Kapitel 20 Callie
»Sie ist da drüben.«
Und schon eile ich mit langen Schritten durch die Sicherheitstür, an Suzy vorbei zu Rae, die in der Kinderstation der Ambulanz von Northmore sitzt und fernsieht, eine Decke über dem Schoß. Wir sind so oft hier gewesen, dass ich schon weiß, was mich erwartet. Abgestandene Luft. Grelle, in den Augen schmerzende Neonröhren. Schmuddliges Spielzeug, verteilt auf dem nach Desinfektionsmittel riechenden Boden. Eine Putzfrau, die gelbliche Flüssigkeit wegwischt.
»Mummy«, sagt Rae leise und deutet auf den Fernseher. »Den Film hat Henry auch.«
»Hi, Sweetheart.« Ich nehme ihr Gesicht fest zwischen meine Hände und prüfe es Zentimeter um Zentimeter nach meiner inneren Checkliste. Lippen – rosa, ein bisschen blass. Haut ebenfalls blass, aber nicht ungewöhnlich. Augen … in Ordnung. Sogar seltsam strahlend. Atmung normal.
»Ist sie schon untersucht worden?«, rufe ich zu Suzy hinüber, ohne mich um die neugierigen Blicke der anderen wartenden Eltern zu kümmern.
»Ja, Honey. Sie haben ihr Bein angesehen, und sie haben den Blutdruck und den Puls gemessen. Der Kardiologe kommt, sobald er kann.«
»Zeig mir dein Bein, Rae«, fordere ich sie auf und fege die Decke weg. Suzy hat schon ein großes Pu-der-Bär-Pflaster auf die Wunde geklebt. Rae streckt mir ihre Handflächen entgegen, um mir ihre blutigen Kratzer und Schrammen zu zeigen.
Das unschuldige Kinderpflaster bringt mich in Rage. Für mich gibt es bei Rae keine harmlosen kleinen Verletzungen.
»Wie geht’s dir?«, blaffe ich sie an.
Halt sie fest an der Hand, habe ich vor vierundzwanzig Stunden zu Suzy gesagt. Halt sie fest an der Hand, wenn ihr an der Straße entlanggeht.
Rae fährt ein wenig zusammen, so fremd klingt meine Stimme. Sie blickt zu Suzy hoch, dann wieder zu mir.
»Gut?«, sagt sie, als ließe sie einen Versuchsballon steigen.
»Nichts Komisches beim Atmen? Keine Schmerzen?«
»Nein!«, antwortet sie genervt. »Das hat mich die Frau schon alles gefragt.«
Ich sehe Suzy an. Sie wirft mir einen verständnisvollen Blick zu.
»Soll ich die Krankenschwester holen?«
Ich wende mich von ihr ab. Suzy wartet einen Moment.
»Honey? Ich habe dich gefragt, ob ich die Schwester holen soll.«
»Nein.«
Sie zögert und nimmt dann einen neuen Anlauf.
»Sicher?«
»Ich werde mit ihr sprechen, wenn ich so weit bin.«
Einen Augenblick lang lastet eine schwere Stille zwischen uns. Rae sieht erst mich an, dann Suzy. Sie setzt zu einem Lächeln an, verbeißt es sich aber gleich wieder, kaut nervös auf ihrer Lippe.
»Na, du weißt sicher am besten, was du brauchst.« Suzy geht zur Tür. »Wisst ihr, was? Ich lasse euch zwei Mädels mal ein paar Minuten allein.«
Ich nicke wie betäubt und will schon den Arm um Rae legen, als sie aufsteht. Sie hinkt zu dem Kind mit der Augenklappe hinüber, setzt sich daneben und guckt wieder in den Fernseher. Ein kleines Kind läuft vorbei und drischt auf ein Tamburin ein. Jedes Scheppern will mir die Schläfen zertrümmern. »Rae?«, rufe ich leise.
Ihr Blick klebt am Bildschirm.
Wie oft habe ich Suzy von Raes schlechtem Koordinationsvermögen erzählt?
