Donnerstag

Kapitel 21 Debs

Peng. Peng. Peng.

Dreimal hämmerte es laut an die Haustür, dann wachte Debs mit einem Stöhnen auf. Sie drehte sich um und versuchte, sich aufzusetzen.

Peng. Peng. Peng.

Wieder wurde an die Tür gehämmert. Ihre Augen fühlten sich an wie mit Sekundenkleber verschweißt, ihr Kopf kippte nach links. Sie zwang sich aufzustehen und wankte zum Fenster, zog den Vorhang zurück und schaute hinaus.

»Wollen Sie mich verscheißern, oder was?«, schrie ein Mann, den sie nur in verschwommenen Umrissen wahrnahm, zu ihr hoch.

»Wie bitte?« Sie tastete nach ihrer Brille.

»Ich hab mir fast das Rückgrat gebrochen«, polterte er, hob wütend den Arm und ging durch das Gartentor hinaus.

Was wollte dieser Mensch?

Sie zog den Morgenmantel über und blickte noch einmal aus dem Fenster. Ein Laster der Müllabfuhr fuhr mit lautem Piepen rückwärts die Straße hinunter. Mittwochmorgen. Richtig, die Leerung. Der Mann leerte zusammen mit zwei anderen die Recyclingkisten in den Laster; er schüttelte immer noch zornig den Kopf. Ihre Kiste hatte er stehen lassen; der Deckel war halb heruntergerutscht.

Mit einem Gefühl, als zwinge sie ihren Körper, durch Wasser zu rennen, schlüpfte sie in ihre Hausschuhe und ging ins Bad. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, ein Wiederbelebungsversuch. Sie musste unbedingt zum Arzt, sich ein anderes Medikament verschreiben lassen. Obwohl ihre Augen signalisierten, dass sie wach war, schien ihr Gehirn noch im Schlaf gefangen. Benommen tastete sie sich, immer an der Wand entlang, die Treppe hinunter.

Als sie die Haustür öffnete, wo ihr kalte Luft entgegenschlug, war der Laster schon in die Hauptstraße abgebogen. Debs vergewisserte sich, dass niemand sie im Morgenmantel sah, tappte auf Zehenspitzen zur Recyclingkiste und hob den Deckel.

Sie brauchte eine Sekunde, bis in ihrem Gehirn ankam, was ihre Augen an Eigenartigem registrierten.

Die Kiste war voll großer, runder, schwerer Steine. Es mussten ungefähr hundert sein; sie lagen da wie an einem Steinstrand. Sie schubste mit dem Fuß an der Kiste herum. Genauso gut hätte sie versuchen können, eine Ziegelwand wegzuschieben.

»Du lieber Himmel«, sagte sie laut. Schnell streckte sie den Kopf zum Gartentor hinaus, ob sie den aufgebrachten Mann von der Müllabfuhr noch erwischte, aber der war längst weg. Jetzt musste sie versuchen, klar zu denken. Gestern Abend war die Kiste randvoll mit Kartons gewesen, die sie hinausgetragen hatte.

Sie blickte sich um, wo die Steine denn hergekommen waren. Da fiel ihr ein großer kahler Fleck ins Auge, im Vorgarten von Nummer 17, deren Besitzerin sie noch nicht kennengelernt hatte. Das Haus gehörte einer Schriftstellerin, erinnerte sich Debs vage, die viel Zeit in ihrem Cottage in Suffolk verbrachte. Debs meinte sich auch an eine mit solchen Steinen gepflasterte Fläche zwischen drei Buchsbaumkübeln zu erinnern, die ein professioneller Landschaftsgärtner angelegt haben musste.

Wer würde so einen Unfug anstellen?

Komisch. An einer Ecke der Kiste konnte man bis zum Boden durchsehen. Beim zweiten Blick entdeckte Debs dort grüne Kreidestriche.

Die sahen nach Schrift aus.

Sie beugte sich hinunter, nahm zehn Steine heraus und legte sie neben die Kiste. Dann hob sie die Kiste mit aller Kraft Zentimeter um Zentimeter, bis sie sie etwas kippen konnte.

In wahlloser Reihenfolge tauchten Worte auf: DIR, FRESSE, HINTEN. Du lieber Himmel, was war denn das?

