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PORTO DE SANTOS, BRASILIEN
Hafenmeister Matheus Aguilar wünschte sich,
lieber auf ein derart üppiges Mittagessen verzichtet zu haben. Der
Gestank, der ihn auf der Salem im
Büro des Kapitäns einhüllte, kämpfte mit seinem Magen, und das
Duell drohte mit einer Niederlage des Letzteren zu enden. Aber er
würde das Schiff nicht ohne sein Schmiergeld verlassen, selbst wenn
er sich in den Papierkorb übergeben müsste, um es zu
kassieren.
»Sie verstehen sicher, dass wir unsere
Inspektionen und Sicherheitschecks streng und gewissenhaft
durchführen müssen, Captain White«, sagte Aguilar und schluckte
krampfhaft, als bittere Galle in seiner Speiseröhre aufstieg. Sein
Blick blieb an dem schmuddeligen Bad hängen, in dem die Toilette in
einem fort gurgelte. Er befürchtete, dass sie jeden Moment ihren
Inhalt hervorrülpste.
Der fette alte Seebär hinter dem
Schreibtisch lehnte sich in seinem knarrenden Sessel zurück und
strich sich durch den silbergrauen Bart. Dann massierte er das
Hosenbein in Höhe seines Beinstumpfs. Wenn er sich gehend
fortbewegte, dann mit einem ausgeprägten Humpeln. Er hatte Aguilar
die Beinprothese gezeigt, als der Hafenmeister während ihres
Rundgangs auf der baufälligen Kommandobrücke darüber gestolpert
war.
»Ganz gewiss ist Sicherheit in diesen
Breiten ein wichtiger Faktor«, sagte White. »Sie müssen sich
regelmäßig davon überzeugen, dass gerade der Hafen ein sicherer Ort
ist.«
»Deshalb muss ich Ihre Frachtbereiche und
den Maschinenraum auch eingehend inspizieren. Sehen Sie sich nur
an, was gestern in Rio de Janeiro passiert ist. Ich möchte nicht,
dass es auch hier zu derartigen Vorfällen kommt.«
Die Explosionen und Schießereien überall in
Rio und in der Guanabara-Bucht hatten die brasilianischen
Nachrichtensendungen während der letzten vierundzwanzig Stunden
beherrscht. Die Salem lag zurzeit
am Ladekai des Porto de Santos, über den der gesamte Warenumschlag
für São Paulo erfolgte. Er war der größte Hafen in Südamerika.
Daher würde jede wesentliche Störung seines operativen Geschäfts
die Wirtschaft der ganzen Nation in Mitleidenschaft ziehen.
»An was hatten Sie gedacht?«
»Wie bitte?«, fragte Aguilar.
»Ich meine den Preis«, sagte White. »Nennen
Sie ihn.«
»Ich glaube, ich weiß nicht, was Sie
meinen.«
Aguilar hatte während seiner Tätigkeit als
Hafenmeister schon oft Schmiergelder eingestrichen, aber niemand
hatte sich bisher so unverblümt dazu geäußert.
White beugte sich vor, wobei sich unter
seinem Oberhemd überraschend kräftige Muskelstränge
abzeichneten.
»Ich meine, ich habe eine Fracht, die
schnell gelöscht werden muss, und an meinen Turbinen sind einige
kleinere Reparaturen auszuführen. Jeder bürokratische Ärger würde
mich da nur behindern. Ich muss den Hafen in spätestens drei
Stunden wieder verlassen und kann mir keine Verzögerungen leisten.
Also was ist Ihr Preis?«
Die Art, wie Whites Blicke Aguilar
durchbohrten, war verwirrend. Irgendetwas an dieser Situation war
seltsam, aber er konnte sich nicht erklären, weshalb er so nervös
war. Plötzlich verlor das Schmiergeld an Bedeutung. Es schien die
Mühe nicht mehr wert zu sein, ganz gleich wie viel er in seine
Taschen lotsen könnte.
»Vielleicht sollte ich noch ein paar
zusätzliche Leute an Bord holen, um die Inspektion durchzuführen«,
sagte Aguilar und erhob sich von seinem Stuhl.
»Hinsetzen«, sagte White, ohne sich zu
rühren.
