Kapitel 26 Callie

Als ich in frischen Sachen zur Klinik zurückkehre, sieht Rae mich nur gelangweilt an. Ihre Haut hat wieder eine gesunde Farbe, ihre Wangen schimmern sogar leicht rosig.

Nachmittags um fünf lacht sie laut über Kaye, die so tut, als zwicke sie Rae die Nase ab, dann will Rae den neuen Spaß gleich an mir und Tom ausprobieren. Um Viertel vor sechs wird sie von Dr. Khan offiziell entlassen; der Arzt kommt mir entgegen, indem er sich von mir die Worte in den Mund legen lässt, Rae solle sich die nächsten paar Tage noch schonen, obwohl er eindeutig der Meinung ist, dass sie vor Gesundheit strotzt. Ich lächle Tom erleichtert an. Nichts Ernstes also. Das wäre überstanden.

Aber Tom gibt sich noch nicht zufrieden. Er quetscht den Arzt weitere zwei Minuten aus, nach welchen Symptomen wir – besser gesagt, ich – Ausschau halten sollten, wenn wir wieder zu Hause sind. Für alle Fälle. Du bist eine Rabenmutter, teilt er mir mit seinem Verhalten mit. Hörst du wenigstens zu?

Gott sei Dank war Kate samt ihren kritischen Blicken schon verschwunden, als ich wieder in die Klinik kam. Tom informierte mich frostig, sie hätten beschlossen, Kate solle wieder nach Sri Lanka zurückkehren, da es Rae viel besser ging, als er nach Suzys panischem Anruf erwartet hatte. Im Moment sei Kate im Produktionsbüro in Soho und lege die Fototermine um. Sie selbst werde ein paar Tage lang Toms Hintergrundaufnahmen übernehmen, bis er sicher sei, dass sich Rae vollständig erholt hat; erst dann werde er zurückfliegen.

Als wir die Klinik verlassen, möchte Rae selber laufen.

»Tut gar nicht mehr weh, Mummy!«, ruft sie, obwohl sie hinkt.

»Kommt gar nicht in Frage«, knurrt Tom, nimmt sie mit großem Getue auf den Arm, trägt sie durch den Flur zum Parkplatz hinaus und hebt sie in mein Auto. Was, glaubt er, wird sie nächste Woche machen, wenn er nicht mehr da ist? Ich schnalle Rae im Kindersitz an und warte, bis Tom in seinen Jeep gestiegen ist.

Auf der Rückfahrt durch Nordlondon sehe ich, wie Rae dem hinter uns fahrenden Tom immer wieder zuwinkt. Ich habe sie heute auch dabei ertappt, wie sie uns im Klinikzimmer beobachtet hat, wie ihre Augen immer wieder von mir zu ihm, von ihm zu mir flitzten. In ihrem lebhaften Gesicht zuckte und arbeitete es nur so; offenbar phantasierte sie sich die Geschichte zurecht, dass Papa und Mama wieder zusammen waren.

»Alles in Ordnung?«, frage ich, als wir in die Churchill Road einbiegen.

»Mhm«, murmelt sie und rutscht im Sitz tiefer nach unten.

Ich parke in der letzten Lücke; Tom muss aus der Churchill Road in das Parallelsträßchen mit den Garagen einbiegen, das hinter meiner Wohnung verläuft, und sein Auto dort abstellen. Rae und ich steigen aus und gehen zur Ecke vor.

Tom taucht aus dem Sträßchen auf, die Autoschlüssel in der Hand. »Wo ist es passiert?«, fragt er. Ich deute auf die Unglücksstelle an der Ecke.

»Rae?«, beginne ich behutsam. »Erinnerst du dich, was gestern Abend passiert ist, als du auf die Straße gefallen bist?« Sie hat uns schon gesagt, sie sei »bloß ausgerutscht«, wahrscheinlich um einer Diskussion aus dem Weg zu gehen, warum sie rannte, wo ich ihr doch vierundzwanzig Stunden vorher eingeschärft hatte, ja nicht zu rennen. »Hast du an deine Verabredung mit Hannah gedacht? Warst du enttäuscht? Ist es deshalb passiert?«

»Cal«, sagt Tom, »lass gut sein. Nicht jetzt. Sie wird es uns erzählen, wenn sie so weit ist.«

Ach, wie ich es liebe, wenn Tom versucht, die Zügel in die Hand zu nehmen, als glaubte er, wir verharrten während seiner Abwesenheit in einer Art Starre und warteten nur darauf, dass er aus dem Ausland zurückkehrt und uns mit seinen Ansichten wieder in Trab bringt.

