14
Zuerst nehme ich an, dass Magnus und Jareth Rayne und mich mitnehmen wollen. Aber wie es scheint, sind sie irgendwie zu der Überzeugung gelangt, dass wir in diesem Kampf nicht von Nutzen sind und dass sie Lucifents Ermordung auch ohne uns verhindern können. Das ist lächerlich, wenn man bedenkt, dass ich erst vor ein paar Stunden Magnus das Leben gerettet habe und dass Rayne Jareth geholfen hat, bei Slayer Inc. einzubrechen. Aber leider erkennen sie unsere Vorzüge nicht an, fahren mit ihren Luxusautos davon und lassen Rayne und mich mit unserem verrosteten Käfer zurück.
Aber vielleicht ist es so am besten. Schließlich habe ich meiner Schwester viel zu erzählen.
Sobald wir im Wagen sitzen und die Türen zu sind, drehe ich mich zu ihr. »Wir haben ein Problem.«
»Ja, und zwar Jareth! Er ist ein sturköpfiger Riesenidiot, der sich weigert zuzugeben, dass eine einfache Sterbliche alles kann, was ein Vampir kann... und wahrscheinlich sogar noch besser!«
»Ähm, obwohl ich mir sicher bin, dass das an und für sie sehr problematisch ist, ist es eigentlich nicht das, was ich sagen wollte.«
»Entschuldigung. Red weiter.«
Ich atme tief ein und überlege, wo ich anfangen«
»Nachdem wir gegen Bertha gekämpft haben, ist Teifert aufgetaucht. Und er hat etwas Komisches gesagt - er hat gesagt, Slayer Inc. hätte einen guten Grund, Lucifent zu töten.«
» Ja den kennen wir doch«, unterbricht Rayne mich. »Weil er ein Kindvampir ist. Aus demselben Grund hat Slayer Inc. damals Jareth's Familie verfolgt. Das ist so eine blöde theoretische Betrachtungsweise! Wen kümmert es schon, ob ein Vampir für immer aussieht wie ein Kind?
Wem schadet das denn?«
»Das habe ich auch gesagt«, erwidere ich. »Aber Teifert hat mich angesehen, als hätte ich zwei Köpfe, und er hat gesagt, dass sie so etwas niemals tun würden. Dann hat er angedeutet, dass es da noch etwas anderes gibt, in das Lucifent verwickelt ist. Etwas... Schlimmes... das dem Blutzirkel schaden könnte. Ganz zu schweigen von der Menschheit.«
Meine Schwester legt die Stirn in Falten. »Und was soll das sein?«
»Keine Ahnung. Er ist nicht näher darauf eingegangen. Aber Rayne«, sage ich und wieder beschleicht mich Furcht. »Was ist, wenn wir uns geirrt haben? Wenn Slayer Inc. tatsächlich irgendeinen streng geheimen Grund hatte, Lucifent umzubringen, einen Grund, der nichts mit seiner Kindergestalt zu tun hatte?«
Rayne beißt sich auf die Unterlippe. »Haben wir gerade alles total verbockt?«
»Wir haben jedenfalls gedacht, dass wir das ganze Geschehen zum Besseren wenden. Wenn wir aber stattdessen alles nur viel schlimmer gemacht haben?«
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragt Rayne, während sie den Schlüssel in der Zündung dreht und die Schweinwerfer einschaltet. »Sollen wir ihnen zum Friedhof folgen? Und Slayer Inc. doch helfen, Lucifent zu töten?«
»Das könnten wir. Aber das war's dann mit Magnus und Jareth. Wir hätten keine Chance mehr, uns mit ihnen anzufreunden. Sie wären für immer unsere Feinde.«
»Oh Gott, ich wünschte, Teifert hätte sich klarer und deutlicher ausgedrückt!« Rayne schlägt frustriert auf das Lenkrad. »Und wenn diese Lucifent-Geschichte gar keine große Sache ist?«
»Und wenn es eine Riesensache ist? Wenn wir gerade das Todesurteil für die Menschheit unterschrieben haben?«
»Oh Gott«, stöhnt meine Schwester. Sie legt den ersten Gang ein. »In Ordnung, wir fahren zum Friedhof und schauen zumindest, was los ist.
Vielleicht können wir uns dann spontan entscheiden.«
Ich nicke zustimmend - was können wir sonst schon tun? - und kurz darauf rasen wir durch die dunklen Straßen zum Saint-Patrick's-Friedhof, wo der Blutzirkel seine Krypta hat. Ich erinnere mich an meinen ersten Trip hinunter in das unterirdische Hauptquartier. Das war in der Nacht, als Bertha Lucifent getötet hat. Damals war mir seine Ermordung so niederträchtig vorgekommen. So unnötig. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Hat meine Mörderin in Wahrheit doch auf der Seite der Guten gestanden?
