Montag

Kapitel 58 Callie

Ich sitze an Raes Klinikbett, beobachte sie gebannt.

Sie schlägt ein Auge auf, noch schlaftrunken, und versucht mich anzusehen.

Da zieht sich mein Gesicht zu einem Lächeln in die Breite, strahlend wie die Sonne.

»Ich hab Durst«, sagt Rae. »Ich will Johannisbeersaft.«

»Ich glaube, du bleibst im Moment lieber bei Wasser«, sage ich und widerstehe der Versuchung, zu ihr ins Bett zu steigen und ihren warmen kleinen Körper so fest an mich zu drücken, dass er wieder eins mit mir wird.

»Kaye gibt mir Johannisbeersaft.«

Ich lächle. »Was du nicht sagst! Na, ich freue mich jedenfalls, dass du es schon wieder mit allen Tricks probierst. Schau mal. Ich hab was für dich.« Ich greife in die Handtasche und ziehe einen weißen Umschlag heraus. »Ein Brief von Hannah für dich.«

Raes Gesicht leuchtet auf. Sie reißt den Umschlag auf und zieht eine Karte heraus. Vorn hat Hannah etwas gezeichnet. Ein Bild von sich und Rae. Rae hat riesige Augen, die fast ihr ganzes Gesicht ausfüllen; ihre Lockenhaare stehen rings um den Kopf ab, ihr Mund ist zu einem zahnlückigen Lächeln geöffnet. Hannah hat hellorange Haare und hält Rae an der Hand. Sie hat Rae sorgfältig auf eine Kiste gestellt, damit sie gleich groß sind. Das ganze Bild ist übersät mit Herzen, in denen »BF« geschrieben steht.

»Das heißt beste Freundin«, sagt Rae atemlos.

Ich streichle ihr übers Gesicht und freue mich für sie. Gemeinsam schlagen wir die Karte auf. »Für Rae. We’ll Always Be Together. Alles Liebe von Hannah«, steht drinnen.

Rae kichert. »Dieses Lied singt Hannah oft. Es ist aus Grease. Sie sagt, das darf ich mal bei ihr zu Hause anschauen.«

Ich sehe ihr lächelnd in die glänzenden Augen und lese den Songtitel noch einmal.

»We’ll Always Be Together – wir werden immer zusammen sein.«

Und ich beuge mich über Rae, umarme sie liebevoll und hoffe für sie, dass es wirklich so sein wird.

»Rae, hör mal. Ich muss Granddad anrufen und ihn fragen, wann er heute Nachmittag kommt. Ich bin gleich zurück.«

Ich strecke den Kopf zur Tür hinaus und winke Tom, der sich auf dem Flur mit einem der Ärzte unterhält. Er nickt und kommt mich ablösen; als wir in der Tür aneinander vorbeigehen, legt er mir die Hände auf die Schultern.

»Alles klar?«, fragt er und rubbelt mir über die Oberarme.

»Mhm.« Ich lehne ein wenig den Kopf an ihn, als er mich massiert.

»Wo willst du hin?«

»Es dauert nicht lang. Ich habe etwas zu erledigen.«

Wir drehen uns zur Rae, die sich im Bett aufgesetzt hat. Sie strahlt. Und beobachtet uns mit Adleraugen.

Wir verdrehen die Augen und zwinkern uns zu, bevor ich mich entferne.

 

Ich gehe in die Cafeteria hinunter. Wie anders alles bei Tageslicht aussieht. Die Sonne scheint durch das Glasatrium herein. Meilen entfernt kann ich das London Eye erkennen. Der Arzt sagt, dass es Rae gutgeht. Dass sie nicht allzu lange hier bleiben muss. Wir werden aus dieser Klinik bald in die Freiheit entlassen. Und diesmal endgültig. Für immer.

