß nicht mehr, ob wir zu spät dran sind oder er.»

«Hier sind Spuren», bemerkte ich nach einigen Minuten vergeblichen Wartens.

Tatsächlich ließen sich in dem Mosaik aus Stapfen und Streifen, das hinter jenem verbotenen Eingang am Boden zu sehen war, die frischen Fußabdrücke eines Menschen deutlich erkennen. Während wir sie untersuchten, begann der Schnee dichter zu fallen.

«Was meinst du, Simonis, könnten das seine Spuren sein?»

«Der Fußgröße nach zu urteilen, durchaus, Herr Meister.»

So begannen wir, der Spur zu folgen, obwohl unter den unaufhörlich fallenden Flocken die Sicht immer schwieriger wurde.

Uns blieb nicht viel Zeit, bald würden die Spuren ganz zugedeckt sein. Die Abdrücke führten nach rechts auf eine lange, von einer doppelten Baumreihe gesäumte Allee, die sich, wie ich wusste, durch den ganzen Prater bis zur Donau hinzog. Gleich am Anfang der Allee gab es jedoch eine Abzweigung nach links.

«Er ist weder rechts noch links abgebogen», erklärte Simonis, die Spuren betrachtend, «sondern zwischen den beiden Wegen auf den Wald zugegangen. Seht Ihr auch, dass der Abstand zwischen den Schritten größer wird?»

«Dann hat er zu laufen begonnen.»

«So scheint es, Herr Meister.»

Kein Ort kann unter einer Schneedecke schöner wirken als der Prater. Bäume, Hügel, Büsche, bewaldete Ebenen, moosbewachsene Felsen – der Prater war eine einzige makellos weiße Fläche. In der Ferne, wo unser Blick nicht hinreichte, strömten die kleineren Arme der Donauschleife in schäumenden Windungen dahin.

Schon in alter Zeit ward die Donau gepriesen als Königin der Flüsse Europas und einer der wichtigsten Ströme der Welt. Nicht zufällig vergleicht Ovid sie mit dem Nil in Ägypten, und bemerkenswert ist, dass sie, wie der kleinere Po in Italien und die Themse in England, im Gegensatz zur Natur aller Wasserläufe der Erde gen Osten fließt: Nur in Ungarn wendet sie sich kurz nach Westen, und in Mösien biegt sie ein wenig nach Norden ab, wodurch sie, wie oftmals bemerkt wurde – Gott sei Dank! –, den Marsch der osmanischen Völker nach Westen erschwert. Stets war die Donau auch eine überaus wichtige Lebensader für die Kaiserliche Urbe. Es gab zahlreiche Anlegestellen für den Handel mit Wein und Nahrungsmitteln, nebst einer großen Anzahl kleinerer Häfen für die Beförderung von Personen und die Fischerei. Auch in dem Kanal, der den Prater von einem Inselchen trennte, das Die Schütt geheißen wurde, gab es einen solchen Anlegesteg. Dort hatten Cloridia und ich während des sonntäglichen Spaziergangs, den wir vor einigen Monaten im Prater unternommen, mit einigen Bootsverleihern ein etwas mühsames Gespräch auf Deutsch geführt.

Schnee und Wind wurden immer stärker. Jupiter pluvis und sämtliche Winde des Erdkreises schienen ihre je eigenen Wetterlaunen im Gefecht miteinander verschärft zu haben, um im April noch einmal den Januar zurückzuholen. Der Wind blies uns direkt in die Augen, schon mussten wir sie mit den Händen abschirmen, um ohne zu stolpern vorangehen zu können.

«Siehst du etwas?», fragte ich Simonis, schreiend fast unter dem Heulen des Windes.

«Da vorne, auf der Erde!»

Eine Tasche. Ein alter Quersack aus Stoff, halb unter dem Schnee begraben. Darin steckte ein quadratischer Gegenstand, so groß wie ein Teller. Wir wischten die Flocken beiseite, öffneten den Sack und erblickten, in ein rotes Tuch gehüllt, ein großes Schachbrett aus massivem Holz, dessen Boden mit einer Platte aus verziertem Eisen verstärkt war, und ein Säckchen voll kleiner, fingergroßer Gegenstände.

«Herr Meister, das ist Hristos Schachbrett.»

«Bist du sicher?»

Er öffnete das Säckchen, zog einen schwarzen Bauern heraus und dann ein Pferd, dessen weiße Farbe schon halb abgeblättert war: Wie in einem verkleinerten Kosmos schienen die Figuren das Weiß des Schnees und das Schwarz der trockenen Büsche abzubilden, welche den ganzen Prater mit einer zweifarbigen Spitzenstickerei schmückten.

«Das sind seine Schachfiguren. Wenn er um Geld spielt, benutzt er immer diese», sagte Simonis, während ich den traurigen, einsamen Sack und seinen Inhalt an mich nahm.

«Gehen wir weiter», drängte ich, in Wahrheit jedoch schon besorgt hinter mich schauend.

Das letzte Stück Weges, mitten durch ein Wäldchen weißgepuderter Bäume hindurch, führte fast nur noch bergauf. Keuchend unter der Anstrengung und steif vor Kälte, marschierten wir weiter, bis wir feststellen mussten, dass Hristos Spuren (wenn es wirklich seine waren) mittlerweile fast ganz unter dem fallenden Schnee verschwanden. Die letzten Fußabdrücke verloren sich vor einer kleinen Anhöhe, die nun vor uns aufragte, um den ansteigenden Weg, mit dem wir bis jetzt gerungen hatten, noch unerfreulicher zu machen. Hinter dieser Erhebung musste endlich die Donau zu sehen sein.

«Lass uns umkehren», schlug ich vor, «ich möchte nicht, dass …»

Ein Geräusch, weit weg, doch deutlich vernehmbar, verschloss mir die Lippen.

Simonis und ich sahen uns an: Es waren knirschende Schritte im Schnee. Plötzlich erstarb das Geräusch. Der dichte Schneefall beschränkte die Sicht auf wenige Meter.

Ohne ein Wort zu sagen, bedeutete Simonis mir, ihm auf den Gipfel des Hügels zu folgen. Mit gesenktem Kopf und gekrümmtem Rücken, als müssten wir uns auf einem Feld zwischen Maispflanzen verstecken, erklommen wir, so schnell wir konnten, den Hügel. Oben angekommen, öffnete sich dank einer günstigen Windböe der Blick auf die tausend Inseln der Donauschleife, und ich entsann mich eines Buches, das ich vor unserer Abfahrt nach Wien in Rom gelesen hatte. Es hatte mich belehrt, dass der glorreiche Fluss im deutschen Donaueschingen entspringt, wo seine Wasser kristallklar und still aus den geheimnisvollen Tiefen des Schwarzwaldes, von den Antiken Sylva Martiana genannt, hervortreten und sich dann mit einer Quelle auf einem Friedhof vereinigen, die zu den Ländereien der gräflichen Herren von Fürstenberg gehört. Und während mein Blick auf diesem berühmten Gewässer ruhte, das gut vierhundert Meilen in Deutschland zurückgelegt hatte, um bis zu uns zu gelangen, vergaß ich fast, was wir hier oben machten, und kaum hörte ich die Stimme von Simonis, der rief:

«Herr Meister, Herr Meister, kommt her, schnell!»

Hristos Körper lag bäuchlings unter einem Baum. Wir mussten beide mit aller Kraft ziehen, um seinen Kopf zu befreien, der mit unerhörter Brutalität bis auf den Grund eines in den frischen Schnee gegrabenen Lochs gepresst worden war. Knapp unterhalb des Nackens entdeckten wir eine tiefe Wunde von einem Messerstich, die seinen Rücken mit Blut getränkt hatte. Wahrscheinlich hatte das nicht gereicht, darum hatten sie seinen Kopf in das Loch gedrückt, bis Herz und Lungen versagten.

Als wir ihn umdrehten, sahen wir, dass sein ganzes Gesicht mit blauen und weißen Flecken bedeckt war. Er schien noch nicht lange, ja, erst seit sehr kurzer Zeit tot zu sein.

«Verflucht! Armer Hristo, unglückseliger Freund, was haben sie dir getan?», schrie Simonis, Entsetzen, Zorn und Schmerz zu gleichen Teilen in der Stimme.

Hristo Hadji-Tanjov, der schachspielende Student, hatte sein junges Leben auf den schneebedeckten Gefilden des Praters ausgehaucht. Seine Heimat Bulgarien würde er nie Wiedersehen.

Ich erhob mich. In der Nähe bot sich mir ein gänzlich anderes Bild: drei kleine Schlitten, an einen Baum gebunden, dort vermutlich von einer Gruppe Spielkameraden zurückgelassen. Simonis betete leise, und während auch ich mich bekreuzigte, fragte ich mich, ob Gott uns diese drei Schlitten, das unschuldige Zeugnis kindlicher Freude, zeigte, um uns in unserem irdischen Jammer zu trösten.

«Was tun wir jetzt?», fragte Simonis schließlich.

Hristo war mindestens doppelt so groß wie ich und anderthalb mal breiter. Ihn wegzutragen, war schlechterdings unmöglich.

«Wir sollten ihn irgendwie begraben», überlegte ich, «oder … Moment mal.»

Ich hatte etwas bemerkt. Während sie ihn erstickten, hatte Hristo eine Hand in den Schnee gebohrt, der Arm lag ausgestreckt da, und die Hand war tatsächlich fast gefroren. Die andere lag dagegen dicht am Bauch. Wahrscheinlich hatte er keine Zeit mehr gehabt, sich zu entwinden, während sie ihn zu Boden drückten. In der ausgestreckten Hand hatte ich etwas gesehen. Ich trat näher, öffnete, bebend vor Erschütterung, gewaltsam die Finger und zog den Gegenstand hervor. Simonis stand schon neben mir.

«Ein König aus dem Schachspiel. Der weiße», bemerkte er.

«Während der Flucht vor seinen Verfolgern hat Hristo also das Schachbrett zurückgelassen, das wir eben entdeckt haben, mitsamt den Figuren. Nur diesen weißen König hat er in der Hand behalten. Aber aus welchem Grund?»

«Ich weiß es nicht», antwortete Simonis. «Doch halt, jetzt, wo ich drüber nachdenke, fällt mir etwas ein: Wenn er eine wichtige Partie spielte und unschlüssig über einen Zug war, hielt er fast immer eine der Figuren, die er dem Gegner abgenommen hatte, in der Hand. Ich habe seine Kumpane oft gegeneinander spielen sehen. Es gibt Schachspieler, die sich am Kopf kratzen, andere zappeln mit den Füßen unter dem Tisch, wieder andere bohren in der Nase. Er reagierte sich an den ausgeschiedenen Figuren ab. Einmal habe ich beobachtet, wie er bei einer Partie fast eine Stunde lang mit dem Pferd herumspielte, er ließ es wie besessen unaufhörlich von einer Hand in die andere wandern.»

«Also hatte er heute, bevor er verfolgt wurde, den weißen König wahrscheinlich schon in der Hand», schlussfolgerte ich. «Während der Flucht hat er sicher keine Zeit damit verloren, ihn wieder in das Säckchen zu stecken. Doch warum hatte er den König in der Hand? Er hatte ja gar nicht Schach gespielt.»

In diesem Augenblick hörten wir es wieder: dasselbe knirschende Geräusch wie zuvor. Dann vernahmen wir einen Schuss: Eine Kugel zischte dicht an uns vorbei und verlor sich im Schnee. Zwei Schatten sprangen zwischen den Bäumen hervor. Ohne uns noch anzusehen, ergriffen wir beide die Flucht. Simonis stürzte schon in Richtung Donau davon, als mir etwas einfiel:

«Hierher!», schrie ich ihm zu und lenkte ihn zu den Schlitten.

Wenige Sekunden später sausten wir den Abhang des Hügels hinab, die Schritte der Verfolger hinter uns. Mein Schlitten war kaum größer als ein Spielzeug, doch gerade weil er dem Schnee nur eine geringe Reibungsfläche bot, schoss er talwärts wie ein Projektil. Vor mir sah ich Simonis, der dank seines größeren Körpergewichts noch schneller in die Tiefe raste. Plötzlich hatte ich einen Baumstamm vor mir, doppelt so breit wie mein Schlitten. Ich wich nach rechts aus und bremste leicht mit den Füßen ab, um nicht in den Schnee zu stürzen, doch schon fuhr ich auf einen Busch zu, dem ich wie durch ein Wunder ausweichen konnte, indem ich mein Gewicht auf die linke Seite verlagerte.

