10
Bertha die Vampirjägerin. Ich hatte schon fast vergessen, wie sie aussah. Aber ihr Anblick bringt jetzt alles mit einem Schlag zurück.
Pockennarbiges Gesicht, fettige braune Haare, kleine, runde Schweinsäuglein und ein Körper, der in enges schwarzes Leder gezwängt ist, das ihr zwei Nummern zu klein ist. Bei den Fettwülsten, die an den Seiten herausquellen, wird mir mehr als übel. Oder vielleicht ist es der Anblick des hölzernen Pflocks, der in einem Holster an ihrer Hüfte steckt.
»Wer bist du?«, knurrt sie. »Und was hast du hier zu suchen?«
Mein Verstand sucht wie wild nach einer Antwort, die uns retten wird. Nach dem letzten Mal will ich mich ihr nicht im offenen Kampf stellen. Dann fällt mir ein, dass ich mich objektiv gesehen gerade als meine Schwester ausgebe. Vielleicht kann ich das ja zu unserem Vorteil nutzen.
»Mein Name ist Rayne McDonald«, erkläre ich mit so viel Wagemut, wie ich auf die Schnelle aufbringen kann. »Ich bin eine Vampirjägerin wie du und ich habe einen Gefangenen gemacht.«
Ich drehe mich um, um auf Magnus zu zeigen.
Gleichzeitig versuche ich, ihm zuzuzwinkern, ohne dass Bertha etwas bemerkt, um ihm verständlich zu machen, dass das nur eine List ist. Auf keinen Fall darf er mir glauben und versuchen, es mit uns beiden gleichzeitig aufzunehmen.
Zum Glück scheint er zu kapieren und senkt ganz unterwürfig den Kopf.
Bertha verzieht das Gesicht. »Das ist unmöglich.
Es wird nur ein Mädchen in jeder Generation geboren, das dazu bestimmt ist, alle Vampire abzu...«
»Vergiss es, du Möchtegern-Vampir-Killer«, unterbreche ich sie. »Meinst du nicht, Slayer Inc.
würde sich für den Notfall jemanden in Reserve halten? Vor allem wenn ihre sogenannte vom Schicksal bestimmte Jägerin ihren Cholesterin-spiegel nicht im Griff hat.« Ich bedenke sie mit einem mitleidigen Lächeln. »Ich sage dir das nur ungern, Bertha, mein Mädchen, aber du bist nicht gerade das Schneeflöckchen, für das du dich hältst.« Ich packe Magnus grob am Arm und bete, dass er weiter mitspielt. »Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich muss meinen Gefangenen abführen.« Ich mache einen Schritt auf die Tür zu.
Einen Moment lang schweigt Bertha und ich denke schon, dass wir tatsächlich durchkommen mit diesem Unsinn. Aber gerade als wir die Tür erreichen, springt sie uns in den Weg. »Wenn du wirklich eine Jägerin bist«, sagt sie, »dann musst du das geheime Passwort kennen.«
Oh, Mist. Rayne hat mir nicht erzählt, dass es ein geheimes Passwort gibt. Vielleicht gibt es ja auch gar keins. Vielleicht versucht Bertha, mich auffliegen zu lassen oder so was.
»Also bitte. Es gibt kein Passwort«, versuche ich es. Denn selbst wenn es eines geben sollte, habe ich keinen Schimmer, wie es lauten könnte.
»Jetzt verzieh dich, bevor ich dich Teifert melde, weil du die Ausführung von Befehlen von Slayer Inc. behinderst.«
Bertha streckt gelassen den Arm nach einem Knopf an der Wand aus. Als sie ihn drückt, kracht eine Stahltür über den einzigen Ausgang und ein Alarm fängt an zu dröhnen. Huch, oh. Ich schätze, ich habe mich verschätzt, was das Passwort betrifft.
Eine computerisierte Frauenstimme dringt mit ihrer Ansage anscheinend durch das ganze Gebäude. »Alarm: Eindringlinge. Alarm.
Eindringlinge.«
Ich schaue zu Magnus hin. So viel dazu, uns mit einem Trick hier herauszukriegen. Jetzt besteht unsere einzige Chance darin zu kämpfen. Als Bertha auf mich losgeht, mache ich einen Satz zur Seite und weiche ihrem Angriff aus, während ich mich verzweifelt nach irgendeiner Waffe umsehe, um ihren Vorteil auszugleichen. Aber für das Büro des Vizepräsidenten einer Vampirjägerorganisation scheint Teifert, was die Ausstattung mit Waffen betrifft, entschieden unterversorgt zu sein, denn nicht einmal ein übriger Pflock ist zu sehen.
