22 Rayne
Das Spiel ist aus, wie man so schön sagt. Ich habe Kotze auf meiner Bluse und ein Flugzeug voller Zombies starrt mich mit gierigen Blicken an, während eine Zombiekönigin den Gang entlangkommt und auf mich zustapft. Meine einzige Waffe - eine halbautomatische Pistole -
steckt unter meinem Sitz und ist in dreißig-tausend Fuß Höhe im Prinzip nutzlos.
Queenie braucht nicht lange, bis sie bei mir ist.
»Du«, ruft sie. »Du bist keins von meinen Kindern.« Sie starrt mich an, während ich versuche, damit klarzukommen, dass sie diese Halbverwesten als Familie betrachtet. Das erklärt vielleicht einiges. »Nein... du bist. . .« Entsetztes Erkennen gleitet über ihre Züge, »...das Mädchen aus dem Club!« Sie schaut zu Jareth hinüber, der jetzt vor mir steht und mit einem überraschten Ausdruck im Gesicht auf mich herunterschaut. »Was soll das?«, fragt sie.
Jareth beachtet sie nicht und richtet stattdessen das Wort an mich. »Na, na, wenn das nicht die einfache Sterbliche ist«, sagt er. »Du kommst wirklich überall rein, was?« Hm. Höre ich da tatsächlich einen Unterton von Bewunderung in seiner Stimme?
»Was macht sie hier?«, kreischt Queenie ohne die geringste Bewunderung.
Er lacht leise. »Ich kann dir versprechen. Liebste, dass ich wie immer nicht die leiseste Ahnung habe, was Miss McDonalds Motive betrifft.«
Ich unterdrücke ein Kichern. Queenie starrt mich mit Gift sprühenden Augen an. Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch sie wird von einem plötzlichen Kreischen zwei Reihen weiter vorne unterbrochen. »Ih!«, ruft Spider und springt von ihrem Sitz. »Pass auf, Mann, du sabberst!«
Sie wischt ihren Arm am Sitzkissen ab, einen angewiderten Ausdruck im Gesicht. Klasse. Ich schätze, wir sind jetzt beide aufgeflogen.
Queenie marschiert zu Spider, packt sie grob am Arm und zerrt sie zu Jareth. Der Vampir unterzieht sie einer kritischen Musterung. »Es gibt noch so eine?«, fragt er geringschätzig.
»Aber ich schätze, die hier ist wenigstens nicht der Drilling."
»Siehst du?«, murmelt Spider. »Ich habe dir doch gesagt, dass wir uns überhaupt nicht ähnlich sehen.«
»Hör mal, können wir mit dir reden?«, frage ich Jareth und denke, dass wir genauso gut reinen Tisch machen können.Na ja, so rein wie möglich, während mir die Kotze über die Bluse läuft und auf Spiders Arm der Zombiesabber trocknet.
Ich schaue zu Queenie. »Allein?«
»Weißt du, alles, was du meinem Freund zu sagen hast . . . «, setzt Queenie an.
Meine Güte. Sie benimmt sich wirklich wie in der dritten Klasse.
Zum Glück fällt Jareth ihr ins Wort. »Es ist schon okay, Liebling«, versichert er ihr und beugt sich vor, um sie auf die Wange zu küssen. Welche Anstrengung muss es ihn kosten, so nett zu sein zu jemand so Grässlichem? »Du bleibst hier und kümmerst dich um deine Kinder«, sagt er. »Und ich kümmere mich hinten um unsere blinden Passagiere.«
Queenie stimmt widerstrebend zu, obwohl sie so aussieht, als würde es ihr ganz und gar nicht passen. Während sie den Gang hinuntergeht, folgen wir Jareth in den hinteren Teil des Flugzeugs durch eine kunstvolle Holztür in eine zweite Kabine. Anders als im ziemlich gewöhnlichen vorderen Abteil gibt es hier hinten einen luxuriösen Sitzbereich ganz in Dunkelrot und Schwarz mit einer Bar, die mit Flaschen mit voller Blut bestückt ist. Vampir Air, echt todschick.
