Niyas Hände

In einer klaren Nacht, unter dem Mond, irgendwo am Fuße des Himalaja, gerade außerhalb einer geschmolzenen Stadt aus Lehm – in einer Nacht, die zu kalt war, um alleine zu sein – fanden sich zwei Körper und verschmolzen zu einem winzigen, warmen Funken in der Weite der unendlichen Kälte. Wäre jemand vorbeigekommen, hätte er vielleicht ein Licht gesehen, ein unerklärbares Licht im Schnee. Oder vielleicht hätte er auch gar nichts gesehen.

Aber es kam niemand vorbei. Die Nacht gewährte den beiden Frierenden ihre Privatsphäre, und dann froren sie nicht mehr, und dann –

Christopher fühlte Niyas Hände, die sich einen Weg unter die tarngrünen Kleiderschichten suchten, und er ließ sie in einer Art stiller Verwunderung gewähren. Ihre Fingerspitzen brachten die Wärme in seinen Körper zurück – sie brachten eine neue Wärme, eine Wärme, die er bis jetzt nicht gekannt hatte. Und Niyas Hände wussten genau, was sie wollten.

In einem Land, in dem man mit vierzehn alt genug ist, um zu kämpfen und mit dem Gesicht nach unten in den Schnee zu fallen, ist man mit vierzehn auch alt genug, um zu lieben.

»Hast du dies schon einmal mit irgendjemandem getan?«, wisperte Christopher.

»Nein«, flüsterte sie. »Aber ich weiß nicht, was morgen sein wird, und vielleicht ist es dann zu spät, um es jemals mit irgendwem zu tun. Ich habe daran gedacht, als ich alleine wach lag, all diese Nächte. Dass ich so nicht sterben möchte.«

»Aber du wirst nicht sterben. Weshalb solltest du sterben?«

»In den letzten Tagen dachte ich, ich muss sterben, weil alles so sinnlos ist«, wisperte sie. »Aber es gibt tausend Gründe zu sterben. Und tausend Gründe, es nicht zu tun.«

Er ließ seine eigenen Hände einen Weg unter andere Kleiderschichten suchen, und alles, was sie fanden, war Leben, warmes, pulsierendes Leben.

»Niya ... ich kenne mich nicht aus mit diesen Dingen ...«

»Ich auch nicht«, flüsterte sie. »Diese Dinge kennen sich mit sich selbst aus. Das reicht.«

So nahmen die Dinge, die sich ausschließlich mit sich selbst auskannten, in jener klaren Nacht, unter dem Mond, irgendwo am Fuße des Himalaja, ihren Lauf. Und Christopher war überrascht, wie selbstverständlich all dies mit einem Mal schien.

Alles musste genauso sein, wie es war. Alles war gut.

Als der Mond am Himmel ein Stück weitergewandert war, lagen sie dicht beieinander im Schnee, atemlos und ohne die Kälte zu spüren. Die Kälte existierte nicht mehr.

Und Niya lauschte Christophers Geschichte. Diesmal erzählte er ihr alles, vom Anfang bis zum Ende, von Arnes Verschwinden und Jumars Knöchel in der Tierfalle bis zu ihrer ersten Begegnung in dem Dorf ohne Farben. Nur wer Jumar wirklich war, das erwähnte er nicht. Einer, der ausgezogen war, um die Welt zu ändern, sagte er – nicht ohne ein gewisses Schmunzeln. Als die letzten Worte seiner Geschichte verklungen waren, vergewisserten sie sich noch einmal – nur zur Sicherheit –, dass sie das Küssen nicht über anderen Dingen verlernt hatten. Danach nahm Niya ihre Gitarre wieder auf.

Mein Herz ist gierig nach Frieden, sang ihre raue Stimme; leise jetzt, ganz leise.

Frieden im Land meiner Väter. Mein Herz ist gierig nach Frieden, doch sie sagen: Der Frieden kommt später.

Zuerst kommt die Faust, die hat mehr Gewicht, wer die Faust nicht erhebt, den sieht man nicht.

»Das ist schon wieder eines der Lieder, dessen Geschichte schlecht ausgehen wird«, flüsterte er. »Wie die Märchen. Habt ihr keine fröhlichen Lieder und keine fröhlichen Märchen in diesem Land?«

»Nein«, erwiderte sie und legte den Finger auf seine Lippen, ehe sie weiterspielte. Und Christopher schloss die Augen und lauschte ihrer Stimme:

Mein Herz ist gierig nach Stille, Stille im Land meiner Väter. Mein Herz ist gierig nach Stille, doch sie sagen: Die Stille kommt später.

Zuerst kommt das Wort, sprich laut, wer es spricht! Denn wer zu leis ist, den hört man nicht.

Mein Herz ist gierig nach Träumen, Träumen im Land meiner Väter. Mein Herz ist gierig nach Träumen, doch sie sagen: Das Träumen kommt später.

Zuerst kommt die Tat, die die Mauer zerbricht, denn wer nichts tut, den spürt man nicht.

Mein Herz ist gierig nach Schlaf, Schlaf im Land meiner Väter. Mein Herz ist gierig nach Schlaf, doch sie sagen: Der Schlaf, der kommt später.

Zuerst kommt das Wachen, zuerst kommt das Licht, wer die Augen verschließt, dem glaubt man nicht.

Mein Herz ist gierig nach Lehen, Leben im Land meiner Väter. Mein Herz ist gierig nach Leben, doch sie sagen: Das Leben kommt später.

Zuerst kommt der Tod, der uns befreit, und sie fragen mich: Bist du zu sterben bereit?

Für die Stille, die Träume, den Schlaf und den Frieden im Land deiner Väter?

Und ich sage: Die Stille, die Träume, der Schlaf und der Frieden: Das alles kommt später...

Ihre Worte verfolgten ihn bis zurück zu dem Quartier, wo niemand sein Fortgehen bemerkt hatte, bis in den Schlaf, bis in die Träume, die er in den wenigen Stunden bis zum Morgengrauen träumte. Am nächsten Morgen fragte er sich, ob er nicht auch jene unglaubliche Begegnung mit Niya geträumt hatte. Denn –wie unwahrscheinlich war das doch, dass gerade er, Christopher –

Aber der ferne Geruch ihrer Haut hing noch in seinen Kleidern fest, und da musste er seiner Erinnerung glauben.

