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»Sunny! Rayne! Seid ihr zwei noch im Bett? In zehn Minuten kommt der Bus!«
Verschlafen reibe ich mir die Augen. Und bin völlig verwirrt. Es klingt wie die Stimme meiner Mutter, wenn sie direkt vor meiner Zimmertür steht. Aber das ist unmöglich, denn sie ist weg und herrscht über das Elfenreich. Und ich, na ja, ich sitze fest im Land der Toten. Dort hänge ich herum seit jener schicksalhaften Nacht unter den Straßen von New York City, als Bertha die Vampirjägerin beschloss, mich umzubringen.
Ich bin immer noch ziemlich sauer wegen dieser Geschichte. Hallo? Sie ist eine Vampirjägerin. Ich bin eine Elfe. Mich zu töten, gehörte wohl kaum zu ihren Aufgaben. Leider gibt es keine Möglichkeit, von hier unten im Hades aus, wo ich bis in alle Ewigkeit festsitze, bei den Verantwortlichen Beschwerde gegen sie einzureichen.
Ich ziehe mir die Decke über den Kopf, schließe die Augen und versuche, wieder einzuschlafen.
Ich bin erschöpft, nachdem ich den größten Teil des gestrigen Tages damit verbracht habe, auf den elysischen Feldern mit meinem Dad Softball zu spielen. Ich weiß, es klingt nach einer schlechten Tochter, wenn ich das sage, aber ich muss zugeben, es gefällt mir, dass er auch tot ist.
Es ist schön, jemanden aus der Familie um sich zu haben. Ich kann nur hoffen, dass ich, wenn schließlich das Urteil über mich gesprochen wird, weiter mit ihm in seinem kleinen Terrassenhaus mit dem weißen Zaun in der hübschen Wohngegend der Elysischen Höhen wohnen darf und nicht an irgendeinen Ort wie den Tartarus geschickt werde, wo die wirklich bösen Leute hinkommen. (Stell dir vor, du versuchst, dir eine Tasse Zucker von deinem Nachbarn Bin Laden oder Gaddafi zu borgen...) »Sunny?« Wieder ertönt die Stimme, diesmal lauter. Widerstrebend richte ich mich im Bett auf.
Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich nicht mehr in dem gemütlichen kleinen Gästezimmer bin, das mein Dad mir angeboten hat, als ich tot auf seiner Türschwelle erschien. Stattdessen scheine ich irgendwie wieder in meinem alten Zimmer in Oakridge in Massachusetts zu sein, wo wir lebten, bevor die Elfen kamen und wir nach Vegas fliehen mussten. Meine vertrauten Poster hängen an der Wand und die Patchworkdecke, die meine Großmutter für mich gemacht hat, liegt gefaltet am Fußende meines Bettes.
Was natürlich vollkommen unmöglich ist, da es dieses Zimmer, so wie es jetzt aussieht, nicht mehr gibt. Die Elfen haben das ganze Haus vor Monaten niedergebrannt.
Und das heißt... ich seufze und lasse mich wieder auf mein Bett fallen ... ich träume wohl noch.
Kurz darauf streckt meine Mutter den Kopf durch die Tür. Sie hat einen langen bunten Hanfrock an und eine Bauernbluse. So hat sie sich gern gekleidet, bevor sie Königin des Lichthofs wurde.
(Die Feengarderobe bietet ein bisschen mehr Glanz und Glamour.) Ich muss lächeln. Was für ein hübscher Traum. Mein altes Leben, so schön normal, genau wie es vor ewig langer Zeit war.
Meine Mutter erwidert mein Lächeln nicht.
Stattdessen verschränkt sie die Arme vor der Brust und eine Falte bildet sich zwischen ihren Brauen. »Sunshine McDonald«, schimpft sie.