Wir halten am Rand des Friedhofs an und schleichen dann zwischen den dunklen Grab-steinen hindurch auf die Krypta zu. Zuerst bin ich mir sicher, dass wir gar nichts zu sehen bekommen werden - dass alle Vampire bereits tief unten in der Krypta sind, wohin kein Sterblicher vordringen kann. Aber als wir uns der Krypta nähern, kommt stattdessen ein Scheinwerfer in Sicht. Eine lange schwarze Limousine fährt vor und hält vor dem Eingang zum Hauptquartier.
Einen Moment später öffnen sich die Türen und kein anderer als Lucifent selbst steigt aus. Ein kleiner blonder Junge in einem entzückenden Minismoking. Es ist schwer zu glauben, dass jemand, der so winzig und scheinbar so unbedeutend ist, die Macht haben soll, die Welt zu verändern.
Rayne zerrt mich hinter einen Grabstein, gerade als ein Brüllen durch die Nacht hallt - ein Brüllen, das ich überall wiedererkennen würde.
Bertha.
Die Jägerin springt über ein Grab, hinter dem sie sich bis eben versteckt hatte. Übergangslos schließt sie einen Flickflack an und jagt mit hals-brecherischer Geschwindigkeit auf den Meister zu. An ihren massigen Schenkeln sind zwei Pflöcke befestigt. Ich halte den Atem an und umklammere Raynes Hand. Vielleicht haben wir es ja doch nicht verbockt.
Aber bevor sie bei ihm ist, springen Jareth und Magnus aus dem Schatten und bauen sich vor ihrem Meister auf. Gemeinsam packen sie Bertha und schleudern sie zurück, als wäre sie eine Stoffpuppe. Die Jägerin kracht gegen ein Grab und fällt zu Boden.
»Wow«, haucht Rayne und drückt meine Hand.
»Ich weiß nicht, ob ich jubeln oder Buh schreien soll.«
Bertha rappelt sich hoch, das Gesicht verzerrt vor Zorn. Sie geht wieder auf die Vampire zu mit langsamem, aber entschlossenem Schritt.
»Halt«, gebietet Magnus ihr. »Sie sind hier nicht willkommen, Jägerin. Gehen Sie, dann lasse ich Sie am Leben.«
»Noch einen Schritt weiter und Sie werden heute in der Hölle zu Abend essen«, fügt Jareth hinzu.
Bertha verzieht die Mundwinkel zu einem Grinsen. »Ich bin eine lizenzierte Jägerin. In offizieller Mission für Slayer Inc. und mir obliegt der Schutz der Vampire. Wenn Sie mir auch nur ein Haar krümmen, wird man das als einen feindseligen Akt betrachten. Und das Abkommen, das wir seit Jahrhunderten mit Ihresgleichen haben, wäre für immer hinfällig.« Sie hält inne.
»Mit anderen Worten, es würde einen Krieg geben.«
Rayne und ich tauschen einen besorgten Blick.
Sie hat natürlich recht. Sosehr ich auch wünschte, dass Bertha tot ist, bin ich mir doch nicht sicher, ob ihre kaltblütige Ermordung, während sie in offiziellem Auftrag unterwegs ist, eine gute Lösung ist. Vor allem, wenn es auf Kosten des Friedens zwischen Jägern und Vampiren geht. Könnte es das sein, was Teifert mit Sorge erfüllt hat?
»Sie hat recht«, sagt Magnus plötzlich und ich stoße einen Seufzer der Erleichterung aus. Er war immer sehr vernünftig. »Sie sollten nach Hause gehen. Und wir sollten uns morgen früh mit Ihren Anführern treffen. Die Sache besprechen. Ich bin mir sicher, wir finden eine diplomatische Lösung...«
Plötzlich wird ihm das Wort abgeschnitten: Lucifent stürzt sich blitzschnell auf die Jägerin, sodass ich die Bewegung kaum erkennen kann.
Er packt sie und schleudert sie gegen eine nahe stehende Engelsstatue. Mit einem übelkeiterregenden Knacken bricht er ihr das Genick und sie sackt zu Boden.
Magnus und Jareth starren Lucifent entsetzt an.
»WasIhr getan, Meister?«, flüstert Magnus.