Und obgleich er so müde war, dass er die Füße kaum vorei-nandersetzen konnte, sang der nächste Tag in seinen Adern. Sie hatten einen Plan. Sie würden Arne befreien – Jumar konnte die Schlüssel besorgen, und Niya wusste, wo er sie suchen musste. Niemand würde ihr Fortgehen in einer Nacht wie der letzten bemerken. Nun brauchten sie nur noch Jumar wiederzufinden.

Doch dann passierten mehrere Dinge. Die Wachsamkeit in der geschmolzenen Stadt nahm zu, und alles kam ganz anders.

Aber zunächst fanden nicht sie Jumar. Jumar fand sie.

»Ich brauche einen, dem ich vertrauen kann, was diese Dinge betrifft«, sagte der große T und trat ans Fenster des kahlen Raums mit dem Tisch und dem Stuhl darin, um über die Stadt hinaus zu sehen. Schnee lag auf den unregelmäßig geformten Mauern und Dächern der geschmolzenen Häuser. Der Schnee selbst schmolz nicht. Wenn es so wäre wie jedes Jahr, würde er liegen bleiben, bis sie die Stadt verlassen hatten.

»Einem Unsichtbaren könntet Ihr niemals vertrauen«, erwiderte Jumar.

»Wer weiß?«, murmelte der große T und drehte sich um.

»Etwas wie heute darf nie wieder geschehen. Nie wieder. Wenn diese drei zu Kartan zurückkehren, sind wir geliefert. Ich bin dir dankbar, dass du zu mir gekommen bist. Aber wenn dies allein deine Aufgabe wäre, hättest du früher kommen können. Dann hätten sie das Lager gar nicht erst verlassen.«

Jumar trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Er spürte etwas wie Stolz in sich aufsteigen, doch daneben lauerte noch etwas anderes – etwas Beißendes, wie ein schlechter Geruch. Etwas Kaltes.

Zwei der Männer in seinem Trupp waren unecht gewesen, von Anfang an. Kartan hatte sie geschickt. Ein dritter hatte sich ihnen angeschlossen, und Jumar hatte sie flüstern hören. Sie hatten geglaubt, sie sprächen so leise, dass er sie nicht hören könnte. Wie dumm sie waren. Wenn er die Decke um seine Kleider wickelte, blieb die Decke sichtbar – ein Zeichen für die anderen, dass er da war, dass er neben ihnen auf dem Boden lag, dass der Trupp vollzählig war.

Doch in der letzten Nacht hatte er gespürt, dass etwas nicht stimmte. Da war eine Spannung in der Luft gewesen, ein Knistern – leise nur, kaum vernehmbar. Er hatte seine Jacke in die Decke gewickelt, eine Jacke, die unsichtbar blieb, solange er sie anfasste, und so hatte keiner gemerkt, was er tat. Jumar selbst aber war wach geblieben, hatte sich an die Wand gelehnt und gewartet. Und so hatte er gesehen, wie die drei das Haus verließen, leise, verstohlen. Ein unsichtbarer Schatten folgte ihnen und hörte ihre geflüsterten Worte in der Nacht: »Im ersten Ort wartet einer von Kartans Leuten auf uns«, sagte der eine. »Mit Pferden und Waffen. Wir müssen nur den ersten Ort erreichen.«

Der, der nicht von Anfang an bei ihnen gewesen war, hatte Angst gehabt – Jumar hatte es gespürt. Aber die anderen beiden hatten ihn beruhigt.

»Er wird uns gut bezahlen für unsere Mühen«, sagten sie. »Warte nur, bald brauchst du dich um Geld nicht mehr zu sorgen, und du brauchst nie mehr im Schnee den Befehlen der Maos zu gehorchen.«

»Ich werde zurück zu meiner Familie gehen«, hatte der Mann geflüstert. »Sie warten auf mich. Ich habe fünf Kinder. Es ist ihretwegen.«

Da hatte es Jumar einen Stich versetzt, aber er wusste, was geschah, wenn es den Männern gelang, mit Kartan zu sprechen –er wusste es genauso gut, wie der große T es wusste: Nicht nur das Basislager, nicht nur das Leben all jener Männer und Frauen darin war in Gefahr. Der ganze große Plan, die Macht des Königs aus der Stadt zu holen, Kartan zu verjagen und die Drachen zu besiegen, würde in Sekunden zu einem Häufchen Asche aus Erinnerungen werden, Sand im Wind, nichts als ein ausgebrannter Traum.

Der große T war erst am Morgen von irgendwoher zurückgekehrt in die geschmolzene Stadt, und so hatte ihn Jumar viel zu spät erreicht. Doch nun waren seine Leute längst dort draußen im Wind unterwegs und suchten die Verräter, und die knisternde Spannung, die über dem Schlafraum gelegen hatte, hatte übergegriffen auf die ganze Stadt. Von diesem Tag an gab es Wachen an allen Ausgängen der Stadt, an allen Ausgängen des steilen Tales. Keiner konnte das Basislager mehr verlassen, ohne dass der große T selbst es ihm auftrug.

»Und dennoch brauche ich unsichtbare Ohren, die hören«, sagte er. »Unsichtbare Augen, die sehen. Einen unsichtbaren Mund, der mir Bericht erstattet. Ich muss wissen, was die Leute denken. Wer unter ihnen unzufrieden ist und die anderen aufstachelt. Wer nicht mehr in unserem Sinne handelt. Die Disziplin ist noch nicht streng genug.«

»Ich bin nicht gekommen, um ein Spitzel zu werden«, antwortete Jumar. »Ein Spitzel unter den eigenen Leuten! Ich bin gekommen, um mit meinen Händen gegen Kartans Leute zu kämpfen.«

»Mal ist es Zeit für das eine und mal Zeit für das andere«, sagte der große T, und seine Stimme duldete keinen Widerspruch. »Wenn du bei uns bleiben willst, tust du, um was ich dich bitte.«

»Habt Ihr keine Angst, dass auch ich zu Kartan überlaufe und Euch verrate? Niemand könnte mich daran hindern.«

»Ich weiß, dass er versucht hat, dich zu töten«, sagte der große T. »Ich weiß mehr, als du denkst. Ich weiß, wer du bist.«

Jumar fühlte, wie das Blut seinen Körper verließ – wohin es wohl ging? –, und eine eisige Kälte machte sich in ihm breit.