Erst als ich wieder an Geschwindigkeit gewonnen hatte, blickte ich hinter mich. Vorsichtig die Baumstämme meidend, waren die beiden Unbekannten uns immer noch auf den Fersen, obwohl sie auf dem schneebedeckten, steinigen Abhang nur mühsam vorankamen.

Als mein Schlitten auf einen großen Stein auffuhr, der aus dem Erdreich ragte, und ich ihn fluchend wieder auf die Piste setzte, sah ich mit einem schnellen Blick nach hinten, dass mein Vorsprung vor den Verfolgern sich verringert hatte.

Bald schon steckte mein Schlitten erneut fest, diesmal auf einer Stelle am Boden, wo die Schneedecke zu dünn war. Ich stieg ab und begann zu laufen. Simonis hatte ich aus den Augen verloren, denn er war viel weiter ins Tal hinabgefahren. Hinter mir hörte ich die Stimmen unserer Verfolger, und als ich mich umwandte, sah ich, dass auch sie sich trennten, einer blieb hinter mir, der andere machte sich auf die Suche nach Simonis.

Den Himmel anflehend, dass die beiden kein Italienisch verstanden und dass der Grieche mich hören könnte, schrie ich aus Leibeskräften: «Simonis, lauf nach rechts, zum Kanal!» Auch ich hätte nach rechts abbiegen und mein Schicksal mit Simonis teilen können. Stattdessen beschloss ich, weiter geradeaus zu laufen: Vor mir lag noch ein gutes Stück des steilen Abhangs, und ich hatte gesehen, dass ich bei dem Wettlauf mit meinem Angreifer auf dem abschüssigen Gelände im Vorteil war. Tatsächlich hörte ich seine Schritte nicht mehr im Rücken. Da erschütterte jäh ein Knall die Stille des Praters. Er hatte wieder geschossen. Die Rinde eines Baumes zu meiner Rechten spritzte mit tausend Splittern durch die Luft. Mein Feind, sicher gleichfalls erschöpft von der Verfolgungsjagd, hatte offenbar beschlossen, mir nicht mehr mit der blanken Waffe entgegenzutreten, sondern mich sofort aus dem Weg zu räumen. Ich begann im Zickzack zu laufen und versuchte, möglichst viele Bäume zwischen mir und meinen Verfolgern zu lassen. Wie lange würden meine Füße mich noch tragen? Meine Zehen waren taub, ich spürte gar nichts mehr, ich hätte nicht einmal schwören können, dass ich Schuhe an den Füßen trug.

Wieder ein Schuss über meinem Kopf, ein Zweig brach splitternd. Der Kerl lud seine Pistole verflucht schnell nach. Jedes Mal, wenn er die Waffe wieder schussbereit machte, verlor er an Boden, aber ach, leider nicht genug.

Unterdessen hatte ich den Pfad erreicht, der zur Leopoldinsel zurückführte. Die Bäume wurden spärlicher, jetzt war ich ungeschützt im offenen Gelände. Weder ich noch mein Angreifer rannten noch: Zu Tode erschöpft von der Anstrengung, schleppten wir uns mit weichen Knien voran. In diesem Augenblick explodierte der vierte, entscheidende Schuss. Gerade als ich den Weg einschlug, der mich aus dem Prater herausgeführt hätte, spürte ich den Aufprall auf meinem Rücken. Danach fiel ich mit dem Gesicht voran in den Schnee.

Bald war der andere über mir. Ich versuchte, mich zu erheben, doch sein ganzes Körpergewicht drückte mich zu Boden. Mit dem Knie blockierte er meine rechte Hand, die linke hielt er mit seiner Hand fest. Mit der anderen zog er ein Messer aus seiner Tasche. Ich wand mich wie ein Aal, und hätte ich ihm noch ein paar Nierenstöße mit dem Knie versetzen können, wäre es mir auch gelungen, mich zu befreien. Allein, seine Bewegungen waren zu schnell, und ein Stich mit seiner gutgeschärften Klinge würde genügen, mir den Garaus zu machen. Wer weiß, fragte ich mich mit der wunderlichen Blitzesschnelle, welche die Gedanken in den entscheidenden Augenblicken des Lebens haben, ob Simonis in diesem Moment in einem anderen Teil des Praters dasselbe Ende nahm. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich der rote Blutfleck, der aus meiner Wunde auf dem Rücken rann, auf dem Schnee ausbreitete.

Ein Taschentuch verbarg sein Gesicht, nur zwei schwarze, tiefliegende Augen fixierten mich, der Rest, von der Nase abwärts, war sorgfältig versteckt. Seine Augen bohrten sich in meine, während das Messer durch die Luft fuhr und ich mich auf den Tod vorbereitete.

Da ertönte, wie aus einem Traum, die Stimme:

«Halt!»

Wenige Schritte von uns entfernt stand Penicek.

Mein Henker zögerte einen Augenblick, dann ließ er von seiner Beute ab und stürzte in die Richtung davon, aus der wir gekommen waren.

Wir versuchten nicht einmal, ihm zu folgen, unbewaffnet, wie wir waren. Er hatte beschlossen, einen ungleichen Kampf zu vermeiden, obwohl er ja immer noch die Pistole bei sich trug. Wenn er Zeit und Gelegenheit fände, sie wieder zu laden, vor allem aber, wenn er entdeckte, dass auch Penicek unbewaffnet war, würde die Sache brenzlig für uns aussehen.

«Alles in Ordnung?», fragte Penicek mit bestürzter Miene und kam hinkend auf mich zu.

«Der Rücken, die Verletzung am Rücken», antwortete ich mechanisch, indem ich aufstand.

Er betrachtete mich und betastete eifrig meine Rückseite.

«Welche Verletzung?»

«Ein Pistolenschuss. Er hat mich getroffen!»

Dann blickte ich zu Boden. Der scharlachrote Fleck auf dem Schnee, den ich für mein Blut gehalten hatte, war nichts anderes als jenes rote Tuch, welches das Schachbrett von Hristo Hadji-Tanjov umhüllt hatte.

Das kostbare Arbeitswerkzeug des armen Bulgaren war während meines Zweikampfes aus dem Sack gerutscht und zu Boden gefallen. Ich berührte meinen Rücken: Er war unversehrt. Dann begriff ich. Ich nahm mir den Sack vom Rücken. Er war tatsächlich von einer Kugel durchbohrt worden. Ich bückte mich zur Erde und ergriff das rote Tuch mit seinem Inhalt. Der Stoff war ebenfalls durchlöchert. Ich zog das Schachbrett heraus. Der metallene Boden hatte nur Beulen. Die Kugel war von der verzierten Eisenplatte abgefangen worden. Hristo Hadji-Tanjovs Schachbrett hatte mir das Leben gerettet.

«Wo ist der Herr Schorist?», fragte Penicek besorgt.

«Er ist in Richtung Donau geflohen», antwortete ich und bat ihn, mich zu begleiten. «Wir müssen ihm schnell zu Hilfe eilen. Ein anderer Mann verfolgt ihn. Wie hast du uns gefunden?»

«Ich habe den Pistolenschuss gehört und begriffen, dass Ihr in Gefahr wart. Dann bin ich Euren Spuren im Schnee gefolgt», sagte er, während wir uns in Marsch setzten. «Aber wo steckt Hristo?»

Als ich ihm alles erzählt hatte, wurde Penicek bleich vor Entsetzen. Wir gingen zu der Stelle, wo ich mich von Simonis getrennt hatte.

Von meinem Gehilfen fanden wir keine Spur. Wir setzten die Suche noch eine gute Weile in höchster Sorge fort, weil wir keine Fußspuren sahen und überdies befürchten mussten, Hristos Mörder könnten sich wieder an unsere Fersen heften. Ich war mittlerweile fast völlig erstarrt und betete darum, dass meine Zehen nicht schon erfroren waren.

Endlich erreichten wir die kleine Anlegestelle am Kanal zwischen dem Prater und der Insel Die Schütt. Einige kleine Boote für die Beförderung von Personen und Tieren lagen auf dem Ufersand, wenige Schritte von den Wassern der Donau entfernt. Von Simonis keine Spur. Gerade wollten wir umkehren, als wir den Ruf hörten:

«Herr Meister!»

«Simonis!» Ich lief ihm entgegen.

Er hatte sich unter einem der kopfüber lagernden Boote versteckt, das ihn beschützt hatte wie der Panzer einer Schildkröte.

«Dieser Elende hat mich bis vor wenigen Augenblicken noch gejagt», erzählte er, keuchend vor Angst und Erschöpfung. «Ich war schon sicher, er würde mich gleich entdecken, aber dann muss er Euch gesehen haben. Er ist in diese Richtung gegangen», sagte er und wies ungefähr auf die Stelle, wo auch mein Verfolger sich verflüchtigt hatte.

«Sie werden sich wieder zusammengetan haben, um den Prater gemeinsam zu verlassen», schloss der Pennal. «Natürlich vermeiden sie, durch jenen Spalt zu schlüpfen, den wir benutzt haben.»

Ich berichtete Simonis, wie Penicek mir das Leben gerettet hatte.

«Seid Ihr verletzt, Herr Meister?», fragte mein Gehilfe.

Darauf erklärte ich ihm ausführlich, was geschehen war, und zeigte ihm das Schachbrett des armen Hristo und die von der Kugel verbeulte Eisenplatte.

«Jetzt lasst uns zurückgehen, bevor die beiden sich anders besinnen und wieder auftauchen», drängte ich.

Noch einmal wanderten unsere Schatten über die eiskalten Wiesen des Praters und hinterließen nur drei Paar Spuren. Die Schuhe des armen Hristo, die mit den unseren durch die weiche Schneedecke hätten pflügen sollen, zerhackte bereits grausam der Schnabel eines Raben.

20. Stunde, wenn die Beisln und Bierhäusl ihre Pforten schließen

«Wie bedeutend Landau ist, kann man nur verstehen, wenn man sich eine Landkarte ansieht», sagte Atto, indem er mit seinen alten, knochigen Händen die Silhouette Europas in die Luft zeichnete.

Zurück in der Himmelpfortgasse, hatte ich das brennende Bedürfnis verspürt, mit Abbé Melani zu sprechen, ihm von den Ereignissen zu erzählen, Trost und Rat zu erhalten, sonderlich aber ihm in die Augen zu blicken, um seine Reaktion auf meinen Bericht zu erforschen. Ich wollte verstehen, ob Atto etwas mit Hristos Tod zu tun hatte oder ob der Schachspieler und sein Kamerad Danilo für ihre anrüchigen Gewerbe hatten büßen müssen.

Also hatte ich, das Gesicht mit schlammigem Schnee besprenkelt, die Glieder halb erfroren und in Gedanken noch immer bei dem jungen Bulgaren, an dessen Tod womöglich einzig ich die Schuld trug, an Attos Tür geklopft.

Der Neffe hatte mir geöffnet. Sein Gesicht war verquollen, die Stimme heiser, und eine Reihe kräftiger Niesanfälle schüttelte ihn. Eine gehörige Erkältung hatte ihn übel zugerichtet.

Verwundert konstatierte er mein verheerendes Äußeres, zumal zu so später Stunde. Melani lag schon im Bett.

«Verzeiht bitte, Signor Atto», hub ich an, «ich wusste ja nicht, dass …»

«Keine Sorge. Ich habe mich nur aus Langeweile hingelegt. Was bleibt einem blinden, alten Mann, der in einem Kloster untergekommen ist, schon anderes übrig, als mit den Hühnern schlafen zu gehen?»

«Wenn Ihr ruhen wollt, gehe ich …»

«Im Gegenteil. Ich habe schon nach dir suchen lassen. Diese verflixte Gräfin Pálffy: Den ganzen Nachmittag lang habe ich ihre Haustür beschatten lassen, doch vergeblich. Sie mag ja die Geliebte des Kaisers sein, aber sie führt das Leben einer Nonne. Nicht zu vergleichen mit der Montespan … Wirklich tugendhaft, diese Österreicher, sogar die Ehebrecher! Tugendhaft und ennuyant.»