Ich beiße auf dem Daumennagel herum. Sie hätte Rae an der Hand halten sollen.
Aus den Augenwinkeln sehe ich die Sicherheitstür wieder aufgehen und eine große Gestalt mit zwei Kaffeebechern hereinkommen.
Suzy bleibt kurz stehen. Zögernd stellt sie einen Fuß vor den Plastikstuhl neben mir, als wollte sie prüfen, wie kalt das Wasser ist. Dann zieht sie den anderen Fuß nach. Sie setzt sich langsam und reicht mir einen Kaffeebecher. Jetzt merke ich, dass ich den ganzen Tag außer dem Sandwich nichts gegessen habe. Bei dem heißen, säuerlichen Kaffeegeruch dreht sich mir der Magen um. Suzy stellt ihren Becher auf den Boden, dann tippt sie behutsam auf meinen kleinen Finger, der auf meinem Knie ruht. Sie legt ihre Hand darauf und sieht mich an.
»Suze«, flüstere ich und ziehe unwillkürlich die Hand weg, bevor ich mich beherrschen kann. »Tut mir leid. Aber was genau ist passiert?«
Sie greift wieder nach meiner Hand und lehnt sich behutsam an mich.
»Honey?« Sie klingt verletzt. »Was ist denn los mit dir?«
»Na ja – ich dachte, du hättest begriffen, wie leicht Rae stürzen kann. Ich habe das Gefühl, ich hätte es dir hundertmal gesagt. Entschuldige, ich weiß, dass du mir aus der Patsche geholfen hast, dass ich nicht da war, aber …«
»Das weiß ich doch alles, Honey.«
»Aber wie konnte das dann passieren?«
»Also. Du hast mich doch von der Arbeit aus angerufen, dass ich sie abholen soll. Ich musste gegen zehn vor sechs aufbrechen, damit ich rechtzeitig zum Hort komme. Ich hatte gerade die Zwillinge im Buggy verstaut und wollte zur Tür hinaus, da fing Peter an zu kotzen. Ich hab’s dir am Telefon nicht gesagt, aber er hat erhöhte Temperatur und wieder diesen Ausschlag am Arm. Egal, er hat in hohem Bogen gekotzt, dass Otto ganz voll war und auch ich was abgekriegt habe. Ehrlich gesagt hatte ich Angst, dass er richtig krank sein könnte, weißt du, dass er vielleicht …« – sie sieht mir ins Gesicht, bevor sie weiterredet – »… vielleicht Meningitis haben könnte …«
Mein Ärger flaut ein wenig ab. »Warum hast du mir das nicht gesagt, als ich angerufen habe?«
Sie stößt einen tiefen Seufzer aus. »Honey, du hast so gestresst geklungen, als ich gestern Nachmittag bei dir angerufen habe; da wollte ich nicht schon wieder stören und vielleicht bei etwas Wichtigem dazwischenplatzen, dass du Ärger kriegst. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Die Zwillinge waren eingedreckt. So konnte ich das Haus nicht verlassen, also bin ich wieder rein und habe im Hort angerufen. Ich habe mit der Leiterin gesprochen – Ms. Buck? – und ihr gesagt, dass ich Rae frühestens in zwanzig Minuten abholen kann. Sie klang ziemlich angesäuert. Dann ist mir eingefallen, dass du gesagt hast, die neue Nachbarin würde dort arbeiten. Und so haben wir abgemacht, dass diese Frau Rae in die Churchill Road mitnimmt, wenn der Hort schließt, und sie zu mir bringt, bis du kommst.«
Ich brauche kurz, bis ich begreife, was sie da sagt.
»Das heißt, du warst gar nicht dabei, als es passiert ist?«
Suzy ist gar nicht schuld.
