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Juan schlug die Augen auf und wischte
Schlammspuren aus seinem Gesicht, während er gleichzeitig hustete
und nach Luft rang. Sein Oberkörper vibrierte noch von der
Explosion, die ihn in einen Tümpel gefegt hatte. Er und die anderen
waren einhundert Meter von der Bremen entfernt in Deckung gegangen, doch
dieser Abstand zwischen ihnen und dem qualmenden Trümmerhaufen des
U-Boots hatte kaum ausgereicht. Wie knapp Juan dem Tod entronnen
war, wurde durch einen scharfkantigen Stahlsplitter deutlich, der
sich in Höhe seines Kopfes in den Baumstamm neben ihm gebohrt
hatte.
Er stemmte sich hoch, kam auf die Füße und
rief: »Sind alle okay?«
Er hatte das U-Boot als Letzter verlassen,
nachdem sie gehört hatten, wie der Hubschrauber über sie
hinwegflog. Danach hatte er den Fehler gemacht und geglaubt, sie
seien in Sicherheit, wenn sie sich hinter die Bäume in der nächsten
Umgebung der Bremen kauerten.
Erst als er die C-4-Blöcke vom Himmel fallen sah, befahl er seinem
Team, augenblicklich die Beine in die Hand zu nehmen.
Nacheinander antwortete jeder seiner Leute,
dass er bis auf einige Kratzer und Prellungen nichts abbekommen
habe, und Juan konnte befreit durchatmen.
»Wollen Sie nicht endlich von mir
runtergehen?«, brüllte Bradley, und Juan sah, wie Linc aufstand. Da
der Lieutnant sein Schutzbefohlener war, hatte Linc sich auf ihn
geworfen, um ihn vor herumfliegenden Trümmern abzuschirmen.
»Ich mache nur meinen Job«, sagte Linc und
zog Bradley vom Urwaldboden hoch.
»Ich würde lieber riskieren, von einer
Explosion erwischt zu werden.«
»Sie waren es doch, der unbedingt mitkommen
wollte. Mein Boss ist hier, und ich würde bei meiner nächsten
Leistungsbewertung nicht besonders gut abschneiden, wenn Sie
ausgerechnet während meiner Schicht ums Leben kämen.«
»Ich mag es gar nicht, Ihren funkelnden
sprachlichen Schlagabtausch zu unterbrechen«, sagte Juan, »aber
dieser Helikopter kommt zurück.«
Es musste Tate sein, der jetzt reinen Tisch
machen wollte.
»Wollen sie tatsächlich das U-Boot ein
zweites Mal sprengen?«, fragte Murph. »Es ist doch längst nur noch
ein Haufen Schlacke.«
»Haben Sie uns gesehen?«, fragte
Raven.
»Zwischen all diesen Bäumen mit ihren
dichten Kronen?«, sagte MacD. »Kann ich mir nicht vorstellen. Ich
konnte das U-Boot ja kaum erkennen, obwohl es direkt vor unserer
Nase lag.«
»Aber wie haben sie dann die Bremen gefunden?«, fragte Eddie. »Sie könnten
sie einige Hundert Mal überflogen haben, ohne sie zu sehen. Sogar
wir sind mehr oder weniger darüber gestolpert, und wir verfügten
immerhin über eine Karte als Hilfe.«
Juan musste Eddie recht geben. Offenbar
hatte Tate Sensoren in seiner Maschine, die in den Dschungel
blicken können. Mit Infrarotlicht käme er bei dieser Hitze nicht
sehr weit, daher tippte er auf ein LIDAR -System, wie sie es auch auf der
Oregon hatten.
»Vielleicht sind wir gesehen worden!«, rief
Juan. »Alle sofort zurück zu den Zodiacs! Schnell, schnell!«
Murph ging voraus und führte sie mithilfe
seines GPS -Trackers. Da sie keinen
Pfad benutzt hatten, gab es keine andere Möglichkeit, ihren Weg
zurückzuverfolgen.
Der Helikopter kam zum Stillstand und
schwebte genau über dem Punkt, an dem sie sich soeben noch befunden
hatten. Während sie in Laufschritt verfielen, blickte Juan über die
Schulter und sah einen weiteren Sprengstoffblock vom Himmel
fallen.