Tom nimmt Rae wieder auf den Arm und trägt sie zu unserer Haustür. Ach ja, die Schlüssel, denke ich. Die muss Suzy haben. Ich will schon über die Straße gehen, um sie zu holen, da sehe ich Tom ins Haus treten.

»Hast du die Tür offen gelassen?«, ruft er.

»Nein.« Eigenartig.

Rasch folge ich den beiden, dränge mich an ihnen vorbei. Auch die Wohnungstür steht offen. Stirnrunzelnd werfe ich Tom einen kurzen Blick zu. Er schlüpft sofort in die Beschützerrolle, setzt Rae behutsam auf der Treppe ab und stellt sich vor mich.

»Der Klempner kann nicht mehr da sein«, murmle ich.

»Bleib hier stehen«, fordert er mich auf und betritt die Wohnung. Ich folge ihm und bedeute Rae stumm, sie soll auf der Treppe warten. In der Wohnung riecht es komisch. Nach Putzmitteln, unter die sich eine unangenehme, feucht-modrige Note mischt, als wäre aus den Spalten dieses verwahrlosten Hauses stinkender Schimmel herausgescheuert worden. Erst auf den zweiten Blick merke ich, dass etwas anders ist. An den Garderobehaken hängen nur noch zwei Mäntel, und die Schuhe darunter stehen in Reih und Glied.

»Was zum …«, setze ich an. Hat Suzy für uns aufgeräumt?

Tom späht in die Küche und schüttelt verneinend den Kopf, dann tritt er ins Wohnzimmer. Ich gehe an ihm vorbei zu meinem Schlafzimmer und stoße die Tür auf.

Da steht Debs. Sie summt vor sich hin und breitet über mein abgezogenes Bett ein frisches Leintuch aus.

Der Anblick ist so befremdend, dass ich den Kopf schütteln muss und noch einmal hinsehe.

»Äh … was soll das?«, frage ich verwirrt. Hat Suzy sie hereingelassen? »Was machen Sie hier, Debs?«

Sie erschrickt zutiefst und blickt auf.

»Oh …«, stammelt sie und schiebt ihre Brille höher auf die Nase.

Tom stellt sich dicht hinter mich, ich spüre seine Wärme im Rücken.

»Was geht hier vor?«, fragt er barsch.

Debs starrt ihn mit angstgeweiteten Augen an. Sogar aus ein paar Schritten Entfernung sehe ich, wie ihre Hände zittern.

»Hm, Tom, kannst du Rae ins Wohnzimmer bringen?«, frage ich.

»Debs? Ist das nicht die, die …?« Er sieht mich zornig an.

»Bring Rae ins Wohnzimmer. Bitte.« Ich lege ihm die Hand auf die Brust und schiebe ihn sanft weg. »Das kläre ich schon.«

Ich schließe hinter ihm die Tür und drehe mich um.

»Debs?«, wiederhole ich langsam. »Was zum Kuckuck machen Sie in meinem Schlafzimmer? Und was haben Sie mit meiner Wohnung angestellt? Hat Suzy …?«

Ich breche ab, als ich sehe, dass mein Schlafzimmer so aufgeräumt ist, als gehörte es jemand anderem. Alte Fotos von mir und Rae stehen in zwei neuen Rahmen auf der Kommode. Eine von Mums alten Spitzentischdecken ist über den Frisiertisch gebreitet. Darauf stehen drei Schalen, in die Debs meine Schals, Haarklemmen und Halsketten auseinandersortiert hat, die ich alle auf einen Haufen geworfen hatte. Meine neuen Schminksachen von Brent Cross, die ich gestern früh in der Eile über den ganzen Frisiertisch verstreut habe, sind in einer Kosmetiktasche verstaut, aus der kleine rote und schwarze Stifte ordentlich aufragen.

»Hm. Äh«, murmelt Debs. »Ich weiß auch nicht, wie das passiert ist. Ich wollte nur ein Püppchen für Ihre kleine Tochter vorbeibringen – als Ersatz für ihr eigenes, das bei dem Sturz kaputt gegangen ist. Und dann … dann habe ich gesehen, dass bei Ihnen alles ein bisschen durcheinander war … und … Du liebe Güte. Es tut mir so leid …«

»Haben Sie das alles ganz alleine gemacht?«

Sie starrt mich an und nickt dann.

»Äh – Debs?«, sage ich verwirrt. »Sie müssen jetzt gehen.«

»Ja. Ja, selbstverständlich.«

Debs legt das Leintuch hin und macht sich auf den Weg zur Tür.

