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Während Juan im Fjord versank, öffnete er
die Augen und sah, dass er sich weit genug von der Meeresoberfläche
entfernt hatte, sodass er nun ringsum von Dunkelheit eingeschlossen
war. Da seine Gliedmaßen von der Kälte vollkommen taub waren,
konnte er nicht eindeutig entscheiden, ob er sie aus eigener Kraft
bewegte oder ob sie nur passiv mit den Strömungen trieben. Er war
zu müde, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sein Geist musste
ebenfalls durch die Kälte in einen Taubheitszustand versetzt worden
sein. Wie in einem Floating-Tank, der die Außenreize reduzierte,
fühlte er sich seltsam entspannt.
Dennoch war er entschlossen, dem Drang
einzuatmen so lange wie möglich zu widerstehen. Er spürte, wie sein
Herzschlag sich verlangsamte, und wurde sich bewusst, dass er
vielleicht einen neuen persönlichen Rekord aufstellen könnte, bevor
er einen Atemzug machen musste. Wenn er es tat, dann wäre es sein
letzter. Dann trete ich wenigstens mit einem persönlichen
Paukenschlag ab, dachte er.
Dann veränderte sich etwas. Zuerst war sein
Geist derart benebelt, dass er nicht entscheiden konnte, was es
war. Schließlich blinzelte er und verstand.
Seine Umgebung hellte sich auf. Er stieg zur
Wasseroberfläche empor.
Er konnte nicht schwimmen. Er hatte weder
die Kraft noch den Willen, die Arme oder Beine zu benutzen. Er
schaute nach unten, um nachzusehen, ob er sie unwillkürlich
bewegte, und bemerkte etwas Metallisches an seinen Armen. Fesseln?
Handschellen? Er konnte sich keinen Reim darauf machen, bis er
näher zum Licht kam.
Die glänzenden metallenen Objekte hielten
ihn fest und trugen ihn nach oben. Sie waren mit Gelenken versehen.
Wie Hände, aber doch anders.
Nicht Hände. Greifer. Robotgreifer.
Die Oberfläche war nicht mehr weit, aber
Juan konnte dem Drang zu atmen nicht länger widerstehen. Er
verkrampfte sich, als er Wasser in seine Lungen sog.
Im selben Moment, als sein Kopf aus dem
Wasser auftauchte, wurde es um ihn herum schwarz.
* * *
Als Juan zu sich kam, befand er sich nicht
mehr im Wasser. Er lag auf Wärmepackungen und unter einer
Kälteschutzdecke. Zwar schmerzten seine Brust und seine Kehle, aber
er atmete frische Luft.
Julia Huxley beugte sich über ihn, einen
besorgten Ausdruck im Gesicht.
»Willkommen im Kreis der Lebenden«, sagte
sie. »Eine Weile sah es ziemlich kritisch aus.«
Juan hustete und setzte sich mit Julias
Hilfe auf. Er blickte ins Cockpit eines Mini-U-Boots und begriff,
dass er sich im Nomad befand.
»Wie lange war ich weggetreten?« Er klang,
als wären seine Stimmbänder mit einem Reibeisen bearbeitet
worden.
»Etwa eine Stunde. Du hast eine Menge Wasser
hervorgewürgt, nachdem ich massive Wiederbelebungsmaßnahmen
vorgenommen hatte, und dann – sobald du wieder unter den
Lebenden warst – bist sofort wieder ohnmächtig geworden. Ich
dachte schon, ich würde dich verlieren.«
»Zumindest habe ich einen Rekord
aufgestellt«, sagte er.
»Wie bitte?«
Juan schüttelte den Kopf. »Nicht wichtig.
Wie bin ich hierhergekommen?«
»Bedank dich bei diesen beiden.« Sie deutete
nach rechts, und er wandte den Kopf und sah Max, der an der
Innenwand des U-Boots lehnte. Kevin Nixon saß neben ihm, in ein
Handtuch eingewickelt. Sein Haar war feucht.
»Ich weiß, du wolltest, dass wir
wegbleiben«, sagte Max, »aber manchmal habe ich zu wenig Lust,
Befehle auszuführen. Also bin ich dir gefolgt. Ich dachte mir, du
könntest vielleicht Hilfe brauchen. Als ich dich untergehen sah,
bin ich angerauscht gekommen und habe dich in meine Robotarme
genommen. Aber es war Kevin, der die eigentliche anstrengende
Arbeit übernommen hat.«
Kevin zuckte die Achseln. »Sobald Max Sie
mit dem Robotarm im Griff hatte, habe ich gesehen, dass Sie nicht
bei Bewusstsein waren. Ich habe nichts anderes gemacht, als ins
Wasser zu springen und Sie herüberzuziehen, damit wir Sie an Bord
hieven konnten. Als ich in das kalte Wasser eintauchte, ist mir
glatt die Luft weggeblieben. Und ich war nur ein paar Sekunden lang
drin und trug eine Schwimmweste. Ich frage mich, wie Sie es so
lange mit diesem kaputten Arm und ohne Schwimmhilfe durchhalten
konnten.«
Juan hatte seinen Arm vollständig vergessen.
