Niyas Lied
Er erwachte von einem Lied.
Da waren Worte in der Dunkelheit, und er blieb mit geschlossenen Augen liegen, um ihnen zu lauschen. Die Klänge einer Gitarre begleiteten die Worte: schöne Worte, voller Trauer.
Zuerst verstand er sie nicht. Sein Kopf war noch an einem Ort, an dem es keine Worte gab. Er hatte geträumt – von seinen Eltern geträumt: Ein lauer Frühsommerabend, die Türen zur Veranda standen offen, und der Duft des Blauregens drang herein. Der alte Plattenspieler spielte einen Walzer, und Christopher hatte seine Eltern im Wohnzimmer tanzen sehen, im Halbdunkel, ehe sie Licht machten.
Arne hatte in der offenen Verandatür gesessen und ein Buch gelesen –
Der Walzer war alles, was aus seinem Traum blieb. Auch die Gitarre spielte einen Walzer. Wie seltsam, dachte Christopher, denn: Bin ich nicht in Nepal? Und gibt es dort etwas wie Walzer? Aber es gab auch Maggi-Instant-Nudeln, und es gab Funkgeräte und Gewehre, warum also sollte es keinen Walzer geben?
Die Stimme wiederholte ihre Worte immer und immer wieder, und schließlich konnte er sie verstehen. Es war ein Liebeslied, das da gesungen wurde, ein Liebeslied voll von Schwermut und einer Farbe wie dunklem Blau.
»Du sagst, du liebst mich«, sang die Stimme, »solange die Sterne dort stehen –«
Du sagst, du liebst mich, solange die Sterne dort stehen. Du sagst, du liebst mich, solange die Winde wehen. Du sagst, du liebst mich, aber ich kann dich nicht sehen,
mein Geliebter ist unsichtbar.
Die Nacht ist schwarz und sternenleer, und die Winde wehn nicht mehr, und mein Herz, ein Stein, so schwer, wünscht,
es wär nicht wahr.
Über die Berge bist du gegangen, drüben hat man dich aufgehangen, weiß sind deine bleichen Wangen
wie der Mond.
Durch die Flüsse bist du geschwommen und wirst nie mehr wiederkommen, hast mein Herz mit dir genommen,
hast mich nicht verschont.
Von mir wirst du keine Tränen sehen, ich werde über die Berge gehen,
ich habe noch nie geweint.
Ich werde die Brücken hinter mir brechen und dich, mein Geliebter, rächen.
Bis dass der Tod uns vereint.
Jetzt erkannte Christopher die Stimme. Sie war es, sie: Niya. Ihre Stimme war rau, wenn sie sang, wie das rostige Metall der leeren Konservenbüchsen, die er nicht getroffen hatte. Aber es war eine Stimme, die gut zur Schwermut des Liedes passte. Christopher schlug die Augen auf. Es war Nacht. Über ihm spannte sich ein weites Firmament voller Sterne.
Er wollte etwas sagen, doch seine Stimme gehorchte ihm erst nach ein paar Versuchen.
»Ist – ist es so gewesen?«, fragte er. Sein Hals schmerzte, und seine Worte waren nicht mehr als ein heiseres Flüstern.
Aber sie hörte ihn. Der Umriss ihres Gesichts mit dem wilden Haar tauchte über ihm auf und schloss die Sterne für einen Moment aus.
»Du bist wach?«, fragte sie.
»Nein«, flüsterte Christopher. »Ich spreche im Traum.«
»Ach so«, wisperte sie, »dann lass mich dir in deinem Traum sagen, dass du irre bist. Übergeschnappt. Wahnsinnig.«
»Vielen Dank«, erwiderte Christopher bescheiden.
»Aber besser ein lebender Wahnsinniger als ein toter Vernunftsmensch«, sagte Niya. »Ich bin verdammt froh, dass du wieder sprichst.«
»Jumar«, brachte Christopher hervor. »Wo ist er? Ist alles in Ordnung mit ihm?«
»Er schläft«, flüsterte Niya. »Drinnen, im großen Zelt, mit den anderen. Nur ich konnte nicht schlafen, und ich dachte, auch du könntest ein wenig Sternenlicht gebrauchen ... Jumar hat mir erzählt, dass du häufiger Ausflüge in die Bewusstlosigkeit machst und dass man sich keine Sorgen zu machen bräuchte. Aber er war sicherlich der, der sich von uns allen am meisten Sorgen gemacht hat. Er hat dich drei Tage lang auf seinem Pferd mitgeschleppt wie einen Toten. Die anderen waren dafür, dich irgendwo in einem Dorf zurückzulassen. Vielleicht wäre es besser gewesen für dich. Aber Jumar hat sich geweigert, ohne dich weiterzureiten.«
»Die anderen ...« murmelte Christopher. »Und du?«
Niya schüttelte unwillig den Kopf. Im Dunkeln konnte er den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht sehen. »Das tut nichts zur Sache«, sagte sie. »Was war es, das du mich gefragt hast?«
»Das Lied. Dein Lied von dem, der über die Berge ging ... ist es wahr?«
»Oh, sicher«, antwortete sie. »Für viele ist es wahr.«
»Und für dich?«
Sie lachte leise. »Du meinst, ob ich einen Geliebten habe, der fortgegangen ist? Nein. Aber es ändert nichts, ob es ein Geliebter ist oder dein Bruder oder dein Vater.«
»Das, was du auf dem Dorfplatz gesagt hast – es stimmt also?«
»Jedes Wort«, antwortete Niya ernst.
Christopher schwieg eine Weile.
»Dort, wo ich herkomme, ist alles so ganz anders«, sagte er schließlich.
»Woher kommst du?«
Er zögerte. »Auch diese Nacht ist nicht lang genug, um deine Geschichte zu erzählen, habe ich recht?«, fragte sie.
»Ich fürchte, nein«, antwortete Christopher.
»In ein paar Tagen erreichen wir das Basislager«, sagte Niya. »Vielleicht sind die Nächte dort lang genug.«
»Wie ist es dort?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Auch ich war noch nie dort. Auch ich weiß nicht genau, wo es sich befindet. Keiner weiß das. Eine Gruppe von den Leuten des großen T wird irgendwo auf uns warten und uns hinbringen.«
»Hast du ihn je gesehen? Den großen T?«
Niya nickte. »Er war es, der mich unter den Trümmern unseres Hauses hervorgezogen hat. Mit seinen eigenen Händen.«
»Mit wessen Händen auch sonst«, murmelte Christopher, und sie lachte wieder.
»Es ist vier Jahre her«, sagte sie. »Vier Jahre lang habe ich ihn nicht gesehen. Damals hat er dafür gesorgt, dass seine Leute sich um mich kümmern. Sonst wäre ich wohl nicht mehr am Leben.«
Niya zupfte ein paar Akkorde auf der Gitarre und schien ihrem Nachhall zu lauschen – sie stiegen in die Luft der Nacht empor wie Seifenblasen und paarten sich ungesehen und weit fort vielleicht mit dem Sternenlicht.
»Tu mir einen Gefallen«, flüsterte Niya, kaum hörbar. »Rette keine Pferde mehr.«
»Ich – habe sie doch gerettet?«
»Sie alle. Aber ich hätte lieber zwei Dutzend Pferde verloren als dich.«
Christopher grinste. »Kann ich das schriftlich haben?«
»Ich kann nicht schreiben.«
Er versuchte, nicht überrascht auszusehen. Im Dunkeln war das zum Glück einfach.
