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AMAZONASBECKEN
Zachariah Tate saß in der offenen Tür eines
sechs Passagiere fassenden Agusta Helikopters und beobachtete, wie
der Urwald unter ihm vorüberglitt. Was er sah, war ein nahtloser
dicker grüner Teppich, der nur gelegentlich von einem der
schmutzigbraunen Nebenflüsse des Amazonas durchschnitten wurde. In
seinem Kopfhörer fasste Catherine Ballard die neuesten Nachrichten
über die Entdeckung der Kansas
City zusammen. Sie saß ihm gegenüber neben Farouk, der sich
auf den Bildschirm des Laptops auf seinem Schoß
konzentrierte.
»Sechsundzwanzig Überlebende wurden von
einer brasilianischen Korvette aufgenommen«, las sie vom Display
ihres Satellitentelefons ab, »und später auf einen amerikanischen
Zerstörer gebracht, der vierundzwanzig Stunden später am Fundort
eintraf. Derzeit arbeiten die Navy und die National Underwater and
Marine Agency mit Hochdruck daran, das U-Boot zu heben und in die
USA zurückzuholen. Die NUMA äußerte die Sorge, dass der Atomreaktor
des U-Boots im Falle eines Lecks die brasilianische Küste
radioaktiv verseuchen könnte.«
»Nannten sie die Namen von Überlebenden?«,
fragte Tate.
Ballard schüttelte den Kopf. »Es ist erst
anderthalb Tage her, dass sie das Wrack gefunden haben. Sie sind
noch dabei, die Angehörigen zu benachrichtigen.«
»Dann ist es gut, dass wir hierhergekommen
sind. Falls Jiménez noch lebt, ist es nur eine Frage der Zeit, ehe
sich jemand auf die Suche nach der Bremen macht.« Er wandte sich an Farouk.
»Schon eine Spur von ihr entdeckt?«
Farouk zuckte die Achseln, ohne
hochzuschauen. »Es ist ein dichter Dschungel. Wenn wir die Leute,
die das Boot ursprünglich gefunden haben, fragen könnten, wo genau
es lag, wäre alles um einiges einfacher.«
Wut loderte in Tates Augen auf, als er ihn
ansah. »Willst du andeuten, dass es ein Fehler von mir war, sie zu
töten?«
Farouk richtete sich erschrocken hinter
seinem Laptop auf. »Nein! Ich meinte nur, dass es schwierig ist,
sie aufzuspüren, wenn wir uns nur auf bruchstückhafte Daten stützen
können. Es war richtig zu verhindern, dass sie die Existenz des
U-Boots in die Welt hinausposaunt haben. Es könnte alles zum
Scheitern bringen, wofür wir gearbeitet haben.«
Tate lachte. »Entspann dich, Farouk. Ich
muss nur ein wenig Dampf ablassen, und da kommst du mir gerade
recht. Wir beide haben angenommen, dass die Kansas City ein Totalverlust war. Wie konnten
wir wissen, dass einige Matrosen zwei Wochen später wieder
rauskommen? Wie dem auch sei, Jiménez ist bei dem Unglück
vielleicht gestorben. Diese Suche ist nur eine Art
Rückversicherung.«
Farouk brachte ein gequältes Lächeln
zustande. »Kein Problem.« Er wandte sich wieder seinem Bildschirm
zu.
Auf der Unterseite des Hubschraubers war
eine weitere technologische Entwicklung aus Farouks Werkstatt
befestigt. Es war ein LiDAR –
ein Light-Detecting-and-Ranging-Bildgebungssystem. Während der
Agusta den Urwald überflog, bombardierte er den Untergrund mehrere
Tausend Mal pro Sekunde mit Laserstrahlen. Die meisten wurden von
den Bäumen blockiert, aber einige drangen bis auf den Urwaldboden
durch und lieferten ein Abbild des Geländes unter dem Hubschrauber,
nachdem das dichte Blätterdach herausgerechnet worden war. Es war
die gleiche Methode, die einige Techno-Archäologen benutzen, um
Ruinen von Bauwerken der Maya im Dickicht des mittelamerikanischen
Regenwaldes zu vermessen. Farouks Computer analysierte die Daten in
Echtzeit und erzeugte eine entsprechende Karte auf seinem Laptop.
Sollte innerhalb ihres Suchrasters ein U-Boot aus dem Ersten
Weltkrieg liegen, dann wären seine Umrisse leicht
aufzuspüren.
Sie hatten ihre Suche angefangen, indem sie
die Ufer sämtlicher Nebenflüsse in der Region abgetastet hatten,
aber Tate hielt es für unwahrscheinlich, dass die Bremen dort zu finden war. Sie wäre schon
längst von eingeborenen Flussfischern entdeckt worden.
Also konzentrierten sie sich jetzt mehr auf
die dichten Dschungelregionen. Das U-Boot war im Jahr 1922
aufgegeben worden, und die kleineren Flüsse hatten in den fast
einhundert Jahren seitdem mehrmals ihren Verlauf geändert. Es war
durchaus möglich, dass die Bremen
in einem abgeschnittenen Nebenfluss gestrandet war und dort von der
üppigen Flora des Urwalds überwuchert wurde.
