Montag
Kapitel 13 Callie
Ich renne. Ich renne so schnell, dass ich kaum Luft kriege.
So bin ich schon seit Jahren nicht mehr gerannt. Meine neuen Sandalen klappern auf dem Pflaster der Oxford Street, und ich schlage Haken zwischen einem Mann mit einem Pappschild »Sonderangebot Sportschuhe hier lang«, und einem Schauspieler mit tief in die Stirn gezogener Baseballkappe, den ich aus einer amerikanischen Serie kenne.
Es ist Montagnachmittag, zwanzig nach fünf. Ich habe gerade meinen ersten Arbeitstag hinter mir. Jetzt habe ich vierzig Minuten, um nach Alexandra Park zurückzukommen und Rae vom Hort abzuholen, der, wie mich Ms. Buck informierte, pünktlich um sechs Uhr schließt. Allein die U-Bahn braucht dreißig Minuten. Wie konnte ich nur so blöd sein? Vergessen, dass man bei jeder Fahrt durch London mindestens fünfzehn Minuten Puffer einrechnen muss, wegen unerwarteter Signalstörungen und Verkehrsstaus. Besonders, erkenne ich nun viel zu spät, wenn Kinder im Spiel sind.
Ich renne weiter, noch schwindlig von allem, was in der Arbeit passiert ist.
Meine Anfangsangst erwies sich als durchaus begründet. Das stellte sich heraus, sobald ich heute früh das neu gestylte Studio betrat und den weißen Marmorboden sah, die Empfangstheke, herausgemeißelt aus Mondfels oder was sich der Innenarchitekt darunter vorstellte, und die schalldichten Räume, sämtlich ausgestattet mit einem Fünfzig-Mille-Mischpult.
Das war keine Spielerei. Hier konnte ich nicht unverbindlich wieder »reinschnuppern«, nur mal so.
Ich bin in die Welt der Wirklichkeit zurückgekehrt, in der man für seine Arbeit bezahlt und, wenn man sie nicht gut macht, gefeuert wird.
»Callie«, ruft mir Guy entgegen und kommt mit einem Lächeln und weit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Seit dem letzten Mal hat die Spannung seiner dichten Locken etwas nachgelassen und ihr früheres Schwarz ist angegraut; so kommen seine tiefliegenden braunen Augen erst richtig zur Geltung. In seiner Jeans und dem hautengen schwarzen Pulli sieht er aus wie ein älteres, verlebtes Calvin-Klein-Model. »Toll, dass du da bist. Na, was ist das für ein Gefühl?«
Ein absolut grauenhaftes.
»Genial!«, antworte ich breit lächelnd und nicke Megan zu, der neuen Empfangssekretärin, die gut die ältere, sinnliche Schwester von Alice im Wunderland sein könnte: hübsches weißes Chiffonkleid, lange braune Beine und blaues Band im Haar. Befangen ziehe ich die kurzen Ärmel meines Silberkleids nach unten; ich habe nun das Gefühl, mein Outfit ist einen Tick zu bemüht.
Guy kommt sofort zur Sache: »Ich führe dir jetzt die neuen Funktionen unserer Software vor, dann habe ich einen Werbeclip für dich, an dem du sie gleich ausprobieren kannst. Megan zeigt dir die neue Küche.«
»Ah, ja«, sage ich, nehme meine Handtasche und folge ihm. »Alles klar.«
Was habe ich erwartet? Einen langen Plausch beim Kaffee etwa? Ich hätte mich gern entschuldigt, dass ich bei unserer letzten Begegnung so am Ende war und ihm was vorgeheult habe. Hätte ihm auch gern für die neue Chance gedankt. Ihn gefragt, wie es ihm mit Ankya geht, der langbeinigen polnischen Modefotografin. Aber nein. Die Stoppuhr läuft schon wieder, erkenne ich leicht bestürzt. Jede Minute, die ich hier bin, verdiene ich Geld. Während ich Guy begrüßt, mit ihm meinen künftigen Arbeitsraum betreten und mich in einen satellitenförmigen Kundensessel niedergelassen habe, habe ich vermutlich schon so viel verdient, dass ich mir ein Sandwich zum Mittagessen kaufen kann.
Die Verantwortung lastet schwer auf meinen paillettenfunkelnden Schultern.
17:27 Uhr. Oxford Circus ist schon in Sicht, und ich zwinge meine widerstrebenden Beine, auch noch die letzten Meter bis zur U-Bahn rennend zurückzulegen, als mein Handy klingelt.
»Ja«, keuche ich. Das ist ja lächerlich, ich muss unbedingt was für meine Kondition tun.