Bertha fährt wütend herum, als sie sich für Runde zwei hochschraubt. Aber diesmal ist Magnus vorbereitet. Er springt vor mich hin und seine Reißzähne klicken aus dem Gaumen, während er Bertha grob an den Schultern packt.
»Oh, du willst auch spielen, Vampir?«, knurrt sie.
Schnell wie der Blitz befreit sie sich aus Magnus'
Griff und springt auf die andere Seite des Büros.
Für jemanden, der so übergewichtig ist, kann das Mädchen sich wirklich bewegen, wenn sie will.
Sobald Bertha außer Reichweite der Reißzähne ist, zieht sie ihren Pflock heraus und wirft sich mit einem kreischenden Kampfschrei auf Magnus.
Ich schaue entsetzt zu, wie sie auf ihn losgeht, und das Dejá-vu trifft mich mit Wucht. Genau so hat sie Lucifent umgebracht. Schnell und entschieden und ohne einen einzigen Buffy-mäßigen Spruch auf den Lippen. Nur angreifen, pfählen und puff! Kein Blutzirkelmeister mehr.
Ich kann nicht zulassen, dass mit Magnus das Gleiche passiert.
Ich greife ein und stoße den Vampir aus dem Weg, genau als Bertha ihren Pflock wieder heruntersausen lässt. Das scharfe Holz bohrt sich stattdessen in meinen Unterarm und ich quieke vor Schmerz. Ich bin vielleicht kein Vampir, der durch einen Pflock im Herzen zu Staub zerfällt, aber trotzdem fühlt es sich nicht wie ein Tag am Strand an, wenn einem ein Stück Holz ins Fleisch gerammt wird, ganz zu schweigen von den Splittern.
Bertha, die ganz offensichtlich erschrocken ist über meine plötzliche Heldentat (welche Vampirjägerin greift schon ein, um einen Vampir zu retten?), starrt auf den Pflock, der in meinem Arm steckt. Bevor sie ihn herausziehen kann, mache ich mir die Situation zunutze und ramme ihr die Faust ins Gesicht, so fest ich kann. Leider bin ich kein Profiboxer, darum bin ich mir nicht hundertprozentig sicher, ob meine tapferen Bemühungen auch nur einen blauen Fleck hinterlassen werden. Aber trotzdem fühle ich mich ziemlich cool, weil ich meinen ersten Hieb gelandet habe. Wenn Rayne mich jetzt sehen könnte!
Bertha taumelt rückwärts und fasst sich mit der Hand ans Gesicht. Magnus bewegt sich so schnell, dass meine Augen kaum folgen können.
Man muss diese Vampirsupergeschwindigkeit einfach lieben. Blitzschnell wirft er Berta zu Boden und hält sie mit seinem Gewicht unten.
Ich ziehe den Pflock aus meinem Arm und versuche, den Schwall Blut zu ignorieren, der aus der offenen Wunde spritzt.
»Lauf.«, ruft Magnus, während er sich müht, die sich windende Jägerin unter sich festzuhalten.
»Lauf weg! Verschwinde von hier!«
Ich muss zugeben, das ist ein guter Rat. Aber ich werde auf keinen Fall meinen Freund einer Jägerin überlassen. Sicher, er scheint jetzt die Oberhand zu haben. Aber ich weiß wie geschickt Bertha sein kann. Und wenn ich das sinkende Schiff verlasse und ihm am Ende etwas zustößt?
Das würde ich mir nie verzeihen.
Und tatsächlich, einen Moment später schreit Magnus auf vor Schmerz, zuckt zurück und lässt Bertha los. Zuerst kann ich nicht erkennen, was passiert ist, doch dann sehe ich das Messer, das in seinem Bauch steckt. Ein Messer, das, da bin ich mir wegen seiner Reaktion ziemlich sicher, aus reinem Silber ist. Bertha steht auf, setzt sich rittlings auf den am Boden liegenden Magnus, mit dem Rücken zu mir.
»Zeit zu sterben«, knurrt sie und greift nach dem Messer.
Zorn wallt in mir auf. Wieder einmal ist die Jägerin zu weit gegangen. Mit Braveheart-mäßigem Gebrüll greife ich an und ramme ihr den Pflock in den Rücken. Zwar weiß ich, dass er wahrscheinlich keinen dauerhaften Schaden anrichten wird, aber ein Stück Holz, das einem im Rücken steckt, bleibt ein Stück Holz.