»Und ich weiß«, sagte der große T, »dass es zwei Menschen im Lager gibt, die dir am Herzen liegen. Wenn ich dich zu fassen bekommen will, kann ich das ohne Weiteres tun. Was könnte dem Gegner des Königs Besseres passieren, als dass ihm sein einziger Sohn in die Arme läuft? Begreifst du nun?«

Und Jumar begriff. Sicher, er konnte das Lager noch heute verlassen. Doch dann würde Christopher etwas geschehen – Christopher und Niya. Er saß in der Falle. Wie schaffte er es nur, immer wieder und wieder in irgendeine Falle zu geraten?

»Ich könnte dich benutzen, um den König zu erpressen«, sagte der große T. »Aber ich tue es nicht, weil ich weiß, dass du auf unserer Seite bist. Weil ich weiß, dass du mir helfen wirst. Du wirst mir doch helfen?«

Jumar schluckte. »Ich werde tun, was Ihr verlangt«, antwortete er. »Aber was für ein Mensch seid Ihr nur?«

Der große T lachte. Es war ein trauriges Lachen. »Ein Mensch«, sagte er. »Irgendein Mensch. Kein Heiliger. Geh jetzt. Ich erwarte Ergebnisse.«

»Aber wenn dies die einzigen Verräter waren? Wenn es nichts zu hören gibt?«

»Es gibt immer etwas zu hören. Der Winter ist hart, und die Leute werden unzufrieden. Wir brauchen Beispiele, um die Disziplin zu stärken. Du wirst welche finden, noch vor nächster Woche.«

Einen Moment lang schoss Jumar ein überraschend heller Gedanke durch den Kopf.

Der Stolz, den er empfunden hatte, verwandelte sich in jenem Moment in Hass. Er hatte das Gewehr an der Tür abgeben müssen, wo die Wachen des großen T standen.

Aber was ist schon ein lebloses, totes Gewehr gegen lebendigen, atmenden Hass?

Jumar machte einen unsichtbaren, kaum hörbaren Schritt auf den großen T zu. Auf dem Schreibtisch lag neben einem Stapel Papiere ein Brieföffner. Er streckte die Hand danach aus. Sein Atem ging stoßweise, mühsam, und er musste sich zwingen, ihn leise zu atmen. Er könnte es tun. Er könnte versuchen, den großen T zu töten.

Er hatte noch nie jemanden getötet.

Der große T blickte zur Tür, wo er Jumar vermutete.

Er wartete darauf, dass die Tür sich öffnete und Jumar ging. Er ahnte nichts.

Oder doch? Ahnte er? Ging er das Risiko ein?

Jumars Hand blieb in der Luft hängen.

»Du bist noch immer da«, sagte der große T.

Jumar schluckte.

»Ist es Euch nie in den Sinn gekommen«, flüsterte er, kaum hörbar, »Angst vor mir zu haben, weil ich unsichtbar bin?«

»Wärst du sichtbar, hätte ich vielleicht Angst vor dir«, antwortete der große T.

Jumar schwieg seine Frage in die kalte Luft.

»Hätte der König einen sichtbaren Sohn, so könnte dieser Sohn zu den Menschen sprechen.« Seine Stimme malte Kringel in die Luft. Warum heizte er diesen Raum nicht? Fror er nicht?

»Und er könnte versuchen, ein besserer König zu sein als sein Vater«, fuhr der große T fort. »Einen unsichtbaren König würden sie niemals akzeptieren. Sie hätten Angst vor ihm. Sie würde sich vor ihm verstecken. Aber niemand würde ihm zuhören. Er könnte nichts ... verändern. Du brauchst mich, um Dinge zu ändern. Viel mehr noch, als ich dich brauche.«

Jumar ließ die Hand sinken, die noch immer über dem Briefmesser geschwebt hatte.

Dann drehte er sich abrupt um und verließ den Raum.

Der große T sprach die Wahrheit, und diese Wahrheit riss eine schmerzende Wunde in seine Eingeweide.

Als er wieder in der Gasse stand, atmete er die scharfe, kalte Luft tief ein. Auf seiner Stirn begann der Schweiß in der Kälte zu gefrieren. Selbst wenn er das Briefmesser ergriffen hätte ... selbst wenn er zugestoßen hätte ... es hätte nichts genützt. Der große T hatte recht. Ein Unsichtbarer konnte die Menschen das Fürchten lehren, aber er konnte nie einer der ihren sein.

In diesem Moment fasste Jumar einen Entschluss.

Er würde sichtbar werden. Nicht, dass er wusste, wie. Aber er würde es tun. Und plötzlich atmete er freier. Plötzlich war ihm, als wäre er beinahe erstickt in jenem kahlen Raum mit Maos verblichener Fotografie und der verwelkten Blume an der Wand. Er beschloss, später irgendwann einmal zu lesen, was dieser Mao wirklich geschrieben hatte. Was er wirklich gewollt hatte. Dies hier konnte es nicht sein.

Er musste eine Gelegenheit finden, mit Christopher zu sprechen. Wie oft hatte er in den ersten Nächten seit ihrer Trennung unbemerkt über seinen Schlaf gewacht! Aber schließlich hatte er seine nächtlichen Ausflüge zu jenem anderen Teil der Stadt eingestellt, und es war mindestens eine Woche her, dass er Christopher oder Niya gesehen hatte.

Sie brachten die drei Männer gegen Mittag zurück. Sie konnten sich kaum auf ihren Pferden halten, und es war nicht mehr viel Leben in ihnen – aber der große T hatte befohlen, sie ihm lebend zu bringen, und das wenige Leben musste reichen.

Jumar wollte nicht daran denken, was er mit ihnen tat.

Es gab Dinge, die man nicht wissen musste.

Am späten Nachmittag waren die Männer tot.