»Cal?«
Suzys Stimme klingt in dieser turbulenten, chaotischen Straße so fehl am Platz, dass ich sie im ersten Moment gar nicht erkenne.
»Ach, du bist’s, hi.« Ich stecke mir einen Finger ins andere Ohr, um besser zu hören. »Alles okay?«
»Hm …«, beginnt sie zögernd.
Mir sacken die Mundwinkel nach unten.
»Was ist?«
»Keine Sorge, Honey. Es geht ihr gut – ich meine, krank ist sie nicht. Aber ich dachte, ich sag’s dir lieber: Als ich heute um halb vier Henry abgeholt habe, hat sie sich ziemlich aufgeregt, weil sie in den Hort muss.«
»Wirklich? Was meinst du mit ›aufgeregt‹?«
Taxis flitzen in schwarz-gelben Reihen vorüber. Zwei Teenies mit Topshop-Tüten rempeln an mir vorbei, kreischend vor Gelächter. Eine der Tüten klatscht mir ans Bein, ich höre Suzy kaum.
»Na ja, sie hat geweint. Sie wollte mit mir und Henry nach Hause. Ich habe sie umarmt und gesagt, ihre Mummy möchte nun mal, dass sie in den Hort geht, und dass du sie abholst, sobald du kannst. Sicher hat sie sich wieder beruhigt, als sie dann dort war, aber ich dachte, ich warn dich lieber vor, Honey.«
»Gut, danke, aber ich bin spät dran«, rufe ich in den Hörer. »Ich muss jetzt zur U-Bahn, ich schau später bei dir rein.«
Ich renne die Treppe hinunter. Auf diese Idee war ich gar nicht gekommen. Rae schien sich auf den Hort richtig zu freuen. Was ist, wenn sie nicht mehr hin will? Nach dem Tag heute im Studio mag ich an eine solche Möglichkeit gar nicht denken.
Als Guy mich am Vormittag verließ, ging sofort alles schief. Ich drückte drei Knöpfe, und eine halbe Stunde Arbeit war verloren.
»Tut mir leid, es ist alles einfach weg.« Ich deute auf den schwarzen Bildschirm, als Guy wieder hereinkommt.
»Hast du die Hintergrundspeicherung nicht aktiviert?«, murmelt er.
Ich stöhne innerlich. Anfängerfehler. Todsicher fragt er sich, was er sich dabei gedacht hat, als er mich zurückholte. Soll ich ihm anbieten, die verlorene halbe Stunde nicht in Rechnung zu stellen?
Bis Mittag kehrt jedoch einiges von dem alten Selbstvertrauen in meine Finger zurück. Meine Aufgabe besteht darin, den Ton für einen TV-Werbespot zu machen. Geworben wird für eine neue Kochkurs-DVD, mit deren Hilfe angehende Köche das Filetieren, Hacken, Enthäuten und so weiter garantiert erlernen sollen. Der Film auf dem Plasmabildschirm über meinem Pult zeigt einen Koch, der in seiner Küche gekonnt mit zehn verschiedenen scharfen Messern jongliert und mit jedem nach einer anderen Zutat wirft.
Ich beiße mir vor Konzentration auf die Lippe, öffne das riesige Soundarchiv in der upgedateten Software und wähle für jede Zutat fünf bis sechs Geräusche aus, die ich zu einem Sound zusammenmische – das Filetiermesser zerteilt die Tomate mit einem sanften Schmatzen, das Brotmesser landet dumpf im Käse.
Zu meiner Überraschung ist es gar nicht so schwer. Keine Ahnung, warum, aber meine Ohren wissen einfach instinktiv, welche Geräusche gemixt werden müssen, wie manche Menschen auch ohne Kochbuch wissen, welche Kräuter und Gewürze zu einem Gericht passen.
»Empfindsame Ohren hat man, oder man hat sie nicht«, sagte mir Guy, als ich mit dreiundzwanzig als Studioassistentin bei Rocket anfing. »Ich wette, du hast schon als Baby Musik geliebt.« Mir blieb bei dieser Bemerkung die Spucke weg. Erst letztes Wochenende hatte ich meinen Vater besucht und ein Foto von mir als Kleinkind gefunden, auf dem ich unter altmodischen Kopfhörern hervorgrinse. Mum hatte daruntergeschrieben: »Callie kann nicht aufhören zu tanzen!!«
Immer wieder nehme ich mir vor, gleich Mittagessen zu gehen, aber bevor ich mich umsehe, ist es vier Uhr. Stand da nicht an der Rezeption ein Körbchen mit Muffins für die Kunden? Ich laufe hinaus, und Megan blickt hoch.
»Darf ich mir zwei nehmen?«, frage ich unsicher.
»Aber klar doch!« Sie lacht.
