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Ich bin mir sicher, dass es nur ganz wenige Kerker auf dieser Welt gibt, wenn überhaupt, die man mit einem Fünf-Sterne-Hotel verwechseln könnte. Aber ich muss sagen der Kerker von Slayer Inc. ist besonders weit davon entfernt.

Zunächst einmal ist er wahrscheinlich seit der Reagan-Ära nicht mehr sauber gemacht worden.

Außerdem sind die Wände und die Böden voller Blutflecken. Aber wisst ihr, was das Schlimmste daran ist? Es gibt nirgends eine Toilette, da Vampire nicht die gleichen Körperfunktionen haben wie Menschen. Und ich bereue inzwischen den Big Gulp zutiefst, den ich auf dem Weg zum Club Fang getrunken habe.

Magnus sackt auf der unebenen, fleckigen Pritsche im hinteren Teil der Zelle in sich zusammen und stöhnt leise vor sich hin. Er hat sich das Hemd heruntergerissen und den Stoff auf die Wunde gepresst, die immer noch nicht so schnell heilt, wie sie eigentlich sollte. Er hat schon eine ganze Menge Blut verloren und ich mache mir große Sorgen, als ein dunkelroter Fleck durch den Stoff sickert.

»Was habe ich mir nur dabei gedacht?«, lamentiert er, während er an die Decke starrt.

»Hierherzukommen war einfach idiotisch. Und jetzt sitze ich hier hilflos fest, während Slayer Inc.

meinen Meister tötet.«

»Warum wollen sie Lucifent töten?«, frage ich.

»Weißt du das?«

»Weil sie vielleicht eine böse, machthungrige Organisation sind?«

Ich rümpfe die Nase. »Aber das sind sie nicht. Es sind Friedensstifter, meistens jedenfalls.

Zumindest ihr Zweig hier in den Vereinigten Staaten. Wenn sie sagen, Lucifent sei eine Gefahr für den Zirkel, müssen sie einen Grund haben.« Ich gehe in der Zelle auf und ab.

»Kannst du dir vorstellen, womit das zu tun haben könnte?«

»Lucifent weiht mich nicht in seine Pläne ein«, erwidert Magnus mit einem Achselzucken.

»Wenn irgendjemand etwas wissen könnte, dann ist es wahrscheinlich Jareth, weil er der General der Armee ist. Wenn wir uns bloß mit ihm in Verbindung setzen könnten. Ihm zumindest Bescheid geben, dass er sein Sicherheitsteam alarmieren und den Meister beschützen soll.«

»Tja, wenn er mir von Anfang an geglaubt hätte, wäre das kein Problem«, sage ich geistesabwesend, obwohl etwas in mir sich jetzt fragt, ob Jareth's Ungläubigkeit nicht vielleicht doch ganz gut war. Was, wenn Teifert die Wahrheit sagt - wenn es wirklich einen guten Grund gibt, weshalb Lucifent getötet werden muss, außer der Tatsache, dass er ein Kindvampir ist? Da sitzen wir nun und versuchen, die Geschichte zum Besseren zu wenden; was, wenn wir alles noch viel, viel schlimmer gemacht hätten?

Ich schüttle den Kopf und sage mir, dass es unterm Strich keine Rolle spielt. Wir sitzen schließlich fest. Bertha und Teifert werden die Ermordung des Meisters vorantreiben.

Also werden die Dinge sich letztlich genauso entwickeln wie beim ersten Mal, nur ein paar Wochen früher. Vielleicht ist es das Beste, dass wir geschnappt worden sind.

Bis auf Magnus' Verletzung. Sein Hemd ist jetzt mit Blut durchtränkt.

»Das sieht nicht gut aus«, sage ich besorgt. »Wir müssen etwas tun.«

Er schneidet eine Grimasse. »Mir geht es gut. Ich bin ein Vampir. Das wird heilen.«

»Das Messer, das du in den Bauch bekommen hast, war versilbert. Der Schnitt wird nicht schnell genug heilen, so viel Blut wie du verlierst. Du brauchst dringend eine Transfusion oder irgendetwas.«

»Gute Idee«, erwidert er sarkastisch. »Schick doch meinen Blutspenderinnen einfach eine SMS? Sag ihnen, sie sollen auf einen schnellen Biss im Kerker vorbeikommen.« Er krümmt sich vor Schmerzen.

Ich atme langsam aus und lasse mich neben ihn auf die Pritsche sinken. Ich kann es nicht ertragen, wie er sich quält. Ganz zu schweigen davon, dass wir, selbst wenn er doch überleben sollte, keine Chance haben, einen Gefängnisaus-bruch zu inszenieren, solange er so geschwächt ist.

Ich stehe auf, gehe zur Zellentür und umklammere mit beiden Händen die Gitterstäbe.