Er sah zu, wie ein anderer Trupp versuchte, in der harten, gefrorenen Erde ein Loch auszuheben. Der große T stand daneben und rauchte. Die Spitze seiner Zigarette glomm in der klaren, kalten Luft auf, wenn er daran sog. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf und bedeutete den Leuten, die Schaufeln wegzulegen. Es hatte keinen Sinn: Der Boden war bereits zu hart.

Sie legten die drei reglosen, nackten Körper über die Rücken von Maultieren, und Jumar begleitete sie ungesehen aus der Stadt hinaus bis zu jenem felsigen Nadelöhr, durch das sie gekommen waren. Dort kletterte ein kleiner, flinker Mann auf einen der Felsen und zog die Körper nacheinander an einem Seil zu sich hinauf, um sie oben auf den nackten Stein zu betten.

Jumar blieb eine Zeit lang neben den Wachen am Nadelöhr sitzen. Er beobachtete, wie sich die schwarzen Umrisse von Vögeln von den Bergrücken hinabschwangen – erst nur einer, zwei, dann immer mehr –, sie zogen ihre Kreise tiefer und tiefer, er hörte ihre Schreie, und er sah ihre riesigen Schwingen im letzten Licht des Tages: Lämmergeier, die größten Vögel des Landes. Sie waren gekommen, sich um die Toten zu kümmern. Als sie auf dem Felsen landeten, wandte sich der Thronfolger Nepals ab und ging zurück, hinunter ins Tal. In der geschmolzenen Stadt flackerten die ersten Lichter auf.

Die drei Verräter waren tot, doch offenbar hatten sie mit jemandem draußen gesprochen, denn der große T blieb nervös. Man hörte im Lager, er habe beschlossen, seine drei Geiseln aus dem Basislager zu entfernen. Noch war ihre Zeit nicht gekommen, doch sie waren ein Schatz; die wertvollste Waffe, die er besaß.

Jumar schlüpfte lautlos zwischen den vom Training heimkehrenden Trupps hindurch.

Die schmale, gewundene Gasse, an deren Ende er die Gefangenen wusste, war still und menschenleer. Erst wenn die Nacht tief genug war, würde der große T seine Leute losschicken, die Geiseln fortzubringen. Vier geschmolzene Stufen aus Lehm führten hinunter zu dem winzigen Kellerfenster, das Jumar erst vor Kurzem entdeckt hatte.

Dort stand schon jemand. Jumar prallte zurück. »Christopher!«, flüsterte er dann.

Christopher fuhr herum.

»Ich bin es, Jumar!«

»Ein Glück«, wisperte Christopher. Tränen standen in seinen Augen.

»Man hört, dass sie die Gefangenen fortbringen wollen, noch höher hinauf in die Berge«, sagte Jumar leise. »Heute Nacht.«

»Meine Reise wäre beinahe zu Ende gewesen«, sagte Christopher tonlos. »Niya wusste, wo sie den Schlüssel verwahren. Doch er ist nicht länger dort. Wenn sie sie heute Nacht fortbringen, haben wir vielleicht nie wieder eine Chance.«

Jumar legte ihm eine umrisslose Hand auf die Schulter. »Es ist höchste Zeit, dass auch wir fortgehen«, flüsterte er. »Wir werden deinen Bruder nicht aus den Augen verlieren.«

»Auch du?«, wisperte Christopher. »Du bleibst nicht beim großen T?«

»Nein«, sagte Jumar, »es war alles ein Fehler. Aber jetzt ist keine Zeit für Erklärungen –«

»Wohin willst du gehen, Jumar?«, flüsterte Christopher.

»Frag mich das übermorgen noch mal«, antwortete Jumar. »Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur eines. Ich werde sichtbar werden. Irgendwie. Ich muss es tun.«

»Wie bitte?«, fragte Christopher. »Wieso –?«

»Scht! Später.«

Er versuchte zu lachen, aber es glückte ihm nicht.

Schließlich trat er neben Christopher und blickte ins Dunkel hinter dem Gitterfenster. Es war wie das Fenster eines Raubtierwaggons auf alten Bildern vom Zirkus. Und von drinnen schlug ihnen der gleiche Geruch entgegen, vermischt mit der kühlen Muffigkeit von Kellerluft und Lehmwänden.

Direkt hinter dem Gitter aber machte er in der dichter werdenden Dunkelheit ein Gesicht aus: ein Gesicht, umrahmt von wirrem, hellem Haar, verborgen unter einem wachsenden, blonden Bart. Doch der Mund und die Augen in diesem Gesicht lächelten. Sie lächelten Christophers Lächeln. Jumar versuchte, das Lächeln zu erwidern.

»Ich – ich bin Jumar«, stotterte er, und etwas wie Scham stieg im Kronprinzen Nepals auf. Er schämte sich für sein Land, in dem ein Fremder in einem Kellerloch hinter einem Eisengitter landete. Nicht, dass er oder das Land etwas dafür konnten. Die Dinge waren außer Kontrolle geraten. Dennoch schämte er sich.

»Und du – du musst Arne sein.«

»Das sage ich mir auch jeden Tag«, antwortete der junge Mann mit dem blonden Bart. »Allerdings habe ich gestern in einer Ecke hier die Scherbe eines Spiegels gefunden, und da war ich mir nicht mehr so sicher.«

Er legte die Stirn in Falten. »Das ist schon eine irre Geschichte, die Christopher mir da erzählt hat, und wie er eure Sprache spricht! Es hat mich so viel Schweiß und Nerven gekostet, sie zu lernen, aber er spricht sie einfach! Und wie er hergekommen ist! Und dass du unsichtbar bist! Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber ich sehe ja, dass er hier ist, und ich höre, dass du hier bist. Nur begreifen – begreifen tue ich nichts von alldem.«

Seine Stimme klang amüsiert, als hätte er gerade nach einem ausführlichen Essen in einem guten Buch eine Geschichte gelesen, die er nicht recht glauben konnte. Sie klang nicht nach der Stimme von einem, der seit Wochen in einem dunklen Kellerloch sitzt, während es draußen schneit und friert.

»Wie geht es den anderen beiden, die mit dir da drin sind?«, fragte Jumar.