»Wenn du willst, bringe ich es dir bei«, sagte er und vergaß vollkommen, dass auch er die nepalesische Schrift nicht beherrschte. »... in einer der Nächte, die lang genug dazu sind.«
Sie nickte.
Doch noch konnte keiner von ihnen wissen, wie lang die Nächte im Basislager wirklich waren – die längsten Nächte des ganzen Landes.
Sie durchquerten nur noch eine Handvoll Dörfer in den nächsten Tagen, und die Hütten wurden immer niedriger und duckten sich an den wenigen ebenen Flächen dicht an den Boden wie frierende Tiere. In jedem Ort hielt Niya ihre Rede, und obgleich Christopher jedes Wort kannte, packte ihn die Macht dieser Worte jedes Mal von Neuem. Sie hatte jetzt nur noch wenige Zuhörer, schüchterne, zurückhaltende Menschen, die sich nur zögernd um sie versammelten. Auch sie sahen das Glühen in ihren Augen, aber der Wind der Berge hatte ihre Herzen hart gemacht, und sie öffneten sie nicht. Sie hatten keine Vorräte, die sie den Kämpfern mitgeben konnten, und nur in zwei Orten beschloss einer von ihnen mitzugehen.
Am Eingang jedes Dorfes ritten sie links an den Gebetstrommeln vorüber und drehten sie, eine nach der anderen, doch nirgends verbarg sich eine Nachricht für sie.
Christopher sah Niyas Ungeduld.
Das Ziel konnte hinter jeder Wegbiegung liegen, hinter jeder Bergkuppe, jedem Felsen – doch sie wussten nicht, wo es sich befand, und es lag allein in der Hand ihres Anführers, des mysteriösen großen T, zu entscheiden, wann er seine Männer schickte, um sie zu ihm zu führen.
Einmal schlugen sie ihre Zelte neben einem kleinen buddhistischen Kloster auf, und es kam Christopher seltsam vor, dass die Mönche ihr Essen mit ihnen teilten. Unter der Stupa, der Kuppel des Klosters, waren zwei Augen aufgemalt: Buddhas Augen. Er schien die Kämpfer mit einem leisen Argwohn zu beobachten.
»Seid ihr denn Buddhisten?«, fragte er Niya, und sie lachte und schüttelte den Kopf, dass das wirre, schwarze Haar nur so flog.
»Wir sind Kämpfer«, sagte sie. »Wir haben keine Religion. Wer kämpfen will, kann sich keine Religion leisten.«
»Aber warum verpflegen sie euch?«
»Vielleicht wissen sie, dass es gut ist, was wir tun?«, antwortete Niya.
»Oder vielleicht haben sie Angst«, murmelte Christopher, doch er murmelte es so leise, dass sie es nicht hörte. Der Wind war schärfer denn je an diesem Abend, und zwei der Mönche winkten sie zu sich herein, in den Schutz der Klosterwände. Christopher zog seine Schuhe aus, wie sie alle es taten, und es war ein seltsames Bild, wie sich all jene dicken, klobigen Stiefel auf der gemauerten Empore vor dem Eingang des Klosters versammelten – all jene Stiefel, ein paar Sandalen und ein paar weiße Turnschuhe, die bis jetzt unsichtbar gewesen waren.
Drinnen war das Kloster so bunt, dass Christopher nach dem Braun und Grau der Steppe die Augen schließen musste. Wenn ein Farbdrache je ein buddhistisches Kloster von innen gesehen hätte, dachte er, so würde wohl keines von ihnen mehr so aussehen: Die gedrungenen, hölzernen Säulen des Klosters waren in allen Farben des Regenbogens angestrichen, Masken von Tieren oder Fabelwesen mit beunruhigend hervorquellenden Augen und irrem Blick hingen oben am Kopf der Säulen, und eine Art zylinderförmiger Windhosen aus Dutzenden von winzigen, seidenen Flicken mit allen erdenklichen Mustern hing zu beiden Seiten des Schreins an der Stirnseite des Klosters. In jenem Schrein aber lehnte hinter makellos poliertem Glas die riesige, gerahmte Fotografie eines Mannes mit einer zu großen Brille, der ernst zwischen einer ganzen Reihe an bunten Stoffgirlanden und Blütenschmuck hervorblickte, welche ihn in seinem Bilderrahmen beinahe zu ersticken drohten. Christopher war sich nicht ganz sicher, ob es der Dalai Lama war, aber auch der Mann in dem Bild schien sich nicht ganz sicher zu sein. Es lag ein gewisses scheues Zweifeln in dem Blick hinter den großen Brillengläsern, das ihn sympathisch machte.
Die Wände des Klosters waren bemalt mit Szenen aus dem Leben Buddhas, von denen Christopher die meisten nicht zu deuten wusste.
»Warum ist dort eine grüne Ratte, die Gitarre spielt?«, flüsterte er Jumar zu.
Jumar machte ein Geräusch, als müsste er ein Lachen unterdrücken, aber vielleicht hustete er auch nur.
»Ich glaube«, wisperte er, »es soll etwas anderes sein.«
Schließlich riss Christopher seinen Blick von all den Farben und Formen, all den Geschichten und Geheimnissen des Klosters los und setzte sich gehorsam mit untergeschlagenen Beinen zu den Übrigen. Sie saßen in zwei langen Reihen rechts und links vom schmalen Mittelgang des Klosters, Kämpfer und Mönche nebeneinander, und die jüngsten der Mönche, kaum älter als acht oder neun, gingen mit Schalen und Töpfen herum, um ihre Gäste zu bedienen.
Sie aßen eine seltsame Art Maisbrei, aus dem man mit sehr viel Geschick kleine Kugeln rollen konnte, um sie in Soße zu tauchen. Christopher besaß das Geschick nicht und kämpfte eine Weile vergeblich, bis sich einer der kleinen Mönche erbarmte und ihm unter verhaltenem Gekicher einen verbogenen Blechlöffel reichte.
Er fühlte Niyas Augen auf sich ruhen. Eines Tages, bald schon, würde er ihr erzählen müssen, woher er wirklich kam.
Es war während dieses merkwürdigen Essens inmitten all jener Farben, als sie ein weiteres Märchen hörten. Christopher dachte an die spinnenfingrige Alte zurück, die ihnen zu Beginn ihrer Reise ein Märchen erzählt hatte – und an ihre Genugtuung darüber, dass alle Märchen schlecht ausgingen.
Zu jener Zeit erschien es Christopher belanglos, und erst viel später würde er begreifen. Der älteste Mönch erzählte das Märchen – er erzählte es, als spräche er zu sich selbst, aus dem Blauen heraus, ohne Einleitung, ohne einen Grund für seine Erzählung. Und es war ein Märchen über einen Mönch.
»Vor langer Zeit«, begann er in einem seltsamen, eintönigen Singsang, »da herrschte in einem Land irgendwo in den Bergen ein König, der hatte einen Garten, so schön wie die Nacht, und eine Gärtnerin, so schön wie der Tag, in deren Augen die Sonne wohnte. Der König war glücklich, und sein Volk war glücklich, und in jenen Tagen lebten alle in Frieden und Eintracht. Da kam eines Tages ein Mönch von den Gipfeln hinuntergestiegen, von dem Berg her, der aussieht wie der Schwanz eines Fisches, und er wanderte weit und lange, um den herrlichen Garten des Königs zu sehen.
Als er dort ankam, klopfte er an das Tor und fand es offen. Im Garten traf er die Gärtnerin beim Beschneiden der Rosen. Der König saß neben ihr, versunken in das anmutige Bild.
›Ich habe von der Schönheit dieses Gartens gehört‹, sagte der Mönch, ›und von all den wundervollen Blumen, die dort wachsen. Das Kloster, aus dem ich gekommen bin, liegt hoch in den Bergen, und dort ist es karg und kahl. Keine einzige Blume will dort wachsen. Doch eine Blume aus Eurem Wundergarten könnte es schaffen, in der wenigen Erde zu wurzeln. Gewährt mir die eine Bitte: Lasst mich eine einzige Blume aus Eurem Garten ausgraben und sie mitnehmen in meine Einsamkeit zwischen den windigen Gipfeln.‹
Da nickte der König, doch die hübsche Gärtnerin wandte ihren Blicken von den Rosen ab und schüttelte den Kopf.
›Ich hab den Garten gehegt und gepflegt, mein König‹, sagte sie, ›für Euch habe ich es getan, und jede Minute meines Lebens wird zu einer Blüte in diesem Garten. Nein, keine Blume aus diesem Garten will ich missen, nicht eine einzige!‹
Da seufzte der König, denn er liebte nicht nur den Garten, sondern auch die Gärtnerin. Und die Gärtnerin schloss das Tor vor der Bitte des Mönchs. ›Meine Blume würde erfrieren in euren Höhen‹, sagte sie.
Die Diener des Palastes, die dies hörten, drängten den Mönch, die Stadt zu verlassen. ›Wenn der König sich einmal entschieden hat‹, sagten sie, ›wird nichts seinen Entschluss ändern.‹
Da wandte sich der Mönch von der Stadt ab, und statt einer Blume gedieh in seinem Herzen das dornige Gewächs des Ärgers, genährt vom Dünger der Demütigung.
Er zog sich zurück in das Kloster, aus dem er gekommen war, und dort wuchs aus seinen Fingern ein Ungeheuer mit sieben Köpfen – größer als alle Ungeheuer, von denen man bisher gehört hatte auf der Welt und fürchterlicher anzusehen als alle Gewitterstürme der Berge.
Das Ungeheuer verließ das Kloster auf schweren Pranken und wanderte hinab zur Stadt des Königs und zu seinem Garten. Und wen es mit seinem heißen Atem berührte, der fiel in einen tiefen, unlösbaren Schlaf. Bald schlief die ganze Stadt, das ganze Tal, der ganze Palast, das ganze Bergland. Die Gärtnerin im Palastgarten schlief, der König schlief, und ihr ganzer Hofstaat schlief mit ihnen. Nur einem kleinen Jungen war es gelungen, sich vor dem Ungeheuer zu verbergen. Er öffnete die Türen eines leeren Stalles und lockte das Untier mit seinen Rufen hinein, und kaum war es darin, da schloss der kleine Junge die Türen. Das Ungeheuer stieß seinen heißen, wütenden Atem in die Luft, bis der ganze Stall ausgefüllt war damit. So musste es sein eigenes Feuer atmen, bis es schließlich einschlief. Ein wenig von seinem Atem aber war durch die Ritzen des Stalles gedrungen und hatte den kleinen Jungen gestreift, der davor wartete, und so schlief auch der Junge ein. Seitdem träumt das Land in den Bergen einen endlosen Traum, und man hat nie wieder etwas von jenem Land gehört – es ist ganz und gar vom Erdboden verschwunden. Doch irgendwo in diesem Land blühen die Blumen im Garten des Königs, die die hübsche Gärtnerin herangezogen hat – sie blühen umsonst, und ihre Schönheit ist kalt, denn niemand kann sie mehr betrachten.«
Der alte Mönch nickte ein paarmal und fuhr fort damit, Kugeln aus Maisbrei in Soße zu tauchen, als hätte er eigentlich gar nichts gesagt. Christopher aber dachte bei sich, dass er die Märchen dieser Leute nicht mochte. Die alte Frau hatte recht gehabt: Sie alle gingen schlecht aus. Sie ließen ein mulmiges Gefühl in ihm zurück. Es war, als steckte ein Körnchen Wahrheit in jenen Märchen.
Als sie die Mönche am nächsten Morgen verließen, dachte er noch lange an all die Farben zurück, zwischen denen sie lebten und beteten – und daran, wie merkwürdig es war, dass die Drachen sie noch nicht entdeckt hatten.
Sie waren noch nicht ganz außer Sichtweite des Klosters, als zwei Reiter aus dem Nichts auftauchten – oder so schien es – und auf sie zugaloppierten. Zuerst erschrak Christopher, doch die Reiter trugen die tarngrüne, abgewetzte Kluft der Aufständischen, und er sah das Leuchten in Niyas Augen.
»Jetzt hat das Warten ein Ende«, sagte sie und hielt ihre Männer an. Sie saß ab, legte die Hände zum Gruß zusammen und verneigte sich tief, als die Reiter bei ihnen waren.
Und alle Übrigen taten es ihr gleich.
Doch die beiden Männer warfen ungeduldig die Köpfe mit den grünen Kappen zurück und schnalzten mit der Zunge.
»Keine Zeit für Förmlichkeiten«, sagte der eine. Und der andere fügte hinzu: »Steigt wieder auf eure Pferde, und folgt uns.«
Und das taten sie.
Die Männer ritten voran quer durch niedriges, dorniges Gestrüpp, sie folgten keinem Pfad. Wenig später führten sie den Trupp steil aufwärts, schließlich durch ein Nadelöhr aus hohen Felsen – und dann lag es vor ihnen, an einer Stelle, wo niemand es jemals finden würde: das Basislager.
Aber es war kein Lager. Es war eine Stadt.
Eine Stadt, die aussah, als wäre sie geschmolzen. Als entstammte sie einem Bild von Dali. Arne hatte ein Bild von Dali über seinem Bett hängen, ein Blatt aus einem Kalender. Beinahe suchte Christopher die unvermeidlichen zerfließenden Uhren –# Natürlich waren da keine zerfließenden Uhren. Die Zeit in der geschmolzenen Stadt ging ihre eigenen Wege, und er sollte es bald lernen.
»Was für ein merkwürdiger Ort«, wisperte Christopher. »Es ist, als stammte er aus einem Traum. Wie kann eine ganze Stadt schmelzen?«
»Lehm«, sagte Jumar sachlich. »Die Stadt ist aus Lehm. Sie ist nicht geschmolzen. Der Regen hat sie zu dem gemacht, was du siehst.«
Als sie hinunterritten, auf die Lehmbauten zu, kam es Christopher mit einem Mal vor, als hätte er die Stadt schon irgendwo gesehen. Als würde er sie schon lange kennen. Eine vage Erinnerung tauchte in ihm auf – der Bildband. War eine Fotografie von dieser Stadt in dem Bildband gewesen, den er sich damals angesehen hatte, auf seinem Bett? Wie lange war das her? Wochen? Monate?
Aber wie konnte die Fotografie eines so geheimen, unauffindbaren Ortes in einem Bildband auftauchen? Er schüttelte den Kopf und verschob die Lösung dieses Rätsels auf später. Jetzt hatte er anderes zu bedenken. Irgendwo dort vor ihm, in der geschmolzenen Stadt, war Arne. Er spürte, wie seine Finger zu kribbeln begannen und sein Atem rascher ging.
»Wir sind am Ziel«, flüsterte er Jumar zu, der hinter ihm auf dem Pferd saß. »Jetzt werden wir meinen Bruder finden. Wir müssen sie fragen –«
»Noch nicht«, antwortete Jumar. »Warte noch ein wenig, Christopher.«
Und Christopher seufzte, denn er wusste, dass Jumar recht hatte. Was er nicht wusste, war, wie oft er diese Worte in der nächsten Zeit noch hören würde und wie sehr er beginnen würde, sie zu verabscheuen.
Am Eingang zur geschmolzenen Stadt gab es keine Mauer mit Gebetsmühlen. Es gab keine Steine, in denen die Menschen ihre Hoffnungen und Ängste geritzt hatten, und keine bunten Flaggen.
Stattdessen standen dort auf einer ebenfalls geschmolzenen Mauer Figuren, die im fahlen Licht des kalten Mittags glänzten: Männer und Frauen, Kinder und Greise. Aber die meisten von ihnen waren Kämpfer in seltsam metallener Tarnkleidung.
»Bronze«, flüsterte Jumar.
Der Reiter vor ihnen fuhr herum. »Bronze, ja«, sagte er grimmig. »Wir stellen sie hier auf, damit niemand vergisst. Die, die es erwischt. Es werden mehr. Die Drachen kommen jetzt häufiger.«
Und Christopher fühlte, wie ein kalter Atem ihn streifte, der von nirgendwoher kam.
Er drehte sich auf dem Pferd um und sah zurück zur Mauer. Wie verloren die bronzenen Statuen wirkten! Kalt, leer und leblos.
Die Stadt selbst war voller Leben, doch alles Leben in ihr drehte sich um das eine: die Vorbereitung jenes großen Tages, an dem die Aufständischen endlich ihre Kräfte sammeln und zur Hauptstadt ziehen würden. Alles drehte sich um das Lernen, das Üben, den Zusammenhalt.
In der geschmolzenen Stadt gab es keine Individuen.
»Wir alle sind eins«, sagte Niya, als sie in die Straßen zwischen den Lehmhäusern hineinritten, und ihre Augen leuchteten heller denn je. »Seht euch das an! Seht nur! Alle diese Menschen, sie alle wollen das Gleiche wie wir. Wie viele es sind! Viel mehr, als ich dachte! Und sie alle halten zusammen wie eine große Familie. Sie alle sind Brüder und Schwestern. Gemeinsam werden wir es schaffen, alles zu ändern, alles. Es wird keine Armen mehr geben und keine Reichen, so, wie ich es gesagt habe. Ist das nicht wunderbar?«
»Ja«, sagte Jumar, »das ist wunderbar.«
Doch Christopher schwieg.
Etwas war da, das an seinem Herzen nagte, als er all jene Männer und Frauen in ihren grünen Tarnjacken durch die Straßen marschieren sah. Ja, sie marschierten: Es war, als ging nie jemand in der geschmolzenen Stadt irgendwohin, ohne zu marschieren und zu singen. Er suchte Arne unter den Marschierenden, doch er fand ihn nicht. Vielleicht lag es daran, dass es zu viele waren.
Die Neuankömmlinge wurden mit einer Rede begrüßt, die allerlei schöne Worte über den Zusammenhalt der Kommunisten in aller Welt und der Maoisten im Besonderen in sich barg, Worte über Armut und Gerechtigkeit – doch keines dieser Worte berührte Christopher. Sie hatten nichts von der sprühenden, leuchtenden Helligkeit, die Niyas Worte gehabt hatten.
Sie wirkten so kalt und eckig, so auswendig gelernt.
An jenem ersten Abend, als er neben Jumar in einem der Lehmhäuser lag, in einem Raum mit vielen anderen, die er nicht kannte, flüsterte er ganz leise:
»Ich bin vielleicht ein schlechter Mensch, Jumar. Aber mir ist dies alles nicht geheuer. Ich möchte mich nicht aufgeben und eins werden mit einer Masse. Ich möchte lieber Christopher bleiben.«
»Aber das tust du doch«, wisperte Jumar zurück. »Indem du zusammen mit all den anderen hilfst, eine bessere Welt zu schaffen, wirst du noch viel mehr Christopher, als du es bisher warst!«
»Du klingst wie sie«, murmelte Christopher und drehte sich auf die andere Seite, um zu schlafen.
Am nächsten Tag wurden sie einzelnen Übungstrupps zugeteilt; überhaupt wurde alles eingeteilt: die Zeit, die Mahlzeiten, das Schlafen, das Wachen. Der Stundenplan eines Schultages war nichts als anarchistisches Chaos dagegen. Hier gab es für jede Stunde, jede Minute des Tages einen genauen Plan. Und nie, niemals war Christopher allein. Wo immer er sich aufhielt, war da jemand, der ihn beobachtete. Nicht böswillig, nicht einmal argwöhnisch. Es war einfach immer jemand da.
Was ihn am härtesten traf, war, dass sie von Niya getrennt wurden. Aus einem unerfindlichen Grund schliefen und aßen die Männer und Frauen hier im Basislager getrennt voneinander, trainierten getrennt voneinander und gingen getrennt voneinander den Pflichten des Alltags nach. Erst nach Tagen begriff Christopher, dass auch diese Maßnahme der Disziplin diente. Wer sich allzu sehr mit Zwischenmenschlichem beschäftigte, der hatte keinen Platz mehr in seinem Körper für das Training, das sie jeden Tag erwartete – keinen Platz mehr im Kopf, um zu lernen, was gelernt werden musste.
Und so begann Christopher zu lernen.
Er lernte, sein Unbehagen vor dem Gewehr beiseitezuschieben und es endlich richtig zu halten, er lernte die Lieder der Aufständischen, er lernte, was die Befehle ihrer Anführer bedeuteten, lernte, sich schnell genug danach zu drehen, zu wenden, auf den Boden zu werfen –
Zuerst war es wie ein Spiel, und für eine Weile vergaß er seine Bedenken wieder.
Sie standen im Morgengrauen auf und begannen, um die Stadt zu laufen, und er hörte Jumar neben sich keuchen und wusste, dass er nicht allein war. Sie entwickelten eine Art Wettbewerb darin, wer am meisten Liegestützen, Kniebeugen und Klimmzüge machen konnte, obwohl er Jumars Aussagen schlecht kontrollieren konnte, und er spürte, wie seine Muskeln auf das Training antworteten, wie sein Körper sich straffte. Abends fiel er erschöpft auf sein Lager und schlief beinahe ein, ehe er es schaffte, die Augen zu schließen. Er war stets klein und schmächtig gewesen, dachte Christopher, wenn ihm zwischendurch Zeit zum Denken blieb – aber nun würde sich das ändern. Er würde als ein anderer aus diesem Lager hervorgehen. Man würde ihn nicht mehr auslachen. Er würde sich nicht mehr auslachen lassen. Er war zäh, und er würde noch zäher werden. Jumar hatte recht gehabt: Er würde mehr er selbst sein denn je.
Wenn er durch die Straßen lief, lauschte er auf bekannte Schritte, sah sich nach einem blonden Haarschopf um – doch er fand nie ein Zeichen von Arne. Einmal kratzte er allen Mut zusammen und fragte einen Mann, der neben ihm herlief, nach den Fremden.
Er hätte Gerüchte gehört, sagte er und hoffte, dass seine Stimme dabei nicht zitterte.
»Oh ja«, antwortete der Mann. »Auch ich habe Gerüchte gehört. Aber nicht mehr. Man sagt, da wären drei von ihnen, drei Fremde. Sie sind in einem anderen Teil des Lagers untergebracht. Sie werden mit uns kämpfen.«
»Sie sind nicht... gefangen?«
Christopher spürte den Blick des Mannes, der ihn von der Seite her musterte.
»Gefangen? Wie sollten sie gefangen sein? Auch du bist freiwillig hier. Bist du ein Gefangener?«
»Ich bin ein ... Diener unserer gemeinsamen Sache«, sagte Christopher, und er wählte die Worte mit Bedacht.
Aber ein leiser Funken des Unbehagens begann, irgendwo in ihm zu glimmen.
Es war besser, man sagte nicht alles geradeheraus, was man dachte.
Am vierten Tag ihres Lebens im Lager ließ der große T Jumar und Christopher zu sich rufen.
Sie saßen an einem der langen Tische und aßen mit den Übrigen zusammen, als einer seiner Männer kam, um sie zu ihm zu bringen.
Christopher spürte die Nervosität in sich aufsteigen.
»Sag ihm nicht, wer du bist«, flüsterte er Jumar zu. »Noch nicht.«
»Sag nichts über Arne«, flüsterte Jumar zurück. »Noch nicht.«
Der Mann führte sie zu einem nichtssagenden Lehmhaus in einer abgelegenen, schmalen Seitengasse: einem Haus ohne Verzierung, ohne Prunk. Niemand, der es nicht wusste, hätte geglaubt, dass von diesem Haus aus jemand die Aufständischen des ganzen Landes dirigierte wie ein lautloser Puppenspieler.
Der Puppenspieler saß in einem vollkommen kahlen Raum im ersten Stock des Hauses.
Das Einzige, was an der Wand hing, war ein verblichenes Foto von jemandem, den Christopher für Mao hielt, obwohl es auch jemand ganz anderer hätte sein können. Eine verwelkte Hibis-kusblüte steckte auf einem der Nägel, mit dem das Foto an der Wand befestigt war.
Der große T war nicht groß. Er war ein kleiner, schmächtiger Mann mit der Ausstrahlung einer Eidechse: flink, wendig, klug. Niemals greifbar. Er trug eine grüne Uniform ohne jedes Abzeichen und weder eine tarngrüne Jacke noch einen Patronengurt. Auf seinem Tisch lagen neben den Papieren eine Pelzmütze und ein Revolver, wie beiläufig dort platziert, achtlos. Selbstverständlich. Er stand von seinem Schreibtisch auf, als sie den Raum betraten, ging um den Tisch herum und musterte Christopher eine Weile von Kopf bis Fuß.
Er trug jetzt die tarngrüne Kleidung aller Kämpfer, und Ju-mars Sandalen hatten klobigen Stiefeln weichen müssen, die zugegebenermaßen hier oben zweckmäßiger waren.
Christopher senkte den Blick, legte die Hände zusammen und verbeugte sich.
»Du bist nicht allein«, sagte der große T. »Ich habe dich rufen lassen, weil ich höre, dass du mit einem unterwegs bist, der anders ist als andere Menschen.«
»Er ist unsichtbar«, sagte Christopher.
»Das ist es, was ich hörte.«
»Es ist eine Art Geburtsfehler«, erklärte Jumar, und Christopher erwartete, dass der große T zusammenzuckte, als seine Stimme aus dem Nichts kam, so wie es alle taten, die es zum ersten Mal erlebten. Doch der Anführer der Aufständischen verzog keine Miene.
Er drehte den Kopf ein winziges bisschen, um in Jumars Richtung zu sehen.
»Du kannst uns große Dienste leisten«, sagte er. »Du weißt das?«
»Ja«, antwortete Jumar.
»Du wirst bei uns bleiben und für uns kämpfen?«
»Ja.«
»Es ist schwierig, einen Unsichtbaren zwischen den Männern zu haben«, sagte der große T. »Es macht sie nervös. Es kann der Disziplin schaden. Ein Unsichtbarer ist unkontrollierbar, immer frei, stets sein eigener Herr. Ich hoffe, du weißt, dass ich großes Vertrauen in dich setze, wenn ich dich bleiben lasse. Die Verantwortung, die du trägst, ist anders als die jedes gewöhnlichen Kämpfers. Du trägst die Verantwortung für dich selbst. Eine schwere Bürde. Wie alt bist du?«
»Vierzehn«, erwiderte Jumar. »Genau wie mein Freund hier.«
»Ein gutes Alter, um das Kämpfen zu lernen«, sagte der große T. »Ein schlechtes Alter, um Verantwortung zu tragen.«
»Ich werde mich Eures Vertrauens würdig erweisen«, erklärte Jumar, und Christopher hätte vielleicht über seine salbungsvollen Worte gelächelt, wäre die Kehle ihm nicht in diesem kahlen Raum vor dem eidechsenflinken kleinen Mann so zugeschnürt gewesen.
»Das will ich hoffen«, sagte der große T.
Und damit war ihre Unterredung beendet.
Er hatte nicht ein einziges Mal gefragt, ob es Methoden gäbe, Jumar sichtbar zu machen. Und auch Jumar hatte es nicht erwähnt.
Drei Tage später begann es zu schneien.
Die ersten Flocken fielen, als das Nachmittagslicht sich bereits aus den Bergen zurückzog, und eine eisige Kälte breitete sich über die Stadt. An diesem Nachmittag hatte Christopher zum ersten Mal bei den Schießübungen getroffen, und ein warmes Gefühl der Euphorie ließ ihn die Kälte zuerst nicht spüren. Der Führer ihrer Truppe beendete das Training früher als sonst. Als sie durch die Straßen zurück zu ihren Häusern marschierten (auch das hatte er gelernt), blickte er zum Himmel auf, der sich rasch verdunkelte, und öffnete den Mund, um die Schneeflocken aufzufangen und auf seiner Zunge zerschmelzen zu lassen.
Und seit Langem stiegen wieder Erinnerungen in ihm empor:
Er und Arne im Schnee, Handschuh in Handschuh. Spuren ihrer Stiefel mit den lachenden Clownsgesichtern im Garten. Ein Schneemann mit einer Gurke als Nase, weil sie keine Karotte gefunden hatten. Ein blauer Schneeanzug. Ein Schlitten: Arne lag auf dem Bauch, und Christopher saß rittlings auf ihm und juchzte, und der Schlitten fiel mitten auf dem Hügel um, und sie kullerten durch den Schnee wie junge Hunde. Er konnte ihr helles Lachen hören, Kinderlachen, von so weit, so unendlich weit weg.
Er war ganz am Ende des Trupps marschiert, und erst, als er aus der Erinnerung auftauchte, merkte er, dass er stehen geblieben war. Noch war es niemandem aufgefallen. Er sah sich um.
»Jumar?«, flüsterte er. Aber Jumar schien mit den anderen weitergegangen zu sein. Vor Christopher machte die Straße eine Biegung, und er sah die Männer dort verschwinden.