Das Ganze ist so unglaublich schräg, dass ich Mühe habe, meine Gedanken zu sammeln.

»Eins begreife ich nicht. Sie sind Rae nicht besuchen gekommen«, sage ich. »In der Klinik.«

Debs bleibt stehen. Sie senkt den Blick und schüttelt den Kopf. »Das hätte ich ja gern getan. Ich habe dauernd versucht, mich zu erinnern, was gestern Abend genau passiert ist. Das wollte ich erst wissen, bevor ich mit Ihnen rede. Und ich weiß es einfach nicht. Erst war sie neben mir, und im nächsten Augenblick lag sie auf der Straße. Da war auch dieser Junge auf dem Fahrrad, und …«

»Aber Suzy hat Ihnen doch gesagt, dass Sie Rae an der Hand halten müssen!«

Debs’ Blick verschwimmt nun so, dass mir langsam unheimlich wird.

»Ich fürchte, das habe ich nicht gehört.«

»Aber Sie sind doch Lehrerin

»Ja, aber leider keine Mutter«, antwortet Debs. »Wir betreuen Kinder in Gruppen und können sie nicht alle an der Hand halten.«

Ich schüttle den Kopf. Vielleicht bin ich nur erschöpft, aber im Grunde tut mir Debs leid. Aus der Nähe sehe ich ihre weiche rosa Haut, auf der eine Schicht Vaseline schimmert wie bei Mum. Die Tränensäcke unter ihren matten Augen und die dicken, ergrauenden Augenbrauen hängen schwer nach unten.

»Debs. Die Sache war für mich ein Albtraum. Rae war gestern Abend in solcher Gefahr. Alles ist noch mal gutgegangen, aber das war reines Glück – es hätte leicht ein Auto kommen können statt des Fahrrads. Ich bin erschüttert und völlig fertig. Danke für das Püppchen, aber alles andere hätten Sie sich sparen sollen. Ich muss schon sagen, ich finde das wirklich sehr seltsam. Und ich möchte, dass Sie jetzt gehen.«

Ihre Unterlippe beginnt zu zittern; im selben Moment kommt Tom herein.

»Jetzt gehen Sie schon«, sagt er zu Debs. »Wir sind alle müde und möchten erst wieder von Ihnen hören, wenn wir mit der Polizei gesprochen haben. Okay?«

Widerstandslos lässt sie sich von ihm hinausführen. Als sie durch das Wohnzimmer geht, sehe ich, wie sie einen Blick zur Seite wirft und Rae zulächelt. Rae sieht sie mit großen Augen an.

»Alles in Ordnung, Rae«, sage ich, gehe zu ihr hinein und streiche ihr über die Haare. »Mummy ist gleich wieder da.«

Dann kehre ich in mein Schlafzimmer zurück, sinke auf das ungemachte Bett und lasse den Kopf hängen. Die Haustür fällt ins Schloss, und Tom kommt zurück. Was sind denn das für Zustände?, denkt er. Er sagt es zwar nicht laut, wirft aber mit einer Geste, die Bände spricht, die Hände in die Luft.

»Ach, hör doch auf, Tom!«, platze ich heraus. »Ich weiß. Ich weiß. Ich weiß, wie beschissen hier alles ist. Grauenhaft, wie ich lebe – bist du jetzt zufrieden? Das totale Chaos. Eine Rabenmutter, die ihr Kind von Verrückten betreuen lässt. Du hast ganz recht. Ich bin eine schreckliche Person.«

Er dreht sich um und geht zur Tür hinaus. Seufzend warte ich, dass die Haustür wieder zuschlägt.

Stattdessen höre ich, wie er sich leise mit Rae unterhält und für sie eine DVD einlegt. Ich hebe das Leintuch auf, das Debs hat fallen lassen, und beziehe die Matratze, damit ich mich hinlegen kann, schlage die Ecken unter. Da knarzt die Tür, und Tom kommt mit zwei Gläsern Wein herein. Er reicht mir eines und setzt sich auf den Stuhl. Mit seiner großen Hand reibt er sich über das Gesicht und streckt die langen Beine von sich.

»Ist die Toilette repariert?«, fragt er.

»Ja«, antworte ich unsicher und lasse mich auf die Bettkante nieder.

Er nickt.

Ich bemühe mich, ihn nicht anzusehen. Zu schmerzhaft ist die Erinnerung, dass ich früher nach einem schlechten Tag einfach zu ihm hinübergehen, mich auf seine Knie setzen und seine großen, beruhigenden Arme wie Achterbahngurte um mich ziehen konnte – Bauernarme, die mich immer an Dad erinnern.