Da wurde Arnes Stimme ernst. »Nicht gut«, sagte er. »Zurzeit schlafen sie. Sie sind beide krank, aber um den einen mache ich mir wirklich ernsthafte Sorgen. Es wäre schon eine feine Sache, wenn wir bei Gelegenheit hier herauskämen und diese beiden in ein Flugzeug nach Hause setzen könnten.«

»Ja«, seufzte Christopher, »das wäre fein. Aber wir wissen noch nicht einmal, wie wir selbst aus dieser Stadt herauskommen.«

»Hey«, sagte Arne, und das Lachen, das in seiner Stimme mitklang, wirkte jetzt bemüht. »Wenn sie uns heute Nacht fortbringen, lasst ihr uns doch nicht hängen, oder? Ich meine, da taucht mein kleiner Bruder aus dem Nichts im Himalaja auf und ist plötzlich beinahe ein Maoist geworden – und dann verschwindet er einfach wieder?«

»Keine Sorge«, sagte in diesem Moment jemand hinter ihnen, und Jumar und Christopher wirbelten gleichzeitig herum. Dort, in der schmalen Gasse über ihnen, stand Niya, das schwarze Haar wilder denn je, die Arme vor der Brust verschränkt. Das Leuchten in ihren Augen war wieder heller. Und sie hatte ihr Lächeln mitgebracht.

»Wir können euch nicht befreien«, sagte sie. »Noch nicht. Aber wir werden euch begleiten. Ich habe da so eine Idee.«

Als Christopher in dieser Nacht wach lag und in die Dunkelheit starrte, war ihm, als müsste jeder andere im Raum sein Herz klopfen hören. Es zersprang beinahe – vor Freude darüber, dass er endlich seinen Bruder gefunden hatte und dass Jumar wieder aufgetaucht war, bereit, mit ihnen fortzugehen. Und vor Angst.

Würde Niyas Plan funktionieren?

Würde es ihnen gelingen, das Nadelöhr zwischen den Felsen zu überwinden, ohne dass man sie entdeckte?

Als der schlaflose Wind durch die Gassen zu fegen begann, glitt Christopher lautlos unter seiner Decke hervor und schlüpfte nach draußen, genau wie er es auch in der Nacht zuvor getan hatte. Die Erinnerung an jene unwirkliche Nacht gab ihm noch immer Kraft. Und er brauchte alle Kraft, die er kriegen konnte. Er unterdrückte den Husten in seiner Kehle mit aller Macht. Der Husten konnte tödlich sein, konnte sie verraten.

Christopher folgte dem Wind und wusste, dass es Jumar war. Und während er im Sternschatten der Hauswände hinter ihm herhuschte, dachte er an die Worte zurück, die Niya bei ihrem Abschied gesprochen hatte: »Ich allein weiß«, hatte sie gesagt, »was mit denen passiert, die sie zurückbringen. Und es soll nicht mit uns geschehen. Wenn sie einen von uns schnappen, dürfen die anderen nicht zögern. Dann müssen wir auf ihn schießen.«

»Auf ihn ... schießen?«, hatte Christopher gefragt.

»Ihn töten«, hatte Niya geantwortet. »Das heißt: dich oder mich. Glaub mir, es ist besser zu sterben, als zum großen T zurückgebracht zu werden.«

»Niya – ich könnte niemals, niemals auf dich schießen.«

Sie hatte ihn fest angesehen, die Glut in ihren Augen beißend.

»Versprich mir, dass du es tun wirst, wenn es sein muss. Versprich es.«

»Ich verspreche es.«

Die Worte saßen in seiner Kehle wie ein schwarzer, bleierner Klumpen, als Christopher Jumar jetzt durch die Nacht folgte. Er sah sich nicht um, denn wer sich umsieht, zeigt seine Angst. Wie groß waren ihre Chancen? Hatte schon jetzt jemand bemerkt, dass er nicht mehr neben den anderen schlief? Allein die wenigen Minuten, in denen er mit Arne und Niya und Jumar gesprochen hatte, waren ein beinahe untragbares Risiko gewesen – er hatte sich im allgemeinen Aufruhr des Abends wieder hinter den Trupp zurückfallen lassen und später ein Hinken gemimt, als wäre er gefallen. Aber hatten sie es ihm abgenommen? Oder gab es jetzt schon Augen hinter ihm in der Dunkelheit, die beobachteten, Münder, die Bericht erstatten würden – so, wie der große T es von Jumar verlangt hatte?

Sie erreichten den Schuppen neben dem Haus, in dessen Keller die Gefangenen saßen, und der Windstoß, der Jumar war und einen Schlüssel hatte, ließ die Tür vor Christopher lautlos aufschwingen. Drinnen zeichneten sich die dunklen Umrisse von Kisten und Säcken ab. Dies war einer der Lagerräume für die Vorräte. Die Körbe, die die kleine Gruppe in dieser Nacht mitnehmen sollte, standen gepackt und verschnürt am Eingang, schwer von Wasserflaschen, Nahrungsmitteln und Munition. Diesmal würden keine Maultiere den Zug begleiten, denn dort, wohin sie hinaufzusteigen planten, kam kein Maultier mehr nach. Träger würden die Ausrüstung schleppen, Träger aus der Stadt, die den Maoisten schon lange dienten und die nicht nur schwere Lasten gewohnt waren, sondern auch jeden Pfad weiter oben in Bergen kannten. Christopher hatte sie gesehen, sie wickelten Riemen um die Körbe, deren eines Ende sie sich um die Stirn schlangen, und so schleppten sie Lasten, über die man nur staunen konnte.

Niya grüßte ihn mit einem Nicken und einem Finger an ihren Lippen. Sie war bereits dabei, zwei der Körbe leer zu räumen und ihren Inhalt weiter hinten zwischen den Kisten zu verstecken. Christopher half ihr schweigend. Kalter Schweiß lief an ihm hinab, und seine Finger zitterten unkontrolliert. Immer wieder hielt er inne, um zu lauschen. Noch blieb die Nacht in der Gasse draußen still und schrittlos. Jede Minute, jede Sekunde zählte ... und endlich war der erste Korb leer, und Christopher duckte sich gehorsam hinein, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, das Gewehr neben sich. Er hatte es nicht mitnehmen wollen, aber Niya hatte keinen Widerspruch geduldet. Sie schlossen den Deckel des Korbes über ihm, als sich draußen Schritte näherten.

