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IN DER NÄHE DER AMAZONASMÜNDUNG
Es dauerte einen Tag, mit der Oregon den Amazonas zu verlassen und in den
Atlantik zurückzukehren. Das Schiff erlaubte sich einen einzigen
Zwischenstopp, um Michael Bradley in Macapá abzusetzen, wo er sich
an den amerikanischen Militärattaché wenden konnte, um seinen
Rückflug in die Vereinigten Staaten zu arrangieren. Juan wollte
nicht länger das Leben eines unbeteiligten Zuschauers gefährden,
ganz gleich wie mutig und qualifiziert er auch sein mochte. Er
konnte sich vorstellen, dass die Navy eine Menge Fragen an Bradley
hatte, wenn er zurückkehrte, und Juan überließ es dem SEAL zu enthüllen, was immer er für nötig
hielt.
Sobald sie die brasilianische Küste in
sicherer Entfernung hinter sich gelassen hatten, ging Juan zu Mark
Murphys Kabine und klopfte an die Tür. Normalerweise drang aus der
Kabine eine Kombination aus lautem Heavy Metal Rock und den
Explosionen und dem Gewehrfeuer eines Ego-Shooter-Videospiels.
Stattdessen klang es diesmal wie ein Dialog aus einem Film, an den
er sich vage erinnern konnte.
Murph rief: »Tür ist offen!«
Juan trat ein und sah Murph, Eric und Hali,
die aufmerksam einen Film auf dem Breitwandfernseher des Raums
verfolgten. Tabletts mit zur Hälfte geleerten Speiseschüsseln und
–tellern sowie zahlreiche leere Red-Bull-Dosen türmten sich rund um
das schwarze Ledersofa. Murph und Eric saßen auf dem Fußboden und
lehnten an der Couch. Jeder hatte einen Laptop auf den Knien und
einen zweiten auf dem Teppich neben sich. Hali saß auf der Couch
und mampfte ein Club-Sandwich.
»Störe ich gerade bei einem
Spielfilmabend?«, fragte Juan, während er auf den Bildschirm
schaute. Dann erkannte er den Film. Es war Die Brautprinzessin . Aber bei dieser Version
waren die Gesichter aller männlichen Darsteller durch die Züge des
Ogers Shrek ersetzt worden. Auch wenn es seltsam anmutete, den
grünen Oger »Hallo, mein Name ist Inigo Montoya«, sagen zu hören,
war die Täuschung doch absolut überzeugend.
»Hey, Chairman«, sagte Murph. »Hali ist
vorbeigekommen, um uns bei der Deepfake-Technologie zu helfen, die
Tate benutzt hat, um seine Identität bei dem Sprach-Chat zu
verschleiern.«
»Wenigstens benutzen Sie diesmal nicht mein
Gesicht«, sagte Juan.
»Wir wollten sehen, ob wir alles ersetzen
können, was wir wollen«, sagte Hali.
»Und zu welchem Zweck?«
Eric richtete sich auf und wischte
Brotkrümel von seinem Button-down-Hemd und seiner Baumwollhose.
»Ich habe einen Zeitungsartikel gelesen, in dem die Rede davon war,
dass Schadsoftware benutzt werden kann, um Radiologen vorzugaukeln,
dass jemand Krebs hat. Sie infizieren mit dieser Deepfake-Software
vom Computer erstellte MRI - oder
CT -Bilder, sodass auf dem
Bildschirm Tumore zu sehen sind.«
Juan schüttelte den Kopf. »Irgendwie
unheimlich, aber was bedeutet das für uns?«
»Murph und ich glauben, dass wir ein
Schadprogramm in den Video-Stream einfügen können«, sagte Eric.
»Das Ziel ist, Tates Deepfake-Technologie lahmzulegen. Hali ist
hier, um mit uns zu überlegen, wie wir die Feedback-Schleife des
Chats nutzen können, um die Software zu installieren, ohne dass
Tate es bemerkt.«
»Würde er denn erkennen, dass Deepfake
deaktiviert wurde?«
Hali zuckte die Achseln. »Ich glaube, wir
könnten es so drehen, dass es aussieht, als ob sie bei ihm noch
aktiv ist, obwohl sie bei uns blockiert wird.«
»Gute Arbeit, Gentlemen«, sagte Juan,
während er in Gedanken die Möglichkeiten durchging, die sich durch
den Einsatz der Malware ergaben. »Ich habe eine Idee, wie wir
dieses Wissen und die Software einsetzen könnten. Geben Sie mir
Bescheid, wenn alles wunschgemäß funktioniert. Aber nun zu dem, was
Sie eigentlich erledigen sollten.«
Murph machte mit der Hand eine Geste, als
wollte er sagen: Mein Fehler .
