Jumar, fort
»Christopher«, sagte eine Stimme über ihm, später, viel später. »Christopher! Es ist in Ordnung. Du musst jetzt aufstehen. Du kannst nicht ewig hier liegen bleiben.«
Er hörte die Stimme – es war Jumars Stimme. Aber er reagierte nicht. Es war keine Kraft mehr in ihm, um zu reagieren. Alles war sinnlos geworden, überzogen mit einer Schicht aus glänzender, gefühlloser Bronze – als wäre das Metall in ihm selbst, in seinem Herzen, in seinem Kopf...
»Christopher! Du kannst doch nicht einfach hier erfrieren! Es ist in Ordnung. Es ist nicht deine Schuld. Bitte, wir müssen weiter!«
Er schlug die Augen auf. Jumars Gesicht schwebte über ihm, hinter sich einen lächerlich blauen Sonnenhimmel in der klaren Luft.
Und als er diesen blauen Himmel sah und wütend auf ihn wurde, löste sich Schritt für Schritt die Starre in seinem Herzen und in seinem Kopf und machte einer Erinnerung Platz: keiner Erinnerung an Arne damals. Einer Erinnerung an Worte. Die Worte einer Frau in einer dunklen Hütte, an einem Abend vor scheinbar unendlich langer Zeit.
»Die Frau in jenem Dorf, sagte er leise. »Sie haben ihre Statue hinaus aufs Feld gebracht, weil sie ihnen unheimlich war. Und dann kam der Drache wieder und hat sie gestreift. Und der Mönch ... was hat der Mönch gesagt?«
»Du meinst –?«, fragte Jumar. »Was die Drachen verwandeln, können sie auch wieder zurückverwandeln?«
Christopher nickte. Und dann setzte er sich abrupt auf. »Die Schuppen auf ihren Flügeln«, sagte er, lauter. »Damals wussten wir nicht, von was er sprach. Aber jetzt, Jumar! Jetzt wissen wir es! Es sind die Schuppen auf den Flügeln der Schmetterlinge, die Schuppen, mit denen sie das Gleichgewicht halten! Als ich klein war, hat Arne mir erklärt, dass man sie nicht zerstören darf ...«
Sein Blick fiel neben ihn auf den Schnee und er verstummte.
Dort lag die bronzene Statue eines Jungen mit langem Haar und einem wirren Bart. Und auf dem Gesicht jener Statue lag ein Lächeln. Er stand auf, entschlossen jetzt.
»Wir nehmen ihn mit.«
Niya kniff die Augen zusammen und musterte die Statue im Schnee.
»Wir können es versuchen«, sagte sie. »Aber verlass dich nicht darauf, dass es klappt.«
»Wie willst du an die Schuppen herankommen?« fragte Jumar. »Denk daran, was der Mönch noch gesagt hat: Man hat noch nie von einem gehört, der einen Drachen gefangen hätte.«
»Selbst ich habe ihn nicht getroffen«, meinte Niya. »Wie willst du ihn treffen?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Christopher. »Ich weiß nur eines: Das ist mein Bruder, und ich bin gekommen, um ihn nach Hause zu holen. Egal, wie. Egal, was ich dafür tun muss. Und warst du das nicht, der immer sagt, ihm würde schon etwas einfallen? Uns wird schon etwas einfallen. Lasst uns gehen.«
Er hörte Niya leise knurren. Er sah, dass sie noch immer nicht mit ihm einverstanden war. Da hing das Blut des Jungen in der Luft zwischen ihnen, das unvergossene. Und nun kam das Gewicht einer Bronzestatue hinzu.
Oder vielleicht war es etwas ganz und gar anderes, was zwischen ihnen hing? Unsichtbar? Unheilbar? Etwas, für das es kein Wort gab?
Sie trugen die Statue abwechselnd, immer zu zweit. Der Dritte trug Jumars Rucksack. Der Abgrund leitete sie an seinem Rand entlang und grinste ihnen weglos ins Gesicht; es wurde Abend, bis er es aufgab und ihnen einen Pfad in die Tiefe wies. Auf einem Pfad in die Tiefe ist es nicht leicht, eine Bronzestatue von 1,94 Meter Länge mit sich zu tragen – selbst wenn sie hohl ist.
Sie wechselten sich nicht nur mit dem Tragen ab, sondern auch mit dem Fluchen.