Er trinkt einen Schluck, dann noch einen.

»Ich weiß, dass du mich hasst, Tom, aber …« Ich sehe ihm ins Gesicht, frage mich, ob ich ihm das sagen kann. »Aber manchmal ist alles so schwer. Weißt du, was? Ich war nicht einmal sicher, ob ich unter normalen Umständen eine gute Mutter sein würde. Und dann kriege ich dieses kranke Kind, und alles andere verschwindet in der Versenkung. Schwupp. Dabei gebe ich mir alle Mühe. Wirklich. Aber wenn ich meine ganze Zeit hier verbringen muss … in diesem Chaos, das ich angerichtet habe … ohne Geld … ohne einen Menschen zu sehen …« Ich habe mich nicht mehr im Griff. Aus dem Nichts steigen Tränen hoch und laufen mir das Gesicht herunter. »Ich versuche doch nur, etwas daran zu ändern.«

Tom schweigt. Ich warte darauf, dass er mir sagt, ich wäre ja selbst an allem schuld, aber das sagt er nicht. Er weicht meinem Blick aus, steht auf und kippt den restlichen Wein hinunter.

»Möchtest du, dass ich sie ins Bett bringe?«

Ich nicke dankbar und wische mir die Tränen weg. Er bringt Rae herein, um mir Gute Nacht zu sagen, und ich zwinge mich zu einem warmen Lächeln, küsse sie auf den Mund, auf die Wangen, auf die Haare. Ihre Augen glänzen vor Freude darüber, dass Tom und ich zur Schlafenszeit zusammen sind – tolle Neuheit!

»Es riecht so gut in unserer Wohnung«, zwitschert sie. »Meine Bären sitzen alle in einer Reihe.«

Ich wollte mich eigentlich nur kurz aufs Bett legen. Aber ich kann keinen Finger rühren. Es ist schön, einfach nur ein wenig ausruhen zu können; schwer lasse ich die Arme sinken und bleibe reglos liegen, während Tom sich mit Rae beschäftigt. Bis auf die leisen Schritte des Paares oben ist alles still; ich höre nur das Gemurmel aus Raes Zimmer, als Tom ihr vorliest. Nur noch eine Minute, denke ich ständig, dann stehe ich auf.

Zwanzig Minuten später höre ich Tom sagen: »Wir sehen uns morgen, ich komm dich besuchen.« Mit einem Ruck setze ich mich auf und merke, dass ich beinahe weggedöst bin. Ich gehe in Raes Zimmer, wo Tom sich über ihr Bett beugt und ihr einen Gutenachtkuss gibt; in dem kleinen Raum wirkt er wie ein Riese. Ein Riese, der uns früher beschützt hat, jetzt aber nicht mehr für uns da ist. Jetzt beschützt er Kate.

Er dreht sich um und sieht mich an, und das weiche Schimmern der Lichterkette in Raes Zimmer versetzt mich an den Abend zurück, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe: An Sophies Geburtstag kam er, als der Abend dämmerte, mit einem ihrer alten Studienfreunde in unseren Garten in Islington geschlendert, setzte sich an das Feuer, das wir in einem Müllkübel angezündet hatten, und plauderte mit Sophies Mutter, die zu Besuch gekommen war und von allen anderen höflich ignoriert wurde. Ich hatte eine schlechte Woche hinter mir, erinnere ich mich. Als der Abend voranschritt, verirrte sich sein Blick immer wieder zu mir; er schnitt quer über den Garten alberne Grimassen und heiterte mich ein bisschen auf. Dann folgte er mir in die Küche, wo ich ihm meinen Hintern entgegenstreckte, nach meinem Handy angelnd, das ich hinter den Heizkörper hatte fallen lassen.

»Lass mich mal«, sagte er, und mit seinem langen Arm hatte er es gleich ertastet.

»Danke«, sagte ich schüchtern und streckte meine Hand danach aus.

»Gern«, sagte er, hielt aber das Handy über seinen Kopf, marschierte davon und ließ mich verwirrt zurück.

»Äh – kann ich bitte mein Handy wiederhaben?«, fragte ich später, als er unter den Sternen im Gras lag und an seinem Joint zog.

»Erst musst du mir sagen, warum du vorhin so ein trauriges Gesicht gemacht hast«, murmelte er und hielt das Handy wieder außer meiner Reichweite, während er weißen Rauch in die dunkle Luft blies und mich aus seinen blauen Augen unter den widerspenstigen weißblonden Locken herausfordernd ansah. Und dann griff ich nach meinem Handy, roch den warmen Seifenduft seiner Haut und spürte den Atem seines Lachens in meinem Ohr.

