Kapitel 3 Callie

Als wir den Park hinter uns gelassen haben und die Churchill Road erreichen, fassen sich Rae und Henry an der Hand. Wir gehen die ruhige Straße mit den viktorianischen Reihenhäusern entlang und schauen uns die Blumenkästen der Nachbarn an. Ich sage »Nachbarn«, dabei teile ich mit den Bewohnern der Churchill Road, Suzy ausgenommen, nur zufällig die Postleitzahl. Als ich einzog, wohnte im Haus Nr. 25 eine nette Frau in meinem Alter. Ich habe sie einmal gefragt, wo sie ihre schmiedeeisernen Blumenkästen her habe. Sie gab mir freundlich Auskunft, und ich nahm mir vor, sie bald zu einer Tasse Tee einzuladen. Zwei Tage später stand vor ihrem Haus ein Umzugswagen, und weg war sie. Ich weiß nicht einmal ihren Namen.

Wir gehen durch Suzys Gartentor, Hausnummer 13. Leere Umzugskartons stehen vor der Nr. 15. Hoffnung steigt in mir auf. Vielleicht sind die neuen Bewohner nett.

Ich klingle an Suzys Tür und warte. Niemand kommt.

Ich klopfe.

Nichts.

Merkwürdig. Ich drücke die Briefschlitzklappe in der Tür auf und höre den Fernseher laufen. Sie müssen im Garten sein. Ich krame in meiner Handtasche nach Suzys Schlüssel; vor langem haben wir einmal unsere Ersatzschlüssel getauscht. Als ich den Schlüssel im Schloss herumdrehe, hoffe ich inständig, dass wir nicht wieder hereinplatzen, während Jez nackt und vom Jetlag übermüdet durchs Haus läuft wie beim ersten Mal. Danach konnte ich ihm einen Monat lang nicht in die Augen sehen.

Als ich die Tür aufschiebe, poltern Schritte die Treppe herunter.

»Tut mir leid – ich war auf dem Klo. Hi, Süßer!« Suzy begrüßt Henry mit hoher Stimme, hebt ihn in die Höhe, um ihn zu knuddeln, und küsst ihn ab. »Wie war’s heute in der Schule? Ich habe dich vermisst.« Henry zappelt herum und unterdrückt mit Mühe ein Grinsen.

»Bleibt ihr zum Essen?«, fragt Suzy. »Es gibt Frikadellen.«

»Wenn’s dir nichts ausmacht?«, frage ich.

»Ich freu mich!«

Wenn Suzy mich einlädt, kann ich nie widerstehen. Ich sollte es ab und zu versuchen, tue es aber nicht. Ich habe die Wahl: Entweder bleibe ich hier, oder ich gehe nach Hause – dann fällt die Wohnungstür hinter mir ins Schloss wie eine Gefängnistür, und ich bin dazu verurteilt, bis morgen keinen Erwachsenen mehr zu sehen.

Suzy hebt auch Rae hoch und gibt ihr einen Kuss. »Du siehst heute so hübsch aus, meine Süße.«

»Danke, Aunty Suzy.«

»Einfach supi, das Mädchen«, sagt Suzy und küsst sie noch einmal, bevor sie sie wieder absetzt. Rae sieht in Suzys Armen so behütet aus, und ich bin immer froh, wenn ich den Eindruck habe, dass Rae gut aufgehoben ist.

In der Küche räume ich die Stifte und das Papier zurück in die Schublade und helfe das Essen für die Kinder auszuteilen.

»Ist Jez hier?«, frage ich.

»Mhm«, antwortet sie und deutet nach oben. »Er verhandelt gerade mit den Kanadiern über ein Großprojekt; nächsten Monat soll der Vertrag geschlossen werden. Aber danach will er mit uns nach Devon fahren, in ein Hotel mit Kinderclubs und Kindermädchen, wo Mummy und Daddy ein bisschen Zeit für sich genießen können. Kennst du das zufällig?«

»Äh … nein«, seufze ich.

Sie sieht mein Gesicht.

»Ach Honey – wie blöd von mir.«

»Ist schon in Ordnung. Tom kommt bald zurück, dann kann ich ein bisschen ausruhen.«

Sie schnaubt sarkastisch. »Ausruhen?«

Ich zucke mit den Achseln.

»Cal, es muss endlich Schluss damit sein, dass er dich alle zehn Minuten anruft.« Suzy dämpft die Stimme, da Rae zu uns herüberblickt.

