Dienstag

Kapitel 15 Debs

Dienstagvormittag klingelte das Telefon, was im Schlafzimmer ein panisches Aufjaulen auslöste. Debs erwachte mit dem Gefühl, sie stecke mitten in einer Wolke. Sie schüttelte den Kopf und ächzte, so mühsam war es, wieder zu sich zu kommen; dann zwang sie sich, den Arm zum Nachttischchen hinüberzustrecken, nach der Brille zu greifen und sie aufzusetzen. Ihr war ein bisschen schwindlig; sie versuchte, ihren Blick scharfzustellen, und sah auf die Uhr. Es war schon neun, sie hatte verschlafen. Nun erinnerte sie sich. »Schlaf doch noch zwei Stündchen, Schatz«, hatte Allen gesagt. Er wusste, dass sie eine schlimme Nacht hinter sich hatte. Um elf, gerade als sie am Einschlafen war, hatte Daisy Poplars Gespenst nach längerer Zeit beschlossen, sie wieder einmal heimzusuchen. Um eins hatte Debs dann aufgegeben und eine Schlaftablette genommen, um das Mädchen loszuwerden.

Sie kniff die Augen zusammen und blickte in die Runde. Wer rief jetzt an? In einer zweiten Anstrengung mobilisierte sie ihre schlafschweren Glieder, setzte sich auf und zog den Morgenmantel um die Schultern, den Allen ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, mit den Worten, ihr altes salbeigrünes Ding wäre nun doch abgetragen.

Das Telefon hörte auf zu klingeln. Egal. Wenn es wichtig war, würden die schon wieder anrufen.

Zeit zum Aufstehen. Sie befahl ihren Beinen, sich aus dem Bett zu schwingen, und beugte sich zum Vorhang hinüber, um nach dem Wetter zu sehen. Es hatte über Nacht umgeschlagen. Der Himmel sah aus wie eine graue, nasse Decke. Eine Tür schlug zu. Callie kam aus dem Gartentor gegenüber gelaufen, im schicken Kleid, die Locken zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Debs runzelte die Stirn. Gestern im Hort hatte sie die junge Frau kaum erkannt. Als sie vor ein paar Tagen mit dieser seltsamen Lasagne aufgekreuzt war, hatte sie so unsicher gewirkt. Jetzt sah sie aus wie alle anderen gestylten Erfolgsfrauen, an denen Debs bei ihren seltenen Fahrten in die Innenstadt mit gesenktem Kopf vorbeiging.

Eigenartig, dachte sie, es ist doch schon nach neun. Sie sind zu spät dran für die Schule. Callie stand schon auf dem Gehweg und rief nach Rae, die noch im Vorgarten herumtrödelte. Vom ersten Stock aus beobachtete Debs, wie Rae sich hinter der Mauer bückte und mit flinker Hand etwas aus einem Pflanzenkübel beim Gartentor zog. Sie steckte es in die Tasche und lief zu ihrer Mutter.

Debs sah genau hin. Später im Hort. Da würde sie schon dahinterkommen. Wenn das kleine Mädchen allein wäre.

 

Im selben Moment, als sie sich zur Treppe aufmachte, klingelte das Telefon wieder. Debs hinkte, ihr Knie schonend, hinunter.

Als sie von der letzten Treppenstufe trat, hörte das Klingeln auf.

Wie ärgerlich.

Sie nahm den Hörer und klickte sich zur Liste mit den eingegangenen Anrufen durch. Die Nummer wurde nicht angezeigt. Wahrscheinlich wollte ihr jemand etwas verkaufen.

Da sie schon einmal unten war, brühte sie sich eine Tasse Tee auf. Sie hatte seit Samstag viel Tee gekocht, aber dass die Kanne fehlte, war Allen immer noch nicht aufgefallen. Als das Wasser kochte, sah Debs sich in der Küche nach einem Becher um. Wo waren die denn alle abgeblieben?

Der Geschirrspüler, den die Hendersons dagelassen hatten, starrte sie an.

Sie machte ihn auf und fand darin alle sechs Becher und das ganze Geschirr von gestern Abend, sauber gespült. Allen hatte die Maschine noch laufen lassen. Wie ungewohnt. So viele Jahre lang hatten nur ihr Teller, ihre Tasse und ihr Besteck ordentlich auf der Abtropfe gestanden. Sie hatte keine Ahnung, wie sie damit zurechtkommen würde, wenn sie Allens und ihr benutztes Geschirr regelmäßig in die weite Höhle dieser Maschine räumte – würde ihnen, bevor sie voll war, nicht alles ausgehen?

Sie nahm den Tee mit hinauf in das Schlafzimmer und beschäftigte sich wieder mit dem Karton, in dem ihre eigene Kleidung lag. Als sie eine marineblaue Arbeitsbluse aufhängte, klingelte das Telefon schon wieder. Also wirklich. Sie stand auf, streckte vorsichtig das angeschlagene Knie und tappte die Treppe wieder hinunter. Plötzlich kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Wenn nun die Leute, die ihre Wohnung gekauft hatten, nach der ersten Nacht ihre Nummer ausgeforscht hatten und sich jetzt über die Frau einen Stock über ihnen beschweren wollten, über ihre lauten Schritte auf der Treppe?