Suzy schüttelt den Kopf und zieht mich an sich. Ein dümmliches, verlegenes Lächeln breitet sich über mein Gesicht aus. »Nein! Ach, du Dummchen. Hast du das etwa gedacht? Um Gottes willen, Honey. Du weißt doch, wie vorsichtig ich mit ihr bin. Kein Wunder, dass du wütend warst. Nein – sie war mit dieser Frau unterwegs. Und jetzt habe ich ein wahnsinnig schlechtes Gewissen, dass ich sie gebeten habe, Rae nach Hause zu bringen. Ich hatte solche Sorgen wegen Peter, und du hast dich am Telefon so verärgert angehört, dass ich eine Entscheidung treffen musste.«
»Wie ist es denn zu dem Sturz gekommen?«
»Tja, das weiß ich nicht. Ich war gerade dabei, Peter frische Sachen anzuziehen, als ich am Ende der Straße Schreie hörte. Erst habe ich mir nicht viel dabei gedacht, dann fiel mir ein, dass ja Rae unterwegs war. Da bin ich raus aus dem Gartentor und sehe diesen Menschenauflauf mitten auf der Straße. Ich bin rübergelaufen und habe Rae auf der Straße liegen sehen, daneben einen jungen Typen und sein Fahrrad.«
»Ein Fahrrad?«
»Ja. Er hat sich hochgerappelt und Debs etwas zugerufen, dann ist er aufgestiegen und weitergefahren.«
Suzy hält inne und sieht mich an.
»Suze. Willst du damit sagen, dass Rae von einem Radfahrer angefahren wurde?«, stammle ich.
»Hm, nein – keine Ahnung, Cal. Da musst du die Polizei fragen.«
»Die Polizei?«, platze ich so laut heraus, dass andere Eltern aufblicken.
»Honey, reg dich bitte nicht auf. Ja – jemand hat die Polizei gerufen, ich glaube, eine Frau aus unserer Straße, die dachte, dass Rae umgefahren worden ist. Ich weiß wirklich nicht, was genau abgelaufen ist, aber ich glaube, Rae ist auf dem Gehweg gestolpert, und in dem Moment, als sie auf die Straße stürzte, bog dieser Junge um die Ecke. Ich glaube nicht, dass er sie erwischt hat. Wahrscheinlich hat er einfach das Gleichgewicht verloren, als er ihr auswich. Ob sie sich das Bein nun an dem Fahrrad oder auf der Straße aufgeschürft hat, weiß ich nicht. Das konnte sie mir nicht sagen.«
Ich versuche, mir den Unfall vorzustellen; sämtliche Details blitzen wie unter Stroboskoplicht auf.
»Sie hat sich das Bein an dem Fahrrad verletzt?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht, aber – hör mal, Honey, die haben Rae hier gründlich untersucht und sehen keinen Anlass zur Besorgnis.«
»Und der Typ ist davongefahren?«
»Ich glaube schon.«
Ich sehe Rae an. Sie wurde von einem Radfahrer angefahren. Und das ist meine Schuld. Suzy hatte Angst, mich noch einmal anzurufen, weil ich Egozicke von ihr verlangt habe, mein Kind abzuholen, als ihr eigenes krank war. Und gleichzeitig habe ich Pläne gemacht, wie ich unsere Freundschaft allmählich auf Eis lege. Geschieht mir nur recht.
Plötzlich kommt mir ein Gedanke. Ich frage Suzy: »Und wo ist sie?«
»Wer?«
»Debs.«
»Ich weiß nicht, Cal. Es war schon irgendwie komisch: Sie hat Rae nur angestarrt, als wäre sie festgefroren. Ich weiß nicht einmal, ob sie uns gefolgt ist. Ich habe mich nur noch um Rae gekümmert.«
»Aber Suze, du hast ihr doch gesagt, dass man Rae an der Straße fest an der Hand halten muss?«
»Klar. Als wir alles am Telefon besprochen haben, habe ich es ihr extra eingeschärft. Ich … ich habe so ein Scheißgefühl. Als wäre ich an allem schuld. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich habe mir Sorgen gemacht, weil Peter kotzen musste …«
»Nein. Du bist nicht schuld. Ich bin schuld, weil ich länger in der Arbeit geblieben bin und dich in diese Situation gebracht habe.«
Suzy sieht mich an und beißt sich auf die Lippe.