Debs keuchte vor Anstrengung und schaffte es schließlich, die Kiste so weit zu kippen, dass sie vom Plattenweg in ein Blumenbeet hinunterrutschte und der Boden frei lag.

Sie kauerte sich nieder und versuchte, den Rest der Botschaft zu entziffern.

Die Worte waren mit dunkelgrüner Kreide geschrieben, in fetten Großbuchstaben und so säuberlich, dass die Nachricht noch infamer wirkte, als sie ohnehin schon war.

WENN DU NOCH EINMAL UNSERE KINDER ANFASST, DANN SCHLAG ICH DIR DIE FRESSE EIN, DASS DIR DIE ZÄHNE HINTEN WIEDER RAUSKOMMEN.

»Huch!«, entfuhr es Debs; sie sprang hoch wie von der Tarantel gestochen. Verzweifelt blickte sie sich um und spähte um die Hecke zur Straße hinaus.

Der Junge auf dem Fahrrad. Er musste ihr gefolgt sein. Belauerte er sie vielleicht gerade?

Debs schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie hatte recht gehabt. Die Poplars hatten sie gefunden.

Die gaben nicht auf.

 

Zehn Minuten später zitterten ihr die Hände immer noch. Wie ferngesteuert ging sie durch die Küche und versuchte die Bildsplitter von gestern Abend, die ihr durch den Kopf wirbelten, zusammenzusetzen. Wie hatte der Junge ausgesehen? War er der Bruder?

Ihre Erinnerungen kehrten in wahlloser Folge zurück. Ein metallisches Klicken – vielleicht die Gangschaltung des Fahrrads? Dann der Gummireifen, der über die nasse Fahrbahn schmierte. Das Gefühl von etwas Bedrohlichem, das sich von hinten näherte, sie aber nicht überholte.

Sie hatte sich umgedreht. Das wusste sie noch. Aber dann verwischten die Eindrücke. Sie konnte sich nur noch an die Gestalt eines Jungen erinnern, doch sein Gesicht blieb eine nebelgraue Fläche. Sie hatte diesen wahnsinnigen Drang gehabt, die Hand zu heben.

Und dann lag Rae mitten auf der Straße.

O Gott. Was war passiert?

Debs umklammerte ihren Teebecher und setzte sich an den Tisch. Wie hatten die Poplars sie aufgespürt?

Ihr wurde eiskalt; sie zog den Morgenmantel enger um sich. Allen hatte ihr gestern Abend eine Schlaftablette aufgenötigt, nachdem sie ihm erzählt hatte, was geschehen war. Dann war er zu den Nachbarn hinübergegangen, um sich zu erkundigen, was sich eigentlich abgespielt hatte; er hatte mit Jez an der Haustür gesprochen.

»Sie hat sich am Bein verletzt, aber es geht ihr gut«, sagte Allen bei seiner Rückkehr. Er setzte sich neben Debs und legte ihr die Hand auf den Arm. »Anscheinend hat sie ein schlechtes Koordinationsvermögen. Sie wird zur Vorsicht über Nacht in der Klinik behalten. Mach dir bitte nicht zu viele Sorgen, Schatz; warten wir ab, was es morgen Neues gibt, ja?«

»Hmmm«, hatte sie gemurmelt.

Seine Stimme hatte ruhig und beherrscht geklungen, aber sie wusste, dass er mit seiner Geduld langsam am Ende war. Das konnte sie ihm nicht verübeln.

Deshalb rief sie ihn heute nicht an, und wenn ihr Bedürfnis danach noch so groß war. Stattdessen wählte sie eine andere Nummer, zweifelte aber gleich, ob sie sich an die richtige Person gewandt hatte.

»Payroll«, meldete sich eine laute Stimme.

»Alison, ich bin’s.« Debs wusste schon, dass ihre Schwester sofort einen anderen Ton anschlagen würde.

»Ach, hallo«, sagte Alison lahm. »Was gibt’s?«

»Äh …«

»Ich habe gleich einen Termin beim Leiter der Finanzabteilung. Mach’s kurz.«

Es war immer so, dass Alison in den nächsten Minuten etwas Wichtiges zu tun hatte.

»Ich werde wieder schikaniert«, sagte Debs.

»Was war los?«, fragte Alison nach einer kurzen Pause.