»Alle runter!«
Sie landeten im Morast, als im gleichen
Moment die C-4-Ladung explodierte. Erdbrocken und Pflanzenteile
regneten auf sie herab, aber sie waren von der Explosion zu weit
entfernt, als dass jemand hätte verletzt werden können.
»Weiter!«
Sie sprangen auf und brachen so schnell sie
konnten durch das dichte Unterholz. Juan bildete die Nachhut, und
Eddie rannte direkt vor ihm.
»Ich glaube nicht, dass sie uns in Realzeit
sehen können«, sagte Eddie über die Schulter. »Sie bepflastern uns
ständig dort, wo wir kurz vorher waren.«
»Das ging mir auch schon durch den Kopf«,
erwiderte Juan. »Ihre Software braucht einige Zeit, um die jeweils
neuen Daten zu verarbeiten. Deshalb müssen wir unbedingt in
Bewegung bleiben.«
Der Helikopter näherte sich wieder. Juan
überlegte, ob er das Team herumrennen lassen sollte, bis dem
Hubschrauber der Sprit ausging, aber allmählich setzte die
Dunkelheit ein. Falls der Hubschrauber Infrarotsensoren besaß,
wären sie wie Lockenten. Sie mussten unbedingt in die Sicherheit
der Oregon zurückkehren.
Diesmal flog der Helikopter ein Stück voraus
und warf ihnen einen weiteren Sprengstoffblock in den Weg – in
Erwartung der Tatsache, dass sie den nächsten Amazonasnebenarm
erreichen wollten. Also warfen sie sich alle wieder zu Boden, und
das C-4 fällte mehrere Bäume. Juan feuerte mit seiner
Maschinenpistole auf den Helikopter, und die anderen folgten seinem
Beispiel, aber das Blätterdach war nahezu undurchdringlich, daher
konnten sie nicht feststellen, ob eine ihrer Kugeln überhaupt ihr
Ziel getroffen hatte.
»Feuer einstellen!«, rief Juan. »Wie weit
sind wir noch entfernt, Murph?«
»Zweihundert Meter.«
»Dann los. Vom Fluss aus haben wir ein
besseres Schussfeld auf den Chopper.«
»Aber dort sind wir auch weniger geschützt«,
fügte Eddie warnend hinzu.
»Das Risiko ist es wert«, sagte Linc.
Sie entgingen auf dem Weg dorthin einer
weiteren Explosion. Während Juan sich die Erdbrocken vom Kopf
wischte, konnte er sich vorstellen, wie sehr Tate es genoss, sie
durch den Dschungel zu hetzen.
Als sie die Zodiacs erreichten, schoben sie
eilig die Boote ins Wasser und starteten die Motoren. Da Bradley
keine Waffe hatte, überließ Juan ihm den Platz des Piloten, während
er, Linc und Eddie mit schussbereiten Maschinenpistolen den Himmel
im Auge behielten. MacD und Raven machten das Gleiche in ihrem
Boot, das von Murph gelenkt wurde.
Der Fluss war nicht sehr breit, nur etwa
zwölf Meter von einem bis zum anderen Ufer. Die Oregon ankerte in einer Flussgabelung, zwei
Meilen entfernt. Wenn sie alles aus den Zodiacs herausholten,
brauchten sie weniger als vier Minuten, um sie zu erreichen.
»Bleiben Sie dicht am Ufer«, sagte Huan zu
Bradley. Dann rief er Max über den internen Sprechfunk. »Max, wir
werden hier draußen beschossen.«
»Gewehrfeuer im Dschungel?«
»Nein, von einem Hubschrauber. Tate wirft
Bomben auf uns ab. Noch haben wir keine Verluste, aber er kommt
stetig näher. Kannst du ihn irgendwie ins Visier nehmen?«
»Wir haben ihn nicht auf dem Radar.
Wahrscheinlich ist er zu niedrig über den Bäumen.«
»Wir lenken ihn zu euch.«
»Wir sind bereit«, antwortete Max.
Juan hörte, wie sich der Hubschrauber aus
der Richtung des U-Boots näherte. Der Helikopter, ein Agusta,
schwenkte von einer Seite zur anderen und verschwand wieder. Für
einen winzigen Moment sah Juan Tates arrogantes Gesicht aus der
offenen Seitentür auf sie herabgrinsen.
