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VITÓRIA, BRASILIEN
Als Juan Cabrillo die Krankenstation der
Oregon betrat, traf er Julia
Huxley dabei an, wie sie sich auf einem Tablet einige Notizen
machte. Als leitende Schiffsärztin war sie während der beiden Tage
seit der eiligen Rückkehr aus dem Hafen von Rio de Janeiro
ungewöhnlich beschäftigt gewesen. Die Strapazen der langen
Arbeitsstunden waren ihr deutlich anzusehen.
Anstelle eines weißen Laborkittels war ihre
mittelgroße, wohlgeformte Gestalt in weit geschnittene grüne
Operationskleidung gehüllt. Sie ließ die Schultern hängen, während
sie sich an einen Instrumentenschrank lehnte, und unter ihren
Augen, die normalerweise wach und aufmerksam ihre Umgebung
betrachteten, waren dunkle Ringe zu erkennen. Das Haar trug sie wie
gewöhnlich zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft, der hin und her
pendelte, während sie ausgiebig gähnte.
»Du hast offenbar nicht allzu viel Schlaf
bekommen«, stellte Juan fest.
»Wenn überhaupt welchen«, sagte sie und
schüttelte den Kopf. »Hier ging es rund um die Uhr.«
»Ich bin gekommen, um dich darüber zu
informieren, dass López und Belasco zusammen mit Machados
sterblicher Hülle heil in einer CIA
-Chartermaschine in den USA
gelandet sind.«
Juan hatte sich entschieden, nach Vitória
zurückzukehren, weil die Stadt sowohl über einen Flugplatz als auch
über eine Reihe guter Krankenhäuser und fähiger Ärzte
verfügte.
»Wie hat López ausgesehen?«, fragte
Julia.
»Dank dir und deiner gesegneten Hände sehr
viel besser.«
»Glücklicherweise hatte das Messer keine
lebenswichtigen Organe verletzt. Es war eine ziemlich schulmäßige
und unkomplizierte Prozedur, ihn zusammenzuflicken, nachdem wir die
Blutung unter Kontrolle gebracht hatten. Er sollte schon in ein
paar Tagen wieder auf den Beinen sein.«
Ehe sie in die Corporation eintrat, war
Julia als Chirurgin und leitende Militärärztin auf der Navy-Basis
in San Diego tätig gewesen. Mit dem Operationssaal und der modernen
Diagnosetechnik an Bord der Oregon konnten sie und ihr Team sämtliche
Wundbehandlungen durchführen, auf die sonst nur wenige
großstädtische Traumazentren spezialisiert waren.
»Wie sieht die Prognose für Jessica Belasco
aus?«, fragte Juan.
»Sie hat eine schwere Gehirnerschütterung
erlitten, als sie mit dem Kopf auf dem Betondach der Festung
aufschlug. Ohne Helm hätte sie wahrscheinlich einen Gehirnschaden
davongetragen oder sogar ihr Leben verloren. Soweit es sich
momentan überblicken lässt, wird sie Wochen, wenn nicht gar Monate
brauchen, um sich vollständig zu erholen.«
Juan verschränkte die Arme vor der Brust und
verzog schmerzhaft das Gesicht, während er sich neben Julia an den
Instrumentenschrank lehnte.
»Ich dachte, wir hätten einen guten Plan
gehabt, um sie sicher herauszuholen«, seufzte er.
»Mach dir keine Vorwürfe«, sagte Julia.
»Dies ist ein gefährliches Gewerbe. Das wussten wir alle, als wir
unsere Unterschrift leisteten.«
»Aber diesmal war es nicht nur Pech. Wir
haben es vermasselt. Konntest du in Erfahrung bringen, was mit
Linda, Gomez und Murph im Gator geschehen ist?«
Sie zuckte ratlos die Achseln. »Ich habe sie
alle eingehend untersucht und fand nichts Ungewöhnliches. Die
Überprüfung auf irgendwelche giftigen Substanzen ergab auch nichts.
Bis auf Lindas Verletzungen weist keiner irgendwelche sichtbaren
Spuren auf.«
»Was könnte bewirkt haben, dass sie
vollkommen den Verstand verloren?«
»Du weißt, wie sehr ich es hasse zuzugeben,
dass ich vor einem Rätsel stehe, aber so etwas wie dies ist mir
noch nie zuvor begegnet. Wenn ich ein wenig Schlaf aufgeholt habe,
vertiefe ich mich noch mal in die medizinische
Fachliteratur.«
Das Geräusch knarrender Krücken kündigte
Halis Erscheinen in der Krankenstation an.
»Wie ich gehört habe, ist alles gut
gelaufen«, sagte Julia zu ihm.
Sie hatte einen Orthopäden in Vitória
aufgetrieben, der für seine Erfolge in der Behandlung von
Kreuzbandverletzungen berühmt war.
