Kapitel 45 Callie
Ich kann den Blick nicht von der Uhr wenden. Es ist kurz vor vier, die Party ist um halb sechs zu Ende. Sie brauchen eine Viertelstunde, um sich zu verabschieden, zum Auto zu gehen und nach Hause zu fahren. Eindreiviertel Stunden. Die werde ich schon überleben. Suzy ist da, Jez auch. Falls ich gebraucht werde, bin ich in fünf Minuten dort.
Ich muss Rae diesen Freiraum lassen. Ich habe ihr das Leben geschenkt, jetzt muss ich ihr auch die Chance geben, es zu leben.
Damit ich nicht dauernd an Raes Abwesenheit denke, fuhrwerke ich in der Wohnung herum und räume auf. Komisch. Seit Debs überall Ordnung geschaffen hat, muss ich zähneknirschend zugeben, dass es mir so besser gefällt; ich habe schon begonnen, ihre Ordner zu benutzen, habe heute früh die Rechnung von den Gaswerken geöffnet, an die Pinnwand geheftet und den Umschlag zum Altpapier gelegt. Wenn die Wohnung aufgeräumt ist, werden auch meine Gedanken klarer. Der Nebel lüftet sich.
Unerwartet klingelt das Telefon. Ich stürze hin, falls Suzy von der Eisbahn anruft. Die Nummer wird nicht angezeigt – wahrscheinlich ist es der Polizeibeamte. Wird auch Zeit, dass der sich meldet.
»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, entschuldigt er sich. »Aber ich habe Ihnen nicht viel zu berichten. Denn wir können Deborah Ribell nichts zur Last legen. Es gibt keinerlei Hinweis, dass sie Ihre Tochter auf die Straße gestoßen hat, auch nicht von Ihrer Tochter selbst. Mehr kann ich im Moment auch nicht dazu sagen.«
»Aber als ich davon gesprochen habe, dass mich ihr Verhalten beunruhigt, klang es, als wüssten Sie in diesem Zusammenhang etwas.«
»Alles Vorwissen bezüglich Mrs. Ribell ist vertraulich«, wiederholt er aufreizend amtlich. »Da kann ich nicht viel für Sie tun.«
»Aber das ist doch absurd! Sie läuft auf unserer Straße herum, schreit mich und meine Freundin an und erschreckt unsere Kinder. Was braucht es denn noch? Dass sie handgreiflich wird?«
Er schweigt kurz, ich höre ihn tief Luft holen. »Wir können schon einmal gar nicht aktiv werden, wenn Sie keine Anzeige erstatten. Hat die Frau Sie beschimpft oder körperlich angegriffen?«
»Nein.«
»Hat sie Sie bedroht?«
»Nein!«, sage ich erbittert. »Sie hat mein Haus geputzt, ohne mich zu fragen.«
Er sagt nichts.
»Und sie beunruhigt mich einfach. Ich traue ihr nicht.«
»Dagegen können wir leider nichts unternehmen. Wir können sie nicht festnehmen, weil sie putzt oder jemanden beunruhigt …«
Ich muss ihm zugutehalten, dass er das nicht mit einem hörbaren Lächeln sagt.
»Aber sie ist Lehrerin an der Schule meiner Tochter. Sie müssen mir mitteilen, was Sie wissen. Solange diese Frau dort ist, werde ich meine Tochter nicht mehr in den Hort lassen.« Als ich von Rae spreche, bekomme ich Sehnsucht nach ihr. Sobald dieses Gespräch zu Ende ist, werde ich zu ihr hochfahren.
Wieder entsteht eine Pause. »Hören Sie – haben Sie sie schon mal gegoogelt?«, fragt er dann.
Natürlich.
Zwei Minuten später stehe ich vor Jez’ und Suzy’s Haustür und klingle. Niemand macht auf. Jez muss noch mit den Zwillingen in Muswell Hill sein.
Ich klimpere mit Suzys Zweitschlüsseln und überlege, was ich tun soll. Ich rufe Suzy auf dem Handy an, aber sofort meldet sich ihre Mailbox. Sie muss in der Eisbahn sein und das Handy abgeschaltet haben.
Hätte sie etwas dagegen? Es wäre nicht das erste Mal, dass ich in ihr Haus gehe und den PC benutze, zum Beispiel, um mir online eine Fahrkarte zu Dad zu kaufen. Es wäre allerdings das erste Mal, dass ich vorher nicht frage.
Gut. Ganz wohl ist mir dabei nicht, aber ich schließe auf und strecke dann den Kopf zur Tür herein, ob auch wirklich niemand zu Hause ist.
Sie sind also beide weg. Ich bin sicher, unter diesen Umständen hätten sie nichts dagegen.
Auf Zehenspitzen schleiche ich die beiden Stockwerke zu Jez’ Arbeitszimmer hinauf, öffne die Tür und überquere den Teppich bis zum Computer. Jez’ Arbeitsplatz strömt seinen Geruch aus. Den schwachen Duft eines teuren Rasierwassers. Mich überläuft von oben bis unten eine Gänsehaut. Ich lasse mich in seinen Schreibtischsessel sinken und gebe mich einen Augenblick lang der Vorstellung hin, das weiche, abgewetzte Leder, das mich umfängt, sei er.
Der Computer ist an. Mit spitzen Fingern tippe ich in die Google-Suchmaske: »Deborah Ribell, Lehrerin«.