Eins behalte ich in der Hand, um es gleich zu essen, das andere stecke ich für Rae in die Handtasche. Dann heftet sich mein Blick wieder auf den Bildschirm, und ich tauche in meine Arbeit ab. Komisch, ich bin gar nicht richtig hungrig.
17:31 Uhr. Ha! Heute Abend habe ich Glück: keine Signalstörung auf der Victoria Line. Ich schlängle mich durch die vielen Menschen auf der Rolltreppe zu dem Bahnsteig hinunter, wo die Züge in Richtung Norden abfahren, und kann mich gerade noch zwischen halb geschlossene Türen quetschen. Schon beim Hineinspringen weiß ich, dass drinnen nicht genug Platz ist, und verfluche mich innerlich, als ich acht Stationen lang mit seitlich gebeugtem Kopf dastehen muss, in Dauersorge um Rae. Die Gruppe französischer Studenten, die mich umringen und alle gleichzeitig aufeinander einreden, macht die Fahrt auch nicht angenehmer. Für meine frisch geschärften Ohren hört sich das an wie drei gleichzeitig laufende Fernsehprogramme.
An King’s Cross leert sich der Wagen halb, und ich ergattere einen schmuddeligen Sitz mit kariertem Plastikbezug. Im dunklen Tunnel spiegelt sich mein Gesicht im Fenster. Ich bin ganz rot. Meine Haut fühlt sich wund an, wie leicht verbrannt von den vielen künstlichen Wandlampen im Studio, der Strahlung der zahllosen Computer. Es ist, als wären mir alle abgestorbenen Zellen abgeschmirgelt worden, als flösse mein Blut nun dichter unter der Haut.
Jedes Mal, wenn der Zug nach einem Halt wieder anfährt, merke ich, dass ich vorn auf der Sitzkante klemme, ohne mich anzulehnen. Ich bin vor Energie ganz verkrampft, wie auf dem Sprung, habe den einen Job hinter mir, den anderen vor mir: Ich muss Rae abholen.
Zwei Berufe, denke ich. Sound-Designerin und Mutter. Beide klar definiert. Beide mit ihren Tücken.
Und dann schlägt die Erschöpfung zu. Während der Zug durch den dunklen Tunnel rattert, versiegt auf einen Schlag das Adrenalin, das mich durch den Tag gepeitscht hat. Ich schaue mich um. Überall sitzen Frauen wie ich, manche wie ich auf der Sitzkante, manche im Sitz zusammengesackt. Bei manchen ist die Wimperntusche verschmiert, andere haben Knitterfalten in den Röcken und Hosenanzügen.
Ich begebe mich unter ein ganz bestimmtes Völkchen, denke ich. Frauen, die den ganzen Tag in der Stadt arbeiten und sich dann zu Hause um ein Kind kümmern. Frauen, die sich dafür eine Großstadt ausgesucht haben, weit entfernt von ihren Familien, die in Gegenden wie Lincolnshire leben. Frauen, die vielleicht in Straßen wie meiner wohnen, wo sie ihre Nachbarn nicht kennen.
Bei ihnen funktioniert es. Auch bei mir könnte es funktionieren. Wenn ich noch das eine oder andere geregelt kriege, könnte ich es wirklich schaffen.
Dann fällt mir Suzys Anruf wieder ein. Was ist, wenn Rae sich weigert, weiter in den Hort zu gehen? Wen könnte ich bitten, sich um sie zu kümmern?
Als ich in Highbury & Islington aus der U-Bahn springe und zu dem Bahnsteig hinüberrase, wo der Regionalzug nach Alexandra Park abfährt, erinnere ich mich an den Tag, als es an meine Tür hämmerte. Ich öffnete, und vor mir stand eine keuchende Frau, das Gesicht schweißüberströmt. Sie hatte ein unglaublich weites schwarzes Kleid an und einen Buggy bei sich, in dem ein nur mit einer Windel bekleidetes Baby schlief.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Können Sie mir helfen – ich glaube, die Wehen haben eingesetzt – viel zu früh. Ich habe draußen in Ihrem Auto einen Kindersitz gesehen.« An der schleimigen Flüssigkeit, die ihr die Beine herunterlief, sah ich, dass sie recht hatte. Ihre Fruchtblase war geplatzt.
»Ach du liebe Güte, natürlich«, sagte ich und führte sie sofort herein. »Wie weit sind Sie?«
»Dreiunddreißigste Woche«, keuchte sie.
»Keine Sorge!« Ich lief schon zum Telefon. »Ich rufe einen Rettungswagen.«
Die nächste Minute verging mit hektischem Wählen der Notrufnummer; gleichzeitig zerrte ich einen Stuhl aus dem Wohnzimmer.
