Kapitel 4 Debs
Debs musterte die beiden Frauen durch den Spalt in den Gardinen, die noch von den Vorbesitzern stammen; später würde sie ihre eigenen Rollos anbringen. Die Frauen waren jünger als sie, vielleicht Anfang dreißig, und strahlten dieses Selbstbewusstsein aus, das viele Frauen in dieser Gegend zu besitzen schienen. Es ließ sich in ihren lässigen, selbstsicheren Bewegungen erkennen. In der Lautstärke, mit der sie ihre Kinder unbefangen bei ihren ausgefallenen Namen riefen, von einer Straßenseite zur anderen oder quer durch den ganzen Laden. Was machten diese Frauen oder ihre Männer beruflich, dass sie sich hier so jung schon ein eigenes Haus leisten konnten? Debs hatte erst jetzt, mit achtundvierzig Jahren, ihr allererstes Haus gekauft.
Die Amerikanerin war ihr bereits begegnet; sie ging gerade ins Nachbarhaus, die Nr. 13, als Debs gestern mit dem Umzugswagen ankam. Debs war so erschöpft gewesen, dass sie nicht richtig hingehört hatte, als die Frau sich vorstellte. Hieß sie Sue? Susan?
Um besser zu sehen, was draußen los war, schob Debs das Gesicht noch dichter an den Vorhang und drückte, ohne es zu merken, mit der Nase ein kleines Zelt hinein. Die Amerikanerin stand an ihrem Gartentor und winkte der anderen Frau nach, die mit einem Kind die Straße überquerte und in die Nr. 14 verschwand. Debs zählte die Kinder, die im Vorgarten nebenan spielten. Eins … zwei … drei … Drei Jungen? Gleich drei? Du liebe Güte. Sie hatte schon gestern Abend den Wutausbruch eines der Jungen mit anhören müssen. Schrill wie ein Papagei hatte er gekreischt, immer wieder, bis Debs dachte, sie würde Migräne bekommen.
»Debs, fang nicht damit an«, seufzte eine Stimme hinter ihr.
Sie fuhr herum und sah Allen mit einem Schraubenzieher dastehen.
Da sprang sie vom Fenster zurück und rief: »Ich habe doch gar nicht …«, aber Allen drehte sich um und ging hinaus, bevor sie den Satz beenden konnte.
Wie ärgerlich. Jetzt würde er sie wieder beobachten.
Oje. Kein guter Start.
Sie hob den Kopf, blickte in den Spiegel über dem Marmorkamin und lächelte entschlossen, bis ihre Augen hinter der Brille mitlächelten. Dann ging sie aus dem Wohnzimmer in die imposante Diele dieses viktorianischen Altbaus. In dieser Diele fühlte sie sich immer noch unwohl. Verglichen mit den winzigen, funktionalen Schachtelzimmern ihrer Wohnung in Hackney, für die der Architekt wohl einen Menschen auf den Boden gelegt und dann um Kopf und Füße Linien für die Mauern gezeichnet hatte, war diese Diele eine weiträumige Höhle. Eine Höhle, in der Debs sich verloren fühlte. Die zu dem abbröckelnden Deckensims hinaufreichte, wo Spinnen lauerten, und sich mit der Treppe in schwindelnde Höhen hob, in den dunklen ersten Stock. Nein, das gefiel ihr nicht. Aber das würde sie Allen nicht erzählen. Rasch ging sie durch den Gang nach hinten zum Esszimmer, das auf der Rückseite des Hauses lag.
»Wir haben eine eigene Treppe!«, rief sie, um Leichtigkeit in der Stimme bemüht. Allen lächelte gezwungen, schob die abgerutschte Brille wieder hoch und baute weiter am Regal.
Was sagte sie da? Was kümmerten ihn Treppen? Er war in King’s Cross im düsteren Reihenhäuschen seiner Mutter – übrigens alles umgebaute Stallungen – weiß Gott genug Treppen rauf und runter gestiegen, um ihr unzählige Tassen Tee zu bringen.
»Kannst du das kurz senkrecht halten, Debs?«, bat Allen.
»Natürlich, Allen.« Sie hielt die Holzfaserplatte fest, während er die Schraube mit Gegendruck anzog.