Die Cafeteria ist heute ein anderer Ort. Schlangen von Menschen holen sich ihr Mittagessen, Besucher, Ärzte in gestreiften Hemden, das Stethoskop stolz um den Hals, erschöpftes OP-Personal noch im Kittel, Patienten mit Schläuchen, Gehhilfen, Verbänden. Am Samstagabend ist es mir nicht aufgefallen, aber die Cafeteria wurde seit dem letzten Mal renoviert, sieht freundlich, frisch und sauber aus. Gespräche schwirren in der Luft, man redet von Plänen, von Fortschritten in der Genesung, von Hoffnung, dass alles gut wird.

Und dann sehe ich ihn. Am anderen Ende des Saals in der Ecke, den Kopf über eine Zeitung gebeugt, einen großen Plastikbecher Kaffee in der Hand. Immer noch in seinem verdammten Anzug. Aber diesmal hat sein Haar einen fettigen Glanz. Es fällt nach vorn, umrahmt ein Kinn, das den Anflug eines dunklen Schattens zeigt.

Erst sieht er mich nicht. Ich mustere ihn und versinke in Gedanken. Wie Jez immer den Schmerz weggenommen hat.

Und dann richte ich meine Aufmerksamkeit auf die harte Linie seines Kinns und gestehe mir schließlich ein, dass das gar nicht stimmt. Denn die Euphorie, in die Jez mich versetzt, hat Nachwirkungen. Jez dringt in meinen Organismus ein, bringt Blutgefäße zum Kollabieren, bremst meinen Atem, verlangsamt die Neuronen in meinem Gehirn, vergiftet mir das Herz und verstopft die Arterien, die mich am Leben erhalten.

Nein, denke ich, richte den Blick auf seine Augen und gehe auf ihn zu. Wenn ich ehrlich zu mir bin, hat mir Jez, von Rae abgesehen, noch nichts Gutes getan.

 

»Wie geht es ihr?«, frage ich und ziehe den Stuhl neben ihm hervor.

Er fährt überrascht hoch. Sofort wirft er einen Blick hinter mich. Hält wahrscheinlich Ausschau nach Tom. Fragt sich, ob jetzt die große Szene kommt.

»Sie werden sie behalten. Zur Beobachtung«, antwortet er dann.

»Was – in der Notaufnahme?«

Er macht eine Pause. »Nein. In der Psychiatrie.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch, und er wendet den Blick ab.

»Wie geht es Rae?«, erkundigt er sich.

»Gut.«

Er nickt. »Das freut mich.«

Ich sitze schweigend da, sehe ihn lange an.

»Also, was gibt’s, Jez? Warum hast du mich angerufen?«, frage ich schließlich.

Er trommelt mit den Fingern auf den Tisch und bemüht sich um ein Lächeln.

»Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«

Ich starre ihn an. »Du willst mich um einen Gefallen bitten?«

Er rollt mit den Augen. »Ich weiß. Unter diesen Umständen nicht sehr passend.«

Ich lehne mich zurück.

»Weißt du, was? Bevor du mich fragst, möchte ich gern, dass du mir ein paar Fragen beantwortest. Dann werden wir sehen.«

Er blickt mich an, und ich begreife, dass ich zum allerersten Mal die Überlegene bin. Sein Gesicht hat etwas Weiches, das ich noch nie an ihm gesehen habe. Jez hat Angst, denke ich. Er weiß nicht mehr weiter. Plötzlich wirkt er wie ein großes, dickes Kind, das in Papis Anzug geschlüpft ist.

Ich bin überrascht, welche Abscheu mich erfasst.

»Gut …«

»Gut. Also, als Erstes möchte ich etwas über Suzy wissen. Ich will wissen, wo du sie kennengelernt hast. Bei der Arbeit?«

Er senkt den Blick. »Ja. Sozusagen.«

»In deinem Büro in Denver?«

Er windet sich vor Unbehagen. »Nein. Bei ihrer Arbeit.«

»Und wo wäre das?«

»In einem Clu… Ich meine, in einer Bar. In der Nähe meines Büros.«

Ich sehe, wie unwohl er sich fühlt. »Was jetzt – in einer Bar oder in einem Club?«, frage ich mit Bedacht.