«Signor Atto, ich habe eine schlimme Nachricht. Hristo Hadji-Tanjov, ein anderer Freund von Simonis, ist tot. Man hat mit einem Messer auf ihn eingestochen und ihn dann im Schnee erstickt.»

Ich erzählte ihm von den schrecklichen Geschehnissen im Prater und wie ich selbst mit knapper Not dem Tode entronnen war. Er hörte mir schweigend zu. Fassungslos bekreuzigte Domenico sich während meiner Schilderung und murmelte, wo um Himmels willen man hier denn hingeraten sei, nach Wien oder in die Hölle.

Am Schluss fragte Atto: «Wie hieß dieser Hristo mit Nachnamen?»

«Hadji-Tanjov.»

«Ha … wie?»

«Es wird Hadschitaniof ausgesprochen, er war Bulgare.»

Melani hob arrogant die Augenbrauen, als wollte er sagen: «Das habe ich mir gedacht.»

«Ein halber Türke also», bemerkte er dann verächtlich.

«Wie das?», wunderte ich mich.

«Ich sehe, dass du in Geographie ebenso wenig bewandert bist wie in Geschichte. Bulgarien befindet sich seit vierhundert Jahren unter dem osmanischen Joch, es gehört zu Rumelien, wie die Türken den europäischen Teil ihres Reiches nennen.»

Ich verstummte vor Staunen. Hristo war demnach ein Untertan der Hohen Pforte.

«Und wie verdiente er sich sein Brot? Hatte er zufällig ebenfalls eine Vorliebe für gefährliche Dienste?»

Die in tendenziösem Ton gestellte Frage verwirrte mich vollends.

«Er war Schachspieler. Er spielte Partien um Geld.»

Atto Melani schwieg.

«Ich weiß, das gewerbliche Spiel ist nicht ohne Risiken», räumte ich ein, «aber jetzt wurde schon wieder ein Studienfreund meines Gehilfen umgebracht, und auch er – welch ein Zufall – gerade in dem Moment, als er sich mit mir treffen wollte. Außerdem haben seine Mörder auch auf mich geschossen. Warum hätten sie das tun sollen, wenn Hristos Tod nichts mit dem Türkischen Aga zu tun hätte?»

«Ganz einfach. Weil sie fürchteten, dass du sie gesehen hast. Vielleicht gehören sie zu Hristos Schachspielerkreisen und wollen unerkannt bleiben. Warum stellst du mir eigentlich so dumme Fragen?»

«Meine Fragen mögen ja dumm sein, Ihr jedoch scheint nicht sonderlich erschüttert über die Todesgefahr, der ich noch vor kurzem ausgesetzt war.»

«Hör mal, was den Tod des Mannes aus Pontevedro betrifft, so besteht, glaube ich, kein Zweifel, dass es eine Abrechnung war. Und auch Hadji-Tanjov ist gestorben, weil er einen falschen Schritt gemacht hat oder, besser gesagt, einen falschen Zug. Sieh du zu, dass du nicht auch falsche Züge machst. Um dich würde ich aufrichtig trauern, doch wer an seinem Unglück selbst schuld ist, möge sich selbst beweinen.»

«Habt Ihr mir wirklich nicht mehr zu sagen?»

«Ich nicht. Wenn du aber unbedingt einen Schuldigen finden willst, dann schau in den Spiegel: Alle, die eine Verabredung mit dir haben, müssen sterben», resümierte er mit einem maliziösen Lächeln.

Ich drang nicht weiter in ihn. Die Neuigkeit, dass Hristo Osmane gewesen war, hatte mir die Brust mit Zweifeln erfüllt. Zudem weigerte dieser bösartige Abbé sich weiterhin, den Tod der jungen Studenten ernst zu nehmen, und mein Beharren hatte einzig die Wirkung, dass er sich noch mehr verschloss. Wenn ich aus dem launenhaften alten Kastraten etwas herausbekommen wollte, würde es mir auf diese Weise gewiss nicht gelingen. Aber jetzt war ich zu müde, um darüber nachzudenken.

Während Atto sich von Domenico aus den Laken helfen ließ und sich auf den Bettrand setzte, zog ich ein Tuch aus der Tasche, um mir das Gesicht notdürftig zu reinigen. Dabei fiel das Silberstück zu Boden, das Cloridia im Palais des Prinzen Eugen entwendet hatte.

«Was ist das?», fragte Atto sofort mit gerunzelten Brauen und schaute in meine Richtung.

Verwundert betrachtete ich seinen wachsamen Blick.

«Meine Blindheit bessert sich des Nachts ein wenig. Das Verdienst der Myrobalanen, einer Latwerge, die Gerapicra genannt wird, und der Tatsache, dass ich bei jedem Wetter mit bloßen Füßen schlafe», rechtfertigte er sich. «Wie auch immer, was war das eben für ein Klimpern?»

Tastend suchte er auf dem Nachttisch nach seinen schwarzen Augengläsern, die ihm der Neffe eilfertig reichte, und setzte sie auf. Ich berichtete ihm von den Umständen, unter denen Cloridia den Gegenstand entdeckt hatte, und legte ihn auf seine Handfläche.

«Interessant.» Er griff danach und schien ihn mit den Fingerspitzen gründlich zu erforschen.

«Aber setz dich doch hier neben mich aufs Bett. Und beschreibe mir genau, was darauf eingraviert ist», bat er.

Ich beschrieb ihm die beiden Seiten der Münze und las die Inschrift vor.

«Landau 1702, 4 livres?», wiederholte er lächelnd. «Und der Savoyer hielt sie während der Audienz des Agas in der Hand? So, so.»

«Es scheint eine primitive Gedenkmünze zur Feier der ersten Eroberung Landaus durch den Erlauchten Kaiser im Jahre 1702 zu sein», vermutete ich.

«Es ist mehr als das, mein Sohn, viel mehr.»

Landau, begann Atto, war der neuralgische Punkt im Herzen Europas, es lag genau in der Mitte des Kontinents, gleich weit von Berlin, Hamburg, Wien, Mailand und Paris entfernt. Zwar gehörte die Stadt zur Pfalz im Südwesten Deutschlands, oberhalb von Italien und in unmittelbarer Nähe Österreichs, doch war sie seit Jahrzehnten Territorium des Sonnenkönigs: Landau war der Dolch, den Frankreich auf den Bauch Deutschlands und die Flanke Österreichs richtete.

In Anbetracht der enormen strategischen Bedeutung der Stadt hatte Ludwig XIV. schon vor über zwanzig Jahren den genialsten seiner Festungsbaumeister, den berühmten Vauban, mit der Verstärkung der Bollwerke beauftragt. Kurz darauf hatte eine unerklärliche Feuersbrunst drei Viertel der Wohnhäuser der Stadt zu Asche werden lassen, worauf Vauban diese bequem in eine wehrhafte Festung hatte verwandeln können.

Es war zu Beginn des Jahres 1702, der Krieg um die spanische Erbfolge tobte schon in Oberitalien, und alle erwarteten, dass die Kämpfe auch auf deutschem Boden ausbrechen würden.

Tatsächlich beginnen die österreichischen Truppen Ende April, Landau zu umzingeln, und besetzen alle Zufahrtswege zur Stadt. Am 19. Juni legen die Kaiserlichen einen Schützengraben an. Acht Tage später, am 27. Juli, hört man einen kolossalen Donnerhall: Mit Kanonenschüssen begrüßt das Kaiserliche Heer die Ankunft Josephs, des damals vierundzwanzigjährigen Deutschrömischen Königs und Kronprinzen des Reiches.

Sofort schickt Melac, der französische Kommandant der Zitadelle, einen Herold ins feindliche Lager, dem ein Trompeter vorausgeht. Der Herold überbringt dem König eine Nachricht: Der Kommandant beglückwünsche ihn ehrerbietig zu seiner Ankunft und bitte ihn, den Ort anzugeben, wo er sein Zelt aufzustellen gedenkt, auf dass es von Kanonenschüssen verschont bleibe.

«Was soll das heißen?», wunderte ich mich. «Erboten die Franzosen sich wirklich, ausgerechnet den Anführer der gegnerischen Truppen zu verschonen?»

«Kannst du Schach spielen?»

«Nein.»

«Nun, dann wisse, dass beim Schachspiel der König, das Oberhaupt des feindlichen Heeres, niemals getötet wird. Wenn die Figuren des Gegners ihn mit einem ausweglosen Zangengriff bewegungsunfähig gemacht haben, sagt man ‹Schachmatt›, und die Partie ist beendet. Der besiegte König muss kapitulieren, aber er stirbt nicht. So geschieht es auch bei wirklichen Herrschern: Man tötet sie nicht. Ihre Ranggleichen und die Generäle kennen und respektieren diese alten militärischen Usancen.»

Joseph aber, ging die Erzählung weiter, lehnt Melacs Angebot heldenhaft ab: «Mein Zelt ist allerorten, Ihr mögt schießen, wohin Ihr wollt. Und du, höflicher Herold, spare dir die Mühe, kehr nicht mehr zurück. Sag deinem Kommandanten, er werde keine andere Antwort von mir bekommen als mein Gebein. Dies wird seinen Leuten, wenn sie es denn so empfangen, wie ich es Euch zu überlassen gedenke, nichts einbringen.»

Dann wendet er sich an die Seinen, die höchst besorgt sind wegen der Gefahr, der ihr Oberbefehlshaber sich aussetzen will: «Wenn ich mein Pferd besteige, fliege ich und bin ein Falke. Mein Pferd ist reine Luft und Feuer. Und niemand, nicht einmal die Franzosen, vermag auf einen Falken zu schießen.»

In den folgenden Tagen besucht Joseph die Schützengräben, während überall die Musketenkugeln durch die Luft fliegen. Ein Ehrenkämmerer legt ihm nahe, sein kostbares Leben nicht aufs Spiel zu setzen. Joseph bescheidet ihn knapp: «Wer Angst hat, möge nach Hause gehen.»

Am 28. Juli lässt er das Heer in Schlachtordnung aufmarschieren, nachdem er die Ausrüstung persönlich untersucht hat. In der Nacht vom 16. auf den 17. August wird die Zitadelle angegriffen. Die Franzosen können dreimal tapfer Widerstand leisten. Doch unterdessen haben sich die Kassen der Garnison von Landau geleert. Melac zögert nicht: Er wird aus eigener Tasche zahlen.

«Was soll das heißen?»

Atto hielt mir das sonderbare, schwärzliche Silberstück hin, das ich ihm überreicht hatte.

«Das betrifft abermals die guten Konventionen des Krieges, von denen ich dir sprach. Kein richtiger Kommandant würde je dulden, dass seine Männer ohne Bezahlung kämpfen. Domenico, würdest du mir bitte das Kissen hinter den Rücken schieben?»

«Gewiss, Onkel.»

Also lässt Melac die silbernen Teller seines Tafelgeschirrs zerschlagen, und mit einem notdürftig zurechtgezimmerten Prägeeisen werden darauf die Münzen von Landau geprägt. Es sind rohe, armselige Stücke, keines so wie das andere, eines rechteckig, eines quadratisch, eines dreieckig, fast wie unechtes Geld für Kinderspiele.

«Nicht einmal die Punzen, die zur Hälfte von einem französischen und zur anderen Hälfte von einem deutschen Goldschmied gefertigt waren, glichen einander. Dennoch war jede einzelne dieser Münzen ohne Kurswert nicht mit Gold aufzuwiegen, mein Junge», sagte Atto mit feierlichem Ernst, «denn sie waren geboren aus den noblen Gesetzen des Krieges.»

«Dann war diese wunderliche Münze also das Geld für Melacs Soldaten. Ein Fragment aus seinen Silbertellern!», sagte ich, staunend über die Ingeniosität der Erfindung. «Darum ist sie so unregelmäßig. Sie ist mithin eine Erinnerung an den Krieg, und jetzt verstehe ich auch, warum Prinz Eugen eine ganze Sammlung davon hat. Es muss ihm wohl viel daran liegen, wenn er noch immer eine davon in der Tasche trägt.»