Debs’ Gedanken liefen weiter, während sie auf Allens breite, sommersprossige Hände blickte, die den Schraubenzieher drehten – vor Konzentration traten ihm die Augen hervor. Nein, vielleicht war sie vorschnell gewesen, als sie über die eigene Treppe im neuen Haus so jubelte.
Aber war das nicht verständlich? Es war nicht ihre Schuld, aber diese ganzen Monate hatten sie zermürbt. Die Monate, in denen die Frau über ihr nachts um halb eins nach Hause gekommen war. Mit ihren Pumps über den Kunststoffboden am Eingang des Mietshauses gestöckelt war. Immer dieselben acht Schritte. Dann fünfzehn Schritte die Treppe hoch, acht Schritte an Debs’ Tür vorbei und weitere fünfzehn Stufen hinauf bis zu ihrer Wohnungstür.
»Mach schon«, sagte Debs dann immer. Sie lag im Bett, Ohrstöpsel in den Ohren, über die sie zusätzlich ihr Kissen presste. Heute Abend würde die Frau doch bestimmt den richtigen Schlüssel finden? Immer probierte sie es zuerst mit dem falschen und zögerte damit das unausweichliche »Wumm« hinaus, mit dem sie die Wohnungstür schloss. Genau über Debs trampelte sie über den Boden, dann ging der Fernseher an und fiel mit seinem dumpfen Gerumpel die nächsten zwei Stunden wie eine feindliche Macht in Debs’ abgedunkeltes Schlafzimmer ein, während Debs auf dem Rücken lag, ihre Kiefer vom Zähneknirschen schmerzten und ihre Augenhöhlen schwer und wund wurden vom stundenlangen zornigen Starren gegen die Zimmerdecke.
Allen nahm Debs das Brett aus der Hand; sie zuckte zusammen.
»Danke. Ich hab’s. Du willst uns nicht zufällig eine Tasse Tee aufbrühen, Schatz?«
»Gute Idee«, sagte sie munter.
Debs ging in die Küche, wo ein Karton mit ihren vertrauten braunen Bechern neben einem Karton Porzellantassen von Allens Mutter stand.
Ja, die Treppe, dachte sie, als sie Teebeutel in die Teekanne von Allens Mutter hängte. Sie hatte sich so sehr auf die Tatsache konzentriert, endlich eine eigene Treppe zu haben, dass sie etwas Entscheidendes übersehen hatte.
Seitenwände.
Reihenhäuser haben auch Seitenwände.
Und jetzt, wo Allen beschäftigt war, würde sie diese Seitenwände näher erkunden.
»Danke, Schatz«, sagte er, als sie eine Tasse Tee mit einem cremegefüllten Keks neben ihn stellte.
»Ich nehme mir mal den nächsten Karton vor«, sagte sie bewusst beiläufig. »Wenn du mich hier nicht brauchst?«
Sie hielt den Atem an. Allen trank seinen Tee und nickte, hatte bereits wieder die Montageanleitung im Blick.
Debs unterdrückte den Impuls zu rennen, kehrte in die Diele zurück und lud sich einen der Kartons auf, die Allen so sorgfältig mit Farben gekennzeichnet hatte: Orange für Küchensachen, rot für Bücher, orange und rot für Kochbücher. Mit einem gelb markierten Karton (Kleidung) stieg sie die Treppe zu dem großen Schlafzimmer hinauf, das über der Diele und dem Wohnzimmer lag und die ganze Vorderseite des Hauses einnahm. Sie setzte den Karton behutsam auf dem Boden ab, schloss leise die Tür, ging zu den Fenstern hinüber und zog die Vorhänge zu, dass der Raum in einem samtig rosa Schimmer versank.
Dann kehrte Debs zur Tür zurück und kniete sich auf den Boden. Sie drückte das Ohr fest an die Mauer, die sie mit der Amerikanerin teilte. Die Blumentapete roch nach Staub. Debs schob das Gesicht an der Wand entlang, bis ihr Wangenknochen auf einer Glyzinienranke ruhte.
»Aaaah«, hätte sie am liebsten ausgestoßen. »Aaaah.« Vor Erleichterung.