Aguilar pumpte seinen Brustkorb auf und
schlug den überheblichsten Tonfall an, zu dem er fähig war. Dies
war sein Hafen, er hatte hier das Sagen. Niemand durfte in diesem
Ton mit ihm reden.
»Ich empfehle mich lieber. Wir werden dieses
Schiff mit einem Vergrößerungsglas bis auf die kleinste Niete
durchkämmen.«
Er wandte sich zum Gehen.
»Das würde ich nicht tun«, sagte White mit
einem spöttischen Grinsen. »Wirklich nicht, es sei denn, Sie
wollen, dass die Hafenbehörden erfahren, wie viel Sie von den
Liegegebühren für sich abschöpfen.«
Aguilar erstarrte.
»Es dürfte so viel sein, dass Sie sich
demnächst recht komfortabel zur Ruhe setzen können.« Whites Grinsen
vertiefte sich, und er fuhr fort: »Natürlich werden Sie es nicht
ausgeben können, wenn Sie im Gefängnis sitzen. Sobald die Zeitungen
von Ihren Betrügereien erfahren, wird es nur eine Frage der Zeit
sein, bis Sie vor Gericht gestellt werden.«
Aguilar wirbelte herum. »Woher wissen Sie
darüber Bescheid?«
»Ich habe einen Computerexperten, der darauf
spezialisiert ist, versteckte Dokumente zu finden. Ich brauche
nichts anderes zu tun, als sie ins Internet zu stellen, und schon
liegt alles offen zutage. Korrupte Politiker finden es gar nicht
gut, von korrupten Bürokraten um ihre geheimen Geldzuflüsse
gebracht zu werden.«
Aguilars Beine fühlten sich plötzlich
ziemlich wacklig an, und er sank auf seinen Stuhl zurück.
»Was wollen Sie?«
»Ich erwarte, am Ende Ihrer Inspektion mit
einem makellosen Ergebnis dazustehen. Und wenn ich wieder hierher
zurückkomme, wünsche ich, mit den gleichen Samthandschuhen
angefasst zu werden. Ich pflege das Prinzip von Zuckerbrot und
Peitsche. Deshalb ist dies hier eine kleine Belohnung für Ihre
Mühen.«
White schob ein dickes Bündel amerikanischer
Dollars über den Tisch.
»Es gibt noch mehr davon, wenn ich
zurückkomme. Ich möchte nicht, dass Sie mit unserem Arrangement
unglücklich sind.«
White erhob sich und blickte drohend auf
Aguilar hinunter, in dessen Magen nun das völlige Chaos
herrschte.
»Aber wenn mein Schiff auch nur den
geringsten Minuspunkt wegen eines Tippfehlers in den Frachtpapieren
erhält, können Sie sich glücklich schätzen, wenn Sie vor Ihrem
siebzigsten Geburtstag eine Gefängniszelle von außen zu sehen
bekommen.«
Aguilar schluckte und nickte. »Ich
verstehe.«
Whites Gesicht verzog sich zu einem
strahlenden, aber freudlosen Lächeln, das Aguilar noch mehr Angst
machte. »Gut. Und nun möchte ich während dieses Besuchs weder Sie
noch jemanden, der für Sie arbeitet, auch nur in der Nähe meines
Schiffes sehen.«
Aguilar kam schwankend auf die Füße und
angelte sich das Geld vom Tisch. »Sie haben die Inspektion mit
fliegenden Fahnen hinter sich gebracht, Captain White.«
White nickte und winkte ihm zum Abschied
lässig zu. »Adeus, amigo. «
Eilig verließ Aguilar das Büro. Er schaffte
es nach oben bis aufs Außendeck, ehe er sich über die Reling
erbrach.
* * *
Sobald Aguilar sein Büro fluchtartig
verlassen hatte, brach Zachariah Tate in schallendes Gelächter aus,
nahm den falschen Bart ab und entfernte die falsche Nase, sodass
sein schmales Gesicht, seine schlanke Nase und das Kinn mit seinen
Grübchen zum Vorschein kamen. Als Nächstes folgte die weiße
Perücke, die jetschwarzes Haar bedeckte. Ganz gleich, ob er Charles
White auf der Salem oder Chester
Knight auf der Portland spielte,
er hatte jedes Mal großes Vergnügen an den Abstechern ins
Theaterfach.