»Steh sofort auf. D u kommst zu spät zur Schule.«
Ich ziehe in Erwägung, ihr zu sagen, dass ich blaumache - schließlich wirkt sich unentschuldigtes Fehlen im Traum nicht auf den Notenschnitt aus. Aber dann überlege ich es mir anders. Wenn ich es schaffe weiterzuschlafen, den ganzen Weg bis zur Schule, könnte ich tatsächlich die Chance bekommen, mir einige meiner alten Freunde und Kameraden aus der Hockeymannschaft herbeizuträumen. Das wäre ein ziemlicher Hammer - selbst wenn sie nur das Produkt meiner eigenen Fantasie sind.
»Klar, Mom«, stimme ich zu, rolle mich aus dem Bett und genieße das Gefühl des weichen Seidenpyjamas von Victoria's Secret auf der Haut. Nicht viele Leute wissen das, aber wenn man stirbt, steckt man bis zu dem Tag, an dem das Urteil über einen gesprochen wird, in den Sachen, in denen man gestorben ist. (Ein Grund mehr, saubere Unterwäsche zu tragen, falls man einen Unfall hat.) An dem Tag, als ich starb, hatte ich unglücklicherweise einen kratzigen Wollpulli angezogen - eine Entscheidung, die ich seitdem bereue.
Mom nickt, anscheinend zufrieden, dass ich tatsächlich aufgestanden bin, dann geht sie aus meinem Zimmer, wahrscheinlich um meine Schwester zu nerven. Während ich in meinem Schrank nach einem nicht kratzigen Outfit suche, höre ich plötzlich aus dem Zimmer nebenan einen Schrei.
Was zum ... ? Voller Angst, dass der Traum zu einem Albtraum werden könnte, stürze ich aus meinem Zimmer und renne zu Rayne hinüber.
Sie hat sich die Decke bis zum Kinn hochgezogen und starrt Mom an, als sei sie irgendein uraltes Hausgespenst.
»Oh mein Gott, es hat funktioniert! Es hat wirklich funktioniert!«, ruft sie immer wieder.
»Was hat funktioniert?«, frage ich neugierig. Ihr Blick fällt auf mich, sie springt aus dem Bett, schlingt die Arme um mich und drückt ganz fest zu. Rayne hat ihr Lieblingsnachthemd von Emily the Strange an und ich bemerke die schmutzig blonden Haare - die sie so im letzten Jahr getragen hat, bevor sie sie färbte, um sich von mir zu unterscheiden.
»Du zerquetschst mir die Rippen«, bemerke ich.
Tatsächlich tut es für eine Umarmung im Traum wirklich erstaunlich weh. Ich versuche, ihre Finger von mir zu lösen, aber sie klammert sich fest, als hätte sie mich jahrelang nicht gesehen.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Mom den Kopf schüttelt.
»Der Bus ist in fünfzehn Minuten da«, verkündet sie. »Und ich hätte gern, dass ihr beide mitfahrt.«
Und mit diesen Worten spaziert sie aus dem Raum.
»Ohmeingott, ohmeingott«, ruft Rayne und entlässt mich dankenswerterweise aus ihrem tödlichen Griff und hüpft hinüber zu ihrem Bett.
»Ich glaub's einfach nicht. Es ist wirklich passiert!
Er hat es wirklich getan!«
»Wer hat was getan?«, frage ich und werde langsam ein bisschen wütend. Mein Traum war viel friedlicher, bevor Rayne beschloss, dort aufzutreten.
Meine Zwillingsschwester dreht sich mit weit aufgerissenen Augen zu mir um. »Weißt du denn nicht mehr?«, fragt sie. »Bitte, sag, dass du dich erinnerst. Du musst doch wenigstens wissen, was hier los ist. Ich kann doch nicht die Einzige sein.«
Ich hole langsam Luft. »Was soll ich wissen, Rayne?«
Rayne schürzt die Lippen, als ob sie es nicht sagen wollte. Dann zieht sie mich aufs Bett und legt eine Hand an mein Ohr. Sie beugt sich dicht zu mir herüber. »Der Hades«, flüstert sie.