Dann spähe ich nach links und rechts, auf der Suche nach einem Wachposten oder irgendje-mandem sonst, der gerade Dienst hat. Aber der Ort ist verlassen.

»Hallo?«, rufe ich. »Ist da jemand? Wir brauchen hier unten Blut. Sofort!«

Meine Forderungen hallen durch die Gänge, doch es kommt keine Antwort.

»Hallo«, versuche ich es abermals, nicht gewillt auzugeben. »Ist da irgendjemand? Bitte!«

Magnus wedelt schwach mit der Hand in meine Richtung und winkt mich von den Gitterstäben weg. »Es hat keinen Sinn« sagt er. »Selbst wenn jemand da wäre, der helfen könnte, wird er es nicht tun. Für sie ist es besser, wenn ich schwach und verletzlich bin.«

»Stimmt.« Ich lasse mich wieder aufs Bett fallen, lege den Kopf in die Hände und fühle mich hilflos und schwach. Wenn ich doch nur solche telepathischen Kräfte hätte, wie Zwillinge in Filmen sie immer haben. Dann könnte ich meine Schwester rufen und ihr sagen, in was für einem Schlamassel wir stecken.

»Warum bist du geblieben?«, fragt Magnus plötzlich.

Ich hebe den Kopf und drehe mich überrascht zu dem Vampir um. »Was?«

»Du hättest gehen können. Als ich Bertha auf den Boden gedrückt habe. Und dann wieder, als Teifert dir gesagt hat, du sollst durch die Tür verschwinden. Warum hast du es nicht getan?«

Ja, warum nicht? Vielleicht hätte ich weggehen und Hilfe holen können. Aber trotzdem...

»Was sollte ich denn tun? Dich einfach mit einer Jägerin allein lassen, die dich töten wollte?«

»Na ja«, erwidert Magnus schlicht. »Genau das hättest du eigentlich tun sollen.«

»Das konnte ich nicht«, gebe ich zurück und versuche, meine Stimme ganz emotionslos klingen zu lassen. »Wie gesagt, du bist mein Blutsgefährte. Ich konnte nicht einfach weggehen und ...« Meine Stimme erstirbt, weil sich ein Kloß in meiner Kehle bildet und mir die Tränen in die Augen steigen. Er hat ja keine Ahnung, was ich alles getan hätte, um ihn zu retten. Verdammt noch mal, ich würde ohne Zögern mein eigenes Leben für seines geben. Aber für ihn bin ich gewissermaßen eine Fremde, die ihm nichts schuldet. Seiner Meinung nach gibt es keinen wirklichen Grund, warum ich hätte bleiben sollen.

Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter.

Magnus hat es geschafft, sich aufzusetzen, und sieht mich jetzt mit weit offenen, schönen Augen an. »Du warst bereit, dein Leben aufs Spiel zu setzen, um mich zu retten«, flüstert er. »Das hat noch nie jemand für mich getan.« Seine Stimme ist voller Staunen und es bricht mir das Herz, wenn ich die Einsamkeit höre, die darin mitschwingt.

»Tja, gewöhn dich dran«, murmle ich und versuche, schroff zu klingen, doch es misslingt mir. »Schließlich wirst du sehr lange mit mir hier festsitzen.«

Er lächelt schüchtern. »Das klingt gut, finde ich«, sagt er. Dann runzelt er die Stirn. »Natürlich müssen wir zuerst die Nacht überleben.« Er lässt sich wieder aufs Bett fallen und presst das blutdurchtränkte Hemd auf seine Wunde. Ich beobachte ihn und alles in mir zieht sich zusammen, als ich sehe, welch große Schmerzen er hat. Wenn ich doch nur irgendwie...

Ich schlucke vernehmlich und plötzlich weiß ich genau, was ich tun muss.

»Ich habe eine Idee«, erkläre ich, kremple einen Ärmel hoch und halte ihm mein Handgelenk hin.

Ich weiß nicht so recht, wie das geht, aber ich erinnere mich, dass Sookie das in einer Folge von True Blood getan hat. »Hier.«

Fragend legt er den Kopf zur Seite. »Hier was?

Deine Hand ist leer.«

»Tatsächlich ist sie voll mit köstlichem, nahrhaftem Null negativ«

Ich warte darauf, dass seine Augen aufleuchten, wenn er begreift, was ich vorhabe. Stattdessen bekomme ich nur ein Stirnrunzeln. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre.«

»Natürlich ist es eine gute Idee«, beharre ich.