Während der Belagerung von 1702 beteiligt sich Joseph an den gefährlichsten Angriffen, ist allen ein Vorbild, zeigt sich generös. Er ist barmherzig mit den Verwundeten, tröstet die Waisen der Gefallenen, trauert mit den Witwen. Die Soldaten können es kaum glauben, wenn sie seine strahlende, blitzschnelle Gestalt inmitten der Kanonenschüsse erblicken, das Schwert stets erhoben, die fuchsroten, langen Haare ohne Perücke im Staub der Schlacht aufblitzend; wenn er, der Deutschrömische König, der Mühe, der Gefahr, des Blutvergießens nicht achtend, immer wieder an die vorderste Linie eilt.

Die Operationen der Kaiserlichen werden vom Markgrafen Ludwig von Baden koordiniert. Zu seinen Untergebenen gehört auch ein Italiener, der Graf Marsili.

«Der Graf Luigi Ferdinando Marsili? Diesen Namen kenne ich», sagte ich. «Ich habe, glaube ich, vor einiger Zeit ein paar seiner Traktate erworben, einen über den Kaffee und einen über Phosphor, wenn ich nicht irre.»

«Akkurat dieser. Ein großer Italiener», verkündete Atto.

Der Markgraf zeigt sich langsam und unbeholfen in der Führung der Männer, im Gegensatz zu Marsili sind ihm die Feinheiten des Grabenkrieges, der Gebrauch von Sprengstoff, die Technik der Pioniere unbekannt. Seit zwei Monaten schon werden keinerlei Fortschritte gemacht, der Verlust an Menschenleben ist sehr hoch, der französische Widerstand scheinbar nicht zu brechen. Ein französisches Heer unter Führung des Generals Catinat ist im Anmarsch; wenn Landau jetzt nicht rechtzeitig erobert wird, könnte man überrannt werden. Marsili, der es nicht erträgt, seine Männer einen nach dem anderen fallen zu sehen, setzt Joseph von den Fehlern des Markgrafen von Baden in Kenntnis. Vor allem müssten Kanonen und Mörser verstärkt werden, sagt er, und der Beschuss verbessert. Joseph inspiziert persönlich die Kampflinien und vertraut Marsili: Er wird seine Ratschläge befolgen. Ludwig von Baden schäumt vor Wut. Marsili wiederum verspricht, dass Landau innerhalb einer Woche eingenommen wird.

Dann entdeckt Joseph, was ihm zu erklären kein General den Mut hatte: Die Truppen sind müde, resigniert und verängstigt. Die Eroberung Landaus scheint inzwischen in unerreichbare Ferne gerückt; wenn dann auch noch Catinats Befreiungsarmee eintrifft, wird es eine Katastrophe geben. Es braucht mehr Männer, hört Joseph hier und da flüstern, wir sind zu wenige.

Am Tag vor dem entscheidenden Kampf verlässt der König der Römer seine Generäle und mischt sich unter die Truppen, zwischen die einfachen Infanteristen. Wieder hört er die Soldaten klagen: Die Franzosen sind harte Brocken; wenn wir gewinnen wollten, brauchen wir Verstärkung. Da steigt Joseph auf eine Kanone und spricht zu seinen Soldaten, als wäre er einer der Ihren:

«Soldaten, Untertanen des Kaisers, hört mich an! Könnte einer von uns sich wirklich wünschen, unsere Anzahl wäre größer? O nein, wenn es Schicksal ist, dass man stirbt, sind wir schon mehr als genug. Und wenn wir leben, wird unser Anteil am Ruhme umso größer sein, je weniger wir sind. Im Namen Gottes bitte ich euch, wünscht euch keinen einzigen Mann hinzu. Im Gegenteil, wer nicht die Lust verspürt, heute zu kämpfen, der soll nach Hause gehen. Wir geben ihm einen Passierschein und stecken ihm noch das Geld für die Reise in den Beutel! Keinesfalls wollen wir in Gesellschaft desjenigen sterben, der sich davor fürchtet, unser Gefährte im Tode zu sein. Morgen ist der Tag der Schlacht um Landau. Wer überlebt und heimkehrt, wird sich, wenn er von diesem Tage sprechen hört, stolz in die Höhe recken beim Namen Landaus. Wenn er ein hohes Alter erreicht, wird er jedes Jahr am Vorabend dieses Tages feiern und sagen: Morgen ist der Tag der Schlacht um Landau. Allen wird er seine Narben zeigen und sagen: Diese Wunden habe ich am Tag von Landau empfangen. Das Alter macht vergesslich, aber an die Ruhmestaten dieses Tages wird er sich voller Stolz erinnern. Und unsere Namen, die Namen der Heerführer, die ihm vertraut sind wie die seiner Familie – Joseph, Deutschrömischer König, Fürstenberg, Bibra, Marsili –, werden in seinen Trinksprüchen zum Gedenken erklingen und darob zu neuem Leben erweckt. Jeder redliche Mann wird seinem Sohn diese Geschichte erzählen, und von morgen an bis zum Ende aller Zeiten wird der Tag von Landau nie mehr vergehen, ohne dass wir dabei genannt werden: unsere kleine Schar, unsere glückliche kleine Schar, wir, eine Handvoll Brüder, denn wer morgen sein Blut mit mir vergießt, der wird mein Bruder sein. Wie niedrig auch immer sein Stand ist, von diesem Tag an wird er erhoben sein, und viele Männer, welche zur Stunde im Bett, in der Heimat verweilen, werden sich als Verdammte fühlen, weil sie am morgigen Tage nicht unter uns waren, und geschmälert in ihrer Männlichkeit, wenn sie den erzählen hören, der mit uns gekämpft hat, hier in LANDAAAUUU!!!»

Seine Worte hatten sich nach und nach in Schreie verwandelt, rings um den König und sein gezücktes Schwert applaudierten die Soldaten lachend und weinend vor Rührung. Joseph aber wandte sich lächelnd an den Infanteristen, der kurz zuvor noch über die fehlende Verstärkung geklagt hatte: «Nun, Soldat, verspürst du immer noch das Bedürfnis nach Verstärkung?»

«Potztausend, Majestät», antwortete dieser und erhob mit Tränen in den Augen die Faust, «ich wollte, ich könnte allein an Eurer Seite gegen die französischen Hunde kämpfen, nur Ihr und ich!»

«Und Prinz Eugen, war der nicht auch dabei?», fragte ich den Abbé aufgeregt, welcher, vom langen Erzählen erschöpft, einen Augenblick innehielt und an einem Glas Wasser nippte.

Atto stellte das Glas auf den Nachttisch, antwortete aber nicht auf meine Frage.

«In der Nacht vor dem letzten Kampf schläft keiner, weder die Kaiserlichen noch die Franzosen», fuhr er stattdessen fort. «Du musst dir vorstellen, wie in jener Nacht ein düsteres Murmeln das Gewölbe des Universums erfüllt.»

In den Lagern beider Heere herrscht eine so große Stille, dass die Wachtposten das Flüstern der feindlichen Wachen zu hören meinen. Auf beiden Seiten flackern die Feuer, im Schein der Flammen glaubt jeder Soldat das Gesicht des Feindes zu erblicken, hier wie dort hallt das drohende Wiehern der Schlachtrösser durch die Nacht. Und in den Zelten versorgen Waffenschmiede die Reiter, geschäftige Hämmer verstärken die Gelenkstellen der Rüstungen, warnend erklingen die Vorbereitungen zur Schlacht. Stolz auf ihre Überzahl und ganz ohne Furcht spielen die Franzosen selbstgewiss und blutdürstig mit Würfeln und ärgern sich, dass die Nacht, diese hässliche, verkrüppelte Hexe, nur so langsam weichen will.

Auch Joseph schläft nicht. Die Offiziere bieten ihm ihre Gesellschaft an, doch er lehnt ab und verlässt das Zelt: «Ich habe noch etwas mit meinem Gewissen zu verhandeln, und anderen Trost begehre ich nicht.»

Er lässt sich von einem Adjutanten einen Umhang mit Kapuze geben, die sein Gesicht verbirgt, und streift als namenloser Hauptmann durch das Lager.

Die Soldaten sind am Ende ihrer Kräfte. Ihre traurigen Mienen, die hohlen Wangen, die vom Krieg zerschlissenen Uniformen lassen sie wie eine Masse grässlicher Gespenster erscheinen.

Doch der königliche Hauptmann dieser ausgelaugten Schar, jener, der schon bald Joseph der Sieghafte genannt werden wird, geht von einem Feuer zum anderen, von einem Zelt zum nächsten und hat für jeden einen Gruß und ein freundliches Lächeln bereit. Alle heißt er Brüder, Freunde, Landsleute. Sein warmherziger Blick schließt gleich der Sonne niemanden aus; vor ihm verfliegt jede Furcht. In dieser Nacht dürfen alle, ohne es zu wissen, ein wenig an der Aura ihres jungen Königs teilhaben.

Unter seiner Kapuze versteckt, unterhält er sich mit einer Gruppe Fußsoldaten. Einer von ihnen sagt: «Morgen werden wir vielleicht sterben, der König aber muss nichts fürchten. Gewiss schläft er friedlich in seinem Zelt. Zwar kämpft auch er, doch er ist nicht wie wir.»

Da entgegnet Joseph: «Ich dagegen glaube, dass der König, entkleidet man ihn des Pompes, der ihn umgibt, ein Mann ist wie du und ich.»

Bevor das Morgengrauen anbricht, ist er allein. «Unser Leben, unsere Schuld, unsere Sünden: Alles lastet auf mir», murmelt er. «Welch ein hartes Los ist es, Zwillingsbruder der Größe und dem Murren der Dummen preisgegeben zu sein! Welch unendliche Ruhe, dem König verwehrt, genießen die gemeinen Bürger! Und was besitzen die Könige, was nicht auch jene haben, außer dem Prunk? Was bist du, königliches Gepränge, eitler Abgott? Wie oft empfängst du statt aufrichtiger Verehrung leere Schmeichelei? Gott der Heere, schmiede meine Soldaten auf deiner Esse! Banne ihre Furcht, nimm ihnen das Vermögen zu zählen, wenn die Überlegenheit der Gegner sie erschreckt. Entsinne dich nicht gerade morgen der Bestechung, mit der mein Ahne Karl V. sich die heilige Krone des Reiches erkaufte! Büßte er doch bereits, indem er abdankte und zum Mönch wurde. Jeden Tag lasse ich Messen für seine Seele lesen, Kirchen und Klöster haben mein Vater und ich errichten lassen, um das schändliche Gold der Geldverleiher von unserer Krone abzuwaschen! Ach, warum will es nie Tag werden? Alles und jedes um mich herum erwartet meinen Wink. Morgen will ich eine Meile im Trab reiten und eine mit Franzosen gepflasterte Straße hinter mir lassen!»

Abbé Melani, dem neuen Homer, versagte die Stimme.

Die Morgenröte zieht auf, endlich wird gekämpft. Abermals kann der Angriff auf die Festung zurückgeschlagen werden. Doch es wird offenbar, dass Landau im Begriff ist zu fallen. Die Soldaten sind erschöpft, sie wollen dem Kampf ein Ende machen und dem französischen Feind direkt an die Gurgel springen, ihn niedermetzeln, seine Frauen vergewaltigen, sein Haus plündern und brandschatzen. Wie in jedem Krieg wird der Mensch zur Bestie.

Da erscheint Joseph allein zu Pferd vor den Mauern der Festung, gerade so nah an den Bastionen, dass er nicht getroffen werden kann, zückt sein Schwert und ruft:

«Männer von Landau! Habt Mitleid mit Eurer Stadt und Euren Bürgern, solange ich meine Soldaten noch in Schach halten kann, solange die kühle Luft der Gnade die giftigen Wolken des Massakers, der Plünderung und aller Gräuel des Krieges noch von Euch fernhält. Andernfalls bleibt nur noch ein Augenblick, und Ihr werdet sehen, wie der kaiserliche Soldat, berauscht vom Blutgeruch, die Schöpfe Eurer weinenden Töchter besudelt, Eure Väter an den weißen Bärten packt, ihre ehrwürdigen Köpfe an den Mauern zerschlägt und Eure nackten Kinder auf die Piken der Gewehre spießt, während die vor Schmerz rasenden Mütter mit verzweifelten Schreien die Wolken zertrümmern!»

