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BUENOS AIRES
Juan Cabrillo schob sich die Schwimmbrille vor die Augen, stützte sich am Rahmen der offenen Tür des Wasserflugzeugs ab und trat auf den Schwimmer hinaus. Er schaute auf den Hafen von Buenos Aires, der sich gut fünfzehnhundert Meter unter ihm befand.
»Wir nähern uns dem Absetzpunkt«, meldete Tiny über den internen Sprechfunk.
»Roger«, antwortete Juan und zog das Bündel, das den Dummy enthielt, in die Türöffnung. »Bereit!«
»Fünf … vier … drei … zwei … eins … Sprung!«
Juan stieß das Bündel über die Kante und folgte ihm in den Sog.
Der Lärm des Flugzeugs ließ schnell nach und wurde von dem Klang des Windes ersetzt, der seinen Körper im freien Fall durchrüttelte. Das Bündel bot dem Wind weniger Widerstand als sein Körper, daher baumelte es unter ihm und zog ihn zum Wasser hinab. Er stellte sich vor, wie Tate ihn abspringen sah und es plötzlich eilig hatte, in Angriff zu nehmen, was immer er mit ihm vorhatte: ihn in seine Gewalt zu bringen oder ihn an Ort und Stelle zu töten.
Ihm würde nicht viel Zeit bleiben, wenn er ins Wasser eintauchte, daher wollte er mit dem Öffnen des Fallschirms so lange warten wie möglich. Bei eintausend Fuß lag der kritische Punkt. Die elektronische Stimme des Höhenmeters meldete sich alle fünfhundert Fuß in seinem Ohr. Sie zählte beängstigend schnell herunter.
Juan gönnte sich einen Moment, um sich zu vergewissern, dass das Bündel immer noch fest und sicher an seinem Gurtgeschirr hing. Am D-Day erhielten amerikanische Fallschirmspringer, die über der Normandie absprangen, schwere Ausrüstungssäcke, die an ihre Beine geschnallt wurden. Offensichtlich waren sie vorher nie unter realistischen Kampfbedingungen getestet worden, weil sich die meisten Materialsäcke losrissen, sobald sich die Fallschirme öffneten. Die Säcke stürzten ungebremst zur Erde und gingen in der Dunkelheit verloren.
Falls Fred der Dummy sich vorzeitig von ihm trennte, würde Juan auf den Grund des Hafens sinken, und dann wäre seine Mission ein Fehlschlag, kaum dass sie begonnen hatte. Er hatte das Szenario auch nie praktisch durchgespielt, aber die Gurtverschlüsse waren offenbar zuverlässig und ließen ihn und seinen künstlichen Gefährten nicht im Stich.
»Zweitausend«, verkündete die elektronische Stimme. »Fünfzehnhundert.«
Juan wartete auf die Eintausend-Fuß-Meldung und zog die Reißleine, als sie erklang. Der Fallschirm riss ihn regelrecht nach oben, und die Gurte um seine Brust und die Hüften schnitten zwar in seinen Nasstauchanzug, aber immerhin hielten sie. Das Dummy-Bündel schwang unter ihm wild hin und her, und Tate rätselte gewiss, was es wohl enthalten mochte.
Das Wasser kam schnell näher, und John schaute sich ein letztes Mal um. Kein Boot war in seiner Nähe auszumachen. Er betätigte den Recall -Knopf an seiner Smartwatch und aktivierte die Fernsteuerung des RHIB . Das Schnellboot würde jetzt in seine Richtung starten. Gleichzeitig würde Tiny als Rückversicherung mit der Pilatus landen.
Als er auf der Wasseroberfläche aufschlug, trennte sich Juan mit einem Griff von dem Fallschirm und suchte seine Umgebung nach der kleinen Boje ab, die die Position der Taucherglocke anzeigte. Er fand sie und schwamm mit dem Dummy-Bündel im Schlepptau zu ihr hinüber.
Als er die Boje erreichte, löste er eine kleine Druckluftflasche von seinem Gurtgeschirr. Sie wurde von Tauchern in Notfällen verwendet und enthielt Luft für fünfzehn Atemzüge. Das war alles, was Juan brauchen würde.
Er schob sich das Mundstück zwischen die Zähne und öffnete das Bündel mit dem Dummy, um die Luft herausströmen zu lassen. Es versank und zog Juan mit sich in die Tiefe.
Juan knipste seine Stirnlampe an und entdeckte die gelbe Taucherglocke, die im Schlick des Hafengrunds stand.
Im Näherkommen konnte er auch die Bombe sehen, die an der Hülle klebte. Dies war Tates Rückversicherung, wie er erwartet hatte. Aber Juans alter CIA -Partner würde sicher nicht diesen Aufwand betreiben, wenn er die Absicht hätte, ihn zu töten. Zumindest hoffte Juan, dass seine Einschätzung in diesem Punkt zutraf.