Die Nacht erreichte sie mitten am Hang, und sie schliefen kurz und schlecht, ohne miteinander zu sprechen. Christopher schlang beide Arme um die Statue, damit sie nicht den Hang hinunterrutschte, während er schlief.
Wo war Arne? War er irgendwo? Spürte er die Kälte auf seiner bronzenen Haut? Hörte er mit seinen metallenen Ohren? Sah er aus seinen nicht länger blauen, kalten Augen?
Am Morgen frühstückten sie abgelaufenes Dosenfleisch, ein Frühstück, das selbst hungrigen Engländern zuwider sein dürfte, und dann waren sie wieder unterwegs, endlos unterwegs, hinunter, hinunter, hinunter. Gegen Abend jenes zweiten Tages wurden die Dinge besser, denn die Höhe, die bis jetzt noch immer auf ihren Ohren gesessen hatte, verließ sie, und auch der Schnee verabschiedete sich grußlos. Das Weiß wich wieder farbloser Gerölllandschaft – farblos ohne das Zutun von Drachen, einer Landschaft, in die sich kein Drache verirrte, weil es hier nichts zu sehen und nichts zu fressen gab.
Christopher brütete vor sich hin und wartete auf eine Idee. Aber es kam keine.
Irgendwann gab es plötzlich wieder Gras, spärlich zunächst, und niedrige Sträucher, und dann kam jener Tag, an dem Jumar plötzlich und unvermittelt sagte: »Wir sind zu langsam.«
Und Niya, die lange gar nichts mehr gesagt hatte, erwiderte: »Das liegt daran, dass wir zusätzlich zu drei Gewehren und einem Rucksack auch noch eine 1,94 lange Bronzestatue mit uns schleppen.«
Sie blieben stehen. Um sie wogte hohes Gras in einem scharfen Wind, aber die Sonne des Mittags brannte schon mit der Wärme eines Versprechens von Tälern und Flüssen.
Jumar seufzte. »Was immer in Kathmandu geschieht, wir werden nicht rechtzeitig dort ankommen, um irgendetwas dagegen zu tun.«
Er und Niya hatten die Statue getragen und Christopher den Rucksack, und nun stellten sie sie für einen Moment ab – für einen Moment? Nur für einen Moment?
Christopher schluckte. Er streckte eine Hand aus, um die hohle Figur zu stützen, damit sie nicht umfiel. Die bronzene Hand in der seinen schien zu flehen. Als wollte sie sich ausstrecken, bitten. Lasst mich nicht alleine.
»Wir können das nicht tun«, sagte Christopher. »Wir können ihn nicht – wir können ja die Gewehre dalassen.«
»Christopher«, sagte Niya. »Sei vernünftig. Hör zu –«
»Nein!« Er schüttelte wild den Kopf und kam sich kindisch vor. »Ich will überhaupt nichts hören! Er ist mein Bruder! Du hast uns ein Haus in Brand stecken lassen, um deine Familie zu rächen, erinnerst du dich? Keiner von uns ist vernünftig! Menschen sind nicht vernünftig! Nichts auf der Welt hat mit Vernunft zu tun! Ich –«
Niya war ganz nahe zu ihm getreten, und ihre Nase berührte die seine beinahe. Das Feuer in ihren dunklen Augen war das gleiche Feuer, das in einer Nacht lange zuvor einen Pferdestall zerstört hatte.
»Das«, sagte sie und zeigte auf die Statue, »das, Christopher, ist nicht dein Bruder. Das ist gar nichts. Es ist leblos, gefühllos, kalt.
Es hat kein Herz, das in ihm schlägt. Es spürt keine Trauer, keine Angst und keine Enttäuschung. Da ist niemand mehr in diesem Etwas, der deine Hilfe braucht. Niemand. Dein Bruder, Christopher, ist nicht mehr da. Selbst wenn wir Schuppen oder Staub von Millionen von Schmetterlingsflügeln in einer Tüte bei uns hätten, so glaube ich nicht, dass das irgendetwas ändern würde. Es ist nichts als ein Gerücht. Und so, wie die Dinge liegen, haben wir keinen Schmetterlingsstaub. Sollen wir ein Land aufgeben, weil wir ein totes Ding nicht im Stich lassen kön-nen?«
Christopher ließ die bronzene Hand los und ballte die Fäuste. Er spürte, wie sein Atem schwerer ging – als müsste er gegen einen Widerstand anatmen, einen Widerstand zwischen ihm und Niya, einen knisternden, bösen, scharfen Widerstand, der die Luft ausfüllte und der in seiner Lunge brannte wie ein giftiges Gas. Er hatte nicht vorgehabt zu sagen, was er sagte.
