Kapitel 46 Debs
Der Regen rauschte mächtig vom Himmel. Als Debs beim Palast ankam, wischte sie ihre Brille trocken, doch kaum hatte sie sie wieder aufgesetzt, beschlug sie von neuem.
Keuchend begann sie ihre Suche. Sie sah an allen erdenklichen Orten nach: auf dem Parkplatz vor der Eisbahn, auf dem Grasgelände daneben, auf der Promenade vor dem Palast. Sie ging sogar zur Eislaufhalle und spähte durch die hohen Glastüren, doch im Gewirr der Kinder, die auf der Eisbahn kreisten, war von Raes mausbraunen Locken nichts zu sehen. Sie lief zur Rückseite des Palasts und sah sich auf dem Spielplatz um, der sich rasch leerte; mit Regenmänteln und Gummistiefeln vermummte Eltern und Kinder liefen scharenweise davon, als der Wolkenbruch nicht aufhören wollte.
»Wo stecken die bloß?«, murmelte Debs.
Sie drehte eine Runde um den Ententeich, doch dort war nichts weiter zu sehen als schlammiges, vom Regen aufgewühltes Wasser. Dann durchsuchte sie den Skate-Park mit seinen glatten, stummen Rampen. Nichts.
Alles war menschenleer. Das war typisch hier oben beim Palast. Erst wimmelte es von Leben. Im nächsten Moment verwandelte sich die Szenerie in einen leeren, hügeligen Landschaftspark mit düsteren Winkeln und bedrohlichen Durchschlupfen zwischen den Sträuchern, unübersichtlichen Biegungen und Hügeln, bei denen man nicht wusste, was dahinter lag – alles unbehaglich weit entfernt und unüberschaubar. Debs’ nasse Strickjacke klebte an ihren Armen, die Hose an ihren Beinen; sie fühlte sich wie vakuumverpackt. Der Regen hatte ihr die Haare an den Kopf geklatscht. Sogar in ihre Schnürschuhe war er eingesickert; ihre Socken fühlten sich unangenehm feucht an.
Wo waren diese Frau und Rae abgeblieben?
Sie sprang mit einem Aufschrei zur Seite, als ein Bullterrier mit schlingernden Sprüngen auf sie zujagte. Sein Besitzer, ein mürrischer Mann mit Regenjacke, rief ihn ohne Entschuldigung zurück.
Scheißnerven! Sie hatte es satt, sich dauernd einschüchtern zu lassen.
»Rae!«, rief sie schwach, als würde das helfen.
Dann stieg sie wieder zum Palast hinauf und blickte über London und das steil abfallende Parkgelände vor dem Palast. Dort unten konnten sie doch wohl nicht sein? Da gab es in diesem Regen doch nichts zu tun. Keine Parkanlagen, keinen Unterstand. Nur Bäume und Wege durch den Wald.
Wald.
Bei diesem Stichwort lief es ihr kalt über den Rücken. Sie war nicht mehr im Wald gewesen seit dem Tag, als dieses fürchterliche Poplar-Mädchen aus der Zehnten und ihr widerlicher Freund ihr im Victoria-Park aufgelauert hatten. Sie hatten sie abgepasst, als sie am Samstagvormittag einen Spaziergang machte, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Sie hatten sie verspottet und über sie gelacht, hatten diese unerträglichen Fotos geschwenkt. Abstoßende Bilder von etwas Scheuem, Zartem und Kostbarem, das dieses gestörte junge Mädchen und ihr anzüglich grinsender Freund an die Öffentlichkeit gezerrt und in etwas so Widerwärtiges und Grauenerregendes verwandelt hatten, dass Allen nun nahe daran war, in das Gästezimmer umzuziehen, damit Debs sich nie wieder damit zu befassen bräuchte. Warum er es überhaupt weiter mit ihr versuchen wollte, warum er nach diesem demütigenden Albtraum bei ihr geblieben war, wusste der Himmel.