Als sie das Telefon erreichte, beschloss sie, trotzdem abzuheben. Vielleicht war es ja Allen.

Kaum streckte sie die Hand aus, hörte das Klingeln wieder auf.

Sie schüttelte den Kopf. Äußerst merkwürdig. Sie prüfte, ob das Telefon richtig eingesteckt war, vergewisserte sich, dass sie auf kein Kabel getreten war, und runzelte die Stirn. Alles schien in Ordnung. Eine Minute lang wartete sie, ob der Anrufer es noch einmal versuchen würde. Als das Telefon stumm blieb, drehte sie sich um und wollte wieder hinaufgehen; im letzten Moment fiel ihr ein, dass sie einen weiteren Karton aus der Diele mitnehmen könnte. Sie war halb oben, als das Telefon erneut klingelte.

Ihre Brustmuskeln verhärteten sich. Was zum Kuckuck?

Sie stellte den Karton ab und rannte die Treppe hinunter, sprang von der letzten Stufe und riss den Hörer hoch.

Das Klingeln hörte auf.

Debs wurde es ganz anders.

Das Telefon klingelte wieder.

Sie packte den Hörer und rief »Hallo!« hinein. Es war fast ein Aufschrei.

Tot. Die Leitung war tot.

»O nein«, murmelte sie. »Du lieber Himmel, nein.« Mit zitternden Fingern begann sie zu wählen.

»Allen!«, stieß sie mit panischer Stimme hervor. »Das Telefon hat dauernd geklingelt, dann war die Leitung tot. Ich glaube, das sind sie. Die Poplars.«

Langes Schweigen. »Ich bin in einer Besprechung«, sagte er sachlich. »Können wir uns in der Mittagspause unterhalten?«

»Ja, entschuldige, Schatz«, sagte sie.

»Ich könnte doch mittags nach Hause kommen?«, schlug Allen vor.

Ja. Ja, unbedingt.

 

Debs hörte ihn nicht durch die Haustür kommen. Die Wolkendecke hatte schließlich aufgerissen und blaue Flecken aufscheinen lassen, und um sich abzulenken, hatte Debs im Beet mit den pinkfarbenen Pfingstrosen und den blauen Iris, das noch die Hendersons angelegt hatten, Unkraut gejätet.

»Hallo«, rief Allen, als er in die Küche trat, und stellte seinen Aktenkoffer ab. Er trug einen der beiden grauen Anzüge, die er, von ihr beraten, bei Marks & Spencer gekauft hatte. Sie hatte ihn dazu überreden wollen, einen einfarbigen und einen gestreiften Anzug zu nehmen, aber er wollte beide Anzüge einfarbig haben. »Ich will nicht den Angeber spielen«, hatte er gesagt.

»Hallo«, erwiderte sie seinen Gruß, um eine feste Stimme bemüht. »Die Suppe ist schon aufgesetzt.«

»Gut, Schatz«, antwortete er.

Als er »Schatz« sagte, sanken ihre Schultern sofort entspannt nach unten. Vielleicht würde es gar nicht so schlimm werden.

»Guten Vormittag im Büro gehabt?«, fragte sie unbeschwert, wusch sich die Hände und küsste ihn auf die Wange.

»Ja, ich glaube schon.« Mit einem zufriedenen Blick ging er an ihr vorbei in den Garten hinaus. »Ich habe meine Idee einer Bushaltestelle bei der Bücherei vorgetragen und glaube, der Planungsbeamte hat sie positiv aufgenommen.«

»Mmmm«, machte sie, ohne wirklich zuzuhören; sie schöpfte die schon vormittags gekochte Hühnerbrühe in die Teller und trug sie auf einem Tablett mit Löffeln, Butterbrot, Servietten und Wassergläsern hinaus. »Aha.«

»Natürlich hat Ali gesagt, er hätte die Sache schon letztes Jahr erwähnt und sie wurde abgelehnt, deshalb …«, fing er an, setzte sich auf einen Gartenstuhl und nahm das Tablett von ihr entgegen. »Aber ich dachte …«

»Diese Anrufe machen mir furchtbare Sorgen«, platzte sie heraus.

»Hm«, sagte er nur und blickte zu Boden.

»Tut mir leid, Allen – aber das ist doch komisch, oder? Ich meine, warum klingelt andauernd das Telefon …«

Allen hob einen Löffel Suppe zum Mund. Debs wartete, dass er sich dazu äußerte, und als er schwieg, fuhr sie gehetzt fort, denn sie musste ihn unbedingt zum Reden bringen. Sie wusste, was er dachte. Sie brauchte einfach ein beruhigendes Wort von ihm. Eine Bestätigung. Irgendetwas.