»Und ihr glaubt«, sagte er, »dass ihr ein Land retten könnt, weil ihr zu einem bestimmten Zeitpunkt in irgendeiner Stadt auftaucht? Was wollt ihr dort tun? Alles mit einem Fingerschnippen ändern? Wie denn? Warum nicht gleich die ganze Welt retten? Ihr habt noch immer nicht den Hauch eines Plans!«
»Doch«, sagte Jumar. »Ich arbeite daran.«
»Ach was«, meinte Christopher. »Da darf man ja gespannt sein.«
Eine Weile senkte sich das Giftgas als Wolke von schwerem Schweigen über die drei Wanderer, und das hohe Gras regte sich nicht mehr, als schwiege auch der Wind.
Dann sagte Niya: »Schön. Vielleicht ist es Unsinn. Aber uns ist es wichtig. Dir kann dieses Land egal sein. Es ist nicht deines.«
Da war es – plötzlich – wir und uns. Ihr und ich. Ein Land, das nicht das seine war.
Eine Aufgabe, die ihn nichts anging.
Christopher streckte die Hand aus – ein schwacher Versuch, noch etwas zu retten.
»Okay«, sagte er, »es war nicht so gemeint. Können wir nicht –zusammen –«
Er berührte ihren Arm, doch sie zog ihn weg.
»Fass mich nicht an«, fauchte sie. »Wir können gar nichts zusammen. Es gibt kein Zusammen. Es hat nie eines gegeben. Du hast es selbst gesagt. Du hast nie an unsere Sache geglaubt.«
Und in Christopher zerbrach knirschend etwas Gläsernes, das nur er hörte.
»So«, rief er. »Jetzt ist es ein Fassmichnichtan zwischen uns? Darf ich dich daran erinnern, dass das nicht immer so war? Du ziehst vielleicht vor, es zu vergessen, aber es gab eine Nacht, draußen, vor der geschmolzenen Stadt, da war es nichts mit Fassmichnichtan, da war es das Gegenteil, da war es Fassmichan, hierunddortunddortauch, beinahe ein Befehl, Frau Feldwebel. Denn du, du hast mit allem angefangen. Und es hat also nichts bedeutet, es gab nie ein Zusammen? Gut, gut zu wissen.«
Niya starrte ihn an, ihr Gesicht steinern, starr wie das bronzene, leblose Gesicht jenes Dings, das nicht sein Bruder war.
Er starrte zurück – und dann wanderte sein Blick zur Seite und traf den Blick Jumars, der die ganze Zeit über nichts gesagt hatte. Der nichts mit jenem Streit zu tun hatte. Der von nichts gewusst hatte. Und in diesem Moment begriff Christopher, dass es Jumar war, auf dessen Rücken sie diesen Streit austrugen. Er hätte es nicht erfahren dürfen. Er hätte es nicht erfahren müssen.
Aber Worte, die einmal heraus sind, lassen sich nicht mehr hinunterschlucken.
»So«, sagte Jumar. »So ist das also. Ja, du hast recht. Gut zu wissen. Und: Es gab nie ein Zusammen.«
Damit drehte er sich um und lief den Weg entlang, hinunter: fort, fort, fort.
Niya schleuderte Christopher zwischen zusammengebissenen Zähnen einen Fluch entgegen, drehte sich um und lief ihm nach. »Warte!«, hörte er sie rufen. »Jumar, warte! Es ist nicht – es ist alles anders, als du denkst...«
Und Christopher blieb alleine stehen, neben ihm nur eine bronzene Statue, und sah den beiden nach.
»Das«, sagte er leise, »ist das Ende unserer Reise. Das ist das Ende von allem. – Oder«, fügte er nach einer Weile hinzu, »jedenfalls für mich.«
Die Hand, die er drückte, war aus kalter Bronze und erwiderte seinen Druck nicht.
Sie konnte es nicht. Sie würde es vermutlich nie wieder können.