Die Frau bedankte sich mit einem Nicken, ließ sich vorsichtig auf die Knie nieder, legte Kopf und Hände auf den Stuhlsitz und stöhnte sich durch die nächste Wehe.
»Mist, ich glaube, sie kommen.«
Sie?
»Zwillinge.«
Du lieber Himmel. »Bitte schnell!«, rief ich ins Telefon. »Es sind Zwillinge.«
Ich renne in die Küche, schnappe mir einen feuchten Lappen und wische der Frau über die Stirn. Sie strömt einen öligen, leicht kränklichen Geruch aus. Ich reibe ihr auch über den Rücken, erinnere mich, wie gut mir das getan hat, als Tom es bei mir machte.
»Danke«, sagt sie, nach Luft ringend. »Tut mir furchtbar leid – mein Mann ist verreist, und wir sind gerade erst eingezogen.«
»Machen Sie sich keine Gedanken«, wiederhole ich zum dritten Mal und zerbreche mir den Kopf, was ich noch sagen könnte, um sie zu beruhigen. »Ich habe meinem Dad früher oft beim Lammen geholfen.«
Die Worte hängen in der Luft, und wir werden uns beide bewusst, dass sie auf allen vieren vor mir kauert und mir ihren Hintern entgegenstreckt. Und brechen beide in wieherndes Gelächter aus.
»Suzy«, sagt sie, bevor sie scharf nach Luft schnappt.
»Callie«, erwidere ich.
Zum hundertsten Mal schaue ich auf die Uhr. An mir beginnt eine Angst zu nagen. Wenn ich als berufstätige Mutter mit einem Arbeitsplatz in der Stadt womöglich noch stärker von ihr abhinge statt weniger?
Das Schlimme ist: Nach diesem Tag bei Rocket kann ich mir nicht mehr vorstellen, meine Arbeit jemals wieder aufzugeben.
Kurz vor fünf kam Guy herein, um sich meinen fertigen Soundtrack für den Werbespot anzuhören. Als hätte das nicht schon gereicht, um mich nervös zu machen, rief er auch noch Megan und drei Sound-Designer dazu, darunter Jerome, einen stylishen Mittzwanziger mit schwarzrandiger Retrobrille und Nudie-Jeans, von dem Guy mir schon vorgeschwärmt hatte, eine aufregende Entdeckung, »die neue Callie«, hatte er ganz ironiefrei gesagt.
»Okay, Ton ab«, fordert er mich auf und sieht zum Plasmabildschirm hoch.
Mir wird flau im Magen. Ich drücke auf »Play«, sitze stocksteif da und prüfe Guys Reaktion aus den Augenwinkeln. Die Messer sausen mit einem scharfen, metallischen Schwirren durch die Luft und landen in jedem Lebensmittel mit einem etwas anderen Sound. Nur Designer wissen, wie viel Arbeit man hineinstecken muss, um jedes Geräusch so unaufdringlich zu machen, dass es der Werbebotschaft nicht in die Quere kommt.
Dann herrscht Schweigen.
Und dann klatscht Guy.
»Super Arbeit, Cal«, sagt er lachend und dreht sich um. »Was hab ich euch gesagt? Das isses, Jungs, so müsst ihr’s machen!«
Ich habe keine Kontrolle mehr über meinen Mund, er zieht sich von selbst in die Breite, zu einem spontanen, überglücklichen Lächeln.
»Danke. Guy, ist es in Ordnung, wenn ich jetzt verschwinde? Weil ich Rae holen muss?«
»Klar.« Guy lächelt, legt mir einen Moment lang die Hand auf die Schulter und steht auf. »Gut gemacht, Cal. Vergiss nicht, dass morgen um zehn Loll Parker vorbeikommt. Er freut sich schon darauf, dich kennenzulernen.«
17:49 Uhr. Noch eine Station bis Alexandra Park. Ich habe mich umsonst über ausbleibende Signalstörungen gefreut. Dafür hat mich etwas anderes kalt erwischt: die gute alte Notbremsung.
Der Fahrer informiert uns vergnügt, der Zug vor uns sei zu einem Nothalt gezwungen worden und wir müssten hier warten, bis eine ältere Dame in bedenklichem Gesundheitszustand abtransportiert sei. Ich habe noch elf Minuten, um Rae abzuholen. Ich sitze wie auf Kohlen, so weit vorn auf der Kante, dass ich wahrscheinlich beim nächsten Ruck abrutsche. Die Frau gegenüber fängt meinen Blick auf und verzieht bedauernd das Gesicht. Überrascht nicke ich ihr zu.
Mein Handy hat keinen Empfang. Was passiert, wenn ich um sechs nicht da bin?