Spider schaut sich um und stößt einen leisen Pfiff aus.
Jareth schließt die Tür hinter uns, dann dreht er sich mit erwartungsvoller Miene um. »So«, sagt er mit sanfter Stimme. »Welchem Umstand verdanke ich diese zweifelhafte Ehre?«
»Ehm, die Spieltische rufen und wir fahren nicht gern im Kofferraum mit«, versucht Spider es, was ich ihr hoch anrechne. Aber Jareth verdreht nur die Augen und wendet sich dann zu mir.
Ich schnaube. »Nichts für ungut, aber du bist derjenige mit dem Flugzeug voller Zombies«, erinnere ich ihn. »Vielleicht solltest du auch einmal anfangen mit dem Erklären.«
»Das geht euch nichts an.«
»Eigentlich«, verbessere ich ihn, »irgendwie doch. Ich meine, hast du mal Die Nacht der lebenden Toten gesehen? Das ist einer der wenigen Horrorfilme, in dem am Ende nicht einmal die jungfräuliche weiße Braut überlebt.«
»Und? Denkst du wirklich, zwölf Zombies bringen die Apokalypse über die Welt?«
»Zwölf Zombies nicht, nein. Aber sobald Pyrus Queenie in die Finger bekommt, wird er noch ein paar mehr heraufbeschwören. Eine ganze Armee. Und das bedeutet, dass wir den Menschen auf dieser Welt Lebewohl sagen können.«
»Ich weiß nicht, was du gehört hast«, erwidert Jareth. »Aber ich kann dir versichern, es hat nichts mit deiner kostbaren menschlichen Gattung zu tun. Wir benutzen sie nur, um uns Slayer Inc. vorzunehmen. Und die haben wirklich verdient, was auf sie zukommt.«
»Slayer Inc.?«, mischt Spider sich mit entrüsteter Stimme ein. Oh oh. »Was hat Slayer Inc. Ihnen denn getan?«
Jareth fährt zu ihr herum und seine Augen treten fast aus den Höhlen. Oje. »Wie bitte?«, fragt er mit gepresster Stimme.
Spider stößt ein kleines Wimmern aus und weicht schnell zurück. »Ehm, ich meine ja bloß, nur so«, stammelt sie. »Es ist nicht so, dass ich sie irgendwie mag, wissen Sie, oder dass ich für sie arbeite oder so.«
»Eigentlich hat Jareth einen ziemlich triftigen Grund, Slayer Inc. zu hassen«, mische ich mich schnell ein, bevor sie sich noch verdächtiger machen kann. »Zumindest deren frühere Besetzung. Sie haben seine Familie getötet. Weil sein Bruder und seine Schwester Kindvampire waren.«
Jareth lässt dankenswerterweise von Spider ab und richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Woher weißt du das?«, will er wissen und seine Augen sind voller Argwohn. »Woher weißt du von meiner Familie?«
»Das spielt keine Rolle. Der Punkt ist, dass das Slayer Inc. vor vielen Hundert Jahren war. Die heutige Organisation würde so etwas nie tun.« .
»Das tun sie sehr wohl.« Der Vampir verschränkt die Arme vor der Brust. »Vor zwei Nächten.
Weißt du nicht mehr? Sie haben Lucifent aufge-lauert, weil er ein Kindvampir ist. Und du und deine Schwester, ihr habt uns gewarnt.«
Seufz. »Ja«, gebe ich zu. »Unser Fehler. Es hat sich herausgestellt, dass sie tatsächlich einen guten Grund hatten, ihn auszuschalten.«
»Und der wäre...?«
»Ähm, weil er eine Armee von Zombies auf die Welt loslässt?«, rufe ich ihm in Erinnerung und deute auf die vordere Kabine. »Du musst zugeben, dass das ziemlich übel ist.«
»Ich versichere dir noch einmal...«
»...dass ihr nur hinter Slayer Inc. her seid. Das hast du gesagt. Aber woher willst du das wirklich wissen?« ,
»Und woher willst du das wirklich wissen? Du hast dich ja schon einmal geirrt.«
Ich wusste, dass er das sagen würde. Und was soll ich darauf erwidern? Dass der zukünftige Jareth mir in einem Traum erschienen ist und mich vor Pyrus' wahren Absichten gewarnt hat?