Er ahnte, dass Niya recht hatte. Dennoch schulterte er die Statue – und als er langsam den Weg entlangging, fühlte er sich so hohl wie sie. Wohin ging er?
Der Abend kam, und das Licht der untergehenden Sonne fing sich in Hunderten von Spinnennetzen, die sich zwischen den hüfthohen Grashalmen spannten wie eine seltsame Sorte filigraner Verzierung. Christopher sah, wie sie zerfielen, wenn er hindurchging, und aus einem unbestimmten Grund vertiefte das die Trauer noch, die ihn gepackt hatte. Es gab nichts, was unzer-stört blieb. Nichts, was währte.
Er legte die Statue und sein Gewehr ins Gras und wartete, dass die Sonne unterging. Und als sie es tat, bettete er seinen Kopf zum Schlafen auf Jumars Rucksack, den er immer noch mit sich herumschleppte. Da war etwas in dem Rucksack, was ihn durch den Stoff hindurch stach. Er zog den Reißverschluss auf und griff hinein – und da fand er am Boden des Rucksacks unter Konservenbüchsen und Munition, Wachs-Streichhölzern zwischen durchweichten Geldscheinen, Stücken von Paketschnur und einem Paar Handschuhen die zerkrümelten Überreste von Ästen, von Rinde ... er zog die Hand heraus und starrte im letzten Licht des Tages die Zweige an. Und dann erinnerte er sich.
Wacholder.
Jene besondere, unerklärliche Sorte Wacholder, den sie als Fackeln hatten benutzen wollen. Benutzt hatten: harzige, bunt sprühende, feuerwerkartige Wacholderfackeln ... und ein Drache, angelockt von den glühenden Farben ... Christopher atmete tief durch.
»Das«, sagte er zu einem leblosen Bronzeding neben sich, das ihn vermutlich nicht hörte, »das ist die Lösung. Damit haben wir den Drachen. Den Drachen, dessen Schmetterlingsstaub wir brauchen. Wie haben ihn. Beinahe schon.«
Er legte das Gewehr bereit. Die Streichhölzer. Den größten heilen Wacholderzweig, den er fand. Seine Hände waren seltsam ruhig.
»Jumar hat gesagt, es sind nichts als Schmetterlinge«, sagte er zu Arne, der nicht Arne war. »Und also kann man keinen Drachen erschießen. Deshalb hat Niya nicht getroffen. Aber nicht einmal Niya ist unfehlbar. Vielleicht hat sie wirklich danebengeschossen. Immerhin hing sie dabei in einer Steilwand. Und – es ist die einzige Möglichkeit. Ich muss ihn treffen. Den Drachen, den ich anlocken werde. Und dann kann ich die Schmetterlinge fangen, es werden genügend sein, um ein paar zu fassen zu kriegen, nicht wahr? Und dann wirst du den Staub auf deiner Haut fühlen, wenn du aufwachst. Und wenn du nicht aufwachst ... wenn du Bronze bleibst, dann –«
Er vollendete den Satz nicht.
Stattdessen strich er ein Streichholz an. Er verbrauchte siebzehn der dünnen, wächsernen Hölzer, ehe es ihm gelang, den Wacholderzweig zu entfachen. Doch schließlich, beim achtzehnten Holz, gelang es. Und Christopher bohrte den brennenden, knisternden, farbensprühenden Zweig mit einiger Mühe in die harte, kalte Erde zwischen den hohen Grashalmen: In den Spinnennetzen glitzerte jetzt der Tau – wie tausend Edelsteine glommen seine Tropfen, beleuchtet vom Wunder der Wacholderharz-Fackel. Sie war etwas niedriger als die Grashalme, etwas tiefer als die Netze – und wieder würden die Kunstwerke Dutzender von Spinnen zerstört werden, wenn der Drache sie zerriss, um an die Fackel zu kommen. Ringsum war es dunkel. Dunkel genug, um den Drachen keinen Schatten werfen zu lassen? Aber würde der Drache – irgendein Drache – kommen?
Christopher wartete einige Meter von der Fackel entfernt. Würde sie lange genug brennen, dass ein Drache sie von ferne sah? Würde es funktionieren? Würde der Staub der Schmetterlingsflügel Arne zurück in Arne verwandeln?
»Dies«, flüsterte Christopher, »ist unsere einzige Chance.«
Das Wort »Chance" hing noch in der Luft, da wurde jene Luft aufgewirbelt von der Bewegung riesiger Schwingen – oder waren es viele, winzige Schwingen?