Sie schreit schmerzerfüllt auf und fährt zu mir herum und ihre Knopfaugen treten aus den Höhlen vor Wut. »Oh, tut mir leid«, sagt sie.
»Wolltest du lieber den Anfang machen.« Sie stapft auf mich zu und ihre Schritte fressen den Raum mit erschreckender Geschwindigkeit. Ich weiche zurück, jetzt ohne Waffe, bis ich direkt an der Wand stehe. Ich werfe einen verstohlenen Blick auf Magnus und hoffe auf eine Re'
tung in letzter Minute, aber irgendetwas sagt mir, dass von ihm nichts zu erwarten ist, solange er sich vor Schmerzen auf dem Boden windet.
Bertha hat mich jetzt erreicht. Ich versuche, sie wegzustoßen, aber sie ist zu stark. Sie legt ihre fleischigen Hände um meinen Hals, drückt fest zu und schnürt mir dadurch die Luft ab.
Verzweifelt versuche ich, ihre Hände wegzuziehen, während ich nach Atem ringe. Aber ich kann sie irgendwie nicht abschütteln, auch wenn ich mich noch so sehr bemühe. Meine Sicht wird verschwommen. Meine Lungen sind leer. War's das? Ist das Spiel für mich schon wieder aus?
»Warte!«, dröhnt eine Männerstimme. Als Bertha überrascht ihren Griff lockert, schaue ich zur Tür.
Die Metallwand hat sich gehoben und in der Tür steht, im Bademantel und in Häschenpantoffeln, kein anderer als Vizepräsident Teifert selbst.
Haben die heute bei Slayer Inc. etwa eine Pyjamaparty
veranstaltet oder was?
Teifert tritt gelassen in den Raum, als wäre nicht gerade die Hölle los. Er drückt auf den Alarmknopf an der Wand und die Sirenen verstummen. Der Raum ist jetzt unheimlich still, während der Vizepräsident die Szene betrachtet.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragt er schließlich und klingt dabei ein bisschen erschöpft.
»Dieses Mädchen«, zischt Bertha und funkelt mich an. »Sie behauptet, sie ist eine Vampirjägerin. Aber ich habe sie und ihren kleinen Vampirfreund erwischt, wie sie in Ihr Büro eingebrochen sind. Ich hielt es für meine Pflicht, sie aufzuhalten.« Sie sieht Teifert an, eine verzweifelte Bitte um Anerkennung in ihrem pockennarbigen Gesicht. Für eine Topvampirjägerin lässt ihre Selbstsicherheit ein wenig zu wünschen übrig.
Teifert geht zu Magnus hinüber, der immer noch blutend auf dem Boden liegt. Er zieht ihm das Messer aus der Seite und Magnus stöhnt qualvoll. »Ich hätte wirklich mehr von Ihnen erwartet, Magnus«, sagt er mit leiser Stimme.
»Und ich hätte mehr von Ihnen erwartet«, knurrt Magnus zurück. »Aber das Papier hier sagt etwas anderes.« Mit zitternder Hand deutet er auf den Ordner mit dem Mordbefehl gegen Lucifent, dessen Inhalt auf dem Boden verstreut ist. »Sie sollten eigentlich beschützen und dienen«, fügt er hinzu. »Aber ich sehe nur die Absicht zu töten.«
»Dafür haben wir unsere Gründe«, entgegnet der Vizepräsident steif und sein Gesicht wird so rot wie eine Tomate. Er packt den Ordner und stopft die Papiere wieder hinein. »Das geht Sie gar nichts an.«
»Er ist mein Schöpfer«, schnaubt Magnus. Ich kann erkennen, wie viel Anstrengung es ihn kostet zu reden. Ich frage mich, warum seine Wunde nicht heilt. Vielleicht durch das viele Silber in seinem Blut? Wenn ich ihn doch nur hier, herausbekommen und zu seinen Blutspenderinnen schaffen könnte, damit er eine richtige Transfusion ...
»Ihr Schöpfer, ja. Und Ihr momentaner Meister.
Aber hinter Lucifent steckt mehr, als Sie wissen.
Er muss der Gerechtigkeit zugeführt werden, bevor es zu spät ist.«
»Ich werde nicht zulassen, dass Sie ihn ermorden«, beharrt Magnus. »Töten Sie mich an seiner Stelle.«
Teifert seufzt. »Verstehen Sie doch«, sagt er.