»Das dauert eine Ewigkeit«, sagte Tate
missgelaunt.
»Wir müssen methodisch vorgehen«, hielt
Farouk dagegen. »Eine – wenn auch nur geringfügige –
Abweichung vom Suchraster, und schon könnten wir sie
verfehlen.«
»Und bist du sicher, dass Horvath während
seiner Tiraden die Position des U-Boots nie erwähnt hat?«
»Ich wünschte, er hätte es getan. Diese Art
der Suche ist wirklich mühsam.«
Istvan Horváth, der ungarische
Wissenschaftler, der den Sonar-Disruptor gegen Ende des Ersten
Weltkriegs erfunden hatte, war 1922 mit wilden Geschichten über ein
mitten im Regenwald gestrandetes deutsches U-Boot aus dem
Amazonas-Dschungel aufgetaucht. Er behauptete, dass die
Bremen , ein U-Boot, das als
Blockadebrecher konstruiert und erbaut worden war, den Krieg
unbeschädigt überstanden hatte und für vier Jahre nach Ende der
Kriegshandlungen einen abgelegenen Abschnitt des Amazonas als Basis
benutzte, von der aus sie Raubzüge auf andere Schiffe
unternahm.
Niemand hatte ihm Glauben geschenkt, auch
wenn die Bremen tatsächlich noch
vor Ende des Krieges verschwunden war und nie mehr gesehen wurde.
Ein Problem war nur, dass Horváth nachweisbar geistig gestört war,
in den Wahnsinn getrieben durch Entbehrung und den langen Marsch
durch den verwanzten Urwald. Seinen Rettern erzählte er, dass jedes
Mannschaftsmitglied des U-Boots schwer erkrankt und gestorben sei,
ehe sie wieder hatten in See stechen können. Er war offenbar der
einzige Überlebende und hatte es geschafft, den weiten Weg bis zur
Küste zu Fuß zurückzulegen, aber seine mit irrem Blick
vorgetragenen Geschichten wurden als zu fantastisch abgetan, als
reine Wahnvorstellungen eines Geisteskranken.
Horváth wurde in eine Heilanstalt in
Budapest eingewiesen – wo er den Rest seines Lebens damit
verbrachte, die Wände seiner Zelle vollzukritzeln. Erst einige
Jahrzehnte später, als Farouk seine eigenen Forschungen über
Schallwaffen in Angriff nahm, stieß er auf ein altes Foto von
Horváth in seiner Zelle, das in einer Fachzeitschrift für
Psychiatrie abgedruckt war. Farouk erkannte die mathematischen
Gleichungen, die der Wissenschaftler an die Wände geschrieben
hatte, als Formeln für die Entwicklung des Sonar-Disruptors. Er und
Tate schlichen sich in die Heilanstalt, die noch immer in Betrieb
war, und mussten feststellen, dass die Zelle längst renoviert
worden war. Sie fanden jedoch eine Menge alter Fotografien aus der
Zeit, in der Horváth dort untergebracht war. Mit deren Hilfe konnte
Farouk die Arbeit des Ungarn rekonstruieren, letztlich sogar
vervollständigen und Tate so die benötigten Grundlagen für die
Herstellung der Waffe liefern.
Dann stolperten Einheimische über das
U-Boot, und Tate begriff, dass er seine Investition um jeden Preis
schützen musste. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass sich
Horváths Pläne noch an Bord des U-Boots befanden, sodass sich sein
Traum von einem weltweiten Monopol auf diese Waffe sehr schnell
zerschlagen würde. Daher durfte niemand diese Pläne je zu Gesicht
oder gar in die Hände bekommen.
»Unser Sprit wird knapp, Commander«, meldete
sich der Pilot. »Wir müssen umkehren, um aufzutanken.«
Unwillig verzog Tate das Gesicht und blickte
zur Sonne, die bereits dicht über dem westlichen Horizont stand.
»Wie lange wird es dauern?«
»Inklusive der Flugzeit zum Flugplatz und
zurück etwa eine Stunde.«
Tate wandte sich an Farouk. »Haben wir
danach Zeit für ein weiteres Raster?«
»Eigentlich kaum.«
»Okay«, sagte Tate zu dem Piloten. »Bringen
Sie uns zurück.«
»Li wartet schon auf uns«, sagte Ballard.
»Ich habe ihn gerade über Funk gehört.«
»Konnte er alles besorgen?«
Sie nickte. Das bedeutete, dass Li
zweihundert Pfund C-4-Plastiksprengstoff gekauft hatte. Sobald sie
die Bremen orteten, würde Tate
dafür sorgen, dass niemand irgendwelche Überreste des
ursprünglichen Sonar-Disruptors oder dessen Pläne finden würde. Er
hatte vor, das U-Boot in die Luft zu sprengen.