Zum Glück wird die ältere Dame rasch versorgt. Ich stehe auf und halte mich den Rest der Fahrt an einer Stange fest, zwänge mich durch die Türen, sobald sie einen Spalt auseinanderweichen, und springe in einem hastigen, völlig undamenhaften Galopp die steile Treppe zum Gehweg hinunter.
Wieder ein Blick auf die Uhr: eine Minute vor sechs. Ich werde es nicht schaffen. Jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Ich renne die steile Hauptstraße zur Schule hoch und muss aufpassen, dass ich in meinen Sandalen nicht ausrutsche. Eine Frau mit Stöckelschuhen und engem Kostüm jagt vor mir die Straße hoch, genauso gestresst wie ich. Sie presst ihr Handy ans Ohr und schreit: »Es liegt auf meinem Schreibtisch, Ian, mach halt die Augen auf!«
Um 18:04 Uhr kann ich kaum noch atmen. Meine Lungen brennen. Ich biege nach links ab, wo die Straße ein letztes Mal ansteigt, und die Schule liegt vor mir. Ich rase am Schulgebäude vorbei, durch das Eisentor des viktorianischen roten Ziegelbaus nebenan, einst ein Schwimmbad. Die Frau vor mir treibt eindeutig mehr Sport als ich; sie ist schon angekommen und drückt auf den Knopf der Sprechanlage bei der großen Holztür. Ich kann mich gerade noch mit durchquetschen, bevor die Tür wieder ins Schloss fällt.
Ein warmer, hefiger Geruch schlägt mir entgegen. Die große Halle mag jetzt leer sein, aber der wilde Trubel, den achtundzwanzig eben erst abgeholte Kinder entfesselt hatten, liegt noch spürbar in der Luft. Die Mutter vor mir hat bereits ein pampig dreinschauendes Kind gepackt und ist auf dem Weg nach draußen; sie schreit immer noch in ihr Handy: »Dann schau eben auf dem Drucker, vielleicht liegt es dort.« Ich gehe hastig zur Hortleiterin Ms. Buck, die schon die Tische abwischt, und mache ein möglichst zerknirschtes Gesicht.
»Es tut mir so leid … gleich am ersten Tag … Es gab einen Nothalt … Das wird nicht mehr passieren«, stottere ich.
»Machen Sie sich keine Gedanken«, sagt sie, aber ihre Miene legt mir nahe, ich solle mir durchaus einige Gedanken machen. »Rae ist da drüben in der Malecke, bei Mrs. Ribell.«
Durch einen Bogen in der Ziegelmauer sehe ich Rae in einem Bereich, wo überall Kinderzeichnungen an den Wänden hängen. Eine Lehrerin kniet vor Rae und beschäftigt sich intensiv mit ihr.
»Hi, Rae«, rufe ich.
Rae sieht mich an, ohne zu lächeln. Sie sieht sogar ziemlich sauer aus. Mir wird ganz anders.
Die Lehrerin dreht sich um. Raes Blick macht mir so zu schaffen, dass ich die Frau nicht gleich erkenne.
»Oh, hi! Was machen Sie denn hier?«
»Ich arbeite hier«, antwortet sie lächelnd.
»Wirklich? Na so ein Zufall«, sage ich. »Das ist ja prima. Rae wird sich freuen. Ich hoffe, sie war brav?«
»Sehr. Wir hatten einen schönen Nachmittag miteinander, nicht wahr, Rae?«
Rae blickt zum Boden.
»Ich will heim«, nölt sie und läuft von mir weg zur Tür.
»Tut mir leid«, sage ich.
»Tschüs!«, ruft die Lehrerin ihr nach. Aber Rae ist schon durch die Holztür geschlüpft, deshalb winke ich für sie.
»Na, wie war’s?«, frage ich, als ich sie draußen einhole. Wir treten zusammen aus dem Eisentor und gehen am Rand des Parks entlang.
»Hannah war nicht da«, sagt sie leise. »Sie war zum Spielen bei Grace.«
Das versetzt mir einen Stich.
»Nun ja, so etwas wird schon ab und zu vorkommen.« Ich versuche, mir meine Traurigkeit nicht anmerken zu lassen – Rae tut mir leid. »Dann spielst du eben einfach mit jemand anderem. Das ist ja das Schöne am Hort, dass du viele andere Kinder kennenlernst, die nicht in deiner Klasse sind.«
Als ich selber fünf gewesen bin, hätte mich das nicht überzeugt, aber mir fällt nichts Besseres ein.
»Wann kann ich denn mal zu jemand zum Spielen gehen?«, fragt Rae leise.
