29
SÜDÖSTLICH VON MONTEVIDEO
Linda Ross gab sich alle Mühe, ihren Teil
dazu beizutragen, den Gator für die bevorstehende Tauchfahrt
einsatzbereit zu machen, aber sie konnte noch immer nicht viel mehr
hören als ein gedämpftes Murmeln. Doc Huxley meinte, es könne noch
ein paar Tage dauern, bis sie ihre Hörfähigkeit wenigstens zu einem
kleinen Teil zurückerlangte. Aber Linda machte sich große Sorgen,
dass sie nie mehr würde richtig hören können. In der Zwischenzeit
wollte sie demonstrieren, dass sie sich nützlich machen konnte,
ganz gleich, in welcher Verfassung sie war. Während der letzten
Tage nichts anderes zu tun, als Büroarbeiten zu erledigen, wie es
ihr als Vizepräsidentin der Corporation oblag, hatte sie zu Tode
gelangweilt.
Sie hatte Mark Murphy gebeten, eine
spezielle Sprache-zu-Schrift-App zu entwickeln, die sich in
Kombination mit ihrem alten Google Glass Headset anwenden ließ. Sie
kam sich zwar wie ein eingefleischter Computerfreak vor, wenn sie
die Brille trug, konnte aber endlich wieder verstehen, was man zu
ihr sagte, indem sie die Worte las, die auf das Brillenglas
projiziert wurden. Es war sicher keine perfekte Lösung.
Hintergrundgeräusche waren ein Problem, und wenn mehrere Stimmen
gleichzeitig erklangen, ergaben die Texte auf dem Datenbrillenglas
keinen Sinn. Noch schlimmer war es, wenn sie Textnachrichten für
ihr Smartphone diktierte, aber für ihre Zwecke reichte es aus.
Immerhin konnte sie auf diese Weise die Checkliste des Gators
durchgehen, ehe er zu seiner Suche nach dem Atom-U-Boot
startete.
Von ihrem Platz hatte Linda eine
ungehinderte Sicht auf die Techniker, die im Moon Pool der
Oregon die Einsatzbereitschaft
der Ausrüstung überprüften, und auch auf MacD, der einen letzten
Check der Tauchgeräte durchführte. Raven saß hinter Linda in der
Hauptkabine des Tauchboots und las die einzelnen Punkte von einer
Liste auf einem Tablet vor.
Öldreck?
erschien die Schrift auf ihrer Brille.
»Öldruck im Sollbereich«, erwiderte Linda.
Sie wünschte sich, das U-Boot steuern zu können, aber Mark Murphy
würde aus dem Operationszentrum herunterkommen, um für diese
Tauchfahrt ihre Position einzunehmen.
Butterströmung?
»Batteriestrom einhundert Prozent und nicht
sehr stark.«
Was?
Linda wandte sich um, gewahrte Ravens
verwirrten Gesichtsausdruck und lächelte. »Ich glaube, die
Spracherkennungssoftware dieser Brille ist nicht die beste.«
Was soll ich gesagt haben?
»Butterströmung.«
Raven blickte nach unten auf ihr Tablet und
schüttelte den Kopf.
Nein, das stimmt schon.
Linda lachte und konzentrierte sich wieder
auf ihre Instrumente.
Eine Pause entstand. Als sie länger dauerte,
sagte Linda: »Bereit für den nächsten Wert.«
Sie sind hier. Sie summen.
»Das habe ich nicht verstanden«, sagte
Linda. »Bitte wiederholen.«
Während sie auf die Korrektur wartete,
schaute sie aus dem Fenster und sah zu ihrer Verwunderung, dass
sich niemand mehr rührte. Sie dachte, dass sie vielleicht gerade
einer schiffsweit gesendeten Nachricht aus dem Interkom lauschten,
die ihr eigenes Headset nicht empfing, bis sie beobachtete, wie
MacD sich abrupt bückte, eine der Sauerstoffflaschen ergriff und
hoch über den Kopf hob.
»Was tut er da? Was hat er vor?«, fragte sie
laut.