Er hörte Niya leise fluchen, hörte etwas rascheln – dann wurde es still um ihn. Jumar und sie hatten sich irgendwo versteckt. Das einzige Geräusch, das es jetzt gab, waren die Schritte. Und sie füllten die Nacht mit Christophers Panik. Wenn jetzt jemand hereinkäme, würde er die Seile und Riemen auf dem Boden verteilt finden, die vorher den Korb verschnürt hatten. Die Schritte waren jetzt direkt vor der Tür des Raumes. Christopher saß in der Falle.

Dann öffnete sich die Tür. Sie quietschte dabei leise, ganz leise, und dann querten die Schritte den Raum. Auch die Schritte, das merkte er jetzt, waren leise – selbst wenn sie ihm lauter vorkamen als jedes andere Geräusch auf der Welt, so schlichen sie doch – heimlich und verstohlen. Die Schritte blieben vor dem Korb stehen, jemand bückte sich und murmelte etwas. Er hatte die lose herumliegenden Riemen gesehen.

Christophers Atem raste.

Jetzt war es vorbei mit ihrer Flucht.

Er dachte an die drei Männer, die ebenfalls fortgelaufen waren und die man zurückgebracht hatte. Was hatten sie mit ihnen angestellt? Er wollte es sich nicht vorstellen. Er schloss die Augen in seinem Versteck wie ein Kind, das glaubt, man könnte es so nicht sehen.

Die Schritte verharrten eine Ewigkeit vor dem Korb, ehe der Deckel geöffnet wurde.

Aber schließlich wurde der Deckel doch nicht geöffnet. Die Schritte gingen ein Stück weiter, jemand schien etwas aufzuheben, und dann – dann schlichen sie durch den Raum davon. Wieder quietschte die Tür leise, ganz leise – und die Schritte entfernten sich draußen in der Gasse. Christopher merkte erst jetzt, dass er die Hände ineinandergekrallt hatte, und als er sie vorsichtig löste, spürte er in seinen Handflächen das Blut, das seine eigenen Fingernägel hervorgetrieben hatten.

Kurze Zeit später hörte Christopher Niya und Jumar wispern.

»Ein Dieb«, wisperte Jumar. »Es war jemand, der Vorräte gestohlen hat. Er wird sich gefreut haben, dass die Tür offen stand! Los, rasch ...«

Dann wanden Niya und Jumar die Gurte und Seile wieder um den Korb, in dem Christopher versuchte, Herr über das Zittern in seinem Körper zu werden. Er hörte im Dunkeln, dass es auch in einem anderen Korb jetzt raschelte wie von menschlicher Fracht, und wusste, dass Jumar jenen zweiten Korb alleine verschnürte.

Dann näherten sich andere Schritte, Schritte von mehreren Männern, und er bemühte sich, lautlos ein- und auszuatmen. Wenn er nur nicht husten musste!

Er fühlte, wie er angehoben wurde, hörte die Männer über das Gewicht der Körbe fluchen – und die Welt um ihn begann, langsam hin und her zu schaukeln wie die Wiege eines Kindes.

Nach einer Weile packte ihn die Erschöpfung und rieb ihm gewaltsam den Schlaf in die Augen, und die Träger des großen T ahnten nicht, welch ungewöhnliche, träumende Fracht sie in dieser Nacht aus der geschmolzenen Stadt den Berg hinauftrugen.

Sie kamen nur langsam voran, denn einer der Ausländer konnte sich kaum auf den Beinen halten, und hätte der mit dem hellen Haar – der, der immer lächelte – ihn nicht gestützt, so hätten sie nie ihr Ziel erreicht.

Am Nadelöhr legten die Wachen die Hände grüßend zusammen. Die Träger und die Kämpfer, die die Gefangenen führten, erwiderten den Gruß. In der Luft war der Geruch von altem Blut und dem Exkrement der Geier, und so machten sie, dass sie rasch weiterkamen.

Später, gegen Morgen, geschah etwas Seltsames auf dem Weg der kleinen Gruppe.

Sie hatten eine kurze Rast eingelegt und die Lasten abgesetzt, um über einem kleinen Feuer Tee zu kochen. Der Fremde, der sich so mühsam voranschleppte, hatte sich auch in ihr Herz geschleppt. Sicher konnte eine Tasse heißen Tees ihm nicht schaden. Sie bereiteten ihn nach Art der Tibeter, denen man von hier aus beinahe winken konnte: stark und mit einem Stück Butter und einem Klumpen Salz, sodass er einem alle Kraft wiedergab, die einem die steilen Pfade in der Höhe nahmen. Ein wenig lachten sie über die Gesichter der drei Fremden, die diese Art Tee nicht kannten.

Und sie lachten noch – da geschah das Seltsame, was sie sich nicht erklären konnten: Zwei der Körbe begannen plötzlich zu schwanken und kullerten den Hang wieder hinunter. Die Träger sprangen auf und rannten ihnen nach, doch die schweren Körbe rollten schneller und schneller, und dann rollten sie in einen Einschnitt zwischen den Hängen hinein, in den sie ihnen nicht nachsteigen konnten, ohne wertvolle Zeit zu verlieren – zu viel wertvolle Zeit.

So fluchten sie nur, und von da an schleppten die Träger die übrigen Vorräte abwechselnd. Was sie hatten, musste reichen.

»Vielleicht ist es besser, dass wir die beiden Körbe nicht eingeholt haben«, sagte einer der Männer. »Vielleicht ging da etwas nicht mit rechten Dingen zu. Hier, wo das Land höher und höher wird, ist es voll von Geistern. Sie sind mit den Tibetern gekommen, die vor der Politik ihres eigenen Landes hierher geflohen sind, und sie sind immer noch da –«

Christopher fühlte sich so zerschlagen und zerschunden wie nie, als Jumar ihn endlich, endlich aus dem Packkorb befreite. Er kam nur mühsam auf die Beine, doch als er stand und sich streckte, da schien der Himmel über ihm höher und die Luft klarer denn je.

»Wir haben es geschafft«, sagte er verblüfft.

Neben ihm stand Niya. Sie trug ihr Gewehr über der Schulter, und auch Christopher trug das seine. Schwer und schwarz schmiegte es sich an seinen Körper; ein treuer Begleiter, dessen Liebe er nicht zu erwidern vermochte.

»Ja«, sagte Niya. »Wir haben es geschafft.«

»Wir haben es geschafft«, sagte auch Jumar.

Und sie umarmten sich alle drei, was sicherlich ein seltsames Bild abgab, da man einen von ihnen nicht sehen konnte.

»Verflixt«, sagte dieser eine. »Jetzt wird es Zeit, die übrigen Kleider anzuziehen, denn jetzt wird es kalt werden. Niya, hast du das Bündel, das ich dir gegeben habe?«

Und dann zog jemand Unsichtbares zwei Paar Socken in den Stiefeln an, die er bis jetzt zum Zweck der Unsichtbarkeit barfuß getragen hatte, und einen weiteren Pullover, eine weitere Mütze und eine grüne Tarnjacke, einen zweiten Schal und noch eine Schicht dicker Handschuhe sowie eine weitere Hose ... und neben Christopher und Niya wurde jene zweite Kleiderschicht nebst Stiefeln sichtbar. Sonst nichts. Von Weitem hätte man Ju-mar für einen ganz normalen Wanderer halten können – einen sehr dich angezogenen Wanderer –, aber von Nahem, so ohne Gesicht, gab er ein seltsames Bild ab.

»Ein wandelnder Kleiderhaufen«, sagte Niya und lachte.

»Haha«, sagte Jumar.

»Aber jetzt«, sagte Christopher, »dürfen wir keine Zeit verlieren. Wir müssen aus diesem Tal heraus und den Pfad wiederfinden, den sie genommen haben.«

Das Tal jedoch weigerte sich, die drei ungleichen Wanderer wieder gehen zu lassen.

Es sträubte sich mit felsigen Zähnen und dornigen Klauen gegen sie, wehrte sie mit Mäulern voller Geröll ab, das unter ihren Füßen ins Rutschen geriet, und zog sich eine Wolkendecke aus Dunkelheit an, um ihnen die Sicht zu nehmen.

Als sein feindliches, zerklüftetes Gesicht endlich, endlich hinter ihnen lag, war es bereits Morgen. Dort jedoch, wo sie herausgekommen waren, gab es keinen Pfad.

Sie bahnten sich ihren Weg am Rande des Tales entlang durchs Gestrüpp, folgten eine Zeit lang einem schmalen, geschlängelten Weg, der sich wieder im Nichts verlor, glaubten in jedem Schotterstreifen, jedem Wildwechsel einen Pfad zu entdecken und wurden doch jedes Mal enttäuscht. Christopher spürte, wie die Verzweiflung in ihm hochstieg.

Er blieb stehen und sah sich um. Nein, da war nirgends ein Zeichen, das jemand vor ihnen hier entlanggewandert war. Und die Ferne der Berge breitete sich ohne ein Zeichen menschlichen Lebens vor ihnen aus. Er sah ihre schneebedeckten Spitzen jetzt deutlich vor dem blauen Himmel eines wundervollen Morgens –

eines Morgens, der danach schrie, auf ein Foto gebannt zu werden. Genauso hatten die Gipfel des Himalaja in dem Bildband ausgesehen, mit dem er vor einer halben Ewigkeit zu Hause auf sein Bett geklettert war.

Damals hatte er ihre Schönheit bewundert.

Jetzt begann er, sie zu hassen. Sie hatten Arne verschluckt – er war ein zweites Mal verschwunden.

Niya begann, leise zu singen, während sie weiterwanderten:

Du sagst, du liebst mich,
solange die Sterne dort stehen.
Du sagst, du liebst mich,
solange die Winde wehen.
Du sagst, du liebst mich,
aber ich kann dich nicht sehen,
mein Geliebter
ist unsichtbar ...

»Ich habe das Lied schon von anderen gehört«, sagte Jumar. »In der geschmolzenen Stadt. Es – es geht nicht wirklich um einen unsichtbaren Geliebten, nicht wahr?«

»Ich denke, es geht um einen, den man nicht sehen kann, weil er fortgegangen ist.«

»Hm«, machte Jumar, »das dachte ich mir.«

Er schwieg eine Weile, und Christopher spürte, dass er über etwas nachdachte. Und plötzlich erinnerte er sich daran, was Jumar gesagt hatte, als sie sich in der geschmolzenen Stadt wiedergetroffen hatten.

»Jumar«, begann er, zögernd. »Ist es wahr? Willst du ... willst du wirklich sichtbar werden?«

Niya blieb so abrupt stehen, dass Christopher mit ihr zusammenstieß.

»Wie bitte?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete Jumar. »Ich, äh ... ich habe einen Entschluss gefasst.«

Sie warteten, schweigend.

Jumar räusperte sich ausführlich. »Wenn es eines gibt, was ich auf dieser Reise bis jetzt gelernt habe«, sagte er, »dann ist es, dass man nur etwas bewirken kann, solange die Leute einen sehen. Ich habe es satt, Dinge durch die Luft schweben zu lassen wie ein mittelmäßiger Zauberer, um jemanden zu beeindrucken. Ich möchte die Leute dadurch beeindrucken, was ich tue und was ich sage. Ich habe es satt, mir deinen Körper zu leihen, Christopher ...«

»Vielen Dank. Ich war bisher ganz zufrieden mit meinem Körper.«

»Das meine ich nicht! Ich habe es satt, dich in Gefahr zu bringen. Ich ... ich möchte einen eigenen Körper besitzen, einen, den ich nicht nur spüre. Ich möchte durch eine Tür in eine der Hütten treten und sagen: Hier bin ich – ich, Jumar, und niemand sonst. Ich habe es satt, ein Phantom zu sein, ein Geist, ein unheimliches Schattengeschöpf. Manchmal zweifle ich beinahe selbst daran, dass es mich überhaupt gibt! Ich möchte in einen Spiegel sehen und wissen, dass ich existiere. Ich habe es satt, die Dinge hintenherum zu erledigen, um tausend Ecken, mit tausend Leuten, auf die ich angewiesen bin wie ein Kind. Und ich habe es so satt zu lügen. Wenn ich irgendwas bewirken will, gibt es nur eine Lösung: Ich muss sichtbar werden.«

Niya erhob die Hände und klatschte langsam. Das Geräusch breitete sich zwischen den Gipfeln aus, schwebte in die Ferne und teilte vielleicht dort den höchsten Felsen den Entschluss des nepalesischen Thronfolgers mit. Ein Hauch von Feierlichkeit wehte mit dem Wind durch die Luft.