Christopher triumphierte, und dann schlossen sich die Krallen der Angst um sein Herz.
Er legte das Gewehr an, duckte sich tiefer ins hohe Gras, spürte neben sich den leblosen Metallkörper –
Das schwache Glimmen des Drachen in der Nacht erinnerte ihn an die Drachen in der geschmolzenen Stadt. Ein wenig nur leuchtete er, gerade genug, um sehen zu können, wie er sich näherte – schemenhaft, voll unheimlicher Grazie. Er war von einem hellen, glänzenden Gold, und seine Schwingen schimmerten rötlich.
Wie kam es nur, dass es Christopher jedes Mal wieder überraschte, wie schön die Drachen waren? Warum muss Böses hässlich sein? Und – waren die Drachen böse? Tödlich, ja, vernichtend, aber böse? Jumar hatte gesagt, sie waren gar nichts ...
»Du wirst doch jetzt kein Mitleid mit einem Drachen bekommen«, zischte er sich selbst zu.
»Sie haben recht: Du bist verrückt. Ein vollkommen hoffnungsloser Fall.«
Und jetzt! Jetzt war der Drache da! Er flog genau auf die bunt sprühende Fackel am Boden zu, die Klauen ausgestreckt – zielen, abdrücken – der Knall zerriss die Nacht, und Christopher taumelte zurück. Er hatte für einen Moment die Augen geschlossen, zwang sich aber, sie wieder zu öffnen: Und da war der Drache, noch immer in der Luft, unverletzt.
Er flog weiter auf die Erde zu, auf die Farben der Fackel zu – als wäre nichts geschehen. Christopher blieb keine Zeit, noch einmal zu schießen. Und er wusste, dass es ohnehin nichts genutzt hätte. Es funktionierte nicht. Es war unmöglich, die Drachen zu erschießen. Man konnte nicht genügend Schmetterlinge auf einmal töten, um ihn außer Gefecht zu setzen. Hatte er es geahnt?
Ein wenig Zeitlupe, dachte Christopher, wäre jetzt ausgesprochen nett. Ich könnte beeindruckend rückwärtskriechen, um dem Drachen zu entkommen. Denn: Nein, es ist nicht dunkel genug, da sind die Sterne, und: Ja, ihr Licht reicht aus, um einen Drachenschatten hervorzubringen, und: Ja, er wird genau über mich fliegen.
In der Zeitlupe hätte man vielleicht sehen können, wie sich auch sein Körper in Bronze verwandelte ... und wie schließlich zwei glänzende, metallene Körper im Gras lagen, einträchtig nebeneinander:
Brüder.
Aber es gab keine Zeitlupe.
Was geschah, geschah mit erbarmungsloser Schnelligkeit: keine Zeit, die Augen noch einmal zu schließen. Der Drache schoss genau auf den Boden zu, um die Fackel in seinen Klauen zu packen und dann über Christopher hinwegzustreichen. Doch er erreichte die Fackel nie.
Ein Geräusch wie vom Flattern Tausender von Schmetterlingen füllte die Luft – Tausender von Schmetterlingen, deren Flug jäh gebremst wird. Und dann zappelten Tausende von Schmetterlingen – hauptsächlich goldene und rote – in einer dichten Schicht von tauglitzernden Spinnennetzen zwischen den hohen Grashalmen. Christopher schnappte nach Luft. Der Drache hing fest.
Er war noch immer ein Drache, aber sobald die Spinnen erwachten und ihre Arbeit taten, Schmetterling um Schmetterling töteten und verdauten, würde er sich auflösen. Und er wusste es. Christopher sah, wie er verzweifelt versuchte loszukommen und sich immer hoffnungsloser verhedderte: Es war ein Kampf aus Gold und Rot – wie ein wahnsinnig gewordener Weihnachtsgabentisch.
»Jetzt«, flüsterte Christopher. »Das ist es! Wir müssen –«
Und er hob die Bronzestatue hoch, die nicht Arne war, und trug sie ganz nah an den kämpfenden Drachen heran – den Drachen, der auf den Flügeln seines gefangenen Schmetterlingskörpers die winzigen Schuppen hatte, der Arne wieder zu Arne machen konnte.
Vielleicht.
Wenn Gerüchte wahr waren.