Er schwamm zum oberen Ende der Taucherglocke, holte ein kleines elektronisches Modul aus dem Dummy-Sack und klemmte es an das Kabel, das die Videoaufzeichnung aus der Glocke und von den Außenkameras zur Boje leitete. Das Modul schaltete sich in die Verbindung ein, pufferte den Video-Stream und sendete ihn neu. Das Display zeigte an, dass das Signal erfolgreich abgefangen wurde.
Juan tippte zweimal mit der Zungenspitze auf sein Zahnmikrofon, um zu melden, dass der Video-Stream fortgesetzt wurde.
»Verstanden«, antwortete Eric, der im Cockpit des Nomads saß. »Zweihundert Meter entfernt und im Anmarsch.«
Juan tippte abermals zweimal mit der Zunge und ließ sich zum Sichtfenster der Taucherglocke hinabsinken. Er erblickte Overholt, zwar lebend, aber schon erschöpft aussehend. Das innere Verschlussrad der Luke war entfernt worden. Juan fing Overholts Blick auf und hielt ein Whiteboard vor das Sichtfenster.
Eine Minute lang vollkommen ruhig bleiben. Nicht bewegen.
Overholt verzichtete auf mögliche Fragen. Er nickte nur und blieb auf seinem Platz und starrte die Innenwand der Taucherglocke an.
Juan betätigte einen Knopf der Fernbedienung, und das elektronische Modul zeichnete nun das Video vom Innern der Taucherglocke und von ihren Außenkameras auf. Nach einer Minute begann es, diese Sequenzen als Endlosschleife an den Sender in der Boje zu übertragen. Für Tate würde es so aussehen, als habe sich in und an der Taucherglocke nichts verändert.
Juan öffnete den Sack und holte Freds leblose Gestalt heraus. Wie von Kevin Nixon garantiert, hatten Frisur und Gesichtszüge des Dummys durch die raue Behandlung keinen Schaden genommen. Aus zehn Metern Entfernung sah er wie eine durchnässte Version Langston Overholts aus.
Juan ließ den Sack treiben und schaute auf die Uhr. Laut seinen Berechnungen müsste das RHIB jeden Moment eintreffen, was in dieser Situation absolut ideal wäre, da in seiner Minitauchflasche nur noch Luft für zwei Atemzüge übrig war. Dann hörte er den Motor des schnellen Boots, das auf ihn zugerast kam.
Während es aufstieg und durch die Wasseroberfläche brach, sah er die Lichtkegel der Scheinwerfer des Nomads, der sich der Taucherglocke näherte.
* * *
Linc und Eddie, beide in Sporttauchausrüstung, hielten sich an dem Schutzgeländer der Luftschleusentür des Nomads fest. Die Taucherglocke kam in Sicht, während sich der Scheinwerfer des Tauchboots auf ihren Standplatz auf dem Meeresgrund richtete. Schlick wallte hinter ihnen hoch, aufgewirbelt von den Propellern des Nomads.
Eric, der das Tauchboot lenkte, stoppte es wenige Meter von der Taucherglocke entfernt und hielt es dort schwebend in Position.
»Ich wende schon mal, während ihr ihn herausholt«, sagte Eric.
»Wir sind unterwegs«, erwiderte Eddie Seng. Er und Linc hatten sich für Vollgesichtsmasken entschieden, damit sie einfacher miteinander kommunizieren konnten.
Sie verließen ihre Positionen an der Luftschleuse und schwammen zur Kapsel hinüber. Linc hielt eine Schnorchelmaske für Overholt bereit, die an einen der freien Oktopus-Regulatoren ihrer Tauchausrüstung angeschlossen werden konnte.
Eddie warf einen Blick auf seine Uhr. Mehr als eine Minute war verstrichen, seit Juan den Countdown des Signalunterbrechers in der Videoleitung gestartet hatte. Er hielt ein Whiteboard vor das Fenster der Taucherglocke und klopfte gegen deren Außenwand.
Sie können sich wieder bewegen. Wir holen Sie heraus.
Overholt las die Worte und nickte.
Linc deutete auf die Bombe, die an der Kapsel klebte.
Eddie nickte. »Beilen wir uns.«
Sie sanken bis zum Boden der Taucherglocke und schwammen zum Einstieg.
Eddie rüttelte am Verschlussrad, um die Luke zu öffnen. Das Rad gab nach, und Eddie spürte, wie der Riegel zurücksprang. Aber als er an der Luke zog, rührte sie sich nicht.
»Tate wollte es uns offensichtlich nicht so leicht machen«, sagte Linc und fuhr mit den Fingern am Lukenrand entlang.
Eddie nahm die Klappe genauer in Augenschein und verstand, was er meinte. Tropfen erkalteten und verhärteten Metalls waren an der Kante der Luke zu erkennen.
Sie war zugeschweißt worden.