»Ich glaube, einer von den Poplars wollte mich gestern Abend auf der Straße erschrecken. Der Bruder. Er hat sich von hinten auf dem Fahrrad an mich rangemacht. Und ich glaube, er hat unsere Recyclingkiste mit Steinen gefüllt. Und eine sehr böse Drohung hinterlassen.«

Eine Weile kam von Alison gar nichts.

»Was sagt Allen dazu?«, fragte sie schließlich.

Debs presste die Zähne zusammen. Wie schnell ihre Schwester immer zum wunden Punkt vorstieß.

»Ich hab’s ihm noch nicht erzählt.«

Alison schwieg wieder, als sie die Schwachstelle sah, auf die sie gewartet hatte.

»Ach so«, erwiderte sie nach einer Weile. »Dann bin also ich wieder mal die Doofe, die herhalten muss!«

Debs biss sich auf die Zunge.

»Hör mal, ich wollte nur Bescheid sagen. Keine Angst. Ich – ich ruf die Polizei schon selber an, wenn es sein muss.«

»Das solltest du lieber deinem Mann überlassen.« Alison klang ziemlich höhnisch.

»Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte Debs. Aber sie konnte es sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Ich koche heute Abend was Schönes für Allen. Wir haben etwas zu feiern: Wir sind sechs Monate verheiratet.«

Nach einer kurzen Pause schnarrte Alison: »Na, dann will ich dich nicht aufhalten.«

 

Das Verrückte war, dass Debs ohne Alison ihren Allen nie kennengelernt hätte. Dann wäre allerdings auch das Verhältnis zu ihrer Schwester nicht so getrübt.

Vielleicht war Debs daran schuld, weil sie den Status quo zwischen sich und Alison über den Haufen geworfen hatte. Früher hatte sich Alison immer als Nummer eins behaupten können, wie es ihr ihrer Meinung nach zustand, verdiente sie doch in ihrer Finanzfirma weit mehr als Debs und hatte die interessanteren Hobbys. Debs sang in einem Damenchor – das Spannendste, was sie vorzuweisen hatte. Alison dagegen lernte segeln und nahm in der Türkei an Segeltörns für Singles teil. Sie hatte eine Urlaubsromanze mit Graham und zeigte Debs Fotos von diesem Mann, der sie ihren Worten nach »einfach angebetet« hatte. Er hatte ein rotes Gesicht, das offene Hemd entblößte eine Brust mit Sonnenbrand und einer Haarmatte, die ebenso grau war wie sein Kopfhaar. In der einen Hand hielt er eine Bierflasche, die andere lag auf Alisons Schenkel. Eine Woche lang quälte sie Debs mit Einzelheiten über seinen bevorstehenden Besuch: Er wollte aus Peterborough herüberfahren. Der große Tag kam, ging und wurde nie wieder erwähnt. Debs war klug genug, nicht nachzufragen. Merkwürdigerweise gab ihr diese Geschichte den entscheidenden Anstoß, einmal einen Blick in die Rubrik »Soulmates« ihres Guardian zu werfen.

»Kleiner als du«, hatte Alison geflüstert, als Debs sie zum ersten Mal mit Allen in ihrer Neubausiedlung in Palmers Green besuchte und Allen auf die Toilette verschwand. Schon an der Tür hatte Alison die beiden mit fahriger Hektik und hochroten Wangen empfangen, wie es ihre Art war, wenn sie sich unter Beschuss fühlte. »Du siehst immer noch müde aus, Debs. Ist das derselbe Herpes oder schon wieder ein neuer?«, hatte sie gerufen und Allen die mitgebrachte Flasche Chianti mit einem Nicken, aber ohne Dank abgenommen. Als Debs ihr mitteilte, dass sie heiraten wollten, hatte Alison zwei Monate nicht mehr mit ihr gesprochen.

Debs fragte sich manchmal, ob Alison sich über das, was bei ihrer Hochzeit passiert war, etwa gefreut hatte.

 

Am Ende jagten Debs so viele dunkle Gedanken durch den Kopf, dass sie das Haus verlassen musste und den Hügel von Alexandra Palace hinaufging. Alle paar Sekunden drehte sie sich nervös um, ob der Junge auf dem Fahrrad sie nicht wieder verfolgte.