Von der Höhe der Wehranlagen blickte, auf seinem Pferd sitzend, der Gouverneur Melac herab. Schweigend hörte er zu. Das Entsetzen hatte ihm tiefe Furchen ins Gesicht gegraben.

«Was also sagt Ihr», schloss der Deutschrömische König, «wollt Ihr Euch ergeben? Oder wollt Ihr Euch des Widerstands schuldig machen und vernichten lassen?»

Am 9. September lässt Melac die weiße Fahne hissen, am nächsten Tag wird die Kapitulation vollzogen, auf welche der Austausch der Gefangenen folgt. Am 11. September ist alles vorbei.

Wie versprochen, zügelt Joseph seine Soldaten: Den Belagerten darf kein Haar gekrümmt werden. Ein Kaiserlicher, der einen Hostienkelch aus einer Kirche gestohlen hat, wird auf persönlichen Befehl des Königs sofort gehenkt. Ungerührt wohnt er der Exekution bei, obwohl der Verurteilte einer seiner liebsten Soldaten war. Die Mütter, welche in der Nacht zuvor noch im Dunkel ihrer Häuser kauerten und, die Neugeborenen an die Brust gedrückt, schreckensstarr Josephs drohende Worte vernommen haben, knien nun vor ihm nieder, um seine Kaiserlichen Insignien zu küssen. Am nächsten Tag ziehen die Franzosen ab; Melac muss besiegt vor den Deutschrömischen König treten. «Großer König», hat der französische Gouverneur ihn angeredet, dankbar, dass Joseph der Stadt die entsetzlichen Gewalttaten der Soldateska erspart hat, die seit jeher auf eine Belagerung folgen.

Marsili hatte vorausgesagt, dass Landau dank seiner militärischen Künste innerhalb einer Woche fallen würde. Doch das Ingenium des Italieners benötigte, im Verein mit dem Heldentum seines jungen Monarchen, noch weniger: Vier Tage hatten genügt.

Atto machte eine Pause. Er war außer Atem. In meiner Sammlung von Schriften über den Kaiser Joseph I. gab es verschiedene Berichte und Lobeshymnen auf seine Heldentaten in Landau, doch leider alle auf Teutsch und daher im teutonischen Stil geschrieben: überreich an langweiligen Einzelheiten und ohne Anekdoten. Die Erzählung Abbé Melanis hingegen hatte mich mitten in das fiebrige Schlachtgetümmel, ja, in die Seele meines Herrschers versetzt.

Ich staunte, welch große Bewunderung, wenn nicht gar Liebe zu diesem jungen Cäsaren aus den Worten des Kastraten sprachen. Ausgerechnet er, den ich bisher nie andere Monarchen als seinen Sonnenkönig hatte rühmen hören!

«Herr Onkel, um diese Zeit solltet Ihr schlafen», mahnte ihn Domenico.

Bei der Rückkehr nach Wien, setzte Atto indessen wieder an, die Empfehlung des Neffen missachtend, ist der Jubel groß: Sogleich formiert sich in der Stadt ein großer Umzug in Richtung auf die Kathedrale St. Stephan, wo ein feierliches Te Deum zelebriert wird. Mit würdiger Zeremonie wird auf dem Neuen Markt eine Säule errichtet, dem Heiligen Joseph, Schutzpatron Österreichs, gewidmet. Sogar Leopold und seine Gemahlin, die erlauchten Eltern, zu denen der junge König nie ein besonders herzliches Verhältnis hatte, sind beglückt über den Triumph der Kaiserlichen Streitkräfte.

Vor diesem Sieg war Joseph nur ein vielversprechender Thronerbe. Nach Landau und dank der Hilfe Marsilis ist er ein Held geworden.

«Doch einen Helden gab es bereits», bemerkte Atto. «Er hieß Eugen von Savoyen, Sieger der großen Schlacht bei Zenta, Schrecken der Türken. Jetzt aber hatte er im Wettstreit um den Ruhm einen Kontrahenten mit einem entscheidenden Vorteil: Er war schön, und er trug eine Krone auf dem Haupt.»

In Wien kochen Leopolds Minister vor Wut. Sie wissen genau, dass Joseph es gar nicht erwarten kann, sie fortzujagen und durch Männer seines Vertrauens zu ersetzen. Die einzige Möglichkeit, ihn aufzuhalten, ist, Druck auf den Vater Leopold auszuüben. Als Joseph im folgenden Jahr bittet, an die Kriegsfront zurückkehren zu dürfen, verweigert der Vater ihm den Wunsch. Die Pressionen der Minister haben gewirkt. Auch Eugen, der es noch immer nicht verwinden kann, dass er im Vorjahr von Josephs Ruhmestaten in den Schatten gestellt wurde, wirkt heimlich daran, die Rückkehr des Deutschrömischen Königs in den Krieg zu verhindern. Die Kämpfe im Rheingebiet gehen derweil weiter, und bald wird die schlechte Nachricht verkündet: Die Franzosen haben Landau belagert und zurückerobert.

«Also steckte auch Prinz Eugen dahinter! Aber das ist doch widersinnig», überlegte ich, «war es denn für ihn und die anderen nicht schmachvoller, den Krieg zu verlieren, als Joseph Ehre und Ruhm zu gönnen?»

«Die Mächtigen sind imstande, die ganze Welt zu zerstören, nur um sich ihren Platz zu bewahren», antwortete Atto. «Und in jenem Moment, unter einem so schwachen Kaiser wie Leopold, war niemand mächtiger als seine Minister, angefangen beim Savoyer.»

Und so gelangen wir zum Jahr 1704. Die Jahreszeit für militärische Kampagnen ist fast vorbei, der Herbst steht vor der Tür. Die Streitmächte des Reiches und der Alliierten wollen das Jahr um jeden Preis mit einem wichtigen Sieg beschließen. Man kommt überein, sich auf Landau zu konzentrieren und es dem Feind wieder abzunehmen. Am 1. September trifft endlich der junge König ein. Erst nach großen Widerständen hat der Vater Leopold nachgegeben und ihn an die Front ziehen lassen. Auf dem Kampfplatz empfangen ihn Eugen von Savoyen und der Kommandant der verbündeten englischen und niederländischen Truppen, der berühmte Marlborough, ein enger Freund Eugens. Jetzt, da der Held der ersten Belagerung vor zwei Jahren auf den Plan tritt, müssen sie das Feld räumen. Sie werden an den Fluss Lauter geschickt, um den Operationen Rückendeckung zu geben, während der Markgraf von Baden Joseph mit siebenundzwanzig Bataillonen und vierundvierzig Schwadronen vor Landau empfängt.

Auch dieses Mal bietet der Befehlshaber der belagerten französischen Garnison, Laubanie, Joseph an, seine Kanonen nicht dorthin zu richten, wo der König nächtigen oder sich aufhalten wird, und erneut antwortet Joseph, er sei aufs beste geschützt und werde hingehen, wo immer er wolle, ohne jemanden davon in Kenntnis zu setzen.

«Joseph der Sieghafte hat vielleicht nicht gewusst, dass auch bei dieser zweiten Belagerung Landaus die Regel des Schachmatts zur Anwendung kam», sagte Atto, «und zwar in der nobelsten Weise.»

«Was wollt Ihr damit sagen?»

«Ein gewisser Graf Raueskoet, Josephs Gefährte bei Treibjagden, war in Versailles vorstellig geworden und hatte erklärt, Joseph pflege während der Vorbereitungen zum Kampf ohne Geleit in der Nähe der französischen Linien auf die Jagd zu gehen. Es wäre ein Kinderspiel gewesen, ihn dabei zu ergreifen. Nun, Ihre Majestät lehnte den Vorschlag entrüstet ab und verbannte den Verräter augenblicklich aus Frankreich, ja, er unterrichtete die Kaiserlichen sogar von Raueskoets Verrat. Vergiss das nicht, Junge: Schachmatt: ja, aber Töten zwischen Herrschern und gleichrangigen Fürsten: nie.»

Die Schlacht beginnt, härter noch als die beiden, die ihr vorausgingen. Heuer kommt der Winter früher, man kämpft in der Kälte, im Regen und im Schlamm. Am 27. September versuchen die Franzosen einen Ausfall, doch ohne Erfolg. Vier Tage später beginnen die schweren Kaiserlichen Artillerien, die unter enormem Verlust an Menschenleben herbeigeschafft wurden, Landau zu beschießen. Eine Sintflut aus Feuer ergießt sich über die Festung, doch der Widerstand der Franzosen ist zäh. Eugen von Savoyen tobt: Man hätte Landau in fünf oder sechs Wochen einnehmen müssen, schreibt er aus seinem Zelt nach Wien, stattdessen zieht sich die Operation in die Länge, während die Franzosen in Italien freie Hand haben.

«Vielleicht gab es aber auch einen gewichtigeren Grund für seine Empörung», vermutete Atto. «Er und Marlborough waren von Joseph ausgeschaltet worden. Sie hatten ihren Ehrenplatz verloren.»

Nach neun Wochen furchtbarer Kanonaden und Attacken fällt die Festungsstadt Landau endlich. Der Kommandant Laubanie verliert beide Augen und stirbt zwei Jahre später an nie verheilten Wunden. Die französische Garnison ergibt sich, wieder werfen die Soldaten Joseph ihre Waffen vor die Füße. Der junge Thronerbe hat bewiesen, dass er das Kriegsglück allein mit seiner Anwesenheit zu wenden vermag. Durch den ersten Sieg war er ein junger Held geworden, mit dem zweiten wird er ein leuchtendes Vorbild für alle Soldaten. Der Winter ist da, das Jahr 1704 wurde mit einem wichtigen Sieg abgeschlossen, die englischen und holländischen Verbündeten können zufrieden heimkehren. In Wien erklingen die Glocken im Festgeläut, im Herzen des Savoyers nagt ein finsterer Groll. Und wenn Joseph zur neuen Ikone des Krieges aufstiege und so die Legende vom Prinzen Eugen, die sich schon in ganz Europa verbreitet, auslöschen würde? Doch ein Jahr nach der Wiedereroberung Landaus ändert sich die Lage. Kaiser Leopold stirbt. Nun wäre es unklug, dem jungen Herrscher zu gestatten, Wien zu verlassen und in den Krieg zu ziehen, da er noch keine männlichen Nachkommen hat (sein kleiner Sohn, Leopold Joseph, ist als Kind gestorben). Eugen bleibt Oberbefehlshaber aller militärischen Operationen und lenkt das Kriegsgeschick während der nächsten drei Jahre.

Der stumme Streit zwischen dem Herrscher und seinem General kommt 1708 erneut zum Ausbruch: Die Königin von England fordert, Eugen solle an den Kämpfen in Spanien teilnehmen, wo es Karl, Josephs Bruder, nicht gelingen will, sich gegen die französischen Armeen Philipps von Anjou, Enkel des Sonnenkönigs auf dem spanischen Thron, zu behaupten. Die in Spanien stationierten Kaiserlichen Truppen werden von Guido Starhemberg angeführt, dem das Glück nicht immer hold ist. Eugen ballt die Faust in der Tasche: Er weiß, dass er Starhemberg überlegen ist und an dessen Stelle reichlich Ruhm und Ehre erwerben kann.

Ein rastloses diplomatisches Hin und Her mit den englischen Verbündeten beginnt, aber die Kaiserlichen bleiben hart: Der Prinz von Savoyen darf sich nicht zu weit von Österreich entfernen. Eugen muss es hinnehmen und schweigen.

Im Jahr 1710 geht es erneut darum, Eugen nach Spanien zu schicken, doch Ihro Kaiserliche Majestät ist weiterhin dagegen, und nichts geschieht. Im Kreis von Freunden macht Eugen nun seinem Ärger mit Anspielungen Luft: «Vielleicht hat Starhemberg nicht alles getan, was man von ihm erwartete?», fragt er ironisch. Und er verrät, er habe mit eigenen Augen gesehen, wie Joseph auf der Konferenz der Minister das Papier mit Eugens Kandidatur für das Kommando in Spanien schwenkte, doch dann habe der Kaiser den Plan boykottiert, ohne ihm ein Wort davon zu sagen. Joseph irrte nicht: Er dachte an die Sicherheit des Reiches.