»Genau das, was getan werden musste«, schnurrt Lucifent. »Slayer Inc. ist schon viel zu lange ein Fluch für jede vamprische Existenz. Es wird Zeit, dass wir aufstehen gegen unsere Unterdrücker. Und dank euch beiden haben wir jetzt die ideale Gelegenheit dazu.« Mit diesen Worten deutet er auf die am Boden liegende Leiche der Jägerin. »Jetzt kommt«, sagt er mit einem widerlichen Grinsen. »Das Dessert ist aufgetragen.«
»Oh Gott«, flüstert Rayne, während Lucifent sich voller Begeisterung über sein All-you-can-eat-Bertha-Büffet hermacht. »Was haben wir getan?«
»Ich glaube, mir wird schlecht«, erwidere ich ebenfalls flüsternd. Mein Magen rebelliert.
Wenigstens halten Magnus und Jareth sich zurück und beteiligen sich nicht an dem Jägerinnensouffle. Aber trotzdem. Ich versuche, mir ins Gedächtnis zu rufen, dass Bertha es verdient hat. Meine Güte, sie hat mich umge-bracht! Aber während ich zutiefst angewidert zusehe, kann ich im Geiste schon Teiferts Worte hören:
>Der Meister lebt. Die Jägerin stirbt. Wir haben es geschafft, die Geschichte zu verändern. Aber mit welchem Ausgang? Haben wir einfach etwas in Gang gesetzt, was wir nie mehr aufhalten können? Wird es zum Krieg zwischen Slayer Inc.
und den Vampiren kommen? Und welches Ass hat Lucifent in seinem Kinderärmelchen?< Nach einer Zeit, die mir vorkommt wie eine Ewigkeit, erhebt der Meister des Blutzirkels sich von seinem Mahl, Mund und Hemd blutver-schmiert. Er runzelt die Stirn und späht in die Dunkelheit.
»Hier ist jemand«, sagt er zu Jareth und Magnus.
»Bringt sie zu mir.«
»Uff. Ich glaube, wir sind aufgeflogen«, flüstere ich meiner Schwester zu.
Rayne nickt, dann verlässt sie unser Versteck.
»He, Leute! Wir sind's bloß! Kein Grund zur Sorge!« Ich folge ihr, als sie ins Mondlicht tritt, ein nervöses Grinsen im Gesicht. »Wir wollten nur sichergehen, dass ihr mit dem großen Bösewicht fertig werdet. Aber es sieht ja gut aus!
Gute Arbeit.« Selbstbewusst geht sie zu den Vampiren hinüber und tätschelt Lucifent den Kopf. Der runzelt finster die Stirn.
»Sterbliche«, ruft er. »Was habt ihr hier verloren?«
»Diese Frage stelle ich mir schon die ganze Zeit«, erwidert Jareth drolligerweise.
»Sie gehören zu uns«, wirft Magnus ein. Er kommt zu mir herüber, fasst mich am Arm und führt mich dann zum Meister des Blutzirkels.
»Das ist meine zukünftige Blutsgefährtin, Mylord.
Sie hat mich über die Verschwörung von Slayer Inc. gegen Euch informiert. Ich habe ihr zuerst nicht geglaubt, also habe ich sie zu deren Hauptquartier begleitet, um Beweise zu suchen.
Als wir mit der Jägerin aneinandergeraten sind, wurde ich verletzt. Wenn dieses Mädchen mir nicht freiwillig ihr Blut angeboten hätte, dann wäre ich dort im Gefängnis gestorben.«
»Und die hier hat mir geholfen, in den Kerker einzubrechen«, fügt Jareth widerstrebend hinzu und deutet auf meine Schwester. »Ohne sie wäre eine Rettung unmöglich gewesen.«
»Diese beiden Mädchen haben Euch heute Nacht das Leben gerettet«, sagt Magnus zum Schluss. »Ohne sie hätten wir Bertha niemals überwältigen können.«
»Ich verstehe.« Lucifent streicht sich übers Kinn.
»Nun, es scheint, als wäre ein Dank angebracht«, sagt er schlicht. »Ich begegne nicht oft Sterblichen, die bereit sind, sich meines-gleichen in Gefahr zu bringen.«
»Kein Problem«, erwidert Rayne galant. »Das hätte doch jeder getan.«
Lucifent wendet sich an Jareth und Magnus.