Nahe, ganz nahe heran schleppte er die Statue, trotz der Angst, die in seinen Ohren sang, trotz der Zweifel, die ihn plagten – er achtete darauf, sich dem Drachen so zu nähern, dass sein Schatten nicht auf ihn fallen konnte, und dann war er nahe genug: nahe genug, um eine bronzene Hand von Arne, der nicht Arne war – nicht mehr – noch nicht – in den Schmetterlingswirbel im Netz zu tauchen: in den hilflosen Körper des Drachen hinein. Nahe genug für die metallenen Finger, die Flügel der Schmetterlinge zu berühren, sie vielleicht zu zerquetschen: nahe genug, dass die wunderbaren Schuppen der zerbrechlichen Geschöpfe wie farbiger Staub auf die glatte, bronzene Oberfläche rieseln konnten.
Aber der Drache wusste.
Er schlug mit dem Schweif, versuchte, mit den Flügeln zu flattern, nutzlos, vergeblich.
Und dann tat er in seiner Panik etwas, das Christopher vergessen hatte.
Er öffnete das Maul und stieß eine Fontäne aus Feuer in die Luft. Eine ärgerliche, farbensprühende Fontäne – genau, wie es die Drachen getan hatten, die eines Nachts über die geschmolzenen Stadt geflogen waren. Aber die Flamme, die aus seinem Maul drang, war ungleich höher und stärker. Es war, als riefe der Drache mit der Macht der Verzweiflung um Hilfe.
Christopher sprang zurück, schützte das Gesicht mit den Armen, fand sich im Gras wieder und verfluchte seine Panik, seine eigene Idee, sich überhaupt, spürte die Hitze ... und roch verbranntes Gras – und auch: Geschmolzenes.
Metall.
Bronze.
Als er wieder aufsah, hing der Drache leblos in seiner Falle aus Spinnennetzen. Vielleicht hatte es ihn zu viel Kraft gekostet, so viel Feuer zu speien. Wie konnten Schmetterlinge überhaupt Feuer speien? Christopher fand keine Antwort.
Manche der Schmetterlinge regten noch leicht die Flügel. Eine dicke, schwarze Spinne kroch verwundert auf einen besonders schönen roten Schmetterling mit goldenen Flecken zu, die wie Christbaumkugeln glänzten.
Eine andere, dicke schwarze Spinne verglühte auf versengter Erde.
Dort, wo die Netze verglüht waren, flatterten einige wenige Schmetterlinge seltsam unversehrt vom Boden auf und verschwanden in der Nacht. Sie schimmerten jetzt nicht mehr von innen. Und gleich darauf verlor der Rest des Drachen seine Konturen, und alles, was es gab, war eine erstaunliche Menge toter, klebriger Insekten in ein paar Spinnennetzen irgendwo in den Ausläufern des Himalaja.
Nichts von alledem war logisch.
Später begannen die Leute sich zu erzählen, an jenem Hang webten die Spinnen Netze aus Feuer. Es lodert, so sagen sie, in symmetrischen Mustern und in den schönsten Farben zwischen den hohen Grashalmen und versengt jedem die Wimpern, der wagt, es anzusehen ... Doch das war erst später.
An jenem Tag lagen dort, wo die Netze zerrissen waren und verglommen, die Hälften einer geborstenen Bronzestatue zwischen den verkohlten Halmen. Christopher kniete sich auf schwarze Asche von vergangenen Gräsern, streckte eine zitternde Hand aus – und schrie auf. Das Metall war zu heiß, um es zu berühren.
Die Form der Bronze war noch erhalten, doch an den Enden sah man, dass sie begonnen hatte zu schmelzen. Hatte sie sich vorher verwandelt? Für den Bruchteil eines Augenblicks? Lag da der Geruch nach verbranntem Fleisch in der Luft? Nach geschwärztem, geronnenem Blut?
»Nein«, flüsterte Christopher, was ein Klischee aus allen amerikanischen Filmen war, und deshalb hielt er danach den Mund. Aber in seinem Kopf stand noch immer dieses Wort, rot glühend wie das verloschene Feuer:
NEIN, NEIN, NEIN, NEIN.
Hatte er gesehen, wie Arnes Hand die Schmetterlinge berührte? Oder nicht? Warum hatte die Verwandlung nicht schnell genug geschehen können? Schnell genug für Arne, um dem Feuer zu entrinnen? Aber es war nicht mehr wichtig.