Zweimal in Landau und wiederum zweimal mit Spanien hat Joseph den Stolz und den Ehrgeiz Eugens mit Füßen getreten. Der Verlierer hat geschwiegen und gehorcht; etwas anderes war ihm nicht möglich. Doch was wäre geschehen, wenn der heimliche Wettkampf, von welchem allein die beiden Kontrahenten wussten, sich immer und ausschließlich zum Vorteil eines der beiden Männer fortgesetzt hätte? Und welche Rolle spielte bei alldem die merkwürdige Münze, die Cloridia unter abenteuerlichen Umständen aus Eugens Palais geschafft hatte?

«Diese Münze ist das Symbol für Landau», schloss Atto, «die erste schwere Niederlage, die Eugen hat hinnehmen müssen. Und sie zeigt, dass der Prinz von Savoyen keine der durch Joseph erlittenen Schmähungen vergessen hat.»

Mit heiterer Miene streichelte Atto die Münze. Wenn Joseph den verräterischen Brief Eugens erst einmal gelesen hatte, würde es nur noch ein kleiner Schritt zum Frieden sein.

«Wenn diese kleine Pálffy sich doch nur ködern ließe», brummte er, worauf ein gewaltiges Gähnen sich seiner bemächtigte und ihn bewog, wieder unter die Decke zu kriechen, in Morpheus’ Arme.

Auf dem Rückweg in meine Gemächer im anderen Flügel des Klosters kam mir Cloridia entgegen.

«Liebster», sagte sie, die Arme ausbreitend, «es ist ein fürchterlicher Tag gewesen.»

«Du weißt gar nicht, wie sehr», entgegnete ich.

«Was willst du damit sagen?»

Ich erzählte ihr, was geschehen war. Zum Schluss standen wir einander zitternd gegenüber, erschüttert über die Gewalttat, die sich jetzt zum zweiten Mal in unserem Umkreis ereignet hatte. Ich berichtete ihr auch von der Geschichte der Münze aus Landau.

«Gott sei Dank bist du da!», sagte sie.

«Warum? Was ist dir geschehen?»

«Du bist nicht der Einzige, der heute Schlimmes erlebt hat. Ich bin im Palais des Prinzen verfolgt worden.»

«Verfolgt? Von wem?»

«Von dem Ungeheuer, das die Münzen aus Landau gestohlen hat. Immer wieder tauchte er in meiner Umgebung auf. Wenn ich in die Küche ging, sah ich, wie er mir von weitem folgte. Kehrte ich aus dem zweiten Stock zurück, kam er aus irgendeiner Ecke hervor. Ich habe mich eilig entfernt, aber kurz darauf hatte ich ihn schon wieder im Rücken: Ich gehe weg, er ist schon da, ich fort, er wieder da. Es war zum Verrücktwerden. Wenn du ihn gesehen hättest … Zuletzt hat er sogar einen Halbkreis um mich herum gemacht und dann mit einem schrecklichen Grinsen seine spitzen, braunen Zähne entblößt, brrr! Da habe ich mich hierhergeflüchtet.»

«Aber wer ist das nur, und was will er?», rief ich erregt aus. «Er verspricht dem Derwisch einen abgeschnittenen Kopf, dann starrt er dich an, verfolgt dich, stiehlt die Münzen des Prinzen Eugen … Welcher Zusammenhang besteht zwischen alldem?»

«Ich weiß nur, dass einer mit so einem Gesicht zu allem fähig ist. Auch zu dem, was man Hadji-Tanjov angetan hat.»

Doch die traurigste Nachricht des ganzen Tages sollten wir noch hören.

Um uns ein wenig zu erholen, gingen wir in den Kreuzgang und beobachteten unseren Kleinen beim Spielen. Anschließend begaben wir uns in die Kirche des Klosters. Gebrochen von all dem Bösen, das uns umgab, verspürten wir das Bedürfnis, uns im Gebet zu sammeln und den Allerhöchsten um Schutz und Erbarmen anzuflehen.

Doch als wir in den kalten, weihrauchgeschwängerten Halbschatten traten, sahen wir, dass die ganze Kirche mit Ordensschwestern der Himmelpforte gefüllt war. Sie hatten sich vollzählig zum Rosenkranzgebet versammelt. Das erstaunte uns sehr: Diese späte Stunde war gewiss keine übliche Gebetszeit im Kloster. Wir machten ein Kreuzzeichen, knieten in einem hinteren Eckchen nieder und stimmten inbrünstig in das Gebet ein, um Gottes Gnade für die Seelen der beiden armen ermordeten Studenten flehend.

Nach dem Rosenkranz folgte das Bittgebet an die Heilige Jungfrau der Himmelpforte. Wir hörten, wie sich nach und nach unter die Litanei der Nonnen, gleich einem Kontrapunkt, ein undeutliches Murmeln mischte, darin wir bald ein Schluchzen erkannten. Jemand weinte. Als wir uns umsahen, erblickten wir links vom Altar, unter der Statue der Heiligen Jungfrau der Himmelpforte kniend, die Chormeisterin mit bebender Brust. Im selben Augenblick noch verwandelte sich der fragende Blick, den Cloridia und ich wechselten, in ungläubige Bestürzung:

«Pro vita nostri aegerrimi Cesaris, oramus», hörten wir die Vorbeterin rufen.

«Wir beten für das Leben unseres schwererkrankten Kaisers.» Wie ein eisiger Sturmwind peitschten uns diese Worte. Einen Augenblick lang hoffte ich, mich verhört zu haben, doch die kummervolle, ängstliche Miene, mit der Cloridia sich die Hand an die Stirn schlug, war mir eine traurige Bestätigung. Dem Kaiser ging es schlecht? Der Erlauchte Cäsar, unser inniggeliebter, strahlender Jüngling Joseph der Erste, schwebte gar in Lebensgefahr? Was war geschehen? Und warum hatten wir nichts davon erfahren? Doch es war unmöglich, in diesem Moment Fragen zu stellen, wir mussten das Ende des Gebets abwarten. Sie schienen nicht enden zu wollen, diese Minuten, die uns von der Aufklärung über die unerwartete Nachricht trennten. Endlich leerte sich die Kirche, Camilla erhob sich und wandte sich zu uns um. Kaum sah sie Cloridia, ging sie zu ihr und umarmte sie.

«Camilla …», murmelte meine Frau beim Anblick des jungen, von Schmerz und Trauer entstellten Gesichts.

Die Chormeisterin bedeutete uns, ihr zu folgen, sie musste die Kerzen löschen. Die Flammen spiegelten sich in ihren tränenüberströmten Wangen, und vergeblich versuchte sie, ihr Schluchzen zu unterdrücken, indem sie Cloridias Hand fest gedrückt hielt.

Seit dem frühen Morgen sprach in der Stadt alles davon. Zunächst war die Kunde wie ein Gerücht umgelaufen, dann hatten sich die Informationen verdichtet, bis wie aus heiterem Himmel der Befehl erging, zu jeder vollen Stunde öffentliche Gebete mit Aussetzung des Allerheiligsten sowohl in der Kaiserlichen Kapelle als auch im Stephansdom zu veranstalten. In der Kaiserlichen Kapelle waren alsbald von Stunde zu Stunde sämtliche Mitglieder des Hofes nacheinander eingetroffen: die Tribunali, die Minister, die Granden, die Kavaliere, die Hofdamen und die anderen Höflinge. Und ebenso hatten in der Kathedrale am Nachmittag die Gebete unter Leitung des Monsignore Fürstbischof persönlich und des gesamten Domkapitels begonnen, und in Prozessionen herbeigeströmt waren religiöse Orden, Bruderschaften, Schulen, Künste und Gewerbe sowie das Personal der Spitäler, stets unter Beteiligung des Volkes, das bekümmert und mit frommer Andacht um göttliche Fürsprache gefleht hatte.

Die Gebete hatten sich sodann in allen anderen Pfarreien in und außerhalb der Stadt fortgesetzt. Man hatte sogar Sonderkuriere in das gesamte Erzherzogtum Österreich ob und unter der Enns ausgesandt, um das Vierzigstundengebet anzukündigen, auf dass es – wie man im Aufruf lesen konnte – Ihrer Göttlichen Majestät gefallen möge, unserem Allergnädigsten und Erlauchtesten Monarchen längere Lebenszeit und glückliches Regieren zu gewähren, zum Troste seines ergebenen Volks und der Frommen der gesamten Christenheit, sintemalen inmitten dieser so gefährlichen, ernsten Fährnisse des Krieges, in welche ganz Europa sich verwickelt fand.

Sogar die in der Kaiserstadt ansässigen Osmanen und Juden hatten außerordentliche Gebets- und Fastentage angeordnet und Almosen verteilt.

Der Kaiser war krank. Seit ein paar Tagen schon lag er zu Bette, von allem und jedem abgesondert, keiner durfte sich ihm nähern. Doch nicht, weil Joseph der Sieghafte nicht in der Lage war, Gespräche zu führen oder der Ministerkonferenz zu präsidieren, sondern weil seine Krankheit ansteckend war. Und tödlich. Denn die Diagnose der Ärzte war eindeutig: Blattern.

«Wie Ferdinand IV, ganz genau wie er», schluchzte Camilla.

In meiner Brust pochten die düstersten Vorahnungen.

Meine Gedanken gingen zurück zu Ferdinand IV, dem jungen Deutschrömischen König, der vor fünfzig Jahren von den Blattern dahingerafft wurde. Der Erstgeborene des Kaisers Ferdinand III. und älterer Bruder Leopolds war mit kaum einundzwanzig Jahren überraschend gestorben. Ich kannte die Geschichte des Wunderkindes Ferdinand aus den Büchern, welche ich bei der Ankunft in Wien erworben hatte: Auf seine außergewöhnlichen Talente hatte der Vater alle Hoffnungen gesetzt, das Reich nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg wieder zur einstigen Größe erheben zu können. Die Tragödie hatte sich in einem so heiklen Augenblick ereignet, dass das Haus Habsburg sogar Gefahr lief, die Kaiserkrone zu verlieren. Denn Frankreich hatte die Situation sofort genutzt, um Leopolds Wahl zum Kaiser zu behindern, und dieser musste die protestantischen Fürsten mit ungeheuren Geldsummen bedenken, um sich wählen zu lassen, ja, er hatte vor ihnen mit einem feierlichen Schwur darauf verzichten müssen, die spanischen Habsburger im Krieg gegen Frankreich zu unterstützen. So hatte der französischspanische Krieg mit der Niederlage Spaniens geendet, und König Philipp IV. war gezwungen gewesen, Ludwig XIV. statt Leopold die Hand seiner Tochter Maria Theresa zu geben. Und genau aus dieser Heirat leitete sich das französische Anrecht auf den spanischen Thron ab, das den Grund für den gegenwärtigen Krieg um die spanische Erbfolge bildete. Kurzum, wenn Ferdinand nicht so früh und unerwartet gestorben wäre, hätten die französischen Bourbonen sich nicht mit den spanischen Habsburgern verschwägert, und der spanische Erbfolgekrieg wäre nicht ausgebrochen.

Obwohl der junge Ferdinand, ein ungewöhnlicher, schöner Mann, sich einer ausgezeichneten Gesundheit erfreute, war er den Blattern rasch erlegen. Wenn die Ältesten im Volke sich an den damaligen Trauerfall in der Kaiserlichen Familie erinnerten, der viele weitere Trauerfälle mit sich gebracht hatte und immer noch mit sich brachte, erzitterten sie vor Furcht. Joseph war noch nicht geblattert.

Jetzt aber war es geschehen.

«Die ersten Symptome traten vor fünf Tagen auf. Bis heute ist die Krankheit geheim gehalten worden. Ich selbst habe es erst gestern Abend erfahren», sagte die Chormeisterin, die Stimme vom Weinen gebrochen.

So erfuhren wir, dass Joseph der Sieghafte am Erchtag, dem 7. April, bei seiner Mutter zu Abend gespeist hatte und kurz darauf von einem leichten Kopfweh befallen wurde. Eine unbedeutende Beeinträchtigung, am nächsten Tag schon verflogen, sodass der junge Kaiser am Mittwochmorgen beschloss, sich auf die gewohnte Treibjagd zu begeben. Bei seiner Rückkehr klagte er jedoch über einen starken Druck auf der Brust, Atemnot und eigenartige Schmerzen im ganzen Körper. Plötzlich plagte ihn ein Brechreiz, infolge dessen er eine beträchtliche Menge Wasser ausschied. Der Leibarzt wurde gerufen, der das Leiden übermäßiger Nahrungsaufnahme während der österlichen Feiertage zuschrieb und für denselben Abend ein Pulver aus zerstoßenem Hyazinth und verschiedenen Edelsteinen verschrieb.