»Sie kommen jetzt heran, da sie wissen, wo
wir in diesem Moment sind!«, rief Juan. »Wechselt auf die andere
Flussseite!«
Beide Zodiacs schossen über das Wasser zum
gegenüberliegenden Flussufer. Im selben Moment tauchte der Agusta
zwischen den Bäumen auf. Tate schleuderte einen C-4-Ziegel dorthin,
wo sie noch vor Sekunden gewesen waren, und er explodierte, sobald
er die Wasseroberfläche berührte. Die Wasserfontäne überschüttete
die Boote zwar, richtete jedoch keinen weiteren Schaden an, weil
sie zu weit entfernt war.
Juan befahl, das Tempo zu drosseln, um Tates
Zeitberechnung abermals zu unterlaufen, und als der Hubschrauber
wieder erschien, feuerten Juan und die anderen mit ihren
Maschinenpistolen auf die Maschine, während sie den Fluss
überquerte. Die Maschinenpistolen waren für den Einsatz auf kurze
Entfernung und in einer beengten Umgebung konstruiert. Es war
unwahrscheinlich, dass sie jemanden trafen, aber so zwangen sie
Tate, sich für seinen nächsten Bombenabwurf etwas einfallen zu
lassen.
Mittlerweile erkannte Juan auch die Umgebung
und wusste genau, wo sie sich befanden. Wenn sie es schafften, die
nächste Flussbiegung hinter sich zu bringen, hätte die Oregon ein freies Schussfeld auf den
Helikopter.
»Max, wir versuchen, Tate ins Freie zu
locken. Bereitet euch darauf vor, jeden Moment zu feuern.«
»Aster ist startbereit«, meldete Max. Die
Flugabwehrrakete wurde per Radar gesteuert. Sobald der Agusta von
der Oregon wahrgenommen wurde,
würden die Radardaten zum elektronischen Visier der Rakete
übertragen werden.
Als der Helikopter das nächste Mal die
Zodiacs überflog, ließ Tate die Sprengladung dicht hinter Juans
Boot in den Fluss fallen. Die Explosion schleuderte das Boot zwar
in die Luft, jedoch landete es wieder aufrecht und kenterte nicht.
Juans Zähne schlugen beim Aufsetzen klappernd aufeinander, aber er
konnte sich ebenso im Zodiac halten wie auch Eddie und Bradley.
Linc hingegen wurde über Bord ins Wasser geworfen.
»Weiterfahren!«, befahl Juan dem anderen
Zodiac, während Bradley zu einer engen Kurve ansetzte. Linc schlang
einen Arm um den Seitenwulst des Zodiacs, und Juan und Eddie
hievten ihn ins Boot.
»Go! Go!«
Raven, MacD und Murph hatten jetzt etwa
zweihundert Meter Vorsprung und die Flussbiegung bereits hinter
sich und waren von der Oregon aus
zu sehen. Bradley steuerte mit Höchsttempo auf sie zu, und der
Hubschrauber verließ die Deckung der Bäume und verharrte hinter
ihnen über dem Wasser schwebend.
Tate starrte auf sie herab. Der Agusta
rührte sich nicht vom Fleck.
Das Zodiac erreichte die Biegung, und Juan
konnte die Oregon schon sehen,
deren Raketenbatterie startbereit war.
Der Helikopter blieb, wo er war.
Juan wies Bradley an, das Tempo zu drosseln,
dann wandte er sich wieder zu Tate um. Juan ruderte mit den Armen
und versuchte, seinen Feind zu animieren, ihnen weiter zu
folgen.
Tate legte den Kopf leicht auf die Seite und
grinste breit. Er drohte Juan spielerisch mit dem Finger und sprach
in ein Mikrofon. Der Agusta machte kehrt und folgte dem
Flussverlauf wieder landeinwärts.
»Er weiß, dass die Oregon auf der Lauer liegt«, sagte
Eddie.
Juan dachte an den wackelnden, drohenden
Finger. Er hätte wissen müssen, dass es nicht allzu einfach werden
würde, Tate auszuschalten.
»Keine Sorge«, sagte er, während er
verfolgte, wie der Agusta hinter dem grünen Meer der Baumwipfel
verschwand. »Wir bekommen sicher schon bald eine neue und
vielleicht bessere Chance.«