»Es hat nur eine Stunde gedauert«, sagte
Hali. »Wusstet ihr, dass dieser Arzt die Knieprobleme all der
berühmten Fußballspieler hier in Brasilien behandelt hat und immer
noch behandelt?«
Julia nickte. »Er hat mit mir an der Harvard
Med Medizin studiert, ehe er hierherkam. Ich musste meine
Beziehungen spielen lassen, um dir kurzfristig einen
Behandlungstermin bei ihm zu verschaffen.«
Hali lächelte. »Das ist also der Grund,
weshalb er meinte, ich sei schon in Kürze wieder zu perfekten
Fallrückziehern fähig.«
»Geh doch schon in den Behandlungsraum. Ich
komme in einer Minute und seh mir die Wunde an.«
Er gab ihr mit einem Daumen das Okay-Zeichen
und humpelte weiter.
»Scheint ganz gut damit zurechtzukommen«,
stellte Julia fest.
»Ich habe versprochen, ihm zur Belohnung für
seine Bemühungen, Belasco zu retten, einen brandneuen Gleitschirm
zu schenken«, sagte Juan. »Was wissen wir von unserer
Invalidin?«
»Linda?«, fragte Julia. »Zwei geplatzte
Trommelfelle. Nahezu totaler Hörverlust.«
Juan schluckte krampfhaft.
»Permanent?«
»Ich hoffe nicht. Aber es wird eine Weile
dauern, bis wir Genaueres wissen. Beide Trommelfelle wurden schwer
beschädigt, aber ich hoffe, sie werden von selbst wieder zuheilen.
In der Zwischenzeit kann man nur visuell mit ihr
kommunizieren.«
»Ich besuche sie später.« Juan seufzte
wieder und stand von der Kante des Schranks auf. »Jetzt habe ich
erst einmal ein unangenehmes Telefonat vor mir.«
»Langston Overholt?«
Er nickte. »Es wird Zeit, dass ich ihm den
aktuellen Stand dieses Debakels übermittle.«
»Du hast immerhin zwei von ihnen gerettet«,
sagte Julia und legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter.
»Ohne dich und die Teams von der Oregon wären alle drei Agenten jetzt
tot.«
Sie hatte natürlich recht, aber das war für
Juan nur ein geringer Trost.
Er kehrte in seine Kabine zurück, um
Overholt anzurufen. Als er sie betrat, traf er Maurice, den
ergrauten Steward des Schiffes, der gerade eine Kanne Kaffee und
einen Obstteller auf den Tisch stellte. Maurice war der einzige
Nichtamerikaner auf der Oregon .
Er hatte jahrzehntelang in der Royal Navy gedient, ehe er zur
Corporation gelockt wurde. Wie immer war er mit einem weißen
Leinenjackett bekleidet und hatte eine weiße Leinenserviette über
seinen Unterarm drapiert.
»Ich dachte, eine kleine Erfrischung wäre
eine angenehme Begleitung bei Ihrem Telefonat, Captain«, sagte
Maurice. Er war der Einzige an Bord, der Juan nicht »Chairman«
nannte. Er bestand auf der Einhaltung traditioneller seemännischer
Umgangsformen.
»Danke, Maurice«, sagte Juan und nahm wieder
einmal staunend zur Kenntnis, wie gut der Steward über alles
informiert war, was auf der Oregon geschah. Maurice war das Epizentrum
des Mannschaftsklatsches, und doch vertraute ihm jeder seine
persönlichsten Probleme und Gedanken an. »Wie kommt die Mannschaft
mit den Nachwirkungen unserer jüngsten Mission zurecht?«
»Sie ertragen sie mit Fassung«, antwortete
Maurice, während er Kaffee einschenkte. »Wir alle wissen, dass die
unglücklichen Ergebnisse die Folge einiger Probleme waren, mit
denen Sie nicht hatten rechnen können … Wäre das alles, was
ich für Sie tun kann, Captain?«
»Ja.«
Ohne einen weiteren Kommentar verließ
Maurice die Kabine.
Juan holte tief Luft und wählte die
Nummer.
Overholt meldete sich mit einem
Stirnrunzeln. »Sie sehen ein wenig erschöpft aus, Juan.«
»Deshalb bin ich ja auch reif für ein
Sprudelbad und eine Gesichtspackung und eine Maniküre
anschließend«, versuchte Juan zu scherzen, ehe er wieder ernst
wurde. »Bestimmt haben Sie mittlerweile meinen Bericht
gelesen.«
»Das habe ich, und ich muss zugeben, dass
ich geradezu fassungslos bin. Es passt gar nicht zu Ihnen, derart
kalt erwischt zu werden. Haben Sie schon eine Vorstellung, weshalb
Ihre Leute in Panik geraten sind und derart überstürzt
reagierten?«
»Noch nicht. Julia Huxley geht dieser Sache
nach. Wenn jemand eine Antwort auf diese Frage finden kann, dann
ist sie es.«
»Na ja, leider muss ich auf dieses Desaster
noch etwas draufpacken, was Ihnen das Leben nicht leichter machen
dürfte«, sagte Overholt. »Ich habe beunruhigende
Neuigkeiten.«
In Erwartung eines strengen Tadels von
Overholts Vorgesetzten, weil er die Mission in den Sand gesetzt
hatte, rutschte Juan nach vorn auf die Stuhlkante.