Die Nacht verlief unruhig. Am Morgen des folgenden Tages, Donnerstag, dem 9. April, wurde Joseph erneut von einem sehr heftigen Erbrechen heimgesucht, bei dem er schleimige, schlechtverdaute Materie spuckte, gefolgt von reinster Galle in großer Menge. Das leichte Kopfweh war zurückgekehrt, sonderlich aber quälte ihn ein starker, wandernder Schmerz in Bauch und Brust, welcher sich schließlich in den Lenden festsetzte. Joseph der Sieghafte, ein junger Mensch, stark und tapfer, einst ein mutiger Soldat, schrie wie ein Kind. Urin und Puls waren zum Glück normal, also wurde ein Klistier, oder auch eine Insufflation mit Wasser und Salz, verabreicht, welche ihre löbliche, wohltuende Wirkung tat. Die Schmerzen freilich gingen bis zum Abend fort, die Schreie ebenfalls. Das Klistier wurde wiederholt und führte zu drei ergiebigen, galligen Ausscheidungen. Zudem wurde (nach den bekannten Anweisungen des Aristoteles) ein Pulver aus Knospen und gediegenem Zinnober verschrieben. Gegen Abend stieg der Puls, und um ein Uhr nachts ward er entschieden fiebrig.

Während Camilla sprach, hallte, gleich dem dunkeln Totengeläut einer Glocke, ein Datum in meinem Kopf: der 7. April. An diesem Tag hatte Josephs Krankheit begonnen, doch auch der Türkische Aga war in Wien eingetroffen. Mehr noch: Am Tag darauf war Abbé Melani in der Stadt angekommen …

«Ist man sich wirklich sicher, dass es die Blattern sind?», fragte ich Camilla.

«Das ist, was bisher gesagt wurde.»

«Wie geht es dem Kaiser jetzt?»

«Man weiß es nicht. Leider wurde über die neuesten Entwicklungen strengste Geheimhaltung gewahrt. Aber … wo lauft Ihr denn hin?»

«Hä? Was redest du da?», nuschelte Abbé Melani unter seiner Decke, die Zunge schwer vom Schlaf.

«Ihr spielt den Ahnungslosen? Das habe ich erwartet!», schrie ich außer mir vor Zorn.

Wie eine der Erinnyen war ich in Attos Gemächer gestürzt. Ich hatte lärmend an seine Tür geklopft (die Zellen der Nonnen lagen recht weit entfernt), und Domenico, der entsetzt aus dem Bett gesprungen war, hatte mir geöffnet, überzeugt, die Stadt brenne lichterloh oder eine andere furchtbare Katastrophe drohe.

«Der Türkische Aga ist nur einen Tag vor Euch in Wien angekommen, und jetzt tut nicht so, als wüsstet Ihr das nicht! Das habt Ihr auch diesmal schlau ausgeheckt, Ihr und dieser Derwisch!»

«Derwisch? Ich weiß nicht, wovon du sprichst», entgegnete Atto, während er sich aufrichtete.

«Herr Onkel …», versuchte Domenico sich einzumischen.

«Ja, der Derwisch im Gefolge der Türken, dieser Ciezeber, der sich bei seinen widerwärtigen Ritualen in Stücke schneidet und dann geheilt wird, als wäre nichts gewesen. Mit feinen Leuten umgebt Ihr Euch, Abbé Melani! Und mit dem Derwisch macht Ihr gemeinsame Sache, um den Kopf des Kaisers zu bekommen. Ha, da staunt Ihr, was? Hättet Ihr nicht gedacht, dass ich das herausbekomme!»

Onkel und Neffe verstummten. Das machte mir Mut, und ich fuhr fort:

«Ihr behauptet, Abbé Melani, dass Ihr um des Friedens willen hier nach Wien gekommen seid. Ihr habt mir den Brief dieses Verräters Prinz Eugen, der sich an Frankreich verkaufen will, unter die Nase gehalten, aber den anderen Schachzug habt Ihr mir verschwiegen, den wichtigeren, nämlich dass der Kaiser aus dem Weg geräumt werden soll! Ihre Kaiserliche Majestät Joseph I. hat keine männlichen Nachkommen. Wenn er stürbe, wäre der Thronerbe mithin sein Bruder Karl, welcher Philipp von Anjou, dem Enkel des Sonnenkönigs, seit zehn Jahren mit Waffengewalt den spanischen Thron streitig macht. Wenn Joseph stirbt, muss Karl augenblicklich nach Wien zurückkehren, um Kaiser zu werden, und dann ist Schluss mit dem Krieg! Eugen hat bereits Verrat begangen: Selbst wenn Österreich wollte, könnte es dann weder einen König noch einen General nach Spanien schicken. Auf dem Thron von Madrid säße für immer der Enkel Eures Herrschers. Ein perfekter Plan! Darum also ist der Kaiser erkrankt. Von wegen Blattern: Ihr Franzosen, seit eh und je Komplizen der Türken, habt ihn vergiften lassen.»

«Der Kaiser ist krank? Aber was redest du da, Junge?»

«Und die Krankheit, welch ein Zufall, beginnt im Kopf … just in dem Kopf, um den der Derwisch sein Komplott schmiedet! Oder ist das alles nur Zufall? Und wer soll Euch das glauben? Ich gewiss nicht, denn ich kenne Euch, leider! Wie konntet Ihr das nur tun? In Eurem Alter! Habt Ihr denn immer noch kein bisschen Gottesfurcht?», fragte ich, und die Stimme brach mir.

«Ich begreife nicht, woher du …», protestierte Atto, der sich mit der Hand den Bauch hielt.

«Und glaubt ja nicht, ich hätte vergessen, dass Philipp von Anjou dank eines gefälschten Testaments zum König von Spanien ernannt wurde. Ihr wart es, Ihr habt das Testament gefälscht, vor elf Jahren, direkt vor meiner Nase!»

«Herr Onkel, Ihr dürftet ihm nicht gestatten …», sagte Domenico.

«Von wegen Großzügigkeit und Belohnung!», fuhr ich dem Neffen mit neuentfachtem Zorn ins Wort. «Wohnung und Arbeit habt Ihr mir hier in Wien nur verschafft, um erneut meine treuen Dienste auszunutzen und Euch dann im rechten Moment aus dem Staube zu machen, wie Ihr es schon zweimal in Rom getan habt! Diesmal aber müsst Ihr eine noch schändlichere Tat begehen: den Kaiser umbringen, einen jungen Mann von nicht einmal dreiunddreißig Jahren! Darum habt Ihr mich zum reichen Mann gemacht. Ihr wolltet mich kaufen. Aber das wird Euch nicht gelingen, o nein! Diesmal kriegt Ihr mich nicht. Es gibt keinen Preis für das Leben meines Königs! Ich werde nach Rom zurückkehren und wieder im Tuffsteinkeller hungern, aber nicht, bevor ich alles getan habe, um Eure schmutzigen Pläne zu vereiteln. Über meine Leiche müsst Ihr gehen!»

«Aber gütiger Himmel, Junge, du darfst nicht … Domenico, ich bitte dich!», flehte Atto, der immer noch mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen Bauch drückte und nun Anstalten machte, sich zu erheben.

«Herr Onkel, da bin ich», rief der Neffe mitleidig, indem er herbeieilte, ihn zu stützen und hinter einen Vorhang zu fuhren, wo der Nachtstuhl für die körperlichen Bedürfnisse stand.

Hier hatte Abbé Melani eine schwere Kolik, ausgelöst vom sogenannten Nierengrieß und begleitet von diarrhöischen Entladungen und schmerzhaftem Aufbrechen der blinden oder güldenen Adern oder auch Hämorrhoiden. Urplötzlich sah ich mich ohne Gegner, vor allem aber in großer Verlegenheit. Ich bot meine Hilfe an, die Domenico hinter dem Zelt mit einem mürrischen Grunzen verweigerte.

«Der Kaiser … , das Gift …», hörte ich Atto röcheln.

«Herr Onkel, Ihr verliert sehr viel Blut, Ihr müsst unbedingt vom Zedernsaft trinken.»

«Ja, ja, mach schnell, ich bitte dich …»

Domenico schob den Vorhang beiseite und bat mich mit einem Wink, den alten Abbé, der verkrümmt auf dem Stuhl hockte, einen Moment lang zu stützen. Zum ersten Mal sah ich seine kastrierte Scham. Ohne auf mich zu achten, jammerte Atto weiter, während sein vulkanisches Gedärm sich nicht beruhigen wollte und auch die Goldadern nicht aufhörten zu bluten. Der Neffe stürzte aus dem Gelass und goss ein paar Tropfen aus einem Fläschchen in ein großes Glas frischen Wassers, das er dem Onkel eilig reichte.

«Also, ich glaube …», stammelte ich, im Begriff, mich zu verabschieden, um nicht länger zu stören.

Domenico aber vermeinte, ich wollte mit meinen Anklagen fortfahren, und schrie hinter dem Vorhang:

«Habt Ihr denn gar kein Mitleid mit einem armen alten Mann? Wollt Ihr ihn umbringen? Jetzt reicht es. Fort, geht, verschwindet!»

Nachdem man mich so vor die Tür gesetzt hatte, durchquerte ich aller Kräfte beraubt den Konvent und schleppte mich bis zu meinem Bett, wo ich Cloridia noch sitzend, aber schon eingeschlummert fand. Sie hatte auf mich warten wollen, doch die Müdigkeit hatte sie überwältigt.

So blieb ich allein, um mit Trostlosigkeit und Zweifeln zu ringen. Ich setzte mich an den Tisch und barg das Haupt in den Händen. Seit wir in der Kirche die traurige Nachricht vernommen hatten, war mir keine einzige Sekunde zum Nachdenken geblieben. Der Kaiser schwebte also in Lebensgefahr? Es schien wie ein grässlicher Albtraum, doch zu viele Anzeichen bewiesen, dass ich leider nicht träumte. Hatten mein Gehilfe und ich nicht am Sonntag, als Peniceks Kalesche uns zur Verabredung mit dem armen Hadji-Tanjov brachte, gut drei Prozessionen angetroffen, die zum Stephansdom zogen?

Auf dem Tisch lag Hristos Schachbrett. Ich strich mit den Fingerspitzen über die Beulen, welche die Kugel aufgehalten und mir das Leben gerettet hatten.

Am Abend zuvor, entsann ich mich, hatten wir alle die unerklärliche Erregung der Chormeisterin bemerkt. Mit ungewöhnlicher Heftigkeit hatte sie während der Proben zum Heiligen Alexius dem armen Gaetano Orsini widersprochen. Überdies hatte Camilla eine düstere, melancholische Arie gewählt und dann von Voraussagen gesprochen. Jetzt verstand ich, dass traurige Todesahnungen ihr Herz beschwert hatten. Sie dachte an den Kaiser, der auf dem Grab seines Freundes Lamberg gestanden hatte, sicher auch an die finstere Prophezeiung des Englischen Wahrsagers, an die Warnung jenes perfiden Jesuiten Wiedemann und an wer weiß was noch alles, denn es gab ja nicht wenige, die sich den Tod Ihrer Kaiserlichen Majestät wünschten. Wer könnte ihr unrecht geben? Vor achtundzwanzig Jahren, als ich in Rom Hausbursche der Locanda des Donzello gewesen war, hatte ich mit eigenen Augen in einer astrologischen Gazette die zutreffende Voraussage vom Tode einer Herrscherin gelesen: der unglücklichen Gemahlin des Allerchristlichsten Königs.

