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»He, Sunny, bereit für das große Spiel heute Abend?«

Ich stehe in der Schulmensa zum Mittagessen an, und als ich mich umdrehe, klopft mir meine alte Freundin und Mannschaftskameradin Amanda auf die Schulter. Wow. Ich habe sie nicht mehr gesehen seit...

Gestern. Sunny, du hast sie seit gestern nicht mehr gesehen. Zumindest denkt sie das.

»Absolut«, zwinge ich mich zu antworten und versuche, meine Stimme so lässig klingen zu lassen wie möglich. Es ist ganz seltsam, all diese Leute wiederzusehen, die ich nicht mehr getroffen habe, seit Rayne und ich im letzten November die Oakridge High School verlassen haben, um nach Vegas zu gehen. Das Merkwürdigste ist, dass für sie überhaupt keine Zeit vergangen ist. »Ich bin schon ganz heiß drauf.«

»Gut«, erklärt Amanda und wirkt erleichtert. »Als du in der ersten Stunde nicht da warst, habe ich mir schon Sorgen gemacht. Wir müssen dieses Match heute Abend unbedingt gewinnen, sonst sind wir für den Rest der Saison im Arsch.«

»Ich weiß schon«, erwidere ich und gebe mir die größte Mühe, ein angemessenes Maß an Besorgnis aufzubringen wegen irgendeines x-beliebigen Highschoolspiels, das mir so egal ist wie nur was. Also wirklich. Ob man gewinnt oder verliert? Was zählt das schon auf lange Sicht?

Es steht ja nicht das Leben von irgendjemandem auf dem Spiel. Wenn wir kein Tor schießen, übernimmt schließlich kein böser Vampir die Stadt und will alles zerstören. Verdammt, ich habe dasselbe Spiel schon einmal gespielt und ich kann mich nicht einmal erinnern, wie es ausgegangen ist.

Es ist schon komisch. Ich dachte, ich würde total ausflippen, wenn ich wieder in der Schule wäre.

Zurück in meinem früheren Leben und wieder mit meinen alten Freunden zusammen. Aber bis jetzt war der erste Tag ein totaler Albtraum. Und zwar nicht einer von diesen dramatischen, unheimlichen Albträumen, die wenigstens noch interessant sind. Sondern eher wie in Und täglich grüßt das Murmeltier. Ich habe das Gefühl, als hätte ich das alles heute schon tausend Mal durchlebt.

»Übrigens, ich habe gehört, dass Jake Wilder vielleicht heute Abend zum Spiel kommt«, fügt Amanda hinzu und schenkt mir ein nicht gerade unauffälliges Zwinkern.

Jake Wilder. Wow. Ich hatte fast vergessen, dass er überhaupt existiert. Es ist schwer zu glauben, dass der Sexgott der Schule - der Typ, in den ich damals total verknallt war – einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben war. Wenn ich so zurückdenke, kann ich mich gar nicht mehr erinnern, was ich überhaupt an ihm gefunden habe. Ich schätze, er sah gut aus. Und beliebt wird er wohl auch gewesen sein. Aber er kann Magnus niemals das Wasser reichen. Dem wunderbarsten Freund im ganzen Universum.

Den ich wahrscheinlich nie wiedersehen werde.

Bevor wir zur Schule gefahren sind, haben Rayne und ich einen Pakt geschlossen, von jetzt an ein normales, vampirfreiesLeben zu führen.

Zu viele schlimme Dinge sind in der Vergangenheit, die keine mehr ist, passiert, weil wir unsere Spielchen mit der Anderwelt getrieben hatten, meinte meine Schwester. Und es wäre besser für alle Beteiligten, wenn wir uns ganz raushalten und von jetzt an ein ganz normales, alltägliches Leben führen würden.

Aber obwohl ich vom Verstand her weiß, dass sie recht hat, sagt mein Herz etwas anderes. Wie soll ich mich jemals wieder mit jemandem abgeben wie Jake Wilder, wo ich doch weiß, dass es am Rand meiner Realität jemanden wie Magnus gab?

Ich bekomme mein Mittagessen — ein paar eklige, vertrocknete Chicken Nuggets mit Pommes frites - und folge Amanda zu dem Tisch, wo der Rest der Hockeymannschaft offenbar über die Vor-und Nachteile von unterschied-lichen Lipgloss-Marken diskutiert und dabei ziemlich viel Gift versprüht, wenn man bedenkt, um was für ein Thema es geht.

»Oh mein Gott, ist das dein Ernst?«, ruft Olivia angewidert. »Das Zeug ist wie flüssiger Kleber!

Das letzte Mal, als ich ihn benutzt habe, bin ich fast an Carter kleben geblieben, während wir uns geküsst haben!«

»Das ist doch nicht so schlecht«, gab Ava mit einem verschlagenen Lächeln zurück.

»Also bitte«, schaltete Jessica sich ein. »Ich mache mir meinen eigenen Lipgloss. Man braucht bloß ein bisschen Bienenwachs, ein bisschen Honig . . .«

»Also, ähm, hat irgendwer von diesem verrückten Terroristenattentat in Syrien gehört?«, platze ich in das Gespräch hinein, nachdem ich mit meinem Handy nach einer Nachricht aus dem aktuellen Zeitgeschehen gesucht habe.