»Was ist denn?«
»Ich bin erleichtert, dass du das so siehst. Aber da ist noch etwas, und du wirst deswegen bestimmt stinksauer auf mich sein.«
»Worum geht’s denn?«
»Na ja – um Tom.«
»Um Tom? Was soll das heißen?«
»Ich habe ihn angerufen.«
»Ach Suze! Warum denn das, um Himmels willen?«
»Ich weiß. Es tut mir ja so leid. Es gab diesen furchtbaren Moment, als ich dich auf dem Handy nicht erreichen konnte, und da hab ich einfach Panik gekriegt. Ich weiß doch, welche Sorgen ihr euch beide um Rae macht.«
»Dann weiß er also, was passiert ist?«
Sie sieht mich mit einem reumütigen Nicken an.
Mit einem lauten Knall fliegt die Tür zur Ambulanz auf und ein großer Mann erscheint, der die ganze Türöffnung ausfüllt. Eine Schrecksekunde lang halte ich ihn für Tom, aber der kann von Sri Lanka unmöglich so schnell hierhergekommen sein. Ich sehe noch einmal hin. Es ist Jez.
Sofort stellt sich Befangenheit ein. Jez steht mit dem Buggy da, in dem die Zwillinge schlafen; ein sichtlich müder Henry hält sich daran fest. Jez trägt einen schicken Anzug und wirkt völlig fehl am Platz zwischen den schreienden Kleinkindern und den erschöpften Eltern, die auf die Schnelle das Nächstbeste übergezogen haben, um in die Klinik zu rasen.
»Hallo, mein kleiner Schatz«, sagt Suzy. »Hallo, Honey.«
»Ich muss Pipi«, sagt Henry weinerlich, läuft zu ihr und zieht sie am Arm.
»Dann komm mit, Äffchen.« Suzy steht auf und führt Henry zu einer Tür am Ende des Wartezimmers.
Jez parkt den Buggy und kommt verlegen auf mich zu; er zieht die Augenbrauen nach unten und schürzt die Lippen, als versuche er, Mitgefühl zu zeigen.
Neugier erwacht in mir. Ich habe mir schon immer überlegt, wie Jez reagieren würde, wenn eine Frau vor ihm einen Weinkrampf bekommt. Würde dann die harte Schale aufbrechen, würde er den Arm um sie legen?
Ich richte mich auf und bemühe mich zu lächeln.
He – was mache ich denn da?
Erstaunlich. Er hat es schon wieder geschafft. Ich benehme mich, wie Jez es von mir erwartet. Höflich. Die Gefühle weggesteckt.
»Wie geht es ihr?«, fragt er mit einem Blick auf Rae. Ich frage mich, was er wohl denkt.
»Nach Ansicht des Personals hier fehlt ihr nichts – jetzt warten wir auf den Facharzt.«
Ich schweige. Und bin gespannt, was er als Nächstes sagt.
Jez räuspert sich.
»Mein Vater kennt den Klinikleiter. Ich werde ihn bitten, sich einzuschalten.«
»Danke«, sage ich und sehe zu Suzy hinüber, die eben mit Henry die Toilette verlässt.
Jez folgt meinem Blick. Das ist doch der Hammer! Am liebsten hätte ich aufgelacht. Statt mich in den Arm zu nehmen, statt etwas zu tun, bietet er mir an, seine Beziehungen spielen zu lassen.
»Tut mir leid, dass du noch so spät mit den Kindern raus musstest«, sage ich. Wieder beiße ich mir auf die Zunge. Was rede ich denn da? Warum entschuldige ich mich?
»Cal, möchtest du, dass ich noch bleibe?«, fragt Suzy, als sie mit einem halb schlafenden Henry auf dem Arm zurückkommt. Wir wissen beide, dass das Angebot nicht ernst gemeint ist. Jez würde wahrscheinlich auf der Stelle zusammenbrechen bei der Aussicht, die drei Jungs allein ins Bett zu bringen.