Christopher stand auf und klopfte sich in einer sinnlosen Geste die Asche von der Hose.
Und das Wort in seinem Kopf wurde ersetzt durch andere, härtere Worte.
ICH. ICH, ICH, ICH: ICH HABE IHN UMGEBRACHT. MEINEN EIGENEN BRUDER.
Er wich taumelnd zurück von der geborstenen Statue, stolperte, fing sich wieder – wohin ging er? Wozu? Was würde er jetzt tun?
Er war ganz allein.
Jumar und Niya waren fort, und Arne ... Arne war tot.
Bild einer Nacht: Ein Junge – vielleicht vierzehn, vielleicht auch schon hundert Jahre älter – auf einer Handvoll hohem Gras. Und noch zwei andere Gestalten.
Sie beobachten ihn von ferne.
»Ich habe dir ja gesagt, dass er verrückt ist«, flüsterte Niya. »Ich habe es dir gesagt, als er den Drachen angelockt hat. Aber was tut er jetzt? Wohin will er? Er geht im Kreis –«
»Keine dumme Idee, das mit dem Drachen«, wisperte Jumar. »Wir müssen etwas tun, Niya. Er geht tatsächlich im Kreis. Und wo ist diese Statue –?«
Christopher sah die beiden Gestalten nicht, die ihn beobachteten. Er sah anderes, Verschwommenes: Nebel. War das Nebel, der aus dem Gras aufstieg, oder war das noch Rauch vom Feuer? Und wenn es Rauch war, war es der Rauch, der in seinen Augen biss und sie tränen ließ?
In seinem Kopf hörte er Arnes Stimme. Die verdammten Erinnerungen. Jetzt, wo alles vorüber war – konnten da nicht auch endlich die Erinnerungen ihn in Ruhe lassen?
Arnes Stimme sang wieder, wie sie für ihn gesungen hatte, als er klein und krank gewesen war. Wie sie gesungen hatte, als sie Arne gefunden hatten, oben in der Felswand:
Der Wald steht schwarz und
schweiget
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.
Ja, der weiße Nebel ...
So legt euch denn ihr Brüder
in Gottes Namen nieder;
kalt ist der Abendhauch –
Aber warum, dachte Christopher, warum bewegte sich die Stimme, wenn sie in seinem Kopf war? Eben war sie noch ein Stück weit weg gewesen, und jetzt war sie näher ...
Er drehte sich zögernd um – und stieß mit jemandem zusammen.
Dieser Jemand war größer als er, breiter und stärker. Er roch nach Ruß und verbranntem Stoff. Und er schloss seine Arme um Christopher.
Christopher sah auf.
»He«, sagte Arne, »he, Christopher! Was ist ... ich begreife nicht –«
Da begann Christopher, hemmungslos zu heulen wie ein kleines Kind. Seine Tränen fielen in leicht angekohlten Stoff, und Arne murmelte »he, he« und »aber, aber" und »wenn ich bloß wüsste, was –«
»Das gibt es nicht«, sagte Jumar und merkte, dass er begonnen hatte, auf und ab zu hüpfen wie ein kleiner Junge bei einem spannenden Theaterstück im Freien. »Er hatte recht. Er hatte die ganze Zeit über recht, Niya! Er hat es geschafft!« »Hm«, antwortete Niya. »Ja. Verdammt. Ja!«
Sie schwiegen einen Moment. »Und alles andere –«, begann Niya.
»Alles andere –«, sagte Jumar.
»Dinge geschehen«, sagte Niya.
»Aber – bist du – denkst du – du und Christopher?«
»Nein. Dinge geschehen.«
»Ungünstigerweise ...«, stotterte Jumar, »... ungünstigerweise bin ich ... würdest du ... das ist eine, wie soll ich sagen, etwas neue Erfahrung für mich ... aber ich sammle ja neue Erfahrungen.«
Niya hielt ihn an den Schultern fest und sah ihm ins Gesicht. Und sah wenig, weil es dunkel war.
»Ich fürchte, ich habe mich verliebt«, sagte Jumar.
»In Christopher?«, fragte Niya und lachte leise.
Und Jumar knurrte ein Nein.
»Wir sollten jetzt wirklich zu ihnen gehen«, sagte sie. »Und uns – äh – wieder vertragen. