Deutschland

Christopher saß auf seinem Bett und blinzelte. Jemand hatte angeklopft.

Vor ihm lag ein zugeklappter Bildband.

Draußen fiel Schnee in großen Flocken vom Himmel.

Er schüttelte sich verwirrt. Er hatte im Schneidersitz gesessen, und sein eines Bein war eingeschlafen. Es klopfte noch einmal.

»Ja?«, fragte Christopher. »Hallo?«

Die Tür öffnete sich, und dort stand seine Mutter. Sie betrachtete ihn einen Moment lang mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen – als hätte sie nicht erwartet, dass er »Ja – hallo?« sagen würde.

Dann hob sie die Hand und wedelte mit einem Stück Papier.

»Arne hat gemailt«, sagte sie. »Denk dir nur, Christopher. Er ist frei! Es geht ihm gut. Die anderen beiden Jungen sind auch schon auf dem Heimweg, und Arnes Flieger landet morgen früh um halb neun in München.«

»Das ist wunderbar«, sagte Christopher und erhob sich etwas mühsam. »Aber mein Bein ist eingeschlafen.«

Er nahm den Bildband vom Bett und legte ihn auf seinen Schreibtisch. Hinten auf dem Umschlag war ein kleiner Teeladen zu sehen, in dem an einem Tisch ein einheimischer Junge saß und Limonade trank. Das einzig Un-Einheimische an ihm war das ziemlich mitgenommene Red Hot Chili Peppers-T-Shirt, das er trug.

»Ich muss bei Gelegenheit daran denken, diesen Bildband zurück in die Bücherei zu bringen«, sagte Christopher.

»Hm, ja«, sagte seine Mutter. »Sag mal... seit wann hast du dieses weiße Hemd?«

Christopher lächelte.

Da vergaß sie das Hemd. »Hast du eigentlich schon mal von irgendjemandem gehört, dass du genauso aussiehst wie Arne, wenn du lächelst?«, fragte sie.

»Oh ja«, antwortete Christopher. »Um ehrlich zu sein: in letzter Zeit sogar ziemlich oft.«

Sie holten Arne alle zusammen vom Flugplatz ab. Der Flug hatte zwei Stunden Verspätung, und Christopher versicherte seinen Eltern immer wieder, dass sie sich keine Sorgen zu machen bräuchten.

Als Arne hinter den Glaswänden der Gepäckausgabe-Halle auftauchte, winkte er so fröhlich wie immer. Sein Haar war wieder etwas kürzer, und er hatte sich den Bart abrasiert.

»Was trägt er denn da unter dem Arm?«, fragte Christophers Mutter verwundert.

»Donnerwetter, eine Bronzestatue!«, meinte sein Vater und grinste. »Eine Göttin oder so. Er wird doch nicht auf seine alten Tage an Geschmacksverirrung leiden?«

Auf dem Heimweg im Auto saßen Arne und Christopher auf der Rückbank. Arne hielt die Statue auf seinen Knien.

Es war die Figur eines Mädchens. Sie hatte kurzes Haar, lag lang ausgestreckt auf dem Rücken und war in ein Tuch gehüllt. Vielmehr sah es aus, als hätte jemand das Tuch über sie geworfen. Ihre Augen waren geschlossen wie im Schlaf. Und obgleich da seltsame Unregelmäßigkeiten in der Bronze waren, Unregelmäßigkeiten wie Wunden, wirkte ihr Gesicht wie das Gesicht von jemandem, der einen wunderbaren Traum träumt.

Christopher strich behutsam über die bronzene Stirn des Mädchens. Was war geschehen? Was hatte er sich eingebildet? Was war wirklich?

»Mein Herz ist gierig nach Träumen«, murmelte er.

Seine Mutter drehte sich nach ihnen um. »Was hast du gesagt?«

»Nichts«, antwortete Christopher.

Doch er sah, wie Arne ihm kaum merklich zunickte.