»Ich frage mich ständig, woher sie meine neue Nummer haben. Heißt das, dass sie auch wissen, wo ich wohne?«

Allen kniff Mund und Augen zusammen.

»Debs, Schatz.« Diesmal hatte »Schatz« einen anderen Ton.

Er holte noch einmal tief Luft.

»Also, ich weiß nicht. Du hast keinen Grund zu glauben, dass sie bei dir anrufen wollen. Die Sache ist ein für alle Mal erledigt. Wahrscheinlich ist es nur so ein computergesteuerter Telefondienst, der automatisch anruft, um dir eine Lotterie oder sonst was anzudrehen.«

Sie sah ihn an.

»Glaubst du wirklich? Hältst du das für möglich?«

»Sogar für sehr wahrscheinlich.« Er nickte. »Wirklich, Schatz, du musst aufhören, dich so aufzuregen. Die Sache mit den Flugzeugen zum Beispiel …«

Flugzeuge. Bevor sie sich zusammenreißen konnte, blickte sie hoch und suchte den Himmel ab. Warum hatte er das ansprechen müssen? Ihr war seit gestern Abend nichts mehr aufgefallen. Jetzt würde sie den Fluglärm wieder hören.

»Weißt du, was, Schatz?«, fuhr er fort. »Vielleicht solltest du dir tagsüber eine Beschäftigung suchen. Was Ehrenamtliches vielleicht, nur, damit du rauskommst.«

»Gute Idee.« Debs nickte, um zu zeigen, wie sehr sie seine Beruhigungsversuche zu schätzen wusste.

»Vielleicht ein paar Stunden in einem Eine-Welt-Laden oder so?«, schlug er vor.

»Hmm.« Sie strengte sich an, mehr Begeisterung vorzutäuschen, als sie empfand. Der Gedanke, den ganzen Tag mit fremden Menschen zu sprechen, die sie nicht kannte, überforderte sie im Moment.

»Mum hat das gemacht«, sagte er und schob ein Stück Brot in den Mund. »So ist sie dienstags und donnerstags aus dem Haus gekommen.«

Debs sah ihn entsetzt an.

Seine Mutter?

War sie das für ihn geworden – die Nachfolgerin seiner Mutter? Hatte er nun eine Frau, die ihm zur Last geworden war, gegen eine andere eingetauscht?

»Hmm, gute Idee, Schatz«, stotterte sie. »Aber der Hort schlaucht mich ganz schön. Ich weiß, dass es nur zweieinhalb Stunden sind, aber die Kinder sind nach dem Unterricht sehr müde und sehr anstrengend. Dafür möchte ich frisch bleiben.«

Er blickte sie an. Sah aus, als hätte er etwas auf dem Herzen, was schwer auszusprechen war. »Die Sache ist die, Schatz … Wenn man bedenkt, wie es dir in letzter Zeit so gegangen ist …« Er legte in das Wörtchen gegangen hundert Bedeutungen hinein. »Nach allem, was passiert ist, bin ich nicht sicher, ob es dir wirklich guttut, überhaupt wieder mit Kindern zu arbeiten …«

Hinter ihnen raschelte es. Plötzlich sprang ein Tier über den Zaun, sauste wie der Blitz durch den Garten, kletterte auf der anderen Seite wieder hoch, wobei es einen ziemlichen Radau machte, und war verschwunden.

»Iiiihh!«, kreischte Debs. »Was war denn das? Allen, was war das?«

»Du meine Güte. Wie seltsam«, sagte Allen. »Muss ein Fuchs gewesen sein.«

»Nein«, widersprach Debs mit verstörtem Blick. »Allen, das war kein Fuchs. Unmöglich. Das war ein Riesenvieh.«

Sie sah sich panisch um, als würde das Tier gleich wieder über den Zaun springen und über sie herfallen. Allen räusperte sich. Sie sah, wie er seine Stirn rieb und ins Weite starrte, in eine andere Richtung, als suche er einen Fluchtweg, um ihr zu entkommen.

Du lieber Himmel. Rasch streckte sie die Hand aus und berührte ihn am Ärmel, ließ ihre Finger kurz auf seinem Arm liegen und spürte wieder, was sie schon vergessen hatte: sein weiches Fleisch unter der Baumwolle.

»Nein. Nein. Wahrscheinlich hast du recht, Schatz«, sagte sie mit erzwungener Ruhe und nickte. Dann ließ sie die Hand sinken, damit ihr die schmerzliche Erfahrung erspart blieb, dass er sich ihr höflich entzog. »Ich sehe schon Gespenster. Es muss ein Fuchs gewesen sein.«

Aber obwohl sie sich ein Lächeln abrang, dachte sie im Stillen, nein, das war kein Fuchs. Diese Kreatur hatte ausgesprochen bösartig ausgesehen. Und sonderbar. Wie ein Höllenhund.