»Ziemlich beängstigend, oder?«

Die Mädchen drehen sich um und starren mich an, als hätte ich drei Köpfe und gerade verkündet, dass ich mich am Wochenende gern foltern lasse.

»Ähm, ja. Beängstigend«, wiederholt Olivia schnell. Dann dreht sie sich wieder zu Jessica um. »Warte mal. Du machst deinen eigenen Lipgloss? Aber kannst du den auch selber färben? Ich mag gern farbigen ...«

Oh, Gott. Ich stehe von meinem Platz auf und fliehe vor diesem idiotischen Gespräch, wobei ich mein ungenießbares Mittagessen absichtlich stehen lasse. Fanden meine Freundinnen das früher auch schon so wichtig? Habe ich so etwas auch mal wichtig gefunden? Dann fällt mir die absurde Masse Lipgloss ein, durch die ich mich an diesem Morgen in meiner Badezimmerschub-lade wühlen musste, um eine Tube Zahnpasta zu finden. Offensichtlich.

Aber das hat sich geändert. Sosehr ich mich auch bemühe. Ich schaffe es anscheinend nicht mehr, mich für Lipgloss oder Hockeyspiele oder nette Jungs ohne jede Persönlichkeit zu begeistern. Ich interessiere mich auch nicht mehr für Englisch oder Mathe oder dafür, gute Noten zu bekommen. Alles, was früher, in meinem sogenannten normalen Leben, wichtig war, kommt mir jetzt langweilig, öde und lächerlich vor.

Ich muss mich den Tatsachen stellen: Ich bin nicht mehr dieselbe. Bin nicht mehr das unschuldige, naive Wesen, das durchs Leben geflattert Ist, ohne sich um irgendetwas anderes auf der Welt als um Ihr eigenes Wohlergehen zu kümmern. Und ich kann nicht wieder dieselbe werden, auch wenn ich mich noch so sehr bemühe. Nicht wenn ich weiß, was sich sonst noch abspielt unter der Oberfläche unserer Welt.

Die Kämpfe, das Chaos, die Faszination. Und das Wichtigste überhaupt: Irgendwo dort ist der schönste, süßeste, liebevollste Vampir des ganzen Universums.

Der nicht mehr weiß, dass es mich gibt.

Ich lasse den Blick durch die Cafeteria wandern und entdecke meine Schwester, die bei Ihrer besten Freundin Spider sitzt und lacht, als wäre alles so wie früher. Mir stellen sich die Nackenhaare auf. Wieso passt sie wieder so gut hier rein, während ich das Gefühl habe, als wäre ich in der verdammten Twilight Zone? Ich stapfe auf sie zu.

»Also wirklich, Rayne, es gibt doch keinen Level-80-Magier!«, höre ich Spider protestieren, als ich näher komme. »Und ich habe noch nie von so einem Zauber gehört...«

»Ach ja. Stimmt.« Rayne wirkt plötzlich verwirrt, als sie mich näher kommen sieht. »Also, ich glaube, es ist... bis jetzt bloß angekündigt für die nächste Erweiterung.« Sie schaut zu mir hoch und lächelt nervös. »Hey, Sunny!«, ruft sie. »Wie läuft's denn?«

»Ich finde hier nichts über ein neues Erweiterungspack«, murmelt Spider und starrt auf ihr iPhone, während meine Schwester mir einen Rette-mich-Blick zuwirft.

»Rayne, ich muss mit dir reden«, mische ich mich ein und bemerke erst jetzt, dass meine Schwester doch nicht ganz so gut hier hinein-passt, wie es zu Anfang ausgesehen hat. Ich sollte nicht froh darüber sein, aber Irgendwie bin ich es doch. »Allein.«

»Sorry, Spider«, sagt Rayne schnell und mit einem Ausdruck der Erleichterung im Gesicht.

»Wir reden nachher weiter, ja?« Sie springt von ihrem Platz auf und folgt mir zu einem leeren Tisch. Sobald wir sitzen, fährt sie sich mit der Hand über die Stirn. »Gott sei Dank«, sagt sie.

»Ich hatte ja keine Ahnung, wie schwer es ist, sich daran zu erinnern, wann welche Spiele-Updates verfügbar waren.« Sie drückt ein paar Tasten an ihrem Telefon. »Ich hätte schwören können, dass Zwei-Punkt-drei inzwischen rausgekommen ist.«

Ich verdrehe die Augen. »Ähm, kannst du dir vielleicht einen Überblick über die Releases deiner Spiele verschaffen, wenn du allein bist?«

»Oh. Sorry.« Sie blickt auf und steckt ihr Telefon in die Tasche. »Was ist los? Macht dir dein altes Leben Spaß? Hast du schon ein paar von deinen Freunden gesehen? Hast du Jake Wilder gefunden? Ist er noch immer so heiß, wie du ihn in Erinnerung hattest? Vielleicht solltest du ihn zum Schulball einladen. Ich meine, diesmal hast du keinen magischen Vampirduft, der ihn anzieht und ihn dazu bringt, dich zu fragen...»