»Nein, geh ruhig. Wirklich. Das kann hier noch Stunden dauern.«
»Na gut. Ich ruf dich später an.«
Sie umarmt mich, und Jez ringt sich ein halbes Lächeln ab. Dann verschwinden sie durch eine große weiße Tür in die Freiheit, weg von diesem Ort.
Ich hasse diese Klinik. Alle Krankenhäuser. Ich hasse die blöden Plastikstühle mit den fürchterlichen Lehnen, die in den Rücken schneiden. Die Gerüche. Die Untergangsstimmung. Den Kaffee mit seinem Chlorgeschmack.
Finster schaue ich mich in der Ambulanz um und frage mich, wie oft Tom und ich schon mit Rae hierhergerast sind, zu jeder Tages- und Nachtzeit, voller Panik, dass sich das kleinste Schniefen und Husten zu einer Katastrophe auswachsen könnte. Diese Klinik hätte einfach unsere Geburtsklinik sein sollen, in der Rae zur Welt kam, in der wir ein, zwei Tage bleiben würden, bis wir nach Tufnell Park zurückkehrten und es mit unseren neuen Herausforderungen aufnähmen, nachdem wir völlig unerwartet Eltern geworden waren.
Rae war so normal, dass wir nur das kleine Einmaleins der Babypflege zu lernen brauchten – sie zwischen den winzigen Falten ihrer Kniekehlen zu waschen, ihr vorsichtig die winzigen Nägel zu schneiden.
Wie lange ging das so? Zwei Wochen? Dann spazierten wir mit ihr auf dem Arm zum Café an der Ecke hinüber, weil wir es in der Wohnung nicht mehr aushielten und einfach mal raus mussten. Im hellen Tageslicht bemerkten wir plötzlich, wie blass und schlaff Rae mir im Arm hing, und da fiel mir auf, dass sie seit Stunden nicht mehr getrunken hatte. Eine Frau im Café, die selber drei Kinder hatte, riet uns, gleich in die Ambulanz zu fahren.
»Sie hat einen Herzfehler«, sagte der Arzt; er hatte keine Zeit, uns die bittere Pille zu versüßen. »Eine Aortenstenose – eine Verengung der Hauptschlagader.«
Nun überschlugen sich die Ereignisse, dass ich mich gar nicht erinnern kann, wann ich mich so richtig in Rae verliebt habe. Ich empfand nur noch ein überwältigendes, instinktives Bedürfnis, sie am Leben zu erhalten, unterbrochen von Momenten herzzerreißender Trauer, was wir alles mit ihr vielleicht nie erleben würden. Dass ich nie sehen würde, ob sie von meinen Locken verschont bliebe, die mich so oft zum Wahnsinn trieben. Dass sie nie als Teenie bei mir im Schlafzimmer sitzen würde wie ich bei Mum, mit der ich lange Gespräche über Jungs führte, während sie die Wäsche zusammenlegte. Besonders bedrückte mich, warum auch immer, der Gedanke, dass Rae vielleicht nie Sex haben würde.
»Das Medikament öffnet die Arterie nicht ausreichend, deshalb müssen wir operieren«, sagte der Arzt. »Wir schieben durch die Leiste einen Schlauch in die Oberschenkelarterie, mit einem Ballon, den wir dann aufblasen.«
Wie betäubt gaben wir beide unserer Einverständnis. Wir hatten noch nie in unserem Leben eine Hypothek aufgenommen, keiner von uns hatte sein Testament gemacht. Und jetzt sagten wir einem Herzchirurgen, was er machen solle.
»Auch danach wird es nicht einfach sein«, sagte er schonungslos. »Sie wird regelmäßige Kontrolluntersuchungen brauchen und vor Schulbeginn eine Operation, um die Arterie zu reparieren.«
»Gibt’s auch gute Nachrichten?«, fragte Tom mit stockender Stimme.
Ich erinnere mich, dass ich die Augen schloss und mich eine Sekunde lang in die Vergangenheit zurückwünschte, als das alles noch nicht passiert war. Ich wünschte mir, dass ich in meiner alten Bude in Islington vor dem Fernseher saß und überlegte, ob ich mit Sophie ins Pub gehen sollte. Ich wünschte mir, dass mir Tom nie begegnet wäre.