»Bald, mein Schatz, das wird sich sicher bald ergeben.« Ich lege ihr einen Arm um die Schulter und hasse mich fürs Lügen. »Hör mal, wie hieß denn die Frau, mit der du dich unterhalten hast – ich war so überrascht, sie dort zu sehen, dass mir ihr Name nicht mehr eingefallen ist.«
»Mrs. Ribell«, sagt Rae. »Aber sie meint, wenn sonst niemand da ist, kann ich Debs zu ihr sagen.«
Ich nehme Rae bei der Hand; wir verlassen den Schulbereich und biegen in die Hauptstraße ein, die abwärts zur Churchill Road führt.
Autos rauschen vorbei. Es herrscht ziemlich dichter Verkehr. Natürlich ist um sechs Uhr abends Stoßzeit. Wenn Rae und ich um diese Zeit aus dem Park kamen, mussten wir manchmal drei, vier Minuten warten, bis wir diese Straße überqueren konnten.
Es fängt jetzt richtig an zu schütten, die Straße wird nass und rutschig. Der Verkehr dröhnt mir in den Ohren, Motoren stottern, Bremsen quietschen.
Und dann lässt Rae ohne Vorwarnung meine Hand los.
»He, was soll das?«, rufe ich.
Sie fängt an zu laufen. Ich sehe wieder die Rennpferde vor mir, die auf einer von Dads Wiesen untergestellt waren. Am Abend beobachtete ich von meinem Zimmerfenster aus, wie ihnen die Halfter abgenommen wurden und sie frei herumlaufen durften. Da machten sie wilde Sprünge und schlugen aus, warfen die Hufe hoch, als wollten sie zu verstehen geben, dass sie sich auf keinen Fall vor dem nächsten Morgen wieder einfangen lassen würden.
»Rae?«, rufe ich und eile ihr nach. »Was machst du da?«
Sie läuft nicht in ihrem gebremsten Dauerlauf, sondern versucht tatsächlich zu rennen, ihre kleinen Sandalen fliegen hoch in die Luft.
»Rae!« Ich rufe lauter, strecke den Arm aus und packe sie hinten am Kleid. »Ich will eine Antwort!«
Die Autos flitzen vorbei, niemand kümmert sich um das Tempolimit, alle wollen nur nach Hause.
Rae gerät ein bisschen ins Taumeln, als sie sich umdreht.
»Was fällt dir ein!«, schimpfe ich. »Das ist gefährlich! Du weißt, dass du stürzen könntest. Und was wäre dann?«
»Das ist nicht fair!«, schreit sie und reißt sich wieder los. »NIE darf ich was!«
Sie sieht zugleich zornig und verlegen aus; ihre großen, dunklen Augen funkeln vor Wut. Ich lege ihr wieder die Hand auf die Schulter und knie mich vor sie hin.
»Du hast ganz recht, mein Schatz, es ist nicht fair. Aber ich will nicht, dass du wieder ins Krankenhaus musst, und du willst das doch sicher auch nicht, oder? Deshalb gibst du mir auf der Straße in Zukunft immer die Hand. Immer, hörst du?«
Sie zuckt mit den Achseln. Ich öffne die Handtasche und hole das Muffin heraus, das ich von Rocket mitgenommen habe.
»Das habe ich dir aus der Arbeit mitgebracht.«
Rae macht große Augen, schnappt sich das Muffin und beißt hinein.
»Tut mir leid, Mummy«, sagt sie und gibt mir wieder die Hand.
»Und mir tut es leid, dass ich zu spät gekommen bin«, sage ich. Wir warten am Straßenrand auf eine Lücke im Verkehr.
Vor Suzys Haus bleiben wir stehen. Ich höre drinnen ein Kind schreien.
»Ach, du bist’s«, sagt Suzy, als sie uns öffnet. Sie umarmt uns beide und schiebt uns in die Diele. Rae läuft gleich in die Küche zu den Jungs.
»Wie geht es ihr?«, flüstert Suzy.
»Bisschen müde. Sie wird ein paar Tage brauchen, bis sie sich daran gewöhnt. Ach übrigens, stell dir vor – die Frau nebenan, Debs, arbeitet im Hort!«
Suzy dreht sich überrascht um. »Echt? Ich wusste gar nicht, dass sie Lehrerin ist.«
»Ich auch nicht. Super, was? Das heißt, dass Rae im Hort jemand hat, der ihr von zu Hause vertraut ist. Und ich hoffe, dass Debs besonders auf sie aufpasst, weil sie sie kennt.«
Suzy sieht mich nachdenklich an und nickt. »Na ja, von kennen kann eigentlich nicht die Rede sein.«
»Nein – aber du weißt schon, was ich meine. Wie man sich unter Nachbarn eben so kennt.«
Suzy wirkt zerstreut und sieht auf die Uhr.