Heute war es ruhig im Park. Noch zu früh für die Jugendgangs, die sich nach der Schule versammelten und als Imponiergehabe einander sämtliche Schimpfwörter entgegengrölten, die sie kannten. Zu spät für die Mütter mit Kleinkindern, die vom Spielplatz nach Hause gegangen waren, damit die Kleinen ihren Nachmittagsschlaf hielten.

Debs schritt kräftig aus, umrundete dreimal den Rudersee und hoffte, sie würde in der leichten Brise einen klaren Kopf bekommen. Um sich abzulenken, sah sie den Gänsen und Tauben zu, wie sie den Enten das Brot abzujagen versuchten, das ihnen ein Rentner zuwarf. Zu spät erkannte sie, dass die lächelnde Frau am Cafétisch, die ihren Blick aufzufangen versuchte, die Mutter eines Hortkinds war. Debs blickte zu Boden und tat, als hätte sie die Frau nicht gesehen. Was würden sie alle sagen? Lisa Buck hatte heute Morgen recht zögerlich geklungen: »Nein, das ist völlig in Ordnung, Debs. Geben Sie uns Bescheid, wenn Sie sich wieder besser fühlen – ich glaube, der Direktor möchte Sie wegen Raes Unfall sprechen, wenn Sie wieder da sind, aber lassen Sie sich ruhig Zeit.« Debs wusste, was das bedeutete. Nehmen Sie sich diese Woche frei, und das Kollegium wird sich zusammensetzen, die Ereignisse unter die Lupe nehmen und in Ihrer Vergangenheit herumstochern, ob da etwas Anlass zu Besorgnis gibt. Der Gedanke, dass sie den Vorfall mit Daisy Poplar ans Licht zerren würden, war so entsetzlich, dass Debs anfing, vor sich hin zu singen, um die Bilder zu verdrängen.

Aber erst, als sie wieder zu Hause war und ihre letzten Bücher in die Regale räumte, konnte sie endlich alle finsteren Gedanken in die Kiste sperren.

Die Bücher. Gott sei Dank, dass sie ihre Bücher hatte; bei ihnen fand sie immer Trost. Einige lagen noch auf dem Fußboden, und Debs überlegte, welche sie aus dem bereits vollen Regal aussortieren könnte, damit der Rest Platz hatte. Sie suchte ein paar heraus und wog sie in der Hand, wägte ab, was sie ihr bedeuteten. Als sie elf war, hatte ihre Lehrerin Mrs. Shaw ihr ein ledergebundenes Exemplar von Oliver Twist geliehen; seitdem liebte sie Bücher immer auch wegen ihrer Schönheit und nicht nur, weil sie ihr zur Flucht aus der spießigen kleinen Wohnung ihrer Mutter in Walthamstow verhalfen, eine Wohnung, die vollgestopft war mit Fernsehzeitschriften und massenproduzierten Porzellanballerinen.

Debs besaß zwei Ausgaben von Thomas Hardys Tess; von einer würde sie sich trennen müssen. Die erste mit dem grünen, goldbedruckten Leineneinband hatte sie auf einem einsamen Tagesausflug nach Oxford gekauft, bevor sie Allen kannte, in einem heruntergekommenen alten Antiquariat, in dem es nach Staub und nach Sonne roch. Die zweite war ein abgegriffenes Taschenbuch, dessen Deckel aufklappte und ihren Namen und den Namen der Uni enthüllte, an der sie vor zwei Jahrzehnten Pädagogik studiert hatte. Der Anblick versetzte sie sofort in ihr winziges Wohnheimzimmer zurück, zu dem Fest ihres Professors, bei dem der Wein in Strömen floss, und zu Bruno, dem deutschen Austauschstudenten, von dem sie sich anschließend in betrunkenem Zustand die Unschuld rauben ließ. Zwei Tage lang hatte sie gehofft, bis sie begriff, dass Bruno sie nicht fragen würde, ob sie mit ihm gehen wolle. Dass er nie wieder mit ihr reden würde.

Sie warf das Buch auf den Haufen für Oxfam.

Die Poplars durften nicht siegen. Sie durfte Allen nicht verlieren. Unmöglich.

