2
Zurück in der Zeit. Mein Magen schlägt einen Purzelbaum, während ich meine Schwester anstarre und versuche, alles zu begreifen.
Zurück in der Zeit? Rayne hat schon früher so einige verrückte Dinge getan, versteht mich nicht falsch, aber nicht so etwas wie das hier. Meine Gedanken überschlagen sich, während ich versuche, die Ereignisse des vergangenen Jahres aufzulisten. Die einschneidenden Veränderungen, die wir erlebt haben. Die übernatürlichen Begegnungen. Vampire, Werwölfe, Feen. Alles, was uns passiert ist... ist es jetzt wirklich ungeschehen gemacht worden?
Raynes hoffnungsvolles Lächeln verblasst, ihre Begeisterung verwandelt sich in Nervosität, während sie darauf wartet, dass ich etwas sage...
irgendetwas. Ich schüttle den Kopf; ich weiß nicht, ob ich ihr einen Kuss geben oder ob ich sie umbringen soll. Ich meine, sie hat tatsächlich das Unmögliche geschafft - mich ins Leben zurückzu-holen. Aber um welchen Preis?
»Es tut mir leid, Sun«, sagt meine Schwester nach einer Weile und in ihrer Stimme schwingt Bedauern mit. »Ich weiß, das ist ganz schön viel auf einmal. Und glaub mir, ich habe die Entscheidung nicht leichtfertig getroffen. Aber Hades hat mir keine Wahl gelassen. Der ist wirklich ein knallharter Typ. Und nicht halb so gut in Videospielen, wie er denkt.«
Ich lege mich wieder aufs Bett und starre an die Decke. Vor langer Zeit, als wir noch klein waren, haben Rayne und ich Sterne da oben hingepappt, die im Dunkeln leuchten, und ein paar davon klebten immer noch dran. Anders als meine Realität, die plötzlich vollkommen aus dem Leim geht.
»Magnus«, wispere ich und spreche endlich laut aus, was mich im Hinterkopf beschäftigt hat.
Mein süßer Vampir. Was ist mit ihm passiert, in dem Moment, als die Zeit neu eingestellt wurde?
Hat er jede Erinnerung an mich und all das, was wir im Laufe des letzten Jahres miteinander erlebt haben, vergessen? Weiß der Magnus, der jetzt gerade existiert, überhaupt etwas von mir?
Bei diesem Gedanken keuche ich unwillkürlich auf. Die vielen Momente, die Erinnerungen - alles gestohlen. Rayne legt sich neben mich und starrt ebenfalls an die Decke. »Tja«, sagt sie. »Das ist das Schlimmste daran. Ich musste Jareth auch zurücklassen.«
Ich drehe mich zu ihr um, einen Moment lang aus meinem Selbstmitleid gerissen, als mir klar wird, was meine Schwester tatsächlich für mich aufgegeben hat. Sie hätte mich ohne Weiteres in der Unterwelt verrotten lassen und mit ihrem Vampirfreund glücklich sein können bis ans Ende ihrer Tage. Aber jetzt ahnt Jareth von ihr genauso wenig wie Magnus von mir. Sie hat ihre große Liebe aufgegeben - ihr ewiges Glück - , und das alles für meine zweite Chance.
»Es tut mir leid, Rayne«, flüstere ich und beuge mich vor, um ihr die Hand zu drücken.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie schlimm es war«, fängt sie mit erstickter Stimme an.
»Dazusitzen und ihm sagen zu müssen, dass ich ihn verlasse, nur Sekunden nachdem ich versprochen hatte, für immer bei ihm zu bleiben.« Bei diesen Worten bricht ihre Stimme endgültig und mir wird klar, dass sie neben ihrer Liebe noch etwas verloren hat. Sie ist kein Vampir mehr. Nicht mehr unsterlihch. Alles, was sie sich je vom Leben gewünscht hat, hat sie aufgegeben. Für mich.
»Warum hast du das getan?«, frage ich. »Ich meine, du hättest mich einfach dort lassen können . . . « Ihr Opfer ist so überwältigend, dass es mir schwerfällt, es zu verkraften.
»Weil ich wusste, dass es so am besten ist«, erwidert sie schlicht. »Es war nicht nur dein Tod.
Alles war schlimm. Magnus war von Pyrus'
Wölfen gefangen worden und er sollte wegen Hochverrat angeklagt werden. Die Vampire des Blutzirkels waren aus dem Konsortium geworfen worden. Ihm hätte ein Leben in der Verbannung voller Entbehrungen gedroht, ohne jede Hoffnung auf Rettung.« Sie dreht den Kopf und ihre Augen sind flehend auf mich gerichtet. »Ich konnte es nicht ertragen, dass alle wegen meiner Fehler leiden sollten.«
»Rayne, es war nicht deine Schuld ...«
Aber sie winkt ab. »Das ist jetzt nicht wichtig.
Wichtig ist, dass du eine zweite Chance bekommen hast«, beharrt sie. »Eine Chance, das Leben zu leben, das du leben wolltest. Ein ganz normales Leben ohne Vampire und andere übernatürliche Überraschungen. Ohne die Dunkelheit, in die ich dich in jener Nacht hinein-gezogen habe, als Magnus dich gebissen hat statt mich.«
Ich denke zurück an die schicksalhafte Nacht im Club Fang. An den Augenblick, als mein Leben sich für immer verändert hat. Hätte ich irgendetwas anders gemacht, wenn ich damals gewusst hätte, was ich jetzt weiß?
Ich schätze, das werde ich schon ziemlich bald herausfinden.