»Er ist weg«, sagte Tate in das versteckte
Mikrofon. »Können wir jetzt endlich diesen widerlichen Gestank
loswerden?«
Ventilatoren vertrieben die künstliche
Luftverpestung innerhalb von Sekunden aus dem Büro und ersetzten
sie durch eine frische, salzige Seebrise, die Tate allen anderen
Gerüchen vorzog.
Abdel Farouk betrat sein Büro und kicherte
verhalten. »Sie brauchten ihm nicht gleich mit der Atombombe zu
drohen, Commander.«
»Doch, das musste ich«, widersprach Tate und
holte das Füllmaterial aus seinem Oberhemd. »Dieser Mistkerl hätte
mir eine ganze Stunde meiner Zeit gestohlen. Das kann ich mir nicht
leisten. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Sehen wir zu, dass wir
die Fracht ausladen und ein wenig Geld verdienen.«
Die falsche Beinprothese war das Letzte,
wovon er sich befreite. Die Kunststoffhülle um Tates gesunden
rechten Unterschenkel war das unbeliebteste Element seiner
Verkleidung, weil es ein unangenehmes Jucken verursachte.
Er ließ alles auf dem Schreibtisch liegen
und geleitete Farouk durch den schmuddeligen Korridor mit seinen
flackernden Neonröhren bis zu einem Besenschrank. Die
Reinigungsutensilien, die auf dem Boden herumstanden und lagen und
die Regale füllten, waren unbenutzt und schimmelig, und das
Schmutzwasserbecken war bis zum Rand verdreckt. Tate bewegte die
Wasserkräne in einer bestimmten Reihenfolge – wie ein
Kombinationsschloss. Mit einem leisen Klicken gab daraufhin eine
Geheimtür im Wandschrank nach.
Tate zog sie vollends auf und betrat einen
von geschmackvollen Wandlampen erhellten Flur mit dickem, weichem
Teppichboden. Es war, als befände er sich plötzlich in einem
Fünfsternehotel.
Farouk schloss hinter ihnen die Tür. »Unsere
Käufer halten sich bereit, die vier Container auf ihr Schiff zu
transferieren, sobald wir sie ausgeladen haben.«
»Sind sie mit unseren Bedingungen
einverstanden?«
Farouk nickte. »Es war ein faires Angebot.
Ich würde wirklich gern wissen, wo die Waffen am Ende landen
werden.«
»Wen interessiert’s?« Tate wischte dieses
Thema mit einer Handbewegung vom Tisch. »Am besten gefällt mir an
der ganzen Sache, zweimal für die gleiche Lieferung bezahlt zu
werden.« Die Manticora -Operation
war wie geplant verlaufen. Die Zahlung durch die Tarnfirma der
CIA war über unzählige Scheinkonten
geschleust worden. Kein Mensch könnte sie jemals
zurückverfolgen.
Tate gelangte durch eine Tür ins
Operationszentrum der Portland .
Dieser Raum im Herzen des Schiffes diente als eigentliche
Kommandobrücke. Die baufällige Konstruktion hoch oben auf dem
Deckaufbau war nichts anderes als eine Täuschung.
Jede Funktion des Schiffes konnte vom
Operationszentrum aus gesteuert werden, angefangen vom Antrieb über
den Funkverkehr bis hin zu seiner Bewaffnung. Der Raum selbst
ähnelte der Kommandozentrale eines Raumschiffs mit
Flachbilddisplays, berührungssensiblen Kontrollen und einem
überdimensionalen Bildschirm an der Stirnseite. HD -Kameras überwachten die äußere Umgebung des
Schiffs.
Tate nahm seinen Platz auf dem
Kommandodrehsessel in der Mitte des Raums ein. Mit den in die
Armlehnen eingebauten Kontrollen konnte der Commander die meisten
wichtigen Funktionen des Schiffes steuern.
»Status?«, fragte er.
Sein Erster Offizier, ein russischer
Marineveteran namens Pavel Durchenko, sagte: »Wir laden gerade den
ersten Container aus, Commander.«
Er nickte einem anderen Offizier zu, und auf
dem Hauptbildschirm erschien der Hafenkran, der den Frachtbehälter
am Haken hatte und anhob.
