Kapitel 43 Debs
Der Lärm hatte zwar aufgehört, aber Debs musste nun unbedingt aus dem Haus, an die frische Luft. Allen hatte letzten Samstag, als er vom Cricket nach Hause kam, in einem Gartencenter ein paar goldene Ringelblumen gekauft; Debs ging mit den Pflanzen in den Vorgarten und hockte sich vor das kleine Beet, um sie einzusetzen. Sie atmete tief, um sich zu entspannen.
Es dauerte eine Weile, bis sie die Stimmen vernahm.
Die Amerikanerin.
Debs duckte sich und spähte durch die hohe Hecke. Suzy stand vor Callies Haustür, Rae fest an der Hand.
Durch die Blätter sah Debs, wie Suzy und Rae Callie zuwinkten; die Haustür wurde geschlossen.
»Ich hab’s geschafft!«, juchzte Rae und kicherte. »Mummy hat mich gelassen!«
»Schlaues Mädchen. Ich hab’s dir doch gesagt.«
»Gehen wir zu Fuß zu Ally Pally, Aunty Suzy?«, hörte Debs das kleine Mädchen rufen.
Suzys Antwort konnte sie nicht verstehen, aber die beiden überquerten die Straße und blieben unmittelbar vor Debs’ Versteck stehen. Debs kauerte gelähmt am Boden, wie eine Maus in den Krallen einer Katze. Die beiden standen so dicht vor ihr, dass sie sie durch die Hecke hätte berühren können. Dann piepte es, entriegelte Autotüren wurden geöffnet. Debs sah kleine Füße vom Pflaster verschwinden und hörte die hintere Autotür zuschlagen.
Dann drang ein Wispern zu ihr durch. Ein sehr merkwürdiges Wispern.
Sie spitzte die Ohren und hörte die Amerikanerin ein Selbstgespräch führen. Mit einer hohen, unangenehmen Fistelstimme. Erst nach einer Schrecksekunde erkannte Debs, dass die Amerikanerin Rae nachäffte.
»Mummy hat mich gelaaa-ssen!«, wisperte Suzy ein paarmal. Dann fiel die Stimme in ihre normale Tonlage zurück, blieb aber leise. »Na, dann sehen wir mal, was Mummy macht, wenn Aunty Suzy die Galle platzt, weil sie sich lange genug hat verarschen lassen, Knuddelbäckchen!«
Damit öffnete sie die Fahrertür und setzte einen Fuß in den Wagen, um einzusteigen. Debs beugte sich unwillkürlich vor und streckte sinnlos die Arme nach dem kleinen Mädchen aus, das im Auto eingesperrt saß. Da stieß sie an die Hecke, es raschelte, und Debs sog hörbar die Luft ein.
Die Füße der Amerikanerin erstarrten mitten in der Bewegung.
Sie schwangen sich wieder aus dem Auto – und richteten sich geradewegs auf Debs.
Debs kniff die Augen fest zusammen.
»Schauen Sie mich an.«
Die Worte waren kalt und überdeutlich. Debs schlug die Augen auf und blickte in Suzys Gesicht, das durch die Hecke starrte.
»Ich habe Sie beobachtet«, sagte die Amerikanerin kalt. »Sie bespitzeln schon wieder unsere Kinder. Sie haben meine Nachricht wohl nicht gekriegt, was?« Sie hob den Arm und ballte die Hand zur Faust. »Ich schlag Ihnen die Fresse ein, dass die Zähne hinten wieder rauskommen. Das ist meine letzte Warnung. Soll ich’s Ihnen noch mal auf den Anrufbeantworter sprechen?«
Damit drehte sich Suzy um, setzte sich ins Auto, ließ den Motor an und fuhr davon.
Großer Gott.
Debs saß auf den Pflastersteinen ihres Vorgartens.
Großer Gott.
Sie hatte die ganze Zeit über recht gehabt.
Debs war verzweifelt, ihre Gedanken kreisten wie Windmühlenflügel. Diese Frau war ein Ungeheuer. Was dachte sich Callie dabei, ihr Rae anzuvertrauen? Debs’ Blick flackerte zu Callies Haustür hinüber. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie hinüberrennen und an die Tür hämmern sollte, ihr weitersagen sollte, was Suzy gerade gesagt hatte. Was Debs gerade durch die Hecke und den ganzen Vormittag durch die Wand gehört hatte.
Aber die junge Frau hatte auf ihre Nachricht von gestern überhaupt nicht reagiert. Wenn Debs an ihrer Tür auftauchte und von Drohungen in grüner Kreide und komischen Anrufen faselte, würde sie wahrscheinlich die Polizei rufen.
Es war das reine Grauen.
Da war natürlich noch Allen …
Sie erwog, ob sie in die Diele laufen und ihn anrufen sollte. Würde er sie ernst nehmen?
»Ach herrje«, stöhnte sie. Was nützte ein Mann, der einem kein Wort glaubte?
Da ging auf der anderen Seite ihres Hauses, in der Nr. 17, eine Tür auf; Debs blickte überrascht hoch. Es folgten scharrende Geräusche. Debs bückte sich, lugte neugierig durch die Hecke rechts und sah eine Frau in den Sechzigern mit einem perfekt geschnittenen Bob, der ihre breiten Wangenknochen umrahmte. Sie hatte sich hingekniet und starrte auf den Boden.
»Ach, guten Tag«, sagte die Frau und sah zu Debs hoch. »Sind Sie gerade eingezogen?«
»Ja«, sagte Debs verlegen, beim Spähen durch die Hecke ertappt. Sie erhob sich rasch und ging zu einer Lücke im Grün. »Hallo – ich bin Debs.«
»Beattie«, stellte sich die Frau vor, wischte ihre erdige Hand an der Hose ab und hielt sie Debs dann zwischen den Zypressenzweigen entgegen. »So was Seltsames«, sagte sie. »Ich bin gerade von Suffolk zurückgekehrt und habe entdeckt, dass jemand alle Kiesel in meinem Vorgarten umgeordnet hat.«
»Oh!«, entfuhr es Debs.
»Was haben Sie denn?«
»Ich … ich …« Sie bekam kein weiteres Wort heraus; ihr Atem ging stockend.
»Ich … ich …«, platzte sie heraus, blieb aber wieder stecken und gab auf, als heftige Schluchzer aus ihr herausbrachen; die Tränen liefen ihr nur so herunter.
»O je«, rief die Frau, »was haben Sie denn, Sie Arme? Ist Ihnen nicht gut?«
Debs schüttelte den Kopf, brachte aber immer noch kein Wort hervor.
»Kommen Sie doch rüber«, sagte Beattie und winkte zum Gartentor. »Kommen Sie ein Weilchen herein. Vielleicht kann ich helfen.«
Debs ließ die Schultern fallen und folgte der Aufforderung. Sie verließ ihren Vorgarten, und da stand ihre neue Nachbarin schon an ihrem Gartentor und streckte die Hand aus, um sie Debs um die Schultern zu legen.
»Es tut mir sehr leid«, schluchzte Debs. »Es ist nur …«
»Da machen Sie sich mal bitte überhaupt keine Gedanken«, sagte die Frau. »Kommen Sie rein und setzen Sie sich.«
Sie führte Debs in ihr Haus, wo es nach frisch gebackenem Kuchen roch. Die Wände waren in erlesenen matten Grüntönen gestrichen, ein edler Hintergrund für die geschmackvollen Zeichnungen und Gemälde, teils Akte, teils Landschaften. Debs zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Tränen ab, während sie der Frau nach hinten ins Haus folgte. Anders als bei Debs waren hier eine Wand durchgebrochen und zwei Räume zu einer großen, gemütlichen Küche im Shakerstil zusammengelegt worden; auf einem langen Kieferntisch standen eine riesige Obstschale und ein angeschalteter Laptop. Auf der Anrichte hatte Beattie Fotos von ihren Enkelkindern aufgestellt, Bücher reihten sich an den Wänden.
»Was kann ich Ihnen anbieten?«, fragte Beattie freundlich. »Tee?«
»Das wäre nett, vielen Dank«, schniefte Debs. »Es tut mir wahnsinnig leid. Sie müssen mich für verrückt halten. Ich habe in letzter Zeit sehr unter Druck gestanden. Ich fürchte, ich war schon etwas angeschlagen, als Allen und ich hier eingezogen sind, und jetzt habe ich mich anscheinend auch noch furchtbar mit meiner Nachbarin verfeindet, was alles noch viel schlimmer macht.«
»Die Amerikanerin links nebenan von Ihnen?«, fragte Beattie mit ernster Miene. Debs nickte.
»Mein Mann glaubt, dass ich dabei bin, den Verstand zu verlieren, dass ich mir Dinge einbilde, aber ich glaube, dass in Wirklichkeit diese Frau psychisch sehr instabil ist. Sie hat mich mit Lärm terrorisiert, mein Telefon hat dauernd geklingelt, und ich glaube, sie hat meine Recyclingkiste mit den Steinen aus Ihrem Vorgarten gefüllt. Aber das Schlimmste ist, dass sie mich in eine Lage gebracht hat, in der ein Kind unter meiner Obhut beinahe durch einen Unfall geschädigt wurde, eine furchtbare Sache, weil ich Lehrerin bin und mit Kindern wirklich umgehen kann. Und die Mutter des kleinen Mädchens ist fürchterlich aufgebracht gegen mich, wahrscheinlich werde ich wegen dieser Sache meine Stellung verlieren, und …«
Sie rang um Atem.