»Wie war dein Tag?«, frage ich. »Geht’s dir gut?«
»Ja«, sagt sie abwesend. »Ich habe die Zwillinge zu Hause behalten. Wir haben Brownies gebacken.«
»Alles in Ordnung?« Suzy wirkt stiller als sonst. Ein bisschen gedämpft.
»Ja – eigentlich nein. Ich dachte, Jez wäre inzwischen zurück. Er ist mit Henry schwimmen gegangen.«
Ich starre sie an. »Das ist nicht dein Ernst!«
»Doch, er meint, Henry hätte es längst lernen sollen.«
Wenn Jez sich schon früher die Mühe gemacht hätte, mit ihm ins Schwimmbad zu gehen, dann könnte er es vielleicht auch längst, denke ich.
»Und hast du schon beschlossen, ob du diese Woche ins Spa gehst?«, frage ich vorsichtig. Ich versuche immer noch, ihre Stimmung zu ergründen.
»Ach, ich weiß nicht. Jez ist diese Woche da – vielleicht gehe ich stattdessen in Hampstead Heath mit ihm essen oder so.«
Ich nicke und warte.
Und warte.
Sie stellt keine Fragen.
»Suze …«, flüstere ich.
»Was ist?«
»Es war der Wahnsinn. Bei Rocket.«
»Ach ja?« Sie reckt den Kopf, um zu sehen, was die Zwillinge in der Küche treiben.
»Das Studio war unglaublich. Das solltest du dir mal anschauen kommen. Guy hat es neu stylen lassen; es sieht jetzt aus wie ein Raumschiff, und auf dem Klo habe ich fünf Minuten gebraucht, bis ich die Seife unter der Edelstahlblende gefunden habe …« Ich lache, bin aber nicht sicher, ob sie mir überhaupt zuhört. »Gott, war ich nervös. Aber Guy fand meine Arbeit gut. Und überhaupt – wieder in Soho zu sein! Wer ist übrigens dieser amerikanische Schauspieler, der …«
Sie beugt sich zu mir und tippt mir auf die Schulter. »Super, Honey. Ich hab dir doch gesagt, dass du super sein wirst. Übrigens muss ich mich jetzt allmählich darum kümmern, dass die Jungs ins Bett kommen. Möchtest du zum Abendessen bleiben? Ich habe noch Brathähnchen übrig.«
Wusst ich’s doch, dass ich die ganze Zeit etwas gerochen hatte. Das muss das Brathähnchen gewesen sein. Aber hinter dem Essensgeruch verbirgt sich noch etwas anderes.
Ich schnuppere unauffällig.
Urin.
Die vertraute, stechende Note nasser Windeln hängt in der abgestandenen Luft, dazu der Atem und Körpergeruch von Menschen, die den ganzen Tag im Haus verbracht haben. Suzys T-Shirt ist wieder mit Soße bekleckert. Ihre Wangen sind vom Kochen verschwitzt und gerötet, ihr Haaransatz glänzt vor Schweiß, der ihre blonden Haare an den Wurzeln dunkler macht. Hinter ihr am Ende des Gangs, mit Spielzeug übersät, der Küchenboden. Malkreiden und kappenlose Stifte liegen auf den weißen Fliesen verstreut. Und die Küche, die gestern noch aussah wie aus einer Wohnzeitschrift, wirkt nach der abgefahrenen Industrieästhetik von Guys Studio ein wenig brav.
Als hätte ich an einem Kaleidoskop gedreht, sehe ich alles aus einer neuen Perspektive.
Peter tappt zur Küchentür, und ich winke ihm zu. Rotz läuft ihm dick aus der Nase, er wischt ihn mit einer farbverklecksten Hand ab.
Nein.
Nein, ich möchte nicht zum Abendessen bleiben.
»Suze, das ist wirklich nett von dir, aber ich glaube, Rae braucht ein bisschen Ruhe«, sage ich.
Und das stimmt. Aber es stimmt auch, dass ich heute Abend nicht hier sein möchte. Ich war gestern Abend hier, und vorgestern, und vorvorgestern. Ich möchte nach Hause. Ich möchte mich zusammen mit Rae in ein Schaumbad setzen, mit ihr über den Hort quatschen und dafür sorgen, dass sie zur Ruhe kommt. Und dann möchte ich mir ein paar Notizen für morgen machen, für das Meeting mit Loll, vielleicht ein Glas Wein trinken und mir die Augenbrauen zupfen.
Beim Gedanken an Augenbrauen fangen meine Lippen an zu zucken.
Kurz bevor ich vom Tonstudio nach Hause aufbrach, wuchtete ich die schwere metallene Toilettentür mit dem eingelassenen V aus schwarzem Granit auf (V für Venus, die Männer haben ein M für Mars). Drinnen stand Megan vor dem Spiegel.