»Und was euch beide betrifft, ihr habt euch wieder einmal als loyale und wertvolle Diener des Blutzirkels erwiesen. Für eure Tapferkeit und eure Selbstlosigkeit sollt ihr heute Nacht reich belohnt werden.«
Magnus verneigt sich respektvoll vor seinem Meister. »Es gibt keine größere Belohnung als die Gewissheit, Euch das Leben gerettet zu haben, Mylord. So wie Ihr mir einst das meine gerettet habt.«
»Du bist dir doch bewusst, Magnus, dass du an meiner Stelle zum Meister gemacht worden wärest, wenn ich heute Nacht umgekommen wäre«, erinnert Lucifent ihn. »Das hätte eine schöne Belohnung sein können.«
»Das ist eine Ehre, die ich für mich nicht wünsche«, erwidert Magnus automatisch. »Ich will meine Tage lieber in stillem Dienen verbringen, wie ich es in den letzten tausend Jahren getan habe.«
»Dafür bist du zu wertvoll«, beharrt Lucifent. »Ich befördere dich zum Stellvertretenden Kommandanten des Blutzirkels. Und was Euch betrifft, General Jareth«, fährt der Meister fort, »angesichts der gegenwärtigen Lage wäre es wohl ratsam, Projekt Z zu beschleunigen. Könnt Ihr bis Ende der Woche alles in die Wege geleitet haben?«
Projekt Z? Ich schaue meine Schwester an, die genauso verwirrt dreinschaut wie ich. Was ist Projekt Z? Ist es vielleicht das, was Teifert angesprochen hat?
Jareth nickt. »Die Königin ist ganz hingerissen und sie hat geschworen, alles zu tun, was ich von ihr erbitte«, sagt er mit einem Lächeln. »Wir sind für das Vorhaben bereit, wann immer Ihr wollt.«
»Hervorragend«, sagt Lucifent und klatscht überglücklich in die Hände. »Ich werde heute Nacht eine Nachricht an Pyrus schicken und um eine Audienz in Vegas bitten. Sobald er diese Demonstration der Macht unseres Zirkels erlebt hat, wird er uns bestimmt in den höchsten Rang erheben und wir werden endlich den gebühren-den Respekt bekommen. Und unsere Rache an Slayer Inc.«
O-kay. Das klingt nicht gut. Gar nicht gut. Ich bemerke aus den Augenwinkeln, dass Magnus sich bei diesem Gedanken auch nicht allzu wohlfühlt. Und gleich darauf tritt er vor.
»Meister«, beginnt er, »was ist das für ein Projekt Z, von dem Ihr sprecht?«
Aber Lucifent grinst nur und tätschelt seinem Schützling die Kniescheibe. »Komm herein, mein Junge«, sagt er. »Wir werden eine Flasche Machiavelli öffnen und wir werden auf diese triumphale Nacht anstoßen. Später werden wir bestimmt noch Gelegenheit finden, über die Einzelheiten zu sprechen. Im Moment ist mir nach Feiern zumute.«
Magnus verneigt sich. »Sehr wohl«, erwidert er.
»Aber erlaubt mir, mich vorher von meiner Blutsgefährtin zu verabschieden.« Er dreht sich zu mir um, nimmt meine Hand und führt mich von der Gruppe weg. »Noch einmal danke für heute Nacht«, flüstert er, sobald wir außer Hörweite sind. »Es war absolut... interessant.«
»Magnus«, sage ich. »Mir gefällt das nicht.
Aufstand gegen Slayer Inc.? Pyrus beeindrucken? Projekt Z?«
Der Vampir lächelt mich nachsichtig an. »Mach dir keine Sorgen«, erwidert er. »Lucifent weiß, was er tut. Manchmal kann er impulsiv sein, aber letztendlich ist er verantwortungsbewusst und er würde niemals etwas tun, was dem Zirkel schaden könnte. Egal, was Slayer Inc. vielleicht sagt.«
Ich runzle die Stirn. Ich wünschte, ich könnte sein Vertrauen in den Burschen teilen. Aber nachdem ich gesehen habe wie er wild und hemmungslos eine tote Jägerin leer geschlürft hat, fällt es mir schwer, warme und wohlige Gefühle für unseren furchtlosen Führer zu hegen.
»Du hast deine Sache heute gut gemacht«, fügt Magnus hinzu, der nichts mitbekommt von meiner Anspannung. Er führt meine Hand an seine Lippen und küsst sie sanft. »Ich freue mich sehr auf den Tag, an dem ich dich für alle Ewigkeit zu meiner offiziellen Blutsgefährtin machen kann.«
Er zieht mich an sich, schlingt mir die Arme um den Körper und drückt mich fest an sich. Ich weiß, dass ich mich sicher fühlen sollte in seiner Umarmung. Aber stattdessen empfinde ich nichts als Kälte, die mir in die Knochen kriecht.
Auch wenn Magnus seinem Meister noch so sehr vertraut, ich tue es kein bisschen. Und ich habe das Gefühl, als würde ich gerade erst anfangen, das Ausmaß des Fehlers zu erkennen, den Rayne und ich bei unserer Veränderung der Zukunft begangen haben.