»Sobald der letzte Container auf dem Kai
abgesetzt wird«, sagte Tate zu Farouk, »sollte der Kaufpreis auf
unseren Konten sein.«
»Jawohl, Sir.«
Zwei Mannschaftsmitglieder klatschten
einander ab, und die anderen beschränkten sich auf ein zustimmendes
Murmeln. Sie alle waren an der Beute eines jeden Coups beteiligt,
den die Portland erfolgreich in
Szene setzte.
»Haben wir den angeforderten Nachschub
erhalten?«
»Unsere Lebensmittel- und Munitionslager
werden innerhalb der nächsten Stunde aufgefüllt«, sagte
Durchenko.
»In Ordnung. Dann zeigen Sie mir das Ziel
des heutigen Abends.«
Eine andere Außenansicht erschien auf dem
Bildschirm, diese war vom Heck der Portland aus aufgenommen worden. Zu sehen war
ein großer Frachter, der mit Holz und Kaffee – beides für
Frankreich bestimmt – beladen wurde.
»Das Schiff sieht brandneu aus.«
»Das ist es auch«, bestätigte Farouk.
»Deshalb ertrinken die Eigner in Schulden. Sie können die
bestehenden Pachtverträge nicht auflösen und schreiben rote Zahlen.
Sie meinen, ihre Verluste ließen sich nur decken, wenn das Schiff
sinkt und Lloyd’s of London die Versicherungssumme auszahlt.«
Tate hielt die Finger hoch und spielte die
kleinste Geige der Welt. »Ich breche gleich in Tränen aus. Zahlen
Sie unseren üblichen Prozentsatz?«
»Ja.«
»Dann sollten wir eine Doppelnummer
inszenieren und noch eins draufsetzen.«
»Was meinen Sie?«
»Unser alter Kumpel Juan Cabrillo hatte
gestern einen schlechten Tag. Wir wollen diese Pechsträhne noch ein
wenig weiterspinnen, nicht wahr?«
Alle Köpfe im Operationszentrum
nickten.
»Dann sollten wir dafür sorgen, dass der
Frachter noch vor Sonnenuntergang sinkt und wir ein gutes Video
bekommen, auf dem zu sehen ist, dass die Portland daran beteiligt war. Mir ist zu
Ohren gekommen, dass die Mannschaft der Manticora mitten im Atlantik gefunden wurde.
Und dass die Navy noch immer nach der Kansas City sucht. Ich finde, nun wird es
langsam Zeit, den Druck auf die Oregon zu erhöhen und ihr eine weitere
Gräueltat anzuhängen.«
Wenn sie erst einmal als Schuldige dieser
Katastrophen identifiziert war, würde sie von den USA für aussätzig erklärt werden – und ihr
Kapitän ebenfalls. Niemand innerhalb der CIA wusste, dass die Oregon einen Doppelgänger hatte, eine
identische Kopie bis hin zu ihren Waffensystemen und ihrer
hochmodernen magnetohydrodynamischen Antriebstechnik.
Tates umfangreiche Pläne trugen bereits die
ersten Früchte, es waren Pläne, die er in den Jahren der Folter und
der Einzelhaft entwickelt hatte. Wie jedes Mannschaftsmitglied auf
der Portland wollte er sich bei
Juan Cabrillo revanchieren, jener Person, die für das bittere
Schicksal eines jeden von ihnen verantwortlich war.
Aber Tate würde seinen ehemaligen Partner in
der CIA nicht töten. Das wäre zu
simpel. Vielmehr wollte er ihn bestrafen. Zuerst würde Tate seinen
Ruf ruinieren. Dann würde er Cabrillos Mannschaft töten, dann sein
Schiff versenken und ihn für den Rest seines Lebens in einem
Gefängnis der Dritten Welt verrotten lassen, und zwar mit dem
Bewusstsein, alles verloren zu haben, was ihm lieb und teuer
gewesen war.
Tate genoss die Vorstellung, ihm so viel
Leid zuzufügen, und grinste.
Er würde Juan Cabrillo vollständig
vernichten.