»Die Übersetzung von Horváths Notizbüchern war nicht so
unkompliziert, wie ich erwartet hatte. Das Ungarisch ist wegen
seiner Handschrift für den Scanner zwar schwer zu entziffern, aber
die eigentliche Schwierigkeit ergab sich doch daraus, dass er eine
Art Kode benutzte. Ich habe also einen Algorithmus geschrieben, um
ihn zu entschlüsseln, und der läuft momentan. Es dürfte noch etwa
eine halbe Stunde dauern. Ich kann nicht versprechen, wie komplett
das Ergebnis dann sein wird. Einige Seiten waren schon ziemlich
vermodert.«
»Und das Kapitänslogbuch?«
Eric reichte ihm einen Stapel Papier. »Hier
ist es. Ich habe es Ihnen auch schon per E-Mail geschickt.
Stellenweise ziemlich interessant.«
»Murph, wenn Sie die Aufzeichnungen des
Wissenschaftlers entschlüsselt haben, dann sollten Sie sich mit Doc
Huxley zusammensetzen und Möglichkeiten suchen, um die Wirkung des
Sonar-Disruptors zu neutralisieren. Ohne irgendeinen Schutz gegen
Tate können wir nichts unternehmen.«
»Sollen wir weiter mit der Malware
experimentieren?«, fragte Hali und deutete zuerst auf sich und dann
auf Eric.
»Ja. Geben Sie mir Bescheid, sobald sie
funktioniert. Dann werden wir Tate anrufen.«
Juan verabschiedete sich und kehrte in seine
Kabine zurück, wo er den Nachmittag mit der Lektüre des
Kapitänlogbuchs verbrachte. Es war ein langwieriger Prozess, weil
er verschiedene Passagen mit Informationen aus dem Internet
abglich.
Er hatte das Ende des Textes fast erreicht,
als an seine Kabinentür geklopft wurde. »Herein.« Overholt erschien
mit zwei Bechern Kaffee. Juan bot ihm einen Platz an, und Overholt
stellte einen Becher vor Juan auf den Tisch.
»Maurice meinte, dass Sie das jetzt ganz gut
vertragen könnten«, sagte Overholt.
»Es kommt genau im richtigen Moment«,
antwortete Juan und trank einen Schluck von dem würzigen
brasilianischen Gebräu. »Ich glaube, er hat so etwas wie einen
sechsten Sinn, was die Bedürfnisse der Crew betrifft.«
»Interessanter Mann. Wir haben uns zwei
Stunden lang gegenseitig Geschichten erzählt, ich vom CIA , er von der Royal Navy.« Overholt kniff
verschwörerisch ein Auge zu. »Natürlich stark redigiert.«
»Es tut mir ehrlich leid, dass ich nicht
dabei sein konnte, um sie mir anzuhören. Ich war zu sehr mit dem
allen hier beschäftigt.«
Er schob den Papierstapel zu Overholt
hinüber, der ihn durchblätterte. Etwa nach der Hälfte der Seiten
hielt er inne.
»Diesen Namen kenne ich«, sagte Overholt.
»Die Carroll A. Deering . Warum
ist er mir geläufig?«
»Weil den Namen ein maritimes Geheimnis
umgibt, das nie aufgeklärt wurde. Das heißt, bis heute wurde es
nicht aufgeklärt.«
Overholt nickte langsam. »Trieb sie nicht
irgendwann ohne Mannschaft an der Ostküste an?«
»Vor Kap Hatteras in North Carolina. Es gab
jede Menge Theorien, weshalb die Mannschaft das Schiff aufgegeben
haben mag. Ist es in ein Unwetter geraten? Wurde es entführt? Kam
es zu einer Meuterei? Nichts davon erwies sich als allzu
überzeugend. Nun kennen wir die Antwort.«
»Und?«
Für einen Moment war Juan in das
Ozeanpanorama auf seinem 4K-Videoschirm versunken, während er das
Gelesene verarbeitete. »Laut diesem Logbuch kreuzte die
Bremen in den frühen
Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts vor der Ostküste und
verschaffte sich eine wertvolle Schiffsfracht, ohne einen einzigen
Schuss abzufeuern. Alles, was sie machten, war, den Sonar-Disruptor
auf ein ahnungsloses Schiff zu richten und ihn einzuschalten,
woraufhin die Mannschaftsmitglieder über Bord sprangen oder
versuchten, sich gegenseitig umzubringen. Weil die Bremen ein Blockadebrecher war, hatte sie
mehr als genug Laderaum, um enorme Frachtmengen aufzunehmen.«
»Das klingt, als sei die Deering nicht das einzige Opfer
gewesen.«
»Bei weitem nicht«, erwiderte Juan. »Sieben
andere Schiffe, die im Logbuch der Bremen erwähnt werden, sind in dieser Zeit
unerklärlicherweise gesunken oder spurlos verschwunden. Und das nur
vor der amerikanischen Küste. Die Bremen streifte durch die Karibik und die
Gewässer Südamerikas. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen,
wechselte sie ihre Jagdgründe ziemlich oft. Sie machten sogar einen
Abstecher zur Westafrikanischen Küste, bis die Kaperfahrten im Jahr
1922 plötzlich aufhörten.«
»Was war geschehen?«, fragte Overholt.