Das kauft er mir absolut nicht ab.
»Mann, ich verstehe vollkommen, dass du auf Rache aus bist und so«, sage ich und versuche es mit einer anderen Taktik. »Aber aus eigener Erfahrung kann ich dir sagen, dass die ganze Sache mit >Auge um Auge< im richtigen Leben nie funktioniert. Und du musst zugeben, dass Slayer Inc. in seiner heutigen Form eine wertvolle Polizei der Anderwelt ist. Sie erhalten den Frieden. Sie beschützen sowohl Menschen als auch Vampire vor denen, die ihnen Böses wollen.
Stell dir vor, wie die Welt ohne sie wäre. Es wäre das reinste Chaos. Keine Ausgewogenheit, keine Kontrolle. Keine Gesetze. Jeder miese Diktator könnte einfach von einem Moment auf den nächsten reinrauschen und die Welt verwüsten.«
Ich zucke die Achseln. »Fazit: Lucifent lebt noch und man hat ihm kein Haar gekrümmt. Wäre es nicht das Beste, Friedenzu schließen und weiterzuleben?«
»Ich werde niemals mit Slayer Inc. Frieden schließen«, erklärtJareth mit Nachdruck. »Du warst nicht dabei. Du hast nicht das Gesicht meiner Schwester gesehen, als die Jägerin ihr einen Pflock ins Herz gerammt hat.«
Vielleicht nicht, würde ich gern sagen, aber ich habe deine Schwester und den Rest deiner Familie gesehen, wie sie glücklich bis ans Ende aller Tage in einer umwerfenden Burg unten im Hades leben und ihr Jenseits lieben.
Wenn es doch nur einen Weg gäbe, wie ich Jareth das Lächeln seiner Schwester zeigen könnte. Und wie er das Lachen seiner Mutter hören und den Duft vom Grill seines Vaters riechen könnte. Ich habe das Gefühl, dass er, erst wenn er weiß, wie glücklich und sicher sie sind und wie sehr sie sich wünschen, dass er ebenfalls glücklich und sicher sein möge - dass er es erst dann schafft, sich von dem Hass, dem Zorn und den Schuldgefühlen zu befreien, die er so viele Jahre lang mit sich herumgetragen hat.
Ich drehe mich zu Spider um. »Hast du was dagegen, wenn ich kurz allein mit Jareth rede?«, frage ich.
Sie wirkt zögerlich. »Du willst doch nicht, dass ich . . . wieder... da rausgehe?«, entgegnet sie argwöhnisch und zeigt mit einem ihrer zittrigen Finger auf die Zombiekabine.
Guter Einwand. Ich lasse den Blick durch den Raum wandern. »Wie wär's mit dem
Waschraum? Wir brauchen nicht lange, ich schwöre es.«
Zum Glück nickt sie. »Gute Idee. Dann kann ich mir diesen abscheulichen Zombiesabber abwaschen.« Sie hüpft zum Waschraum hinüber, verschwindet darin und schließt die Tür hinter sich. Sobald sie weg ist, dreht Jareth sich zu mir um.
»Also, erzähl mir«, sagt er mit gepresster Stimme. »Wer bist du wirklich und wo kommst du her? Und tisch mir nichts mehr von diesem Blödsinn auf, von wegen du wärst eine einfache Sterbliche. Ich weiß, du verheimlichst mir etwas, und ich will wissen, was es ist.«
»Du hast recht«, antworte ich und hole tief Luft.