Er sollte ihnen nachrennen, dachte er, denn sie würden es nicht mögen, wenn sie merkten, dass er zurückgeblieben war. In diesem Moment entdeckte er den kleinen Jungen. Er stand in einer der Gassen und fing den Schnee mit der Zunge, genauso, wie Christopher es getan hatte. Er winkte ihm, und der Junge winkte schüchtern zurück. Was tat ein Kind im Basislager der Aufständischen? Christopher ging zu ihm hinüber, und einen Moment lang sah es so aus, als wollte der Junge fortlaufen, doch er blieb stehen.
»Wohnst du hier?«, fragte Christopher. Der Kleine musterte ihn mit großen dunklen Augen. Seine Augen erinnerten ihn an Niya. Niya. Wie lange hatte er sie nicht mehr gesehen! Wenn er ihr nur in den Straßen begegnet wäre! Aber sie blieb verschwunden. Womöglich war sie gar nicht mehr in der geschmolzenen Stadt, sondern längst wieder mit ihren Männern draußen unterwegs, um neue Kämpfer zu rekrutieren.
»Da hinten«, sagte der kleine Junge und zeigte auf ein Haus in der Gasse.
»Dann sind deine Eltern Kämpfer?«
Der Kleine schüttelte heftig den Kopf. Christopher sah, wie mager sein Körper unter dem zu großen Wollpullover war – er ertrank beinahe darin, und dennoch waren seine Lippen blau vor Kälte.
»Aber wieso seid ihr hier, wenn deine Eltern keine Kämpfer sind?«
Der Kleine sah ihn überrascht an. »Wir wohnen hier«, sagte er.
»Du meinst – überall hier in der Stadt wohnen Leute?«
»Nicht mehr überall. Manche sind weggegangen, als sie kamen. Manche sind näher zusammengerückt. Sie brauchen viel Platz. Sie brauchen unsere Häuser. Und unsere Vorräte. Sie brauchen alles Mögliche. Sie sind so viele.«
Christopher nickte langsam.
»Ich muss weiter«, sagte er. »Bis bald.«
Doch von da an begann er, Augen hinter den Fenstern zu sehen – Gesichter, Bewegungen. Die Maoisten hatten die Stadt besetzt, und die hinter den Fenstern, die in den Schatten, die man nicht sah, lebten zusammengedrängt und hungerten.
Sie hungerten nicht für eine bessere Zukunft. Sie hungerten aus Angst.
Er wollte Jumar davon erzählen, doch an diesem Abend wurden sie getrennt. Man verlegte Christopher in ein anderes Quartier, weit weg von dem, in dem Jumar weiterhin schlafen würde, zu einer Gruppe, in der er keinen kannte. Vielleicht war es Zufall. Vielleicht geschahen diese Dinge, vielleicht hatten sie etwas mit der Organisation zu tun, obgleich Christopher keinen speziellen Sinn darin sah. Vielleicht hatten sie gemerkt, dass er an jenem Nachmittag zurückgeblieben war, aus der Reihe getanzt, aus der Gemeinschaft ausgebrochen.
Von diesem Tag an konnte er mit keinem mehr reden. Er versuchte es, doch niemand schien mit ihm sprechen zu wollen. Sie hatten gemerkt, dass er anders war. Er begann, sich selbst von den Übrigen fernzuhalten, sich auszugrenzen, sich in sich selbst zu verschließen. Das Training wurde härter, es war kein Spiel mehr, es war Ernst; und die schneidend kalte Luft biss in seinen Lungen. Es war, als dringe der Schnee in sein Herz, als wäre die äußere, schützende Hülle seines Körpers undicht geworden wie ein alter Mantel. Er vermisste Niya mehr denn je – das Feuer ihrer Augen, das den Schnee hätte schmelzen können, die Berührung ihrer Hand auf seiner Schulter, wenn sie ihm etwas hatte zeigen wollen, ihr Lachen, ihre Worte, die Klänge ihrer Gitarre. Wenn er nachts alleine auf dem harten Boden lag und unter der dünnen Decke fror, dachte er an sie und stellte sich vor, sie wäre bei ihm.
Wäre wenigstens Jumar ab und zu aufgetaucht! War er nicht ein Unsichtbarer, ein Immer-Freier, einer, der die Verantwortung für sich selbst trug? Hätte er ihn nicht suchen können, mit ihm sprechen, für ein paar Minuten nur? Doch Jumar blieb fern.
War er dem großen T mit einem Mal so treu geworden, dass er sich über keinen seiner Befehle hinwegsetzte? Christopher ahnte. Der große T hatte Jumar gegeben, was sein Vater ihm nie gewährt hatte: Er hatte ihn akzeptiert, und so akzeptierte auch Jumar den großen T als seinen Befehlshaber. Aber was für eine gefährliche Art der Akzeptanz.
Wenn sie jetzt vor der Stadt im Schnee marschierten, fiel Christopher häufiger zurück, ein hartnäckiger Husten setzte sich in seinen Lungen fest, und er konnte nicht mehr mit den anderen mithalten. Der Anführer seines Trupps sah das nicht gerne, und er musste sich anschreien lassen und den Kopf einziehen, und dann fand er sich allein, nachdem die Übrigen zum Essen davonmarschiert waren, fand sich unter der Aufsicht jenes Anführers, Runden joggend, die niemandem etwas nützten und seinen Husten verschlimmerten. Der Mann schien einen regelrechten Hass auf Christopher zu entwickeln, doch Christopher verstand ihn nicht. Er beugte sich seinem Willen aus Angst. Aus der gleichen Angst, die er in den Augen der Menschen hinter den Fenstern sah.
Der Wind trieb den Schnee durch die Gassen wie Fetzen von papiernen Seiten. Wie lange hatte er kein Buch mehr gelesen? Er begann, sich nach Büchern zu sehnen, nach Geschichten, nach einem Ausweg aus jener kalten, geregelten, organisierten, überwachten Welt, in die er hineingeraten war.
Nur Arne besuchte ihn noch in seinen Träumen, doch wenn er von seinem eigenen Husten aufwachte, war auch Arne verschwunden, und alles, was blieb, war das Gefühl der Ohnmacht. Arne war hier, und doch schien es keine Möglichkeit zu geben, ihn zu treffen. Oder war er gar nicht hier? War auch das ein Gerücht?
Dreimal flogen Drachen über die geschmolzene Stadt. Hier sah Christopher sie zum ersten Mal zu mehreren. Und hier lernte er, dass sie Feuer speien konnten. Als er es zum ersten Mal sah, war es Nacht, und die bunten Flammen, die aus ihren schimmernden Körpern drangen, glühten hell im schwarzen Himmel.
Hell wie ein Zeichen, das sie sich gegenseitig gaben. Ein Zeichen für was?
Doch die Dächer der geschmolzenen Stadt blieben unangetastet vom Feuer der Drachen und unberührt von ihren Krallen. Sie flogen nur darüber – auf ihrem Weg in die Täler. Denn in dieser Stadt gab es nichts für sie zu holen, hier existierte nichts Fröhliches, keine Blumen, keine Farben. Noch waren sie nicht hungrig genug, um das Graubraun der Dächer zu fressen. Christopher lernte, sich mit den anderen auf einen scharfen, gebellten Befehl hin in den spärlichen Schatten der Hauseingänge zu drücken. Er zitterte gemeinsam mit ihnen, wenn die Schatten der Drachen über die vereisten Wege wanderten, langsam, suchend, als wären die Schatten selbst lebendige Wesen auf der Jagd nach Beute. Er zitterte gemeinsam mit den Übrigen, und dennoch war er ganz allein.