»Diesen John werde ich heiraten«, sagte ich später zu Sophie, als ich betrunken auf ihrem Bett lag.

Sophie saß am Frisiertisch und schminkte sich ab. »Tom«, korrigierte sie mich.

Und sechs Monate später, an diesem wunderbaren Wochenende in New York, habe ich genau das getan, in der City Hall, die Hand auf dem runden Bauch, in dem Rae schon heranwuchs.

»Wir müssen der Polizei melden, was diese Frau hier angerichtet hat«, sagt Tom und folgt mir aus Raes Zimmer. Die Stimmung jener Nacht in Islington war längst verflogen. »Was wurde dort inzwischen unternommen?«

»Darüber werde ich mich morgen informieren«, antworte ich. »Weißt du, was? Ich habe über die Sache nachgedacht. Vielleicht war es wirklich nur ein Missgeschick. Wahrscheinlich war Rae außer sich, dass ihre Verabredung mit Hannah geplatzt ist. Es wäre vielleicht auch passiert, wenn ich dabei gewesen wäre. Wir müssen sie fragen.«

Er schüttelt den Kopf. »Erst, wenn sie dazu bereit ist. Aber mit der Frau stimmt was nicht. Das hätte ich gern geklärt.«

Er dreht sich zu mir, um sich zu verabschieden, und im hellen Dielenlicht sieht sein Gesicht bekümmert und erschöpft aus. Mir wird klar, wie sehr die Sache auch ihm zusetzt. Auch er hat Schuldgefühle wegen Rae. Auch er ist nicht für sie da gewesen.

 

Ich sperre in der Küche die Hintertür auf und lasse Tom durch unseren struppigen kleinen Garten zu dem Sträßchen hinaus, wo sein Auto steht. Ich schließe die Tür wieder, bleibe in der Küche stehen und warte auf das Motorengeräusch, wenn er wegfährt.

Ich warte eine ganze Weile.

Dann fällt mir ein, dass ich das Gartentor hinter ihm wieder verriegeln muss. Aber bevor ich mich dazu aufraffen kann, klopft es an der Hintertür.

Ich öffne. Und mein Gesicht gibt alles preis.

So ist es manchmal. Monatelang läuft zwischen uns alles normal und oberflächlich, nüchtern und praktisch, ganz wie es sich gehört. Dann trifft mich ein Blick.

Er steht im Türrahmen, füllt ihn mit seiner Größe ganz aus. Wortlos kommt er auf mich zu und schließt die Tür hinter sich.

Ich weiß, was jetzt geschehen wird.

Ich gehe ihm voraus in Richtung Diele, falls ich mich getäuscht haben sollte, aber er greift nach meiner Hand und dreht mich zu sich herum. Ich atme lang und heftig aus, dann ein zweites Mal. Er blickt mit schweren Lidern auf mich herab, schiebt mich gegen die Wand, zieht am Reißverschluss meiner Jeans und zerrt sie herunter. Dann streicht er mit einer Hand meinen Schenkel hoch, hakt einen Finger um den Bund meines Slips und zieht ihn nach unten. Mit einem Blick, der längst weggedriftet ist, taucht er in meine Augen.

»Zieh das aus.«

Wir wissen beide, dass es schnell gehen muss. Für uns gibt es keine rosarote, weichgezeichnete Romantik. Hier geht es um etwas anderes.

Ich ziehe Jeans und Slip aus.

»Und das …«, murmelt er und deutet auf meinen BH.

Ich greife mit beiden Händen hinter den Rücken und hake den BH auf. Als er mein Top nach oben schiebt und mit einem Finger den BH herunterzieht, spüre ich das Gewicht meiner Brüste nach vorn fallen. Mein Atem fliegt so sehr, dass ich das Gefühl habe, ich werde gleich ohnmächtig. Er seufzt und reibt mich mit der flachen Hand, bis ich stöhne, dann hebt er mich auf den Tisch. Mit seinen Knien spreizt er die meinen.

Der Laut, der dann aus meinen Lippen kommt, ist nur für ihn hörbar.

Ich weiß, dass sie zu Hause auf seine Rückkehr wartet. Aber er ist der Vater meines Kindes. Ich weiß, es ist verabscheuenswert. Aber manchmal, wenn mir alles zu viel wird, wenn ich das Gewicht aller meiner Verantwortung, aller meiner Fehler, aller meiner Schuldgefühle nicht mehr tragen kann, dann brauche ich jemanden, der das Heft in die Hand nimmt, und wenn es nur für einen Augenblick ist.