»Toller Sound«, sagte sie. »Guy ist ja so begeistert, dass er dich wieder hat. Wir haben schon einiges von dir gehört!«
»Ja?« Ich runzle die Stirn, weiß nicht so recht, was ich darauf erwidern soll. Ich sehe ihr zu, wie sie sich die Lippen nachzieht, wahrscheinlich geht sie heute Abend in Soho aus.
»Du hast tolle Augenbrauen«, platze ich heraus und deute auf die perfekten, nachgestrichelten Bögen über ihren riesigen blauen Augen.
»Danke«, antwortet sie fröhlich. »Die Frau in meiner Reinigung zupft sie mir. Sie meint, Bögen bringen die Augen am besten zur Geltung.«
»Wirklich?«, murmle ich verzagt und betupfe die kleine Armee mausbrauner Härchen, die unter meinen eigenen Brauenbögen anmarschiert. »Na ja, meine Brauen bringen die Augen weniger zur Geltung, sondern wärmen sie eher.«
Und jetzt kommt’s, was mich in Suzys Diele zum Lächeln bringt.
Megan lachte.
Das war nicht das gepflegte kurze Lachen, mit dem Suzy reagierte, wenn ich mich einmal an einem Witz versuchte; anschließend kam regelmäßig der Kommentar: »Der war gut«, als hätte sie zwar begriffen, dass ich einen Witz gemacht hatte, aber nicht, was daran lustig war. Nein, Megan lachte richtig. Erst prustete sie durch die Nase. Dann warf sie den Kopf zurück, stieß ein warmes, fröhliches, kehliges Glucksen aus und drückte mich herzhaft am Arm.
»Das wird so klasse, noch eine zweite Frau im Studio«, rief sie begeistert, als sie zur Tür ging. »Bis morgen dann, Callie.«
»Was ist?«, fragt Suzy. »Warum lächelst du?«
»Ach nichts«, sage ich. »Ein netter Moment in der Arbeit. Ich wollte dir übrigens noch was sagen. Rae hat heute Abend versucht, den Gehweg runterzurennen – wenn du sie begleitest, kannst du dann bitte darauf achten, dass du sie fest an der Hand hältst? Sie ist beinahe hingefallen.«
»Mach ich doch immer, Honey.«
»Ich weiß. Danke.« Ich fasse sie am Arm. »Und überhaupt – danke, dass du die Stellung hältst, wenn ich in der Arbeit bin. Nächstes Mal, wenn Rae bei Tom ist, sitte ich deine Jungs, um mich ein bisschen zu revanchieren.«
»Super«, sagt sie, immer noch zerstreut.
Was ist denn aus »supi« geworden, ihrem Lieblingswort unter allen albernen Ausdrücken? Ich sehe sie scharf an. Was ist los mit ihr? Sie ist doch nicht etwa eingeschnappt, weil aus dem Spa-Tag nichts wird? Zwischen Suzy und mir ist in den zwei Jahren, die wir uns kennen, kein böses Wort gefallen. Undenkbar die unbekümmerten, betrunkenen Wortgefechte zwischen mir und Sophie, wer wen gestern Abend versehentlich ausgesperrt hat, die wir morgens mit versoffener Stimme beim Müsli führten – anschließend umarmten wir uns, noch im Schlafanzug und mit verschmierter Wimperntusche von gestern. Nein, so etwas kann ich bei Suzy nicht riskieren. Wer weiß, was dabei alles ans Licht käme.
»Also dann …«, sage ich vorsichtig und rufe mir mühsam ins Gedächtnis, dass ich mich von Suzy ja nur ein bisschen zurückziehen, sie aber nicht ganz verlieren möchte.
»Also dann bis morgen«, verabschiedet sie uns. Sie umarmt mich und Rae noch einmal, und wir gehen über die Straße. Ich hole den Schlüssel heraus, mir graut schon vor dem Durcheinander von herumliegenden Pyjamas und Frühstücksschälchen, das hinter der Tür wartet.
Jetzt überfällt mich die Müdigkeit. Auch Rae seufzt und lehnt sich an mich. Aber wenigstens leuchten ihre Wangen. Unverkennbar: Auf ihnen liegt ein neuer, rosiger Hauch. Ich lege ihr den Arm um die Schultern und führe sie hinein. Als ich die Tür hinter uns zuziehe, sehe ich Suzy am Gartentor stehen und besorgt zur Hauptstraße hinaufblicken.
Nein. Das hat nichts mit mir zu tun, beschwichtige ich mich. Diesmal nicht. Und ich schließe die Tür.