Das nackte Entsetzen flackerte in MacDs
Augen, während er in das Wasser des Moon Pools starrte. Sein Mund
öffnete sich zu einem Schrei, den Linda nicht hören konnte, und er
wich zurück, während er die Aluminiumflasche in den Moon Pool
schleuderte, als wollte er etwas abwehren, das aus der Tiefe
emporstieg, was eigentlich unmöglich war, weil sie die Kieltore
noch gar nicht geöffnet hatten.
Die anderen Techniker in der höhlenartigen
Halle des Moon Pools drehten anscheinend genauso durch, rannten hin
und her, attackierten einander oder verletzten sich selbst.
Schließlich begriff Linda, was sich vor
ihren Augen abspielte. Es geschah schon wieder. Das Gleiche, das
die Mannschaft der Gator in Rio befallen hatte.
Diesmal war Linda anscheinend immun dagegen.
Vielleicht bewahrte die Tatsache, sich im U-Boot aufzuhalten, sie
davor, von was auch immer infiziert zu werden.
Sie wandte sich um und musste feststellen,
dass genau dies nicht der Fall war.
Raven hatte ihr Tablet fallen gelassen und
hebelte den Behälter am hinteren Ende der Kabine auf, in dem sich
das Rettungsfloß des U-Boots befand. Dabei plapperte sie
unkontrolliert vor sich hin.
Wir wissen Bescheid. Sie schicken uns auf
den Grund des Meeres.
Linda stieß einen Schrei aus, sprang von
ihrem Sessel auf, um sie aufzuhalten, aber kaum hatte sie die
Leiter des Kommandoturms erreicht, als Raven an der Reißleine der
sich selbst aufblasenden Rettungsinsel zog.
Der unter Druck stehende CO 2 -Kanister
begann das Floß zu füllen, und es würde nicht mehr lange dauern,
bis sich keiner von ihnen in dem U-Boot mehr rühren könnte. Linda
turnte die Leitersprossen hinauf, bis ihr Kopf aus der Lukenöffnung
ragte, während das sich aufblähende Floß ihre Füße nach oben
drückte.
Sie stürzte auf das Deck des Gators und sah,
dass rund um den Moon Pool das völlige Chaos herrschte. MacD hatte
keine Taucherausrüstung mehr übrig und schleuderte nun alles, was
nicht niet- und nagelfest war und in seine Reichweite geriet, in
den Tümpel in der Mitte der Halle. Linda erinnerte sich, wie stur
und wahnsinnig sie sich in dem gleichen Zustand verhalten hatte. Zu
versuchen, einen von ihnen zur Vernunft zu bringen, wäre vergebens.
Wenn sich die restliche Mannschaft in der gleichen Verfassung
befand, wäre es nur noch eine Frage von Minuten, bis die Leute
anfingen, sich gegenseitig tödlich zu verletzen und das Schiff in
Gefahr zu bringen.
Das Operationszentrum war der einzige Ort,
wo sie hoffen konnte, die Situation unter Kontrolle zu bekommen.
Während sie den Moon Pool im Laufschritt verließ, wurde ihr klar,
dass sie möglicherweise die einzige Person auf der Oregon war, die von dem, was diesen Zustand
auslöste, nicht beeinflusst wurde.
Aber sie war doch schon vorher einmal davon
in Mitleidenschaft gezogen worden. Warum nicht auch jetzt?
Julia Huxley stürmte hysterisch schreiend an
ihr vorbei, was Linda noch mehr mit Grauen erfüllte, weil es so
ganz und gar nicht der sonst eher ruhigen und abgeklärten Ärztin
entsprach. Was sie in diesem Moment schrie, wurde von der Brille
mit Wir werden gleich fliegen
übersetzt. Und plötzlich ging Linda ein Licht auf.
Sie war taub. Irgendeine Klangwelle musste
der Auslöser für diese allgemeine Panik sein.
Linda wollte die Mannschaft davor bewahren,
sich selbst zu vernichten, und versuchen, die Oregon gleichzeitig von der Klangquelle
wegzulenken.
Als sie eine der Feuerlöschstationen des
Schiffes passierte, hatte sie eine Idee und holte eine Maske mit
Rauchfilter aus dem Geräteschrank. Sie setzte sie auf, während sie
weiterrannte.