Dann schlug ich die Augen wieder auf und bemerkte, wie er Rae ansah, die im Brutkasten lag, einen Schlauch in der Nase. Das Wunderkind, das zur Welt kam, obwohl er geglaubt hatte, er könne nie ein Kind zeugen. Ihr Herzschlag tönte durch den Behandlungsraum, nicht das dumpfe Pochen wie in meinen Träumen, sondern ein blechernes, dünnes Piepen. Ich ging zu Tom hinüber und schlang die Arme um ihn.
Nach zwei Stunden erscheint endlich Dr. Khan und beginnt Rae zu untersuchen. Ich habe mit den Jahren gelernt, Dr. Khans Miene zu entziffern. Eine Anspannung in den Wangen unterhalb der Augen? Dann hat er schlechte Nachrichten für uns wie bei unserer ersten Begegnung. Verräterisch auch das leise Rascheln seines weißen Mantels. Fliegen die Schöße, wenn Dr. Khan auf uns zukommt, dann weiß ich, dass er in Eile ist und nur Zeit für die notwendigsten Informationen hat, aber nicht für beruhigende Worte. Heute aber fällt der Mantel locker um seine Knie. Er entfernt sich einen Schritt von Rae und lächelt mich an, was er nur selten tut; dabei entblößt er unter seinem dicken Schnauzbart kurze, jungenhafte Zähne. Der Anblick ist so unerwartet, dass ich mich zusammenreißen muss, um nicht hinzustarren.
»Sieht so aus, als wäre alles in Ordnung«, sagt er. »Wir schicken sie sicherheitshalber zum Kernspin und machen ein EKG, dann kann sie nach Hause.«
Ich starre ihn an. Sehe, wie es in seinem Gesicht zuckt. Dr. Khan und ich sind uns schon einige Mal so gegenübergestanden, er weiß, was jetzt kommt.
»Hm«, sage ich. »Allein die Angst, es könnte …«
Er presst die Lippen zusammen. »Jetzt geht das wieder los«, scheint sein Mund zu sagen. Dr. Khan verbringt viel Zeit damit, Eltern von Kindern mit Aortenstenose zu beruhigen, dass es ihrem Liebling in den allermeisten Fällen ein Leben lang gutgehen wird.
Er nickt. »Gut. Dann warten wir noch die Ergebnisse der Untersuchungen ab.«
»Aber …«, setze ich wieder an. Ich hasse es, wenn meine Angst mit mir durchgeht. Wenn sie unbeherrschbar wird. »Tut mir leid. Könnte sie vielleicht in der Klinik bleiben? Nur über Nacht, für den Fall, dass doch etwas ist? Ich habe einfach solche Angst, dass …«
Er schweigt kurz und klopft mir dann auf die Schulter. »Dann treiben wir eben ein Bett für sie auf.«
Ich nicke beschämt und unterdrücke den Impuls, ihn zu umarmen.
Rae ist nach den Untersuchungen so müde, dass sie sich in dem Zimmer, das die Schwestern auf der Kinderstation für sie frei gemacht haben, tief ins Kissen kuschelt und gleich einschläft, während ich auf dem ausziehbaren Elternbett neben ihr liege und ihr mit dem Finger über die Wange streiche. Aus dem Heizkörper bullert auch an diesem warmen Abend Hitze in den Raum. Wenn man die Augen zukneift, könnte man glauben, dass man in einem Hotelzimmer ist. Einem gemütlichen kleinen Hotelzimmer. Bis auf die Schläuche und Masken an den Wänden, bereit für den nächsten Notfall, bis auf das heftige Gebrüll zweier Babys weiter unten am Gang, bis auf den Fernseher, der aus dem Zimmer gegenüber herüberschallt, wo ich vorhin eine in Tränen aufgelöste, sehr hilfsbedürftig wirkende Mutter sitzen sah.
Eine Schwester kommt mit einer Decke herein.