Er wandte den Kopf und sah, dass er säuberlich verbunden worden
war.
»Ich vermute, ich habe ein paar Stiche
gebraucht«, sagte er. Nun, da er sich aufgewärmt hatte, kehrte auch
das Gefühl wieder in seinen Körper zurück, und die Eintritts- und
die Austrittswunde in seinem Bizeps pulsierten schmerzhaft.
»Das war in diesem Fall gar nicht nötig«,
sagte Julia. »Die Kugel ging am Knochen vorbei. Wir brauchen die
Wunde nur regelmäßig zu säubern und zu verbinden. Sie zuzunähen
würde sie nur vor Infektionen durch unbekannte Erreger schützen. In
zwei Monaten bist du wieder so gut wie neu.«
Julia reichte Juan einen Becher
Mineralwasser. Er fühlte sich von der Menge Salzwasser, die er
geschluckt hatte, wie ausgetrocknet, und trank es in tiefen
Schlucken.
»Und wie geht es der Mannschaft?«, wollte er
von Max wissen.
»Alle sind wohlauf. Wir haben sogar Gomez
gefunden.«
Juan fürchtete sich davor, die nächste Frage
zu stellen. »Lebend?«
»O ja«, sagte Max. »Entschuldige, dass ich
das nicht gleich gesagt habe. Er hatte eine Leuchtkugel
abgeschossen, und die Deepwater
fand ihn mithilfe einer Kurzstreckendrohne. Anscheinend hatte er
auf dem Gletscher eine bilderbuchmäßige Bruchlandung hingelegt.
Eddie und Linc konnten, als die Nebeldecke für einen Moment
aufriss, vom Gipfelgrat herunterfliegen und sind nun mit dem Gator
und dem Hoverbike unterwegs, um ihn zu holen.«
»Gibt es Überlebende von der Portland ?«
Max schüttelte den Kopf. »Es scheint, als ob
Li Quon der Einzige ist, der lebend herauskam. Linda hat ihn auf
der Deepwater hinter Schloss und
Riegel. Offenbar sind die Polizeibehörden in Singapur ganz scharf
darauf, ihn in die Finger zu kriegen.«
»Und was ist mit den Preziosen? Konnte
Maurice sie herausholen?«
»Das habe ich in der Tat geschafft,
Captain«, antwortete eine beruhigende Stimme hinter Juan.
Juan drehte sich um, um einen Blick in die
Kabine des Nomads zu werfen, und sah Maurice und Overholt neben
einem großen Stapel Kisten und zusammengerollten Gemälden
sitzen.
»Schön, Sie heil wiederzusehen, Juan«, sagte
Overholt.
»Ich freue mich auch, wieder hier zu sein.
Danke für Ihre Hilfe, Maurice. Ich wusste, dass ich mich auf Sie
verlassen kann.«
»Auch wenn ich über die Umstände dieses
Auftrags nicht gerade glücklich sein konnte«, sagte Maurice, »war
es genau das Richtige, was unbedingt getan werden musste. Wir
konnten nicht zulassen, dass die Oregon unterging, ohne vorher unsere
wichtigsten Besitztümer zu retten. Mr. Overholt und ich haben
alle wichtigen Dinge der Corporation aus Ihrem Safe sowie die
meisten Erinnerungsstücke aus den Kabinen der Mannschaft bergen
können. Außerdem haben wir die Kunstwerke an Bord
eingesammelt.«
Maurice wusste mehr über das Schiff und die
Menschen, die darauf gelebt hatten, als jeder andere, daher war er
die ideale Person gewesen, um diesen Job auszuführen.
»Gute Arbeit«, sagte Juan. »Ich bin sicher,
dass die Mannschaft es zu würdigen weiß.«
»Apropos Mannschaft, dort ist sie«, sagte
Max und deutete aus dem Cockpitfenster. Die beiden Rettungsboote
der Oregon schaukelten in zwanzig
Metern Entfernung im Wasser. »Captain Jefferson glaubt, dass die
Maschinen der Deepwater bis
morgen früh repariert werden können. Sobald sie wieder intakt sind,
kommt sie vorbei, um uns abzuholen und alle Boote nach Puntas
Arenas zu schleppen.«
Juan nickte und empfand insgeheim große
Bewunderung für die Umsicht und die Zuverlässigkeit seiner
Mannschaft. Obwohl die Oregon
versenkt worden war, hatten sie gerettet, was wirklich wichtig war.
Einander.
* * *
»Es tut mir ehrlich leid, dass Sie Ihr
Zuhause verloren haben«, sagte Langston Overholt.
Beinahe hätte Juan erwidert: »Es gab nie ein
zweites Schiff wie dieses«, doch dann dachte er an seine Kopie und
verschluckte die Bemerkung.
»Die Oregon war ein gutes Schiff«, stellte er
stattdessen mit einem bittersüßen Lächeln und einem tiefen Loch in
der Magengrube fest. »Ich werde das alte Mädchen ganz sicher
entsetzlich vermissen.«