»Wir tun das, um Ihren Zirkel zu retten. Mit Lucifent an der Spitze sind Sie alle in Gefahr.« Er hält inne, dann fügt er hinzu: »Zusammen mit der ganzen menschlichen Gattung.«
»Was?«, rufe ich, bevor ich es verhindern kann.
»Aber ich dachte, Sie hätten Lucifent getötet -
ähm, ich meine, Sie wollen Lucifent töten - , weil er ein Kindvampir ist, und das verstößt gegen Ihre Gesetze.« Oh Gott, war da noch etwas anderes? Etwas, was wir nicht über den Vampirführer wissen was Slayer Inc. aber sehr wohl weiß? Etwas Schlimmes?
Teifert dreht sich zu mir um. »Auch wenn wir nicht gerade erbaut sind über die Vorstellung, dass Kinder in Geschöpfe der Nacht verwandelt werden, so würden wir trotzdem nicht ihre Ermordung verlangen - geschweige denn, allein aus so einem einfachen Grund einen ganzen Zirkel mit einem Schlag seiner Führung berauben.«
Ups, oh.
»Und wenn wir es aus irgendeinem lächerlichen Grund doch wollten, hätten wir die Tat dann nicht schon Vor Jahren begangen?«, argumentiert er weiter, während er im Raum auf und ab geht. »Er ist ja schließlich schon seit mehreren Jahrtausenden ein Kindvampir.«
Hoppla. Guter Einwand. Warum haben Rayne und ich daran nicht gedacht?
Teiferts Blick fällt auf mich. »Und du«, sagt er.
»Was machst du überhaupt hier? Das ist nicht deine Schlacht. Du soltest jetzt gehen.« Er deutet zur Tür. »Geh und vergiss alles, was du heute Nacht hier gesehen hast. Wir reden morgen früh in der Schule.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Sein Angebot ist mehr als verlockend. Zur Tür hinausspazieren und alles ist vergessen. Alles, was wir zu tun versucht haben, was, nach Teiferts Andeutungen zu schließen, vielleicht von vornherein keine gute Idee war.
Aber dann fange ich aus den Augenwinkeln Magnus' verzweifelten Blick auf. Es ist meine Schuld, dass er in diesem Schlamassel sitzt.
Wenn ich jetzt gehe, lasse ich ihn im Stich Verrate ihn in der Stunde der Not. Wenn ich durch die Tür gehe, ist es für immer aus zwischen uns. Ich werde nie sein Vertrauen gewinnen. Ich werde nie seine Liebe gewinnen.
Also verschränke ich stattdessen die Arme vor der Brust. »Ich bin Magnus' zukünftige Blutsgefährtin«, teile ich Teifert mutig mit und bete, dass ich keinen riesengroßen Fehler mache. »Seine Kämpfe sind meine Kämpfe. Und ich werde ihn nicht der Slayer Inc. überlassen.«
Der Vizepräsident seufzt abermals und fährt sich mit der Hand durch die Haare, als wäre er der Welt überdrüssig. »Na wunderbar«, murmelt er, geht zum Schreibtisch und wirft den Aktenordner wieder in eine Schublade zurück. »Das ist genau das, was ich als Krönung für meinen sowieso schon wunderbaren Tag noch gebraucht habe.«
»Darf ich die beiden jetzt töten?«, fragt Bertha eifrig.
»Nein«, sagt Teifert. Er mustert uns beide mit ernsten Augen. »Entgegen dem, was diese beiden anscheinend glauben, sind wir hier bei Slayer Inc. keine Ungeheuer und wir laufen nicht herum und ermorden Vampire und Menschen ohne triftigen Grund.«
Bertha runzelt finster die Stirn. Anscheinend stimmt sie mit der gegenwärtig vollzogenen Politik, was sinnlose Monstermorde betrifft, nicht überein.
»Also, ähm, dann können wir gehen?«, frage ich und schöpfe den Bruchteil einer Sekunde lang Hoffnung. Wird er uns einfach hier hinausspazieren lassen? Kann ich Magnus zu seinen Spenderinnen bringen, bevor es zu spät ist?
Aber Teifert macht diese Idee mit einem schnellen Kopfschütteln zunichte. »Tut mir leid.
Sie wissen zu viel« sagt er mehr zu Magnus als zu mir. »Was Sie zu einer Gefahr für Ihre Leute macht.« Er schiebt seinen Dolch in die Scheide und steckt sie in die Tasche. »Solange wir diese Angelegenheit nicht erledigt haben, können wir Sie nicht freilassen fürchte ich.«