Erst hörte sie gar nichts. Ein winziges Knistern nur.
Hausstaubmilben, sagte sie sich und presste das Ohr noch stärker an die Tapete. Oder Ameisen.
Ein Moment verging. Was war denn das? Wenn sie die Luft anhielt und sich nicht rührte, konnte sie ein schwaches Tick-Tick-Tick ausmachen. Wasserrohre vielleicht? Nun, das wäre ja zu verkraften. Die würde sie aus ein paar Zentimetern Abstand wahrscheinlich nicht mehr hören, vom Bett aus ganz sicher nicht.
So weit, so gut. Sie rutschte noch dichter an die Wand heran und wartete. Eine Minute verstrich, dann die nächste.
Und die übernächste. Es war nichts mehr zu hören.
Sie löste den Kopf ein wenig von der Wand und begann, während sie auf weitere Geräusche wartete, die Kleidung aus dem Karton zu sortieren, legte Allens Krawatten auf einen Haufen, seine braunen und seine grauen Socken auf zwei getrennte Haufen.
Konnte sie ein solches Glück haben? Dass es gar keine …
»WART KURZ, JEZ, ICH BIN GLEICH FERTIG!«
Was da gedämpft zu Debs durchdrang, erschreckte sie so sehr, dass sie den Kopf mit einem Ruck von der Wand wegriss; dabei fuhr ihr ein Stich in den Hals.
Was war denn das? Und wo zum Kuckuck war es hergekommen?
Sie blieb auf den Boden gekauert und blickte sich nervös um, als stünde die Besitzerin der Stimme bei ihr im Zimmer.
Debs wartete eine Sekunde, dann drückte sie das Ohr vorsichtig wieder an die Wand. Jetzt hörte sie ein neues Geräusch. Laufendes Wasser. Ein tropfender Wasserhahn? Nein. Heller, wie …
Das durfte nicht wahr sein.
Das Rauschen einer Toilettenspülung direkt neben ihrem Kopf warf sie fast auf die Knie zurück. Es folgte ein lautes Gurgeln und Sprudeln in den Rohren.
Eine Toilette. Das Schlafzimmer nebenan musste ein eigenes Bad haben. Mit einer dicken, fetten, rauschenden Toilette, die sie die ganze Nacht hören würde?
Debs’ Herz hämmerte in der Brust wie ein Messingtürklopfer. Sie spürte einen Druck im Schädel, als presste jemand ihren Kopf nach unten.
Plötzlich stieß die Schlafzimmertür gegen ihr Bein.
Allen.
Debs schrak hoch, tauchte die Arme in den Kleiderkarton und zerrte die Sachen so ungestüm heraus, dass eine von Allens Cricketkrawatten durchs Zimmer flog.
Allen streckte den Kopf zur Tür herein. »Alles in Ordnung, Schatz?«, fragte er. Sein Blick fiel erst auf die Krawatte, die von der Kommode baumelte, dann auf die geschlossenen Vorhänge. Er ging hinüber und zog sie auf.
Debs lächelte angestrengt und rieb sich den Nacken. »Ich packe ein bisschen aus.«
Er zog die Nase kraus. »Warte lieber, bis wir alles aus der Diele weggeschafft haben«, sagte er.
»Hm, vielleicht hast du recht.« Sie nickte und machte Anstalten, sich zu erheben.
Allen streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen. Dann sah er sich in dem großen Schlafzimmer um. Die Sonne schien durch die Fenster und malte einen breiten, buttergelben Streifen auf die Wände. Das Bett war frisch bezogen, die sahneweiße Daunendecke hatten sie neu gekauft, dazu passende Holzlampen für die beiden Nachttischchen.
»Ja … Hier werden wir glücklich sein«, sagte Allen mit einem Kopfnicken.
Das klang nach Befehl, dachte sie. Was sie ihm nach den letzten sechs Monaten auch nicht verübeln konnte.
Debs hörte nebenan die Haustür zuschlagen, dann das Gartentor. Würden sie jedes Mal, wenn sie das Haus verließen, solchen Lärm machen?
»O ja, Schatz!« Lächelnd wandte sie sich Allen zu. »Das werden wir.«