»Hi!«, flüstert sie und winkt mir fröhlich zu. »Wie macht sie sich? Erinnern Sie sich? Ich bin Kaye.«
Ich nicke lächelnd und versuche mir den Anschein zu geben, als freute ich mich über das Wiedersehen. Es ist ja nicht so, dass ich die Schwestern nicht zu schätzen wusste, die sich viel Mühe gegeben hatten, um Rae, Tom und mich bei Raes großer OP aufzuheitern. Aber jetzt wäre es mir am liebsten, ich hätte Kaye noch nie im Leben gesehen und wüsste nicht, wie sie heißt. Wir leben jetzt draußen, in der normalen Welt.
»Und wie geht’s Ihnen selber?«, fragt sie behutsam und fasst mich an der Schulter. Ich nicke nur. Plötzlich bin ich sehr müde und fange an zu frieren.
»Ist Ihr Mann auch da?« Sie sieht sich im Zimmer um. Die Schwestern waren ganz vernarrt in Tom gewesen, weil er sich an ihre Namen erinnerte und sie gnadenlos aufzog.
»Wir sind nicht verheiratet.«
»Na, dann schnappen Sie ihn sich lieber, bevor es eine von uns versucht!« Sie kichert. Ich weiß, dass sie mich nur zum Schmunzeln bringen will, aber als sie hinausgeht, um uns ein Glas Wasser zu holen, bin ich erleichtert.
Ich sehe Rae eine Weile beim Schlafen zu, dann stehe ich leise auf und schleiche aus dem Zimmer. Ich muss etwas erledigen, was ich nicht länger vor mir herschieben kann. Auf Zehenspitzen gehe ich zum Stationszimmer und bitte darum, das Telefon benutzen zu dürfen.
Um hinauszuzögern, wovor mir so graut, überlege ich kurz, ob ich Dad anrufen soll, entscheide mich dann aber dagegen. Er würde nur in Panik ausbrechen und mir anbieten, sofort herzukommen, und das darf ich ihm nicht antun. Schließlich wissen alle Bauernkinder aus unserer Gegend, dass es unter unseren Feldern keinen Untergrund aus Fels oder Steinen gibt. Wenn Dad seine Frühkartoffelernte diese Woche nicht einbringt, könnte der Frühsommerregen den Boden so durchweichen, dass der Traktor buchstäblich darin versinkt.
Stattdessen spreche ich Tom auf die Mailbox, er brauche nicht zu kommen, denn Rae gehe es gut. Dass Tom anrückt und auf mich einhackt, wäre das Letzte, was ich jetzt verkraften könnte.
Und dann erledige ich endlich den Anruf, vor dem ich mich so lange gedrückt habe.
»Guy«, sage ich, als sich die Mailbox seines Handys einschaltet, »ich hoffe, du kriegst diese Nachricht noch heute Abend – ich bin’s, Callie. Es tut mir wirklich leid, aber meine kleine Tochter hatte heute einen Unfall; ich glaube, es ist nichts Schlimmes, aber ich muss mir morgen freinehmen, zur Sicherheit. Hoffentlich schaffe ich es am Freitag. Ich ruf dich morgen an, sobald ich mehr weiß.« Ich mache eine kleine Pause. »Hm, Guy – ich weiß, dass das jetzt überhaupt nicht reinpasst, aber bitte hab Verständnis. Ich werde sehen, ob ich etwas organisieren kann, um die ausgefallenen Stunden am Wochenende nachzuholen. Und richte Loll bitte aus, dass es mir leidtut. Ich möchte seinen Film wahnsinnig gern machen. Diese Woche war einfach grandios. Also …«
Also was? Ich bringe es nicht über mich, zu betteln, deshalb breche ich ab.
Ich kehre in Raes Zimmer zurück und lege mich leise wieder ins Bett. Vor mir steigen Toms und Guys Gesichter auf, wenn sie meine Nachrichten abhören. Mir entfährt ein Stöhnen.
Ich bin so nahe dran und gleichzeitig so weit weg. Und jetzt ist alles verpatzt.
Warum meldet sich eigentlich diese Debs nicht bei mir?