Ach, es war leider kein böser Traum, seufzte ich, während ich das Schachbrett aufklappte. Eine Frage quälte mich jedoch mehr als alles andere: Welche Pläne hegte Abbé Melani wirklich? Er war just an dem Tag in Wien eingetroffen, als der Kaiser erkrankte, und nur einen Tag nach der Ankunft des Agas. Atto war gekommen, um die Partie Frankreichs an zwei Tischen zu spielen. Einerseits wollte er Eugens Verrat aufdecken und ihn damit ein für alle Mal außer Gefecht setzen, ohne dass dem Prinzen die Niederlande überlassen werden mussten, wie er gefordert hatte. Das hatte Melani mir offen bekannt. Andererseits gab es für Frankreich noch eine viel bessere Lösung: den Tod Josephs I. In welcher Weise diese beiden Dinge miteinander zusammenhingen, war mir, ehrlich gesagt, nicht ganz klar, doch war das nicht einerlei? Der Abbé selbst hatte mich vor Jahren gelehrt: Man muss nicht alles wissen; wichtig ist nur, die Bedeutung dessen, was geschieht, zu verstehen. Und die Bedeutung hatte ich begriffen, o ja, leider. Mit all der Erfahrung, die ich an der Seite des intriganten Kastraten gesammelt hatte, genügte es mir, zwei und zwei zusammenzuzählen. Diesmal hatte ich nicht auf den Ausgang der unheilvollen Geschehnisse warten müssen, um zu verstehen; ich hatte Melanis Spiel kaum vierundzwanzig Stunden nachdem ich ihn wiedergetroffen hatte, durchschaut. Du machst Fortschritte, sagte ich mir mit bitterer Ironie.

Freilich musste ich einräumen, dass meine Anklagen Atto aus der Fassung gebracht zu haben schienen. Doch ich durfte mich nicht täuschen lassen: Immer hatte er mir etwas vorgespielt, sogar in den tragischsten Momenten. Ich hatte ihn über den Tod eines seiner liebsten Freunde weinen sehen, um später zu entdecken, dass er selbst bis zum Hals in die Sache verwickelt war. Ich durfte nicht vergessen, dass Atto ausgerechnet an dem Tag in Wien eingetroffen war, an dem der Kaiser die ersten Anzeichen seiner Krankheit verspürt hatte. Genauso hatte es sich in der Vergangenheit schon einmal abgespielt: Vor achtundzwanzig Jahren war Melani just an dem Tag in die Locanda des Donzello gekommen, als jener alte, französische Gast auf unerklärliche Weise verstarb …

Der bösartige Kastrat hatte mich immer wie eine Schachfigur benutzt: Nicht mehr war ich als der armselige, weiße Bauer, den ich jetzt in der Hand hielt, eine wehrlose Beute für den heimtückischen, schwarzen Läufer, wie dieser schurkische Abbé.

Ich Armer, der ich nur dank Atto Melani Rauchfangkehrermeister und Besitzer eines Häuschens und Weingartens auf der Josephinsel geworden war! Wenn sein Komplott ans Licht kam, würde ich zusammen mit ihm geradewegs auf dem Schafott enden. Erst hatte er mein Leben und den Unterhalt meiner Familie aufs Spiel gesetzt, und nun drohte der alte Kastrat mich mit sich in den Tod zu reißen! Allein, er war ein Greis von fünfundachtzig Jahren, und im Grunde übernähme der Henker nur eine Aufgabe, die der Tod nicht mehr lange säumen würde, selbst auszuführen. Ich dagegen stand in der Mitte des Lebens und musste eine Familie ernähren! Die Angst machte mich schwindelig und ließ mich am ganzen Körper erschauern.

Fest drückte ich den schwarzen Läufer in der anderen Hand, als könnte ich Abbé Melani auf diese Weise erdrosseln, zerquetschen, wie durch Zauber aus meinem Leben jagen.

Ich betrachtete den selig schlafenden Kleinen und dann das süße Gesicht meiner Frau Cloridia. Dabei verfluchte ich den Kastraten und seine Ränke, die den Schlaf meiner Lieben stören wollten! Und meine beiden Jungfräulein, die in Rom geblieben waren und bang darauf warteten, zu uns zu kommen? Welch ein elendes Schicksal erwartete sie, wenn die Nachricht eintraf, dass ihr Vater wegen Hochverrates verurteilt und dann wie ein gemeiner Verbrecher geköpft oder womöglich (und hier wurden die Angstschauder unerträglich) auf dem entsetzlichen Rad aufgeschlitzt und gevierteilt worden war?

Mit beißender Reue gestand ich mir selbst, dass ich der Verantwortliche für alle Leiden meiner Familie war. Welch ein unwürdiger Gatte und Vater war ich doch gewesen! Ein kläglicher, gemeiner Landsknecht, geradeso unbedeutend wie der weiße Bauer in meiner Hand, dem ich aus Wut den Kopf hätte abbeißen wollen.

Oh, meine Cloridia, dreiste, bezaubernde und gelehrte Kurtisane, die dem kleinen Hausburschen vor achtundzwanzig Jahren die Knie erzittern ließ! Welch einem erbärmlichen Ende hatte ich ihren samtig schimmernden, braunen Teint bestimmt, der einen reizenden Gegensatz zu den vollen Locken bildete, dem Rahmen für die großen schwarzen Augen und die dichtstehenden Perlen des Mundes, die rundliche, stolz hochgetragene Nase, die schwellenden Lippen mit dem Hauch Rot, der genügte, ihnen die vage Blässe zu nehmen, und die kleine, aber feine, harmonische Gestalt mit dem schönen Schnee der Brust, unberührt und von zwei Sonnen geküsst, über den Schultern, die einer Büste von Bernini würdig waren. Ich hatte sie gekannt, als sie erhabener erschien denn eine Madonna Raffaels, verzückter als ein Sinnspruch der Theresia von Ávila, wundersamer als ein Vers des Cavalier Marino, melodiöser als ein Madrigal von Monteverdi, lüsterner als ein Distichon von Ovid und heilbringender als ein ganzer Band von Fracastoro.

Was hatte ich aus ihr gemacht? Die Witwe eines Pendels am Galgen! Anfangs war ich kein schlechter Gatte gewesen, sagte ich mir: Um sich mit mir zu verbinden, hatte sie das Gunstgewerbe aufgegeben, in welches schändliche, geheime Bewandtnisse sie gezwungen hatten. Davon erfuhr ich, als wir uns in der Locanda des Donzello kennenlernten. Ja, aber dann? Wir wohnten in dem Häuschen, das mein Schwiegervater, nicht ich, für uns gekauft hatte, und bis vor zwei Jahren lebten wir von den Erträgen unseres kleinen Landguts, das wir ebenfalls ihm verdankten. Ich hatte hart in der Villa Spada gearbeitet, gewiss, aber was war das schon gegen den Ruf einer ausgezeichneten Hebamme, den Cloridia sich zum großen wirtschaftlichen Vorteil der ganzen Familie erworben hatte?

Welch ein nichtswürdiger Lump war ich doch, dass ich drei Jahrzehnte lang unfähig gewesen war, meiner Gattin Wohlstand zu sichern, ja, ihr sogar die Schmach der Armut und schließlich den Verlust der ererbten Güter ihres Vaters nicht hatte ersparen können! Und dennoch hatte sie sich nie geschont: Sie hatte sich mir mit ihrer ganzen Person anvertraut, war immer treu und zärtlich geblieben und hatte drei Kinder zur Welt gebracht, indem sie ihnen mit ihrem Leib das Sein und mit ihrer Brust das Wohlsein schenkte.

Am Ende dieser Überlegungen schloss der Prozess, den ich so gegen mich selbst geführt hatte, mit einer Verurteilung.

Wieder betrachtete ich den schwarzen Läufer der Schachfiguren. Ich musste zugeben: Wäre er nicht gekommen, der schwarze Abbé Melani, uns aus dem Elend zu erlösen, wir säßen um diese Zeit immer noch in Rom, hungernd, der Kleine vielleicht schon tot, erfroren bei einem neuerlichen Kälteeinfall, ich umgekommen durch einen Sturz vom Dach oder von einem Kamin oder, schlimmer noch, verbrannt in einem Rauchabzug, der Feuer gefangen hatte. Wer konnte das wissen? Zwar erfüllte Atto mit dieser Schenkung ein Versprechen, grübelte ich mit schwankenden Gefühlen; doch wenn ich ihn nie gekannt hätte, wäre ich dann nicht trotzdem an der Hungersnot von 1709 und dem Verfall der Familie Spada, meiner Brotherren, gescheitert?

Wien und Rom, Rom und Wien: Unversehens entwirrte sich mir im Geiste jener verborgene, rote Faden meines Lebens. Vor achtundzwanzig Jahren, als sich in Wien die Zukunft Europas entschied, sollte die Begegnung mit Abbé Melani in jener kleinen Locanda, zwei Schritt von der Piazza Navona entfernt, für immer mein Leben verändern. Er hatte mich unterwiesen in den Geheimnissen und Listen der Politik, der staatlichen Intrige, der dunklen facies des menschlichen Daseins. Er hatte mich rechtzeitig aus der blinden Einfalt gerettet, zu der ich andernfalls verdammt gewesen wäre. Indem er mich das Böse in der Welt lehrte, hatte er mich schließlich dazu gebracht (obwohl das nicht seine Absicht gewesen war), dieses Böse zu fliehen, den eitlen Jugendtraum aufzugeben, Gazettenschreiber zu werden, und mich stattdessen auf die wichtigen Dinge des Lebens zu besinnen: die Familie, die Liebe zu den Meinen, ein bescheidenes, tugendhaftes Dasein, von Gottesfurcht bestimmt.

Doch im Laufe der Zeit hatte er mich immer wieder für seine Zwecke ausgenutzt und betrogen. Stets war ich sein gefügiges, unwissendes Werkzeug gewesen, denn ich hatte ihm geholfen, seine Machinationen zugunsten des Königs von Frankreich durchzuführen. Er hatte das von mir bekommen, was ihm zustattenkam: Unterstützung, Rat, sogar Zuneigung.

All das schien sich jetzt geändert und sogar in sein Gegenteil verkehrt zu haben. Ich war nicht mehr der einfältige Jüngling unserer ersten Begegnung und auch nicht mehr der noch junge Familienvater, den er bei seiner Rückkehr nach Rom angetroffen hatte. Ich war ein reifer Mann von achtundvierzig Jahren, abgehärtet gegen alle Mühen des Lebens. In diesem Wien, das bei unseren ersten Abenteuern vor fast drei Jahrzehnten eine so große Rolle gespielt hatte, war ich endlich entschädigt worden für all das, was Atto Melani mir genommen oder ins Blaue hinein versprochen hatte. O Gott, sollte dies alles denn wirklich tragisch am Galgen enden?

Nachdem ich Verzweiflung und Zorn, tausend Gewissensbissen und ebenso vielen Seelenqualen freien Lauf gelassen hatte, schüttelte ich, wie die Gans, die aus dem Teich steigt und mit den Flügeln wedelt, um sich zu trocknen, alle Erinnerungen von mir ab und dachte wieder über die Gegenwart nach. Das Unwohlsein, das der alte Kastrat soeben gezeigt hatte, schien keine Verstellung zu sein: Mit eigenen Augen (und nicht zuletzt mit der Nase …) hatte ich mich von dem erbarmungswürdigen Zustand überzeugen können, in den die Nachricht von der Erkrankung des Erlauchten Kaisers ihn versetzt hatte. Und hatte ich nicht auch gehört, wie Atto mir mit leidenschaftlicher Emphase das Heldentum Josephs des Sieghaften beschrieb? Ja, zuvor noch, an jenem Tage, an dem wir uns im Kaffeehaus Zur Blauen Flasche wiederbegegnet waren, hatte er mir da nicht in düsteren Farben den schmählichen Niedergang Frankreichs und das Scheitern der selbstgefälligen Regentschaft Ludwigs XIV. ausgemalt, um stattdessen Wien und die Habsburger in den Himmel zu loben? Das waren gewiss nicht die Reden eines Feindes Österreichs. Es sei denn …

Es sei denn, er hätte mir all diese Vorträge absichtlich gehalten, um mich zu täuschen und meinen Argwohn von sich abzulenken.

Ich sank nicht in den Schlaf, nein, ich fiel fast in Ohnmacht, als mir Hristos Schachbrett unversehens aus den Händen fiel und aus dem doppelten Boden ein Zettel zum Vorschein kam:

SCHAH MATT

SCHACHMATT

DER KÖNIG IST ERLEDIGT