»Rayne«, unterbreche ich sie. »Ich halt das nicht mehr aus. Alles ist so fade und langweilig. Ich meine, es geht bloß darum, was man anziehen und wen man anmachen soll – und nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.«

»Na ja, offensichtlich interessieren sich ein paar Leute für die kleinen Unterschiede bei den Erweiterungspacks von bestimmten Spielen...«

»Rayne! Ich meine es ernst«, rufe ich und werfe ihr einen flehenden Blick zu. »Was stimmt nicht mit mir? Ich müsste eigentlich furchtbar gern stundenlang über die Vor-und Nachteile von verschiedenen Lipgloss-Marken diskutieren.«

Meine Schwester zieht skeptisch eine Braue hoch.

»Mach dich nicht über mich lustig! Früher fand ich so was ganz toll«, gestehe ich. »Und jetzt will ich meiner besten Freundin nur noch eine Tube von dem Zeug in die Nase schmieren - damit sie endlich still ist!«

»Du hast einen weiten Weg hinter dir, du junger Hüpfer.«

»Ich fand die Highschool früher toll«, seufze ich.

»Einfach alles. Nicht einmal die Hausaufgaben waren besonders schlimm. Aber wenn ich jetzt in meinen Kursen sitze und weiß, dass ich meine Lebenszeit verschwende...« Ich schaue traurig auf. »Ich pack das nicht.«

Meine Schwester lacht bitter. »Du packst das nicht!«, ruft sie aus. »Und was ist mit mir? Mir hat es schon beim ersten Mal nicht gefallen. Das war mit ein Grund, warum ich überhaupt meine Vampirzulassung gemacht habe. Um von hier wegzukommen.« Meine Zwillingsschwester schüttelt den Kopf. »Eigentlich müsste ich heute Abend zum Vampirtraining gehen, um mich auf meine Transformation in eine Untote vorzubereiten. Und nicht mit einer Feuermagierin, die anscheinend alles über die World-of-Warcraft-Wiki auswendig gelernt hat, über Videospielestreiten.«

Ich sehe sie nachdenklich an. Ich hatte diesen kleinen, drei Monate dauernden Trainingskurs ganz vergessen, den sie belegt hatte, um sich als Vampir zu qualifizieren. Ich schätze, der Kurs würde genau jetzt stattfinden, einen Monat vor ihrem Abschluss.

»Und du gehst diesmal nicht hin?«, frage ich neugierig.

Rayne zuckt die Achseln. »Was hätte das für einen Sinn? Diese ganzen bösen Dinge würden nur wieder von vorn anfangen. Und wir würden genau dort enden, wo wir angefangen haben.

Sehen wir den Dingen ins Auge – unsere beste Chance besteht darin, die ganze Vampirgeschichte zu vergessen und zu lernen, in dieser schönen neuen Welt als Sterbliche zu leben.«

»Wohl eher langweilige neue Welt«, stöhne ich.

»Normale neue Welt«, entgegnet Rayne. »Die Art Welt, von der du gesagt hast, dass du immer dort leben willst, könnte ich hinzufügen. Eine Welt ohne verrückte, lebensgefährliche Abenteuer. Keine supergeheimen Verschwörungen. Eine Welt, in der Mom zu Hause lebt und in der Dad nicht tot ist. Und du auch nicht. Ich meine, du musst doch zugeben, es ist viel besser, im Algebrakurs sitzen zu bleiben als im Hades. Zumindest hast du eine Chance, Algebra zu bestehen und weiterzuziehen.«

»Eine sehr kleine Chance«, schnaube ich. Etwas in mir will sagen, die Highschool sei schlimmer als der siebte Kreis der Hölle, aber dann bemerke ich den hoffnungsvollen Ausdruck auf ihrem Gesicht und zwinge mich, stattdessen zustimmend zu nicken. Schließlich hätte sie mich einfach dort lassen und ihr eigenes Leben weiterleben können. Aber nein, sie hat das alles für mich getan. Zumindest kann ich so tun, als wäre ich dankbar.

»Es ist nicht so, dass ich es nicht zu schätzen wüsste, dass ich hier bin«, versichere ich ihr. »Es ist bloß . . . na ja, ich vermisse Magnus. Es ist so verrückt zu wissen, dass er irgendwo ist und dass ich keine Ahnung habe, wo.«

»Na ja, das stimmt nicht ganz«, widerspricht Rayne. »Ich meine, wir wissen immerhin, wo er heute Abend sein wird.«

Mein Herz setzt einen Schlag aus. »Das wissen wir?«

»Na ja. Er wird im Trainingskurs für Vampire sein.

Tatsächlich sind wir uns in dieser Nacht das erste Mal begegnet«, erklärt Rayne. »Aber keine Sorge. Wie gesagt, ich werde diesmal nicht hingehen«, fügt sie hinzu. »Ich bin wild entschlossen, ab jetzt wie versprochen vampirfrei zu bleiben. Ganz egal, was passiert.«

»Ich auch«, erwidere ich. »Vampirfrei, das bin ich.«

Aber meine Gedanken gehen eigene Wege.