Dann verschlägt es mir den Atem: Es erscheint eine Meldung, die landesweit von allen Zeitungen aufgegriffen wurde.
September 2010, steht da – das war vor sechs Monaten.
Mir springt die Schlagzeile ins Auge:
Lehrerin aus Hackney gesteht tätlichen Angriff
Da. Debs’ Name. Im Online-Archiv einer Lokalzeitung.
18. September 2010
Eine wegen tätlichen Angriffs auf eine Minderjährige angeklagte Lehrerin aus Hackney bekannte sich heute vor dem Amtsgericht Hackney schuldig.
Mir bleibt der Mund offen.
Deborah Ribell, Englischlehrerin an der Queenstock Academy, gab zu, eine fünfzehnjährige Schülerin, bekannt als Child D, am 10. August im Victoria-Park zweimal ins Gesicht geschlagen zu haben. Das Urteil wurde aufgeschoben, da der Anwalt von Mrs. Ribell auf mildernde Umstände plädierte. Der Prozess wird fortgeführt …
Draußen schlägt eine Tür zu, dass ich hochfahre. Ich stehe auf, gehe zum Dachfenster und sehe, wie Debs das Gartentor ihrer Nachbarin ins Schloss wirft.
Sie marschiert auf den Gehweg hinaus, über die Straße und zu meiner Haustür.
»Was zum …«, flüstere ich.
»Callie!«, schreit sie gellend und hämmert gegen meine Tür. »Callie!« Immer wieder schlägt sie an meine Tür und klingelt drei-, viermal. Ich weiche etwas zurück, damit sie mich auf meinem Beobachtungsposten nicht sieht. Als niemand aufmacht, dreht sie sich um und geht mit wildem Blick zum Gartentor.
»Ahhhh!«, stößt sie frustriert aus, knallt das Tor hinter sich zu und marschiert die Churchill Road hinauf.
Allmächtiger. Suzy hat recht: Sie ist verrückt.
Ist Rae deshalb auf die Straße gestürzt? Vielleicht hat Debs die Geduld verloren, weil Rae nach dem Hort auf dem Heimweg zu rennen anfing?
Und hat sie geschlagen?
Entsetzt kehre ich an den Computer zurück, um den Rest des Berichts zu lesen, sehe aber, dass mitten auf dem Bildschirm eine Kurznachricht aufgepoppt ist.
Wo kommt die denn her?
Neugierig lese ich.
»Bist du da …???«, wird da gefragt.
Ich sehe mich verlegen um, als könnte mich der Verfasser der Nachricht sehen. Wer sie geschickt hat, muss wissen, dass Jez’ Computer online gegangen ist. Die Nachricht hat keine Unterschrift, aber dann sehe ich über der Notiz die Absenderadresse: »SexySasha«, steht da.
Ich warte, aber weiter passiert nichts.
Eine Nachricht für Jez. Von SexySasha.
Sie fragt sich, ob er da ist.
Ich verdränge das ungute Gefühl, das bei dieser Nachricht in mir aufsteigt, und scrolle hinunter, um den nächsten Zeitungsartikel zu lesen. Ich klicke gerade auf den Link, da klingelt mein Handy. Suzy.
»Hallo?«, lege ich gleich los. »Wo warst du denn? Ich konnte dich nicht erreichen. Hör mal, du wirst es nicht glauben, aber …«
»Callie?« Die Stimme kommt mir bekannt vor, aber ich kann sie nicht mit einem Namen verbinden.
»Ja?«
»Hier ist Caroline, Hannahs Mutter.«
»Oh – hallo!«, sage ich überrascht. »Alles in Ordnung?«
»Tut mir leid, Callie – nicht ganz. Leider macht Henry … nun, er macht ein bisschen Ärger. Er hat einen anderen kleinen Jungen auf dem Eis umgeschubst. Ziemlich aggressiv. Ich fürchte, ich habe keine Zeit, mich damit zu befassen. Ich habe es bei Suzy versucht, aber die hat ihr Handy ausgeschaltet. Geht es Rae so gut, dass du ihn abholen kannst?«
»Entschuldige, Caroline – was hast du gerade von Rae gesagt?«
»Hat Suzy sie nicht zu dir gebracht?«
»Nein.« Ich stehe auf und schaue wieder aus dem Fenster, ob sie womöglich gerade zurückgekommen sind, aber weit und breit ist nichts von ihnen sehen. Suzys Auto steht nicht auf der Straße. »Bitte – warum sollte sie Rae bei mir vorbeibringen? Entschuldige, Caroline, aber ich verstehe nicht ganz.«
»Oh. Das ist komisch. Suzy hat Rae sofort wieder mitgenommen, als sie Henry hier abgesetzt hat. Sie sagte, Rae fühle sich nicht wohl. Es tut mir leid, ich habe einfach angenommen, dass sie sie zurück zu dir bringt.«
Hektisch sehe ich auf die Uhr. Sie sind schon eine halbe Stunde unterwegs. Wo stecken sie denn?
»Caroline, was heißt, sie fühlte sich nicht wohl? Hat sie komisch geatmet?«, blaffe ich in den Hörer.
»Nein, nein, Callie. Eigentlich fand ich, dass sie sehr gut aussah. Ehrlich gesagt war ich etwas verwirrt und konnte nicht nachvollziehen, warum Suzy sie nach Hause bringen wollte. Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde Henry hierbehalten, bis ich von …«
Aber ich höre nicht mehr zu. Im Galopp renne ich die Treppe hinunter.