Also raus damit. »Ich bin Rayne McDonald. Und ich komme aus der Zukunft.«
»Genau.« Er schnaubt. »Der Witz ist gut.«
»Er ist gut, weil er wahr ist«, beharre ich. »Denk doch mal eine Sekunde lang nach. Woher sollte ich sonst alles wissen, was ich weiß? Über deine Familie. Über dich.«
»Und was, bitte schön, weißt du über mich?«
Da ist so viel. Wo soll ich nur anfangen?
»Ich weiß, dass du früher Bildhauer warst«, antworte ich. »Und dass man noch immer viele von deinen Werken überall in Europa sehen kann. Ich weiß, dass du deine Kunst geliebt hast, dass du sie aber aufgegeben hast, nachdem deine Familie gestorben war - eine zu schmerzhafte Erinnerung an das, was du verloren hast. Ich weiß, dass du nach ihrem Tod geschworen hast, allein auf Erden zu wandeln und nie wieder jemanden zu lieben.« Ich halte inne, dann füge ich hinzu: »Und ich weiß, dass du deine Meinung ändern wirst. Dass du dich verlieben wirst - und zwar in mich.«
Jareth runzelt die Stirn. »Unmöglich!«
»Wirklich?«, rufe ich. »Ist es so schlimm, dir eine Zukunft vorzustellen, in der du nicht voller Hass, Zorn und Rachsucht sein wirst? Wo du in der Lage sein wirst, deine tiefsten Ängste und die schmerzhaftesten Erinnerungen loszulassen und es zu wagen, jemand anderem außer dir selbst zu vertrauen?«
»Das hast du dir ausgedacht«, beharrt Jareth wütend. »Du hast mir nichts erzählt, was du nicht allein hättest herausfinden können. Wenn du wirklich aus der Zukunft kommst – wenn ich dir von diesem sogenannten Schmerz tatsächlich erzählt habe, dann sag mir, was mein tiefstes Geheimnis ist. Das, was ich noch nie jemandem erzählt habe.«
Ich nicke langsam und wünschte, ich müsste es nicht tun. Er verlangt es vielleicht, aber er will es nicht wirklich hören.
»Du denkst, es sei deine Schuld, dass deine Schwester ermordet wurde«, sage ich endlich.
»Weil du weggelaufen bist, statt ihr zu helfen.«
Jareth wird weiß wie ein Geist. Er redet nicht. Er bewegt sich nicht. Er starrt mich nur an mit Augen, die getrübt sind vor Verwirrung und Furcht. Ich halte den Atem an und bete, dass ich keinen Fehler gemacht habe. Dass er nicht in Wut gerät und mich auf der Stelle dafür tötet, dass ich es laut ausgesprochen habe. Aber ich musste ihn dazu bringen, mir zu glauben. Sonst spielt das alles keine Rolle mehr.
Schließlich, nach einer Zeit, die mir vorkommt wie eine Ewigkeit, öffnet er den Mund, um zu sprechen. »Das habe ich nie jemandem erzählt«, sagt er mit leiser Stimme.
»Noch nicht, nein«, verbessere ich ihn freundlich.
»Aber du wirst es tun. Weil du mir vertraust. Und du weißt, dass ich dein Vertrauen verdiene.«
Er schließt die Augen und in seinen Zügen tobt ein Kampf widerstreitender Gefühle. Ich warte geduldig darauf, dass er das verdaut, was ich gesagt habe. Ich weiß, es ist ziemlich viel auf einmal. Zu viel vielleicht. Aber die Uhr tickt. Und ich muss ihn davon überzeugen, dass ich es wert bin, dass er mir auch in anderen Dingen vertrauen kann, bevor wir landen und es zu spät ist.