An einem jener Drachen-Morgen, als sie wieder an einer Hauswand aufgereiht standen, ängstlich, beobachtend, dicht gedrängt im Schatten eines überhängenden Daches, sah er einen Mann und einen kleinen Jungen die Gasse entlangrennen. Der Schatten des Drachen glitt hinter ihnen durch die Gasse. Der Mann trug nicht die Tarnkleidung der Kämpfer, er musste zu den Bewohnern der Stadt gehören.
Christopher sah die Angst in seinen Augen. Er sah den Mann auf die Mauer zulaufen, taumelnd im überfrorenen Schneematsch, den Jungen fest an der Hand. Doch an der Mauer, im Schatten des Daches, standen die Kämpfer. Dort war kein Platz für den Mann und seinen Jungen. Christopher wollte zur Seite rücken und merkte, dass keiner von den anderen es tat. Er sah, wie der Mann einen Arm ausstreckte, wollte seine Hand ergreifen, ihn in den Schatten ziehen –
Doch der Kämpfer neben ihm schlug seine Hand wortlos herunter.
In diesem Moment tauchte der Schatten des Drachen den fremden Mann und seinen Sohn in sekundenlange Dunkelheit. Dann war er vorüber, und das Rauschen seiner Flügel verschwand in der Ferne. Zwei bronzene Statuen kippten mit einem leblosen Krachen vor Christopher in den Schnee.
Er starrte sie einen Moment lang an, vor Schreck gelähmt. Wäre auch seine Hand in den Schatten des Drachen geraten, wenn er sie wirklich ausgestreckt hätte? Wäre er zu Bronze geworden? Oder hätte er es schaffen können, die beiden zu retten?
Seine Truppe ließ ihm keine Zeit zu überlegen.
Die anderen hatten sich bereits von der Mauer gelöst und setzten ihren Weg fort. Christopher beeilte sich, sie einzuholen. Aber einige Tage später entdeckte er auf einem Übungsmarsch um die Stadt herum zwei neue Statuen auf der Lehmmauer.
Erst da fiel ihm auf, dass er den kleinen Jungen kannte. Es war derselbe, mit dem er gesprochen hatte. Von da an verfolgten die bronzenen Statuen ihn in seinen Träumen.
In diesen Wochen, in denen es schneite und schneite und er trotz seiner Erschöpfung nicht schlafen konnte, glaubte er, er würde sterben. Er würde einfach eines Tages den allerletzten Rest seiner Kraft verbraucht haben und umfallen und tot sein. Es würde sie nicht kümmern. Sie würden es kaum bemerken.
Aber er fiel nicht um, und er starb auch nicht.
Stattdessen fand er jemanden wieder. Es geschah in der Nacht, in der es endlich einmal aufhörte zu schneien.
Christopher lag wach wie immer und kämpfte gegen den Husten an. Es war, als hinge sein Kopf oben unter der Decke des Raums, und vielleicht fieberte er. An diesem Abend hatte er geglaubt, er könnte nie wieder einen einzelnen Muskel rühren, doch jetzt fühlte sein Körper sich leicht an, schwerelos beinahe, und er stand ganz leise auf und stieg über die übrigen Schlafenden hinweg. Es war, als schwebte er, als ginge er auf dem Mond entlang und würde jeden Moment abheben.
Die Tür des Schlafsaales war nicht verschlossen. Wohin hätte einer, der die Maos verraten wollte, von hier aus auch fliehen sollen? Außerhalb der geschmolzenen Stadt gab es nichts, gar nichts; und wer sich nicht auskannte in den Bergen, würde sich binnen Stunden hoffnungslos darin verlaufen. Wenn er überhaupt den Ausweg aus diesem geheimen Tal finden würde, in dem es sich die Leute vor so langer Zeit aus irgendeinem Grund in den Kopf gesetzt hatten, eine Stadt aus Lehm zu bauen.
Er verließ das Haus, in dem die anderen schliefen, lautlos und ohne jemanden zu wecken. Als er zu den Umrissen zurücksah, die dicht an dicht in ihre grauen Decken gewickelt auf dem Boden lagen, kam ihm der Verdacht, er wäre womöglich gar nicht wirklich über sie gestiegen. Er stünde gar nicht wirklich in dieser Tür. Natürlich konnten sie ihn nicht hören, denn er war nicht da. Sein Körper lag nach wie vor irgendwo zwischen ihnen, und vielleicht war er wirklich tot, und alles, was hier stand, war eine Art Erinnerung an sich selbst.
Er wanderte die Gasse hinab, ohne zu wissen, wohin er ging.
Er ging nirgendwohin.
Er hob den Kopf und sah den Mond am Himmel stehen. Die Schneewolken hatten sich verzogen. Wie schön die Nacht war! Selbst der Wind hatte sich gelegt, als wollte er das Bild nicht stören, das die geschmolzene Stadt bot: Jetzt, unter der leisen Decke des weißen Schnees, der im Mondlicht strahlte, lag sie still wie ein Traum. Vielleicht war es ein Traum?
Die engen Straßen waren leer.
Er ging bis ans Ende der Gasse, bis ans Ende der Stadt, weiter noch – und dort, auf einem Felsen im Schnee – dort saß jemand. Christopher sagte sich, er müsste erschrecken, doch alles, was er fühlte , war eine gewisse Neugier, und er näherte sich der Person auf dem Felsen ohne Eile. Als er ganz nahe war, hörte er die Töne einer Gitarre in der Nacht, Töne, die aufstiegen wie Seifenblasen, klarer denn je über dem unbeschriebenen Blatt des Schnees. Und eine Erinnerung keimte in ihm hoch, eine Erinnerung an andere Seifenblasen-Töne in einer anderen Nacht – einer Nacht vor scheinbar endlos langer Zeit.
»Niya?«, fragte er die Nacht, und die Nacht antwortete ihm mit ihrem Gesicht.
Sie drehte sich zu ihm um und lächelte. Aber ihr Lächeln war voller Trauer, und es war eine neue Sorte der Trauer, nicht die Schwermut, die er damals in ihrem Lied gehört hatte.
Er setzte sich neben sie, auf den Felsen, in den Schnee.
»Niya«, sagte er noch einmal; sonst nichts. Er wollte sagen: Ich bin so froh, dich zu sehen! Woher kommst du? Wo warst du all diese Zeit? Ich habe so oft an dich gedacht –
Doch er sagte nichts von alledem. Stattdessen hustete er.
Sie legte die Gitarre neben sich und musterte ihn, lange und ausführlich.
»Du siehst fürchterlich aus«, sagte sie schließlich.
Christopher bemühte sich zu grinsen. »Vielen Dank.«
Niya streckte die Hand nach seinem Gesicht aus und berührte seine Wangenknochen, und er fühlte ihre Wärme durch sich hindurchrieseln.
»Wie mager du geworden bist«, sagte sie. »Ich erinnere mich, dass du ein Gesicht hattest, aber jetzt finde ich nur noch einen Haufen Knochen und Schatten.«
»So schlimm?«, fragte Christopher.