 

Er hatte angerufen und sich wieder für das Mittagessen angekündigt, deshalb bereitete sie ein Sandwich vor. Thunfisch mit Mais, seine Lieblingsfüllung. Sie hatte sich bemüht, seine Vorlieben und Abneigungen kennenzulernen. Keinen Weichspüler an den Hemden. »Ich möchte im Büro nicht nach Blumen duften, Schatz«, hatte er gesagt und sie unerwartet zum Kichern gebracht. Er mochte gutes, dunkles Ale. Und anspruchsvolle Kreuzworträtsel.

Als Allen die Tür öffnete, brauchte sie einen Moment, bis sie begriff, dass er sich mit jemandem unterhielt.

Sie ging in die Diele und sah hinter ihm einen jungen Polizeibeamten.

»Schatz«, rief er, als er ihr erschrockenes Gesicht sah. »Alles in Ordnung. Dieser junge Beamte ist nur vorbeikommen, um dir ein paar Fragen wegen des kleinen Mädchens von gegenüber zu stellen. Nichts Beunruhigendes.«

»Ah. Selbstverständlich«, murmelte sie und lud den Beamten ins Wohnzimmer ein.

Er war jung, wahrscheinlich noch unter dreißig, hatte aber ein erstaunlich selbstsicheres Auftreten.

»Wir bekamen gestern den Anruf einer Frau, die Zeugin wurde, wie ein fünfjähriges Mädchen auf die Churchill Road vor ein Fahrrad stürzte. Das Kind war in Ihrer Obhut. Ich möchte Sie bitten, mir zu berichten, wie das passiert ist. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie die Lehrerin des Kindes sind?«

Die Frage hing mit ihrer ganzen Tragweite schwer im Raum.

»Meiner Auffassung nach ist das Kind wahrscheinlich wegen seines schlechten Koordinationsvermögens auf die Straße gestürzt«, schaltete sich Allen mit strenger Stimme ein. »Können wir bitte von dieser Annahme ausgehen? Als sich der Unfall ereignet hat, war meine Frau auch nicht in ihrer offiziellen Funktion als Hortbetreuerin unterwegs. Sie half nur einer Nachbarin wegen einer plötzlichen Erkrankung aus. Das alles hat sie sehr mitgenommen. Sie hat nichts zu verbergen, aber wie Sie sehen, hat der Unfall sie sehr erschüttert.«

Debs sah ihn an. So hatte sie ihren Allen noch nicht erlebt. So musste er reden, wenn er die Einrichtung von Bushaltestellen an ungünstigen Stellen durchsetzte, wo ältere Menschen sie brauchten.

»Gut«, sagte der junge Beamte. »Möchten Sie mir bitte in Ihren eigenen Worten den Unfallhergang schildern?«

»Ja.« Debs überlegte verzweifelt, was sie sagen sollte. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht genau, was passiert ist. Erst ging sie ganz brav neben mir. Ich hörte hinter mir ein Fahrrad kommen, und im nächsten Moment war Rae nicht mehr da, sondern vor mir, und stürzte auf die Straße.«

Der Polizeibeamte sah sie prüfend an, als untersuchte er die Leberflecken in ihrem Gesicht.

Debs senkte den Blick zum Boden.

»Haben Sie das Gesicht des Radfahrers gesehen?«

»Ich … ich bin nicht sicher.«

»Und haben Sie das Kind an der Hand gehalten?«

»Ich kann mich nicht erinnern … Nein, ich glaube nicht«, sagte Debs. »Sie ging sehr brav, da war es nicht nötig.«

»Aber ihre Mutter sagt, Sie seien aufgeklärt worden, dass Sie das Kind an der Straße stets bei der Hand nehmen müssen.«

Was sagte er da? Debs sah Allen kopfschüttelnd an.

»Wirklich? Ich weiß, dass die Mutter Angst um Raes Gesundheit hat – das wissen alle Betreuerinnen im Hort –, aber ich erinnere mich nicht, dass mir jemals gesagt wurde, ich solle sie bei der Hand nehmen.« Ihr wurde eng um die Brust; sie krümmte sich, um das Gefühl loszuwerden. »Manchmal gibt es bei mir kurze Aussetzer.«

Der Polizeibeamte sah in seine Aufzeichnungen.