»Die Mannschaft der Manticora wurde gerettet«, fuhr Overholt
fort. »Wie wir befürchtet hatten, wurde das Schiff versenkt, und
neun Mannschaftsmitglieder verloren bei der Tragödie das
Leben.«
Juan sah seinen alten Mentor verwirrt an.
»Ich verstehe nicht. Was hat das mit uns zu tun?«
Overholts Miene war voller Sorge. »Einer der
Geretteten war ein CIA -Agent
namens Jack Perry. Kennen Sie ihn?«
Juan zuckte die Achseln und schüttelte den
Kopf. »Er muss eingetreten sein, nachdem ich den Dienst quittiert
habe.«
»Perry sollte im Zuge einer verdeckten
Operation Waffen für eine Rebellengruppierung kaufen, die wir
unterstützen. Das Umladen der Container sollte auf See stattfinden,
und zwar von einem Frachter namens Portland .«
Juan gefiel überhaupt nicht, in welche
Richtung sich das Ganze bewegte.
»Laut Perry«, fuhr Overholt fort, »eröffnete
die Portland mit einer Gatling
Gun und einer hinter Stahlplatten versteckten Panzerkanone das
Feuer auf die Manticora und
schickte sie auf den Grund des Ozeans. Außerdem haben sie sich dann
mit dem Kaufpreis für die Waffen aus dem Staub gemacht.«
Juan starrte ihn entgeistert an. »Wie hat
das Schiff ausgesehen?«
»Perrys Beschreibung passt perfekt auf die
Oregon bis hin zu den fünf
Kränen, der abblätternden Farbe und dem schmuddeligen
Kapitänsbüro.«
»Ist er also auch mit dem Kapitän persönlich
zusammengekommen?«
Overholt nickte mit ernster Miene. »Der
Name, den der Mann benutzte, lautete Chester Knight, ganz sicher
ein Alias.« Er machte eine Spannungspause. »Und er hatte eine
Beinprothese.«
Juan war vollständig überrumpelt. »Ist Perry
vertrauenswürdig?«
»Seine Darstellung wurde von den anderen
Überlebenden bestätigt, bis auf die Beschreibung von Kapitän
Knight. Perry war der Einzige, der ihn direkt zu Gesicht
bekam.«
»Wir haben die Manticora nicht versenkt.«
»Das weiß ich natürlich«, sagte Overholt.
»Aber es ist keine Hilfe, dass das angreifende Schiff einen
ähnlichen Namen hat wie Ihres, was einen auf die Idee bringen
könnte, dass Sie Portland als
Pseudonym benutzt haben.«
Juan dachte daran, wie das aussah. »Und wir
haben uns vor vier Tagen noch in der Nähe aufgehalten.«
»Das genau ist mein Problem, wenn ich mit
den hohen Tieren der CIA
rede.«
»Glauben Sie etwa, wir hätten das
inszeniert?«
»Das ist die Schlussfolgerung, der ich um
jeden Preis aus dem Weg gehen möchte«, sagte Overholt. »Aber es
macht es mir um einiges schwieriger, Sie zu verteidigen. Es sind
nämlich zusätzliche belastende Hinweise aufgetaucht.«
Juan hatte plötzlich einen eisigen Knoten im
Magen, als er auf die nächste Hiobsbotschaft wartete.
Der Wandmonitor verblasste für einen kurzen
Moment, dann erschien auf ihm das Bild, das sich auf Overholts
Labtopdisplay befand. Es war eine Videosequenz. Zu sehen war ein
rotes Frachtschiff, das von der untergehenden Sonne erhellt
wurde.
»Das ist die Avignon , ein französischer Frachter. Sie ist
gestern vom Porto de Santo in São Paolo in See gestochen.«
»Wir sind gestern nach Vitória unterwegs
gewesen«, sagte Juan.
»Das Problem ist nur: Wir beide wissen, dass
Sie bei der Höchstgeschwindigkeit der Oregon in der Nähe von São Paulo sein konnten
und es immer noch bis dorthin geschafft hätten, wo Sie sich im
Augenblick befinden.«
Overholt hatte recht. Ihr Alibi war
wertlos.
»Woher haben Sie das Video?«, fragte
Juan.
»Es wurde uns anonym übermittelt. Der Ton
fehlt. Wir nehmen an, es wurde mit einem Mobiltelefon von einem
Fischerboot aufgenommen. Sie können gleich sehen, weshalb es den
CIA -Direktor in den höchsten
Alarmzustand versetzt hat.«
Eine Rakete kam von außerhalb des Bildes und
bohrte sich in den Rumpf der Avignon und sprengte ein riesiges Loch in
ihre Seite. Eine Sekunde später wackelte die Kamera, da sie von der
Druckwelle der Explosion erschüttert wurde.
Wer immer das Video aufgenommen hatte,
drehte sich dann, und in diesem Moment erkannte Juan, dass die
Corporation verleumdet werden sollte. Zu seinem Entsetzen musste er
mit ansehen, wie von einem Trampfrachter eine zweite
Antischiffsrakete abgefeuert wurde, um der Avignon den Rest zu geben.
Das angreifende Schiff sah aufs Haar genauso
aus wie die Oregon .