Er seufzt. »In einem Club.«

»Und darf ich fragen, in welcher Art von Club?«

»Lieber nicht«, murmelt er.

Ich nicke und lasse die Auskunft sacken. Denke an den Ordner, den die Polizeibeamtin vor sich liegen hatte, als sie mich zu Suzy befragte.

»Gut. Und warum hast du sie geheiratet?«

Er kniff den Mund zusammen. »Sie ist in der ersten Woche schwanger geworden. Mit Absicht. Da erschien es mir einfach als gute Idee. Um den Alten zu ärgern.«

»Und wann hast du erkannt, dass deine tolle, sexy neue Frau, die du geheiratet hast, um deinen Dad zu ärgern, ein Fall für die Klapsmühle war?«

Er sah mich scharf an. »Cal. Ich weiß, was sie dir angetan hat. Aber du redest von der Mutter meiner Kinder.«

Ich halte seinem Blick stand.

»Ich fragte, wann, Jez.«

Er seufzt, beugt sich vor und zupft einen Fussel vom Ärmel. »Es hat ziemlich bald angefangen. Sie begann, in meinem Büro aufzutauchen, und warf den Frauen, mit denen ich arbeite, böse Blicke zu. Sie ist mir in Bars gefolgt. Hat mich vor Freunden angeschrien. Einmal hat sie mich vor dem Unternehmenschef, für den ich in Denver Vertragsverhandlungen geführt habe, geohrfeigt, als er mich von seinem Chauffeur zu Hause absetzen ließ, nachdem wir bis in die Nacht hinein gearbeitet hatten.«

»Warum bist du nicht gegangen?«

»Ich dachte, es läge an der Schwangerschaft. Aber nach Henry ist es noch schlimmer geworden. Sie wollte niemanden in seine Nähe lassen. Sie wollte ihn und mich die ganze Zeit bei sich im Haus behalten. Ich habe versucht, ein Kindermädchen anzustellen, damit sich die Lage etwas entspannt, aber Suzy wollte gehört haben, wie die Frau Henry androhte, sie würde ihn in die Mikrowelle schieben, wenn er nicht zu schreien aufhörte. Die Frau hat das abgestritten, aber ich musste sie entlassen. Und dann ist Suzy wieder schwanger geworden. Da bin ich mit der ganzen Familie nach London zurückgekehrt und habe angefangen, zu Hause zu arbeiten. Sie beruhigt sich wenigstens, wenn ich da bin. Und wenn ich weggehe, um mich mit Kunden oder Freunden zu treffen, kann sie mich nicht verfolgen. Ich habe wieder angefangen zu leben.«

»Gelebt hast du allerdings – nach allem, was ich so höre,«, sage ich. Jez beißt sich auf die Lippe. »Aber du hast es gewusst. Du hast gewusst, dass sie psychisch gestört ist.«

»Was heißt hier psychisch gestört? Eifersüchtig vielleicht, durcheinander. Alles wegen ihrer Schwester. Sie …«

»Schwester?«, rufe ich. »Was für eine Schwester denn?«

»Faye. Sie lebt in Denver. Suzy spricht nicht mehr mit ihr, aber Faye hat mich ausfindig gemacht, ist zu mir ins Büro gekommen und hat mir alles erzählt. Sie glaubt, dass das die Wurzel der Probleme ist. Dass sie bei der Mutter bleiben durfte und Suzy zu einer schrulligen alten Tante geschickt wurde.«

Ich nehme alle Informationen gierig auf. »Warst du deshalb immer hinterher, dass die Zwillinge in den Kindergarten kommen? Ist das auch der Grund für das Internat? Um die Kinder von ihr möglichst fernzuhalten? Willst du sie ihr irgendwann ganz wegnehmen?«

Er fummelt mit einem Zuckertütchen herum.