»Und Sie glauben, hinter allem steckt diese Frau?«, erkundigte sich Beattie.
Debs zögerte. O nein. Was hatte sie nun wieder angestellt? Jetzt würde auch noch diese nette Frau sie für verrückt halten.
»Das würde mich nicht überraschen«, fuhr Beattie fort und nickte.
Debs schnäuzte sich.
Es dauerte eine Weile, bis Beatties Worte bei ihr ankamen.
»Wie bitte?«, flüsterte sie.
Beattie ging zum Wasserkocher hinüber und goss zwei Tassen Tee auf.
»Ich sagte, das würde mich nicht überraschen. Essen wir doch ein Stück Kuchen.« Sie richtete einen Zitronenkuchen auf einem hübschen Porzellanteller an und brachte ihn mit zwei dampfenden Teebechern zum Tisch.
»Ich fürchte, diese Frau ist sehr eigenartig. Die Hendersons sind ihretwegen ausgezogen – wahrscheinlich wäre es ihnen nicht recht, dass ich Ihnen das erzähle. Gleich, als die Amerikanerin vor zwei Jahren hier ankam, hämmerte sie an die Tür der Hendersons und forderte sie auf, nicht vor ihrem Haus zu parken. Mr. Henderson dachte, vielleicht wisse sie als Amerikanerin nicht, dass man in einer Straße wie dieser, wo keine besonderen Einschränkungen gelten, parken kann, wo man will. Anscheinend wurde sie sehr unangenehm und bestand weiter darauf, dass er seinen Wagen woanders hinstellte. Sie beanspruchte diese Parkplätze für ihre eigenen Autos. Die Hendersons fanden das lächerlich, aber als sie wieder vor ihrem Haus parkten, kam sie aus der Tür geschossen und fing an zu toben. Sheila Henderson meinte, sie hätte ihr richtig Angst gemacht. Dann hat sie ihren Staubsauger neben die Zwischenwand gestellt und den ganzen Tag laufen lassen. Manchmal hat sie die ganze Nacht die Toilettenspülung betätigt, so dass die Hendersons kein Auge zutun konnten. Im Sommer hat sie das Radio voll aufgedreht und aufs Fensterbrett gestellt. Die Hendersons haben den Verdacht, dass sie auch versucht hat, ihren kleinen Highland-Terrier zu vergiften. Sie haben im Garten Weintrauben und Schokolade gefunden, die manche Hunde nicht vertragen. Schließlich haben sie bei den Behörden angerufen, doch dort wurde ihnen gesagt, dass sie Beweise erbringen müssten. Aber die Amerikanerin ist zu klug, um sich erwischen zu lassen. Sicher haben Sie bemerkt, dass in unserer Straße eine sehr freundschaftliche Atmosphäre herrscht. Jeder hat Kontakt mit jedem, deshalb haben alle Nachbarn davon erfahren. Bald haben sogar die Frauen noch spätabends im Dunkeln lieber auf der Hauptstraße geparkt, damit sie dem Haus der Amerikanerin ja nicht in die Nähe kommen.«
Debs fröstelte.
»Aber sie kümmert sich doch um das kleine Mädchen von gegenüber!«
»Das Kind, das mit Marys Sohn zusammengestoßen ist?«, fragte Beattie.
Debs starrte sie an.
»Marys Sohn?«
»Ja, Mary wohnt in der nächsten Straße. Ihr Sohn ist vorgestern mit dem Fahrrad gestürzt – er hat Mary erst gestern gesagt, dass das kleine Mädchen mit hingefallen ist. Mary ist gestern vorbeigegangen, um sich nach dem Kind zu erkundigen, aber es war niemand zu Hause.«
Debs wurde kreidebleich.
»Was haben Sie denn, Debs?«
»Ach du liebe Zeit. Das geht alles auf ihr Konto. Alles.«
»Wie meinen Sie das?«
Debs schlug sich die Hand vor den Mund. Wie hatte sie so dumm sein können? Ihr alberner Verfolgungswahn hatte sie daran gehindert, das Offensichtliche zu erkennen. Sie hatte die ganze Zeit über recht gehabt. Die Amerikanerin war gestört, möglicherweise sogar gefährlich.
Und sie hatte Rae in ihrer Gewalt.
»Beattie«, sagte Debs und sah hoch. »Das ist jetzt sehr wichtig. Sie müssen mir alles erzählen, was Sie wissen.«