»Was ist geschehen?«
»Ich fürchte, ich bin nicht stark genug für euren Kampf.«
»Wo ist Jumar?«
»Ich weiß es nicht. Sie haben uns getrennt. Wo warst du die ganze Zeit über?«
»Hier«, antwortete sie. »Ich war die ganze Zeit in der geschmolzenen Stadt. Hier bin ich nichts Besonderes mehr, keine Anführerin. Auch mich haben sie einem Übungstrupp zugeteilt. Auch ich habe trainiert. Auch ich habe gelernt.«
»Was hast du gelernt?«, fragte Christopher. Sie war näher zu ihm gerückt, um die Kälte auszuschließen. Aber er spürte, dass da noch etwas war, das sie ausschließen wollte. Er hatte sich ihr nie so nahe gefühlt. Er hatte sich noch nie irgendjemandem so nahe gefühlt.
»Ich habe gelernt, dass dies nicht das ist, was ich will«, flüsterte Niya.
»Nein?«, fragte er erstaunt.
»Nein«, sagte sie. Er spürte ihren warmen Körper, und es war wahr, was er so oft geträumt hatte: Sie schmolz den Schnee in seinem Herzen. Es war, als löste sich ein großer, eisiger Klumpen mitten in ihm und begann, fortzufließen ins Nichts.
»Der große T hat sich verändert«, flüsterte sie. »Er hat jetzt zu viel Macht. Damals, als er mich unter den Trümmern hervorzog, war sein Gesicht noch voller Leben. Jetzt ist es kalt geworden. Ich habe ihn gesehen – wenngleich nur von ferne.«
Sie lehnte den Kopf an Christophers Schulter und sagte voller Überzeugung: »Ich hasse das Lager. Es ist nicht das Training, das macht mir nichts aus. Ich bin stark, und ich bin zäh. Aber die Menschen! Sie sehen mich von der Seite an, mit Augen voller Misstrauen. Sie sagen, ich kann mich nicht unterordnen. Womöglich haben sie recht.«
Sie seufzte. »Und ich habe die Bewohner der Stadt gesehen.«
»Ich auch, Niya. Ich auch. Die wenigsten bemerken sie.«
»Manchmal denke ich, es geht meinen Leuten nicht darum, Gerechtigkeit zu schaffen und den Menschen zu helfen. Es geht nicht darum, den Feldern ihre Farbe zurückzugeben und ein Land zu schaffen, in dem es Frieden gibt. Wenn ich all jene Gruppenführer und Untergruppenführer sehe, wenn ich ihre Befehle höre – manchmal glaube ich, es geht nur noch um die Macht«, fuhr sie fort. »Macht an sich, ohne Grund. Ohne Zweck. Das war nicht die Idee des Kommunismus, wie ich ihn verstehe. Manchmal – manchmal weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich gehöre nicht hierher. Aber wohin gehöre ich dann?«
Ihr Haar kitzelte an Christophers Hals. Er griff hinein wie in das Fell eines Tieres, verwob seine Finger mit ihren Haarsträhnen und verlor sich darin wie in Gedanken. All seine Schüchternheit war verschwunden, die Nacht war zu unwirklich für Dinge wie Schüchternheit.
»Und ich habe deinen Bruder gesehen«, sagte sie.
Er fuhr hoch. »Du hast –?«
»Er sagt, er wäre dein Bruder. Er ist blond und groß und hat ein anderes Gesicht, aber er hat das gleiche Lächeln wie du. Er hat dich gesehen, aber du hast ihn nicht gesehen. Er kann sich nicht erklären, wie du hierhergekommen bist. Er hat mir erzählt, woher ihr kommt. Von so weit, weit fort.«
»Wo ist er?«, fragte Christopher. »Wie geht es ihm?«
»Es geht ihm ... den Umständen entsprechend«, antwortete sie. »Er lebt, und er ist gesund. Eine Woche lang war ich mit meinem Trupp Frauen dafür zuständig, den drei Gefangenen ihr Essen zu bringen.«
»Sie – sie sind also doch – Gefangene?«
»Was sollten sie sonst sein?«
Christopher schluckte. »Man hat mir erzählt, sie wären freiwillig hier. Sie würden mit uns – mit ihnen – sie würden –«
Er verstummte.
»Sie wären hier, um zu kämpfen?«, fragte Niya leise.
Christopher nickte. Da lachte Niya, und ihr Lachen war rau wie der Wind und bitterböse. »Sie sind im Keller eines der Häuser«, flüsterte sie, »am westlichen Rand der Stadt. Es ist zu kalt dort. Und einer ist krank. Nicht dein Bruder, ein anderer. Sie halten sie als Geiseln fest, damit die Mächtigen in ihren Ländern nicht eingreifen, wenn der König sie darum bittet. Falls er dazu kommt, das zu tun.«
»Das war es«, sagte Christopher leise, »was ich zu Anfang dachte. Deshalb kam ich. Um ihn zu finden. Aber dann –«
»Dann bist du auf den Traum hereingefallen«, sagte Niya. »Den der große T über uns ausgießt wie Schlangengift. Du bist hereingefallen, genau wie ich.«
»Aber Arne – der Blonde – mein Bruder – ist er wirklich gesund?«
»Ich denke. Nun ja. Ich mag es nicht, wie man sie behandelt. Ich habe dem Anführer meines Trupps gesagt, dass sie einen Arzt brauchen. Er hat nur geantwortet, ich sollte mich nicht um Dinge kümmern, die mich nichts angingen.«
»Niya – könnten wir hingehen? Könnten wir sie nicht befreien?
»Nein«, sagte sie einfach. »Noch nicht. Aber wir werden es tun.«
»Wir – das heißt, du hilfst mir?«
»Verlass dich drauf, antwortete sie grimmig. »Ich werde alles tun, was der große T verbietet. Warte nur.«
Ihre Hand suchte seine und fand sie und hielt sie fest im weißen Halbdunkel der eisigen Schneenacht.
Christopher schluckte noch einmal. »Vielleicht ist diese Nacht lang genug, um dir meine Geschichte zu erzählen«, sagte er. »Vielleicht ist es an der Zeit, dass du sie hörst.«
Da rückte sie noch ein Stück näher an ihn heran, und ihm wurde etwas merkwürdig zumute.
»Dann erzähl sie mir später«, wisperte sie. Sie schloss seine Augen mit einer sachten Bewegung ihrer Hand, und dann spürte er ihre Lippen auf den seinen. Es war seltsam.
Christopher hatte noch nie jemanden geküsst. Mit vierzehn muss man noch keine Übung haben im Küssen. »Es ist so kalt«, wisperte sie. »Viel zu kalt, um alleine zu sein ...«
Nicht, dass er etwas dagegen hatte, sie zu küssen. Es war ein wunderbares Gefühl. Er spürte ihre Zunge, warm und ein wenig rau, und die Nacht drehte sich um ihn. Er vergaß, wo oben und wo unten war.
Zu Beginn dieser Nacht hatte er noch geglaubt, er würde sterben, und hier saß er im Schnee auf einem Felsen und küsste zum ersten Mal in seinem Leben ein Mädchen – das Mädchen, das er liebte. Denn er liebte sie.
Natürlich.
Er hatte es die ganze Zeit über gewusst, ohne es zugeben zu wollen.