»Ich weiß«, seufze ich. »Das liegt daran, dass er Rae so selten sieht. Da hält er jeden kleinen Schnupfen für lebensgefährlich. Er ist noch schlimmer als ich …«

Suzy legt mir den Arm um die Schultern. »Damit muss er umgehen lernen. Er macht dich ja völlig fertig, Honey. Jedenfalls weißt du, dass du sie immer hierlassen kannst, wenn du mal weg willst.«

Weg? Fast entfährt nun mir ein Schnauben. Wohin denn? Und mit welchem Geld? Aber das sage ich nicht, sie meint es ja nur gut. Deshalb lächle ich. »Du hast schon genug um die Ohren, aber danke für das Angebot.«

Suzy gibt mir ein Küsschen auf die Wange und fängt an, die Teller der Kinder abzuräumen.

»Rat mal, mit wem ich heute gesprochen habe«, fordere ich sie mit einem Grinsen auf. Sie wirbelt herum.

»Nein! Du Luuuder!«

Suzy bringt mich zum Lachen, wenn sie Schimpfwörter benutzt. Durch den breiten amerikanischen Akzent verlieren sie ihre Schärfe und klingen in meinen Ohren bloß noch albern – wie wenn die Queen »Wichser« sagen würde.

»Ich hab ihm versehentlich ins Ohr gebrüllt, als ich Henry und Rae nachgejagt bin.«

»Neeeiiin!« Wieder spielt Suzy die Entsetzte und reißt die Augen auf wie in einer Comedy-Nummer. »Jetzt hab ich’s, das ist der Trick: Rae und Henry müssen seine Tochter, wie heißt die gleich wieder, zum Spielen einladen.«

»Die kennen sie doch gar nicht!«

Die Treppe knarzt. Wir verstummen sofort. Jez kommt in die Küche.

»Hi, wie geht’s?«, fragt er, beugt sich herunter und streift pro forma meine Wange.

»Gut, danke«, sage ich. »Wie war’s in Vancouver?«

»Kalt«, antwortet er. Er holt ein Bier aus dem Kühlschrank, nimmt sich von dem Käse, den Suzy gerieben hat, und schiebt ihn in den Mund. Sie lächelt zu ihm hoch und streicht ihm leicht über den Rücken.

»Willst du was essen, Honey?«, fragt sie, als er das Bier aufknackt.

»Nein. Du weißt doch, dass ich am Abend weg bin. Don ist aus den Staaten rübergeflogen.«

»Ach ja.«

»Ich geh mich duschen. Wie war’s am Damenteich?«, wendet er sich an mich.

»Gut, danke«, sage ich. »Kalt.«

Mit einem halbherzigen Lächeln zieht er wieder ab, seine Pflicht ist getan. Die Grenzen sind klar abgesteckt: Ich bin mit Suzy befreundet, nicht mit ihm.

Suzy beklagt sich nie und erzählt mir immer, wie nett Jez ist und wie viel er ihr abnimmt, aber ich beobachte erstaunlich oft, dass er genau dann, wenn Kinder zu baden oder Windeln zu wechseln sind, einen wichtigen Anruf erledigen muss. Deshalb übernehme ich es heute, als Suzy uns beiden ein Glas Wein eingeschenkt hat, Otto eine frische Windel anzuziehen, während Rae hinter meiner Schulter Faxen macht und ihn zum Lachen bringt; Suzy redet unterdessen dem unwilligen Peter gut zu, doch aufs Klo zu gehen. Während sie das Bad für die Jungs einlaufen lässt, räume ich das Geschirr in die Spülmaschine und schalte sie an.

»Wir gehen jetzt«, sage ich dann, sammle Rae und ihre Sachen ein und mache mich zur Haustür auf. »Danke fürs Essen.«

»Nichts zu danken – und komm doch am Wochenende mal rüber. Wir haben nichts vor.«

Als ich die Tür öffne und die leeren Kartons auf dem Gehweg sehe, fällt mir noch etwas ein. Ich nicke zum Nachbarhaus hinüber und flüstere: »Hast du die Neuen schon kennengelernt?«

»Sind wohl okay«, sagt Suzy achselzuckend. Dann ruft sie mir noch nach: »Ach Honey, lass mich doch nächste Woche einen Tag in diesem Spa buchen.« Sie hebt die Jungs hoch. »Nimm’s als verfrühtes Geburtstagsgeschenk.«

Mein Geburtstag ist erst in drei Monaten. Ich werfe einen letzten Blick zurück. Auf jedem Arm einen Jungen, das Kleid mit Tomatensoße bekleckert. Suzy. Die immer so viel für ihre Kinder tut. Und für Rae. Und für mich.

Und so wenig zurückbekommt.

Das ist kein Zustand, denke ich. Das muss aufhören.

»Ich ruf dich morgen Vormittag an«, rufe ich ihr zu und winke. Samstagabend, nehme ich mir vor. Wenn die Kinder schlafen. Morgen Abend sage ich es ihr.