Ich löse mich von ihr. »Natürlich erinnere ich mich an den Hades, du Idiot. Ich sitze schließlich bis in alle Ewigkeit dort fest. Es sei denn, ich schaffe es, für ein paar selige Traumminuten zu entfliehen. Und, darf ich vielleicht noch hinzufügen, du hilfst mir nicht gerade dabei, das Beste daraus zu machen.« Ich mache Anstalten, vom Bett aufzustehen. Aber Rayne ist zu schnell - sie packt meine Hand und reißt mich wieder herunter.
»Sunny«, sagt sie mit leiser, ernster Stimme.
»Das ist kein Traum.«
Bei ihren Worten läuft mir ein Schauer über den Rücken. »Was sollte es denn sonst sein?«, frage ich wider besseres Wissen.
Sie sieht mich feierlich an. »Man hat uns eine zweite Chance gegeben.«
»Eine zweite Chance?« Jetzt bin ich so verwirrt, dass es plötzlich nicht mehr komisch ist.
»Schau.« Sie holt Luft. »Weißt du noch, dass ich in den Hades gereist bin, um deine Seele zu befreien und so?«
Schon wieder so eine Frage. Als könnte ich je vergessen, dass meine Schwester erst vor zwei Tagen mit ihrem Freund Jareth und dem Vampirrockstar Race Jameson bei meinem Dad vor der Tür stand - mit der verrückten Idee, einen Deal mit dem Teufel zu machen, um mich da rauszuholen. Ganz lieb von ihr und so, aber ehrlich gesagt, ich war nicht allzu optimistisch, dass sie es wirklich würde durchziehen können.
Schließlich gibt es nur wenige Leute auf dieser Welt, von denen bekannt ist, dass sie von den Toten zurückgekehrt sind, und die meisten von denen sind ziemlich wichtig. So wichtig, wie man zum Beispiel als Sohn Gottes ist. Warum sollte jemand für mich eine Ausnahme machen?
Ich merke, dass meine Schwester immer noch redet. »Also, ich habe endlich eine Audienz bei Hades bekommen, dank der Hilfe seiner Ehefrau«, erklärt sie. »Und ich habe ihn angefleht, dich rauszulassen. Aber er wollte nicht. Er sagte, es wäre gegen die Regeln oder so was. Und wenn er bei dir eine Ausnahme machen würde, könnte da ja in Zukunft jeder kommen, bla bla bla.« Rayne verdreht die Augen und gibt mir damit genau zu verstehen, was sie von diesem kleinen technischen Detail hält.
»Aber er war mir was schuldig - nachdem ich ihm geholfen hatte, sein Videospiel zu gewinnen.
Also haben wir trotzdem einen Deal gemacht.«
Ich kaue auf meiner Unterlippe und kriege langsam ein ungutes Gefühl. Meine Schwester und ihre sogenannten Deals, die Irgendwie nie gut für mich laufen. »Und der wäre . . . ?«
»Er hat die Uhr für uns zurückgedreht. Im Prinzip hat er uns in der Zeit zurückgeschickt. An den Zeitpunkt, bevor irgendetwas von den ganzen schlimmen Dingen passiert ist.« Sie flitzt zu ihrem Computer und ruft den Kalender auf.
»Siehst du? Es ist der 15. April.«
Ich starre sie an und die Erkenntnis trifft mich mit der Wucht eines Zehntonnentrucks. »Der 15.
April?«, wiederhole ich. »Letztes Jahr... ?«
»Einen Monat und eine Woche vor dem Schulball«, verkündet Rayne triumphierend.
»Und...«
»Einen Monat vor Club Fang«, überlege ich laut.
»Einen Monat, bevor Magnus mich versehentlich beißt.« Ich starre meine Schwester an und die Konsequenzen ihres sogenannten Deals treffen mich mit einer Wucht. Kann es tatsächlich sein, dass wir In die Zeit vor einem Jahr zurückversetzt worden sind?
»Oh, Rayne«, rufe ich und sehe sie mit entsetzten Augen an. »Was hast du getan?«
»Ich habe dir eine zweite Chance verschafft«, sagt sie unbeirrt. »Eine Chance, dein Schicksal ein für alle Mal selbst zu bestimmen.« Sie hält inne, dann fügt sie hinzu: »Willst du diese Chance nutzen?«