»Dein zukünftiges Ich vertraut mir deine schmerzhaftesten Geheimnisse an«, sage ich sanft. »Ich bitte dich nur, mir auch in dieser Sache zu vertrauen. Projekt Z ist nicht das, was du denkst. Pyrus wird die Zombies, die Lucifent ihm anbietet, dazu benutzen, Slayer Inc.
auszulöschen, ja. Aber er wird sich damit nicht zufriedengeben. Er wird weitere Zombies erwecken - eine ganze Armee - und einen Krieg gegen die Menschheit anfangen. Und dann wird er die Menschen zu Vieh herabstufen, denen man nach Belieben Blut abzapfen kann. Vampire werden wieder zu den Monstern werden, die sie früher waren. Nicht mehr länger zivilisiert, nicht mehr bemüht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, sondern sie zu zerstören. Und es wird niemanden geben, der sie aufhält.« Ich werfe ihm einen kläglichen Blick zu. »Ich weiß, warum du Slayer Inc. hasst. Aber jetzt brauchen wir sie.
Oder alles, wofür du im Laufe der Jahre so hart gearbeitet hast, wird zerstört werden.«
Jareth geht im Raum auf und ab wie ein Tiger im Käfig und fährt sich mit der Hand durch seine zerzausten Haare. »Das ist unmöglich«, murmelt er leise. »Das muss irgendein Trick sein.«
Meine Schultern sacken herunter. Besiegt. Er ist so stur – genau wie ich. Und wenn ich es nicht schaffe, dass er mir die Sache mit der Zeitreise glaubt, wird er mir auch glauben, was den Rest betrifft. Aber wie kann ich es ihm beweisen? Wie kann ich ihm zeigen, was ich alles gesehen habe? Damals, als wir Blutsgefährten waren, hatten wir eine Verbindung. Ich konnte nach ihm rufen, konnte Botschaften in sein Gehirn schicken. Aber jetzt...
Das ist es. Meine Gedanken überschlagen sich, als mir die Idee kommt. Könnte es wirklich funktionieren?
Ich muss es versuchen. Wir haben fast keine Zeit mehr.
»Ich kann es beweisen!«, platze ich heraus, bevor der Mut mich verlässt. »Ich kann alles beweisen, was ich gesagt habe.«
Er dreht sich auf dem Absatz um und schaut auf mich herunter und ein winziger Funken Hoffnung erhellt seine Züge. Er will mir glauben, erkenne ich. Unbedingt. »Wie k annst du es beweisen?«, fragt er zögernd.
Ich strecke das Handgelenk aus. »Beiß mich.«
»Was?«
»Du willst die Wahrheit wissen? Du erfährst sie von mir. Sieh dir an, was ich gesehen habe. Hör dir an, was ich gehört habe. Nur dann wirst du überzeugt sein, dass ich dir die Wahrheit sage.«
Jareth schüttelt den Kopf. »Nein«, erwidert er.
»Das verstößt gegen die Regeln. Es verstößt gegen alles, was ich aufrechtzuerhalten geschworen habe.«
»Ich kann dir deine Schwester zeigen«, sage ich leise.
Seine Augen verengen sich. »Wie solltest du ...«
»Würdest du es nicht lieber selber sehen?«
Er presst die Augen fest zusammen, dann öffnet er sie wieder. »Wenn du lügst...«
»Wenn ich lüge, kannst du mich leer trinken. Du tötest mich auf der Stelle und bist für immer fertig mit mir. Wie wäre es damit?«
Er seufzt.
»Na komm schon, Jareth. Willst du wirklich in dem Wissen weiterleben, dass du die Chance hattest, deine Schwester ein letztes Mal zu sehen, und dass du dir diese Chance hast entgehen lassen?«
»Nein«, antwortet er resigniert. »Wahrscheinlich nicht.«
Er nimmt mein Handgelenk mit zitternden Fingern und führt es langsam an den Mund.
Während ich erwartungsvoll den Atem anhalte, spüre ich, wie seine Reißzähne in meine Adern gleiten. Ich warte auf die Ekstase, die eigentlich kommen müsste. Das Gefühl der Verbundenheit zwischen zwei Wesen, die ein Blut teilen. Aber statt des Glücksgefühls empfinde ich nur eisige Furcht und übermächtigen Zweifel.