»Moment«, sagte Christopher. »Erst willst du die Maos umbringen, dann willst du Mao werden ... und jetzt willst du sichtbar werden?«

»Man kann ja nicht immer alles im Voraus wissen«, murmelte Jumar verlegen. »Ich bin erst vierzehn, und woher soll man mit vierzehn wissen, was man will?«

Das war allerdings eine gute Frage, und Christopher schwieg.

»Wichtig ist auch nicht, was ich bin«, sagte Jumar. »Wichtig ist, was aus diesem Land wird.«

»Weise, weise«, sagte Niya.

»Mach dich nur lustig über mich«, zischte Jumar. »Es ist doch wahr! Alle ziehen an irgendeiner Ecke an diesem Land und seinen Leuten. Die Drachen werden es kahl fressen, und Kartan und der große T werden in Schutt und Asche legen, was davon übrig bleibt. Nur einer, der sichtbar ist, kann das alles verhindern.«

»Und nur einer«, flüsterte Christopher, »der vierzehn ist, kann glauben, es wäre möglich.«

Aber er flüsterte so leise, dass Jumar ihn nicht hörte. Und er war selbst zu sehr vierzehn, um nicht noch zu hoffen.

»Und – wie willst du es anstellen, sichtbar zu werden?«, fragte er schließlich.

»Darüber denke ich noch nach«, sagte Jumar ernst. »Niya hat mich einmal gefragt, weshalb ich mich nie bemüht habe ... nun: herauszufinden, weshalb ich unsichtbar bin. Vielleicht ist es das, was ich zuerst tun muss.«

Er hatte kaum ausgesprochen, da fing es wieder an zu schneien. Sie sahen zu, wie dicke Flocken das weglose Land bedeckten und die Geräusche dämpften.

»Wenn wir jetzt zuerst herausfinden müssen, wie du sichtbar wirst, verlieren wir eine Menge Zeit«, sagte Niya. »Sollten wir nicht an einem Plan arbeiten, wie –«

Ein Windstoß fuhr von der Seite her in den Tanz der Flocken und wirbelte sie durcheinander – ein zweiter folgte. Da verstummte Niya und sah zum Himmel hinauf, der jetzt aus tief hängenden weißen und grauen Schlieren bestand.

Nichts von dem blauen Morgen war geblieben. Kurz darauf senkte sich der Vorhang aus wirbelnden Schneeflocken auch auf die nähere Umgebung, und bald sahen sie nicht mehr, wo sie hingingen.

Der Schnee schnitt winzige Wunden aus glühender Kälte in Christophers Gesicht. Die Kleidung, die sie in der geschmolzenen Stadt bekommen hatten, hielt sie warm – aber nur für eine begrenzte Zeit. Und sie verließen die Grenzen dieser Zeit bald.

Er stapfte Niya mit gesenktem Kopf hinterher, und Jumars Worte vermischten sich in Christophers Kopf mit seinen eigenen Gedanken zu einem bunten Kaleidoskop aus wahnwitzigen Scherben.

Die Drachen ... Arne ... nur einer, der sichtbar ist ... Schutt und Asche ... die Maos ... Kartan ... der große T ... das alles verhindern ... die Kälte ... die Kälte ... die Kälte ...

Er blieb stehen und sah sich nach der Tarnjacke und den Fäustlingen um, die gesichtslos hinter ihm über dem Schnee schwebten.

»Was wollen wir überhaupt in diesen verdammten Bergen?«, schrie er gegen den Schnee und den Wind an. »Die Welt retten oder was? Drachen besiegen? Heere aufhalten? Drei Vierzehnjährige alleine in den Bergen? Es ist sinnlos, vollkommen sinnlos! Es war von Anfang an sinnlos. Wir werden sie nie finden, wir finden nicht mal unseren eigenen Weg! Was soll ich mit einem Gewehr, wenn ich erfriere? Sieh es ein, Jumar! Niya! Wir haben kein Ziel mehr. Wir haben Arnes Spur verloren. Wir haben keine Ahnung, wo wir sind! Was tun wir hier eigentlich?«

»Überleben!«, rief Jumar. »Du Idiot! Alles andere ist im Moment egal!«

»Ach was, überleben. Wir können genauso gut hierbleiben und warten, bis der Schnee uns zudeckt und alles zu Ende ist.«

»Dann bleib von mir aus«, sagte Jumar. »Ich gehe weiter. Niya?«

Christopher spürte Niyas Arm um seine Schultern.

»Du brauchst Schlaf, flüsterte sie. »Dringend.«

Christopher riss sich los. »Schlaf?«, rief er, aber seine Stimme war zu heiser zum Rufen. »Weißt du, Niya, dass das das Einzige ist, was wir sehr bald bekommen? Einen langen, langen Schlaf. So lang, dass wir nie wieder daraus aufwachen.«

»Halt den Mund«, sagte Jumar. »Aufgeben kannst du alleine.«

»Und du?«, flüsterte Christopher. »Du weißt ja nicht einmal, wohin du unterwegs bist. Erst willst du die Aufständischen vernichten, dann Kartan ... jetzt willst du auf einmal sichtbar werden, und als Nächstes fällt dir ein, dass wir eigentlich nur hier durch die Berge wandern, weil du Turnschuhe brauchst!«

Da lachte Niya das Lachen, das nur sie lachen konnte, und es war, als berste eine Schale aus Eis, die sich um Christopher herum gebildet hatte, und er lachte mit.

Und schließlich lachte auch Jumar.

»Gelbe Turnschuhe mit schwarzen Punkten«, sagte er.

Nicht viel später entdeckten Niyas erfahrene Augen unter einer überhängenden Felswand eine Art natürlicher Höhle, und dort fanden sie Schutz vor dem Schnee und kauerten sich aneinander wie drei Tiere. Und es war dort, dass Christopher den seltsamsten, wirklichsten Traum seines Lebens hatte. Einen Traum, wirklicher als die Geschichte, in der er feststeckte.