Ich schüttle den Kopf.

»Und um welchen Gefallen möchtest du mich bitten?«

Er richtet sich auf und lächelt bemüht.

»Sie wird wochenlang dort sein. Vielleicht monatelang. Meine Eltern sind heute früh nach Südafrika aufgebrochen und kommen erst in zwei Wochen zurück. Ich möchte nicht, dass sie wissen, was wirklich los ist. Deshalb werde ich veranlassen, dass die Zwillinge von neun bis sechs im Kindergarten bleiben können und Henry in den Hort geht. Ich habe gehofft, dass du vielleicht einspringen könntest. Ich muss den Vertragsentwurf für Vancouver fertig kriegen und kann so schnell keine Tagesmutter finden.«

Ich starre ihn an.

»Habe ich dich richtig verstanden? Du fragst mich, ob ich mich um deine Kinder kümmern kann?«

Er probiert es wieder mit der Kombination »gesenkte Augenbrauen plus heruntergezogene Mundwinkel«, wie schon am Abend, als Rae vom Fahrrad angefahren wurde, und hofft sichtlich, mich damit zu erweichen. »Ich meine, um die Jungs und um Rae«, sagt er in einer Stimme, die gefühlvoll klingen soll. »Ist doch alles Familie. Irgendwie.«

»Familie«, schnaube ich. »Ich höre wohl nicht recht – du zählst Rae also zur Familie? Familie! Deshalb bist du also zu Hause im Bett gelegen und hast die Nacht durchgeschnarcht, während ihr die Brust aufgeschnitten wurde?«

Ich stehe auf und kämpfe gegen das Lächeln an, das in mir aufsteigen will. »Weißt du, was, Jez? Du hast diese Wahnsinnige an meine Tochter herangelassen, obwohl du wusstest, wozu sie in der Lage ist. Wie ich die Sache sehe, ist alles nur deinetwegen passiert. Weil es dir gut in den Kram passte, dass Rae und ich Suzy beschäftigt hielten, damit du deine Ruhe hattest. Obwohl du genau wusstest, womit man bei ihr rechnen muss.«

Sein Gesicht verfinstert sich.

»Ich werde dir sagen, was ich tun werde. Ich werde deine freundliche Anfrage ablehnen. Ich bin nämlich der Meinung, Jez, dass du dich aus dem Vancouver-Vertrag zurückziehen und dich selbst eine Weile um deine Kinder kümmern solltest. Dann hast du vielleicht nicht genug Geld für einen smarten neuen Anzug, aber du wirst überleben. Nach allem, was die Jungs durchmachen mussten, täte es ihnen gut, ihren Dad eine Weile um sich zu haben.« Ich sehe ihn direkt an. »Und wie wir beide wissen – man weiß nie, wem man seine Kinder guten Gewissens anvertrauen kann.«

Damit marschiere ich durch die Cafeteria davon. Das Klappern der Stahltöpfe und Pfannen aus der Küche klingt in meinen Ohren wie frenetischer Applaus.

 

Als ich wieder in Raes Zimmer bin, liegt Tom leise schnarchend auf dem Eltern-Ausziehbett. Rae hat sich auf die Seite gedreht, ihre Gesichter sind einander zugewandt, nur einen halben Meter voneinander entfernt. Nase, Stirn und Kinn haben bei allen genetischen Unterschieden den gleichen, entspannten Ausdruck einer innigen Vater-Tochter-Beziehung.

Behutsam schließe ich die Zimmertür, gehe zu Raes Bett und klettere am Fußende hinauf, ganz vorsichtig, damit ich sie nicht wecke.

Ich sehe erst Tom an, dann Rae, betrachte mein eigenes Spiegelbild im sonnigen Fenster, lege mich zwischen die beiden und strecke die Hände nach ihnen aus.