Debs’ Herz klopfte wild. Ach, sie hatte es so satt, sich ständig ängstigen zu lassen. Ihr Leben von anderen abhängig zu machen. Warum hatte ihr Mum nicht beigebracht, wie man Rückgrat zeigt?
Diesen Nachmittag hatte die Amerikanerin Pornofilme laufen lassen. Und Debs hatte sie nicht daran gehindert. Sie hatte zugelassen, dass die Frau die Lautstärke voll aufdrehte und sie mit hässlichem Keuchen und Stöhnen folterte, bis Debs auf der Bettkante saß und sich die Ohren zupresste.
Sie blickte über London. Genug, Debs, dachte sie. Zeit, dass du aufstehst und für deine Bedürfnisse eintrittst.
Sie zog ihr Handy heraus, setzte sich auf eine Bank und rief Allen an, der beim Cricket war. Sie erwartete, dass er sein Handy ausgeschaltet hatte, und war deshalb überrascht, als sie ihn antworten hörte.
»Ich bin’s, Schatz«, sagte sie so selbstbewusst sie konnte. »Bitte hör mir zu. Ich weiß, dass die Monate seit dieser Geschichte schwierig für dich waren, aber ich fürchte, du täuschst dich, wenn du glaubst, ich leide unter Einbildungen. Die Nachbarin auf der anderen Seite hat mir heute alles bestätigt. Ich habe Beweise. Und jetzt ist diese Amerikanerin mit dem kleinen Mädchen auf und davon, und ich bin ziemlich sicher, dass sie etwas Furchtbares vorhat. Ich bin gerade oben am Alexandra Palace und suche nach dem Kind.«
Sie hörte ihn seufzen.
»Allen. Warum bist du eigentlich bei mir geblieben? Du weißt schon – nach dem Skandal?«
Das hatte sie ihn noch nie zu fragen gewagt. Und überhaupt – seit ihrem allerersten Treffen in einem Restaurant, das sie mit dem Guardian vor der Brust betreten hatten, Debs so nervös, dass sie sich beinahe in einen Pflanzenkübel übergeben hätte, hatten sie sich linkisch bis zum Standesamt vorangetastet, ohne allzu viel zu reden.
»Wenn der Regen aufhört, Schatz, bin ich mit Schlagen dran«, murmelte er.
»Es ist mir ernst, Allen. Sag’s mir. Jetzt. Ist es einfach besser, als allein zu leben?«
»Nein.«
»Warum denn dann?«
»Ach Debs, bitte, Schatz …«
»O Mann!«, stieß sie leise aus und stampfte ein wenig mit dem Fuß auf. Sie schüttelte den Kopf, dass ihre Brille auf der Nase wackelte. »Allen, Schatz. Verzeih, aber wenn unsere Ehe funktionieren soll, dann musst du jetzt mit mir reden. Weil, weil … tut mir leid, Schatz, aber mir, mir …« – sie wurde immer lauter – »… mir reicht’s einfach. Mir reicht’s. Ich habe so viel Angst vor dir, dass ich wie gelähmt bin, wenn du’s wissen willst. Ich schleiche nur noch auf Zehenspitzen um dich herum und warte die ganze Zeit, dass du mir sagst, es sei ein Irrtum gewesen. Das halte ich nicht länger aus. Wenn du mich nicht magst, so wie ich bin, Allen, dann – dann solltest du es mir vielleicht sagen, und wir ziehen einen Schlussstrich. Ich kann so nicht leben, mit dem Gefühl, dass du täglich etwas an mir auszusetzen hast – meine Verrücktheiten, meine Art, wie ich die Socken wasche, wie ich die Welt wahrnehme, wie sich meine Schwester mir gegenüber verhält …«
»Sag doch so was nicht«, hörte sie ihn murmeln, »das stimmt doch gar nicht.«
»Aber so ist es doch! Und weißt du, was? Vielleicht hast du ja recht. Vielleicht hast du mit mir einfach eine Niete gezogen, Allen. Wie Mum mit Dad, das sagte sie jedenfalls immer. Ich bin eine Niete. Du hättest dich nie mit mir einlassen sollen. Niemand sollte sich mit mir einlassen. Und ich glaube, du bist nur aus einem einzigen Grund noch mit mir zusammen. Du hast mit der Zeit durchschaut, dass ich eine Niete bin, aber du bist zu höflich, um mich fallenzulassen. Denn so bist du eben, Allen. Du bist ein Mensch, der sich um andere kümmert. Um Leute, die einen Knacks haben. Leute wie mich – angeschlagen und kaputt.«
Sie hörte ihn tief Luft holen.