Er glaubt mir nicht. Er hat seinen Geist verschlossen. Und ich werde mich verdammt anstrengen müssen, um dafür zu sorgen, dass er sieht, was er sehen muss, bevor er sich von mir löst.
Und so schließe ich die Augen und setze meine ganze geistige Kraft ein, führe ihn zurück zu dem Morgen im Hades, als wir zu der Burg seiner Familie gegangen sind. Als seine Schwester durch die Haustür gestürzt kam und ihm ungestüm die Arme um den Hals geschlungen hat. Als sie ihm die Wahrheit darüber gesagt hat, was wirklich mit ihr geschehen ist. Dass er ganz und gar nicht schuld war an ihrem Tod.
»Jareth, ich kann den Willen von anderen be-einflussen«,erklärt sie. »Das konnte ich von Anfang an, seit ich mich in einen Vampir verwandelt habe.« Verlegen zuckt sie mit den Achseln. »In jener Nacht war mir vollkommen klar, dass du dich sofort mit blitzenden Vampirzähnen in den Kampf stürzen und versuchen würdest, sie ganz allein zu besiegen -
obwohl das dein Tod gewesen wäre. Also habe ich dich manipuliert. Ich habe dir eingeflüstert, dass du an einer bestimmten Stelle bleiben sollst. Schließlich musstest du dich schon um all die anderen Vampire des Blutzirkels kümmern.
Ich konnte nicht zulassen, dass du dich für mich opferst.«
Jareth starrt sie an und schüttelt ungläubig den Kopf »Also habe ich dich nicht im Stich gelassen?«
»Jedenfalls nicht aus freien Stücken. Du hättest dich meinem Einfluss nie und nimmer entziehen können«, versichert sie. Dann nimmt sie erneut Jareth' Hände und sieht ihn mit ihren kühlen blauen Augen an. »Jareth, du hast meinen Tod nicht verschuldet. Ich habe dir das Leben gerettet.«
Jareth lächelt an meinem Handgelenk und ich kann spüren,wie blutige Tränen auf meine Haut tropfen. Auch meine Augen werden feucht, als ich begreife, wie viel ihm das bedeutet. Wie nah ich mich ihm jetzt fühle, solchermaßen verbunden, während ich spüre, wie über alle Maßen erleichtert er ist und wie glücklich, dass er endlich die Wahrheit kennt. Ich würde ihn so gern für immer in dieser Erinnerung verweilen lassen.
Ihm Zeit mit seiner Schwester und seiner Familie schenken, damit er die ganze Liebe in sich aufsaugen kann, die er in all den Jahren versäumt hat. Aber wir müssen uns beeilen.
Deshalb zeige ich ihm den Rest. Pyrus. Wozu er fähig ist. Wie er plant, aus ihrer Demokratie eine Diktatur zu machen. Was er wirklich vorhat mit Projekt Z.
Aber wir haben die Macht, ihn aufzuhalten, rufe ich Jareth in Erinnerung. Wir können ihn jetzt aufhalten, bevor irgendetwas von alledem geschieht.
Und dann zeige ich ihm endlich uns. Ich weiß, das ist wahrscheinlich nicht das Wichtigste, auf das ich mich konzentrieren sollte. Aber wie könnte ich die einzige Chance vertun, ihn teil-haben zu lassen an den Erinnerungen, die ich an unsere Liebe habe? Und so befreie ich meinen Geist und lasse die Bilder fließen, damit er alles erfährt, was wir gemeinsam erlebt haben.
Ich schließe mit der Nacht im Hades, als ich gezwungen war, ihn zu verlassen. Und mit dem Versprechen, das ich ihm gegeben habe - ihn hier zu suchen und ihn dazu zu bringen, mich wieder zu lieben.