Im Operationszentrum angekommen, traf sie
dort nur zwei Personen auf ihrem Posten an. Murph kauerte hinter
der Steuerkonsole der Waffensysteme, hämmerte mit den Fingern wie
wild auf die Tastatur ein und führte hektische Selbstgespräche. Max
saß auf dem Kommandosessel, deutete auf den Hauptbildschirm und
stieß schrille Schreie aus, als liefe vor seinen Augen der
grässlichste aller je aufgenommenen Horrorfilme ab. Nichts war auf
dem Bildschirm zu sehen als das Meer und der Horizont.
Auf ihrer Brille erschien das, was die
Männer von sich gaben, in Schriftform, ohne einen Sinn zu
ergeben.
Ich sehe sie!
Sie kriegen uns nicht.
Sie verschlingen uns!
Nichts ist mehr übrig, was ihren Hunger
stillt!
Linda kümmerte sich nicht um sie, sondern
steuerte auf die nächste Konsole zu und aktivierte die Kontrollen
des Systems zur Abwehr von Eindringlingen.
Ehe sie fand, was sie suchte, spürte sie
durch ihren Sessel eine heftige Erschütterung gehen. Sie schaute
hoch und erblickte auf dem Bildschirm einen Feuerblitz, der eine
Rauchspur hinter sich herzog.
Sie erkannte sofort, was geschehen war. Der
Ruck, den sie wahrgenommen hatte, markierte den Start eines
Marschflugkörpers. Murph hatte eine Exocet-Antischiffsrakete
abgefeuert.
Das Geschoss schwenkte sofort auf einen
südlichen Kurs ein. Ein Blick auf den Radarschirm verriet Linda,
dass die Rakete auf ein Boot zuraste.
* * *
Farouk und Li sprangen auf, als sie sahen,
wie die Exocet in acht Meilen Entfernung zum Himmel aufstieg.
»Du sagtest doch, sie würden sich selbst
umbringen!«, schrie Li Farouk an. »Nicht uns!«
Farouk schüttelte ungläubig den Kopf. »Das
verstehe ich nicht.« Er hätte sich niemals vorstellen können, dass
jemand immer noch die Fähigkeit besäße, ein derart kompliziertes
Abwehrwaffensystem zu aktivieren. »Woher wissen sie, dass wir ein
Ziel sind?«
»Was tun wir jetzt?«, rief Li.
Angesichts der Tatsache, dass die Rakete mit
siebenhundert Meilen pro Stunde auf ihr gemietetes Fischerboot
zuhielt, blieb ihnen keine Zeit, um das Boot zu starten oder die
Flucht zu ergreifen.
»Schwimmen!«, brüllte Farouk.
Beide hechteten über die niedrige Reling und
schwammen um ihr Leben.
Sie hatten sich etwa zehn Meter von ihrem
Boot entfernt, als die Rakete sie erreichte.
Und ihren Weg fortsetzte.
Farouk und Li verfolgten staunend, wie sie
an ihnen vorbeidonnerte.
»Sie hat das Ziel verfehlt!« Li stieß einen
Freudenschrei aus. »Aber wie? Und warum?«
Während er das Geschehen wassertretend
verfolgte, dachte Farouk, dass sie ganz einfach nur Glück gehabt
hatten. Vielleicht war die Person, die die Rakete abgefeuert hatte,
doch so gestört, wie er erwartet hatte.
Er wollte gerade eine entsprechende
Bemerkung machen, als er sah, wie die Exocet ihren Kurs änderte.
Jetzt beschrieb sie einen weiten Bogen, bis sie eine Kehre um
einhundertachtzig Grad vollzogen hatte.
»Sieht so aus, als hätte ich bald
fünfhundert Dollar Schulden bei dir«, stellte Farouk fest.
Li musterte ihn verwirrt. Dann dämmerte es
ihm. »Unsere Wette?«
Farouk nickte und folgte dem Rauchschweif,
der zu dem getarnten Frachter zurückführte. »Die Rakete hat uns
nicht verfehlt. Ihr Ziel ist die Oregon .«