»Eine Krankheit brach aus. Sie nutzten den
Amazonas als Basis, fuhren nach Einbruch der Nacht flussaufwärts
und luden ihre Beute auf normale Frachter um, die sie zu Häfen auf
der ganzen Welt brachten. Aber im Sommer 1922 hatte eins der
Schiffe, mit denen sie ihre Geschäfte machten, quasi als blinden
Passagier eine Krankheit an Bord, der Beschreibung nach war es
möglicherweise Ebola oder irgendein anderes hämorrhagisches Fieber.
Innerhalb weniger Tage fiel ihm die ganze Mannschaft zum Opfer. Der
ungarische Wissenschaftler, der den Sonar-Disruptor entwickelt
hatte, raffte an Lebensmitteln zusammen, so viel er tragen konnte,
und flüchtete in den Dschungel.«
»Und nachdem alle gestorben waren,
veränderte der Amazonasnebenfluss seinen Lauf und ließ das U-Boot
im Sumpf versinken«, sagte Overholt, offenbar fasziniert vom Ablauf
der Ereignisse.
»Sobald Murph seine Übersetzung des
ungarischen Tagebuchs abgeschlossen hat, liegt uns der Beweis vor,
dass der Sonar-Disruptor tatsächlich existiert. Das sollte doch
ausreichen, um Ihren Namen bei der CIA reinzuwaschen.« Wie im Fall Bradleys wollte
Juan seinen alten Freund nicht länger als nötig an Bord der
Oregon einer Gefahr aussetzen.
Denn die Portland lauerte
irgendwo dort draußen mit Tate auf der Kommandobrücke, der zur Jagd
auf Juan Cabrillo geblasen hatte und es kaum erwarten konnte, sein
Schiff zu versenken.
Overholt schüttelte den Kopf. »Meine
gehobene Position bei der CIA zu
erreichen, das schafft man nicht, ohne sich ein paar Feinde zu
machen. Die Legende, die Ballard in Umlauf gesetzt hatte, ist von
ihr über die Jahre gepflegt worden. Tate veruntreute Geld von
schwarzen Konten und hängte mir dieses Verbrechen an. In Langley
sitzen zahlreiche Leute, die bereitwillig glauben, dass ich ein
Verräter bin. Und die Leute, die mir glauben, wollen die Agentur
nicht schon wieder in einen öffentlichen Skandal verwickeln,
besonders dann nicht, wenn sie ihren Ruf aufs Spiel setzen müssten,
um das Unwetter zu überstehen.«
»Was können wir da tun?«
»Wir müssen Tate aufhalten. Oder handfeste
Beweise beschaffen, dass der Untergang der Kansas City auf sein Konto ging.«
»Die Pläne des
Sonar-Disruptors …«
»… reichen nicht aus. Sicher, die
Überlebenden der Mannschaft werden den Ermittlern die Symptome
schildern, und Michael Bradley wird ihnen berichten, dass Sie ihn
und die anderen gerettet haben, aber sie werden trotzdem glauben,
dass alles nur eine Inszenierung war. Wir brauchen etwas
Konkreteres.«
Juan lehnte sich zurück und dachte an die
Deepfake-Schadsoftware, mit der Eric und Hali sich in diesem Moment
herumschlugen, um sie für ihre Bedürfnisse zu
perfektionieren.
»Ich wüsste vielleicht eine Lösung für unser
Problem«, sagte er. »Dazu muss ich mich aber mit der NUMA in Verbindung setzen. Ich glaube, dies ist
der Moment, einen Gefallen von Dirk Pitt einzufordern.«