Schließlich löst Jareth sich von mir und seine Reißzähne gleiten mühelos aus meinem Handgelenk. Er greift nach einem weißen Verband und verbindet mich vorsichtig, verhindert, dass das Blut zu schnell aus der Wunde tritt. Dann schaut er zu mir auf und Tränen aus Blut strömen ihm über die Wangen.
Ich umfasse seine eisige Hand und versuche, sie mit meinen Fingern zu wärmen.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich sie jemals wiedersehen würde«, flüstert er und senkt den Blick auf meine Hand. »Und was sie gesagt hat . . . « Seine Stimme erstirbt. Als er wieder aufschaut, ist sein Gesicht voller Anerkennung und Ehrfurcht. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel du mir gerade gegeben hast«, murmelt er.
»Ich werde dir dieses Geschenk niemals vergelten können ... solange ich lebe.«
»Doch, das kannst du«, versichere ich ihm und versuche, meine Stimme kraftvoll klingen zu lassen. »Indem du uns hilfst, Pyrus zu besiegen, bevor er zu stark wird. Wir haben immer noch eine Chance, wenn wir zusammenarbeiten.«
Er nickt entschlossen. »Natürlich«, antwortet er.
»Das Letzte, was ich will, ist ein Krieg, in dem noch mehr Unschuldige getötet werden. So wie meine Familie getötet wurde.« Er schluckt. »Wir müssen dem ein Ende machen. Und zwar sofort.«
»Also, wir können anfangen, indem wir die Zombies zurückpfeifen. Sag Queenie da draußen Bescheid, dass du deine Meinung geändert hast.
Dass du ihre Dienste nicht mehr brauchst. Sag ihr, sie soll die Zombies zurück in ihre Gräber schicken, wo sie hingehören, bevor sie Schaden anrichten können.«
Jareth stimmt zu, dann lacht er leise.
»Was ist?«, frage ich. Mein Gesicht wird heiß, aber ich weiß nicht genau, warum.
»Du dachtest, sie ist meine Freundin«, sagt er.
»Meine richtige Freundin.«
»Ja«, gebe ich zu. Jetzt ist mein Gesicht glühend rot. »Obwohl ich etwas überrascht war, ehrlich gesagt. Sie ist irgendwie nicht dein Typ.«
»Und was ist mein Typ, wenn ich das fragen darf?«, erwidert Jareth spöttisch. Und plötzlich wird mir bewusst, dass sein Gesicht ganz nah bei meinem ist.
Ich grinse. »Eine einfache Sterbliche, die ein Nein als Antwort nicht akzeptiert?«
Er lacht, ein süßes, sanftes Lachen. Dieses Lachen, das ich so lange vermisst habe. Dann zieht er mich unvermittelt an sich. So nah, dass ich seinen Atem auf meinen Lippen spüre. Oh Gott. Wird er es wirklich tun? Werde ich wirklich unseren ersten Kuss erleben ... noch einmal?
Aber gerade als seine Lippen meine Haut streifen, hallt ein Kreischen durch den Raum. Wir springen auseinander und fahren herum, um zu sehen, was um alles in der Welt ein so grässliches Geräusch gemacht haben könnte.
Es ist Queenie. Sie steht in der Tür und sie starrt uns mit wutverzerrtem Gesicht an. »Wie kannst du es wagen?«, fragt sie mit brüchiger Stimme.
»Wie kannst du es wagen mich zu betrügen?«
Jareth' Augen weiten sich vor Angst. »Hör mal, Glenda«, versucht er es. »Ich kann alles erklären!«
Aber Queenie - oder Glenda - scheint keine Erklärung hören zu wollen. Sie hat sich schon zur Gegensprechanlage umgedreht, die an der Wand neben der Tür angebracht ist. Sie zieht den Transmitter an den Mund und funkelt Jareth mit tiefster Abscheu an.
»Passagiere, aufgepasst«, schnurrt sie ins Mikrofon. »Ihr könnt euren Gurt lösen. Es steht euch jetzt frei, überall in der Kabine zu essen.«
Oh, oh.