»Es ist sogar eine sehr gute Idee. Die beste Idee im Moment. Und wahrscheinlich die einzige. Ich meine, wir müssen praktisch denken. Du bist verletzt. Du brauchst Blut, damit deine Wunde heilt. Und ich habe jede Menge übrig.«

»Aber wir sollen kein Blut von unseren Blutsgefährten bis zur offiziellen Beißzeremonie trinken«, protestiert er. »Das ist gegen die Regeln.«

Ach, Magnus und seine Vorbehalte. Es wäre süß, wenn es in diesem Fall nicht so lebensbedrohlich wäre. »Na ja, sieh es einmal so«, sage ich. »Es wird keine Beißzeremonie geben, wenn du die Nacht nicht überstehst. Deshalb denke ich, dass vielleicht eine Ausnahme in Ordnung wäre.« Ich ritze mit einem Fingernagel über mein Handgelenk und versuche, nicht zusammenzu-zucken, als ein Blutstropfen aus der Wunde quillt.

Ich kann den Hunger in Magnus' Gesicht sehen, als die rote Flüssigkeit auf das fleckige Bett tropft. »Komm«, dränge ich. »Süßes, klebriges Blut. Du weißt, dass du es willst. Was soll dabei schon schiefgehen?«

»Ich könnte die Kontrolle verlieren und dich leer trinken«, stellt Magnus fest.

Touché. »Mach schon«, sage ich und verdränge alle Zweifel aus meinem Kopf. »Ich vertraue dir.

Schließlich wirst du mein Blutsgefährte. Trink so viel du brauchst und lass bisschen für die Heimfahrt übrig, dann sind wir alle glücklich.«

Er lacht leise. »In Ordnung«, sagt er. »Wenn du dir sicher bist . . .«

»Absolut.«

Ich sehe zu, wie er mit zitternden Fingern sorgfältig mein Handgelenk an den Mund zieht.

Seine weichen Lippen streifen meine empfindliche Haut, sodass ich unwillkürlich erschauere. Ich schlucke vernehmlich und wappne mich für den nächsten Teil. Den Teil, der nicht so sanft und süß ist.

»Du hast dir doch das Video mit den Instruktionen angesehen, nachdem ich gegangen bin, oder?«, kann ich nicht umhin zu fragen.

»Und du hast mit der Puppe geübt?«

Ich kann sein Lächeln auf meiner Haut spüren.

»Keine Sorge. Ich habe die Lizenz zum Beißen«, witzelt er und ein

Schauer läuft mir über den Rücken, als sein Mund sich über meine Haut bewegt. »Es wird überhaupt nicht wehtun.«

»Na dann mal los.« Bevor ich den Mut verliere.

Und er tut es. Und als seine Reißzähne sich in die Haut bohren und meine Adern durchstoßen, verspüre ich statt Schmerz nur Wonne. Ein warmes, rauschendes Gefühl überschwemmt mich wie eine Welle und verschlingt mich.

Während mein Blut zu ihm fließt, spüre ich, wie wir im Geiste miteinander tanzen, mein Lebenssaft fließt in ihn hinein und gibt ihm neues Leben und neue Kraft. Es ist ein berauschendes Gefühl. So schön, dass ich mich einfach fragen muss, warum wir das noch nie getan haben. Es hätte uns einander so nah bringen können, selbst an den Tagen, als wir uns einander so fern fühlten.

Aber gerade als ich mich dem Gefühl vollkommen hingebe, reißt Magnus den Mund weg, sein Gesicht umwölkt vor Verwirrung. Als er mich anstarrt, als wäre ich eine Art Geist wird mir klar, dass ich wahrscheinlich nicht an unsere gemeinsame Vergangenheit hätte denken sollen, während wir im Geiste so eng verbunden waren.

Konnte er über das Rauschen des Blutes hinweg meine Gedanken hören? Oder vielleicht die überwältigende Liebe und Zuneigung spüren, die ich für ihn empfinde - eine Wildfremde seiner Meinung nach?

»Wer b ist du?«, haucht er und sieht mir tief in die Augen, als wollte er versuchen, mir in die Seele zu blicken. Das Staunen in seinem Gesicht, diese mit Verwirrung gemischte Verzückung, verzehrt mich und ich habe große Mühe, nicht auf der Stelle zusammenzubrechen. Zu verhindern, dass der Damm bricht, und ihm alles zu erzählen, in der Hoffnung, dass er mir glaubt, statt schreiend in die Nacht zu laufen.

Aber ich zwinge mich, die Beherrschung zu bewahren, weil es jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür ist. Und auch nicht der richtige Ort. Also streiche ich ihm nur mit zärtlichen Fingern eine Locke aus den Augen.

»Ich bin nur ich«, antworte ich einfach und schenke ihm ein kleines Lächeln. »Niemand Besonderes.«

»Ganz im Gegenteil«, widerspricht er und beugt sich erneut nach vorne, um noch einen Schluck zu nehmen. »Ich glaube, du bist sogar ziemlich besonders. Mehr«, fügt er hinzu, bevor er die Reißzähne wieder in meine Wunde drückt, als ich mir je hätte vorstellen können.«