»Sind Sie die ehemalige Deborah Jones, früher wohnhaft in Weir Close, Hackney?«

O nein. Sie wusste, was jetzt kam.

»Ja«, antwortete sie schwach.

»Waren Sie in einen tätlichen Angriff auf ein Kind in der Queenstock Academy verwickelt?«

Debs sah wieder zu Boden. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie sie kaum heben konnte, um ihre Brille zurechtzurücken.

Allen sprang auf. »Ich bitte Sie! Dieser Unfall hat absolut nichts mit jenem Vorfall zu tun«, sagte er verärgert. »Lassen Sie bitte meine Frau in Ruhe; Sie sehen doch, wie verstört sie ist.«

Lass den Deckel zu, schrie Debs sich innerlich zu. Lass den Deckel zu. Aber es gelang ihr nicht. Die Deckel sämtlicher Kisten sprangen auf.

Voll Panik platzte sie heraus: »Also, wenn Sie schon hier sind und von diesem Vorfall mit Daisy Poplar sprechen: Ich glaube, ich werde von ihrer Familie schikaniert. Ich weiß, du magst es nicht, wenn ich davon spreche, Allen, aber gestern Abend. Das Fahrrad. Ich glaube, es war der Junge von den Poplars. Der Bruder. Er hat sich von hinten an mich herangepirscht, um mich einzuschüchtern. Deshalb kann ich mich nicht erinnern, was mit dem kleinen Mädchen passiert ist. Ich hatte Angst. Und ich glaube auch, die Poplars belästigen mich den ganzen Tag mit Telefonanrufen. Und … und … heute früh hat jemand unsere Recyclingkiste mit Steinen gefüllt und eine Nachricht auf den Boden geschrieben. Mit Kreide. Eine fürchterliche Drohung.«

Allen schüttelte den Kopf. »Nicht, Debs. Du musst damit aufhören, Schatz.«

»Aber es stimmt doch, Allen! Du musst mir zuhören. Ich wollte dich nicht damit beunruhigen, aber es geht alles wieder von vorne los. Sie müssen mich gefunden haben …«

Allen sah gequält aus. Und verärgert. »Schatz, bitte behellige die Polizei nicht damit – seit diesem Vorfall in der Schule leidet meine Frau an Angstattacken«, erklärte er dem jungen Beamten. »Sie ist in Therapie.«

Debs starrte ihren Mann wütend an. Wie konnte er nur?

»Ich bilde mir das nicht nur ein, Allen!«, rief sie. »Bitte sag das nicht mehr. Wenn du mir nicht glaubst, dann komm und überzeuge dich selbst!«

»Mrs. Ribell«, schaltete sich der junge Beamte mit besorgter Miene ein, »ich muss sagen, ich halte es für unwahrscheinlich, dass die Familie Poplar Sie belästigt. Laut Aktenvermerk ist die Familie nach dem unliebsamen Aufruhr in der Presse an die spanische Küste übersiedelt. Mrs. Poplar arbeitet dort wohl in einer Bar, die ihrem Bruder gehört.«

Sie starrte ihn wütend an. Warum wollte ihr niemand glauben?

»Wie erklären Sie sich dann das?«, rief sie. Mit energischen Schritten verließ sie das Zimmer und öffnete die Haustür. Allen und der Polizeibeamte folgten ihr nach draußen. Schon als sie den Deckel der Recyclingkiste öffnen wollte, merkte sie, dass etwas anders war. Der Deckel schloss wieder richtig, saß nicht mehr schief wie am Morgen.

Allen und der Polizeibeamte spähten ihr über die Schulter, als sie den Deckel abnahm.

Die Kiste war leer, ein grüner Hohlraum mit schwarzen Schmutzflecken und kleinen Pappestreifchen. Debs deutete hinein.

»Da waren die Steine drin – und sie kamen von dort.« Sie deutete auf den Garten der Nachbarin. Aber statt der schwarzen Erde wie vorhin sah sie, ordentlich aufgereiht, die Riesenkiesel wieder im Boden stecken.

Noch bevor sie nachsah, wusste sie, dass die mit Kreide geschriebene Drohung ebenfalls verschwunden, das dunkelgrüne Pulver sauber weggewischt war.

»Die lagen da drinnen«, sagte sie. »Glaube ich.«