»Nein.«
»Was?«, schniefte sie. »Lüg nicht.«
»Nein, Debs. Ich habe dich geheiratet, weil du das Gegenteil von kaputt bist.«
»Hast du nicht.«
»Doch. Ich habe dich geheiratet, weil … weil ich gesehen habe, wie hart du mit diesen Kindern arbeitest, die von so vielen aufgegeben werden. Und wie dir deine Schwester zusetzt und du ihr trotzdem immer wieder verzeihst. Und wie du deine Bücher liebst, obwohl es so viele sind, dass ich überhaupt keinen Platz mehr für meine Cricketpokale habe.«
Sie kam nicht dagegen an: Ein Lächeln zupfte an ihren Lippen.
»Dafür bewundere ich dich, Schatz. Wie viel du über Bücher weißt und was für eine Leidenschaft du für sie hast. Und es ärgert mich, dass du mein Angebot nicht annimmst, ein Jahr lang mit dem Unterrichten auszusetzen und den Master in englischer Literatur zu machen, weil ich weiß, dass du dir das immer gewünscht hast. Und bei Kreuzworträtseln bist du auch nicht schlecht. Vielleicht nicht ganz so gut wie ich, aber …«
Zu ihrer eigenen Überraschung musste sie über seinen unerwarteten Scherz prusten.
»Debs. Mach dir keine Sorgen, Schatz. Alles wird gut.«
»Ja, Allen? Ich bin nur so müde«, seufzte sie.
»Das weiß ich.«
»Nein, Allen. Du weißt es nicht. Ich bin es wahnsinnig müde, mich von Leuten schikanieren zu lassen, die sich nicht die geringste Mühe geben, ein kleines bisschen freundlich zu sein. Gegen die will ich mich zur Wehr setzen, egal, was es mich kostet. Und ich möchte, dass es zwischen uns wieder so wird, wie es einmal war. Erinnerst du dich? Wir haben beide so lange gebraucht, um einander zu finden, und dann … dann hat dieses Mädchen … mit welchem Recht …«
»Ja, Schatz.«
»Gut. Allen, jetzt ist es für mich sehr wichtig, dass du mir wirklich glaubst. Nur so schaffen wir es. Du musst mir glauben. Und ich bitte dich nur dieses eine Mal darum. Machst du dich jetzt bitte auf den Weg zu Ally Pally, um mir zu helfen?«
Er schwieg kurz. Dann fragte er: »Willst du das wirklich?«
»Ja. Wirklich. Und ich glaube, Allen, das könnte unsere Rettung sein.«
»Okay.«
»Danke, Allen. Tut mir leid, wenn das deinem Match in die Quere kommt.«
»Ach, Schatz – ich nehm’s sportlich.«
Beide lächelten stumm. Debs legte auf und musste an sich halten, um nicht zu jubeln. Sie hatte es tatsächlich geschafft.
Und jetzt musste sie diese Frau finden.
Debs stieg die Steintreppe hinunter, die ins Parkgelände führte. Sie zwang sich, ihre Angst hinter sich zu lassen, als sie die Straße überquerte und in den Wald verschwand, der in den wilden Teil des Parks überging. Und wenn sie in ihrem Leben sonst nichts mehr auf die Reihe brächte – sie würde das kleine Mädchen finden und dafür sorgen, dass ihm nichts passierte. Selbst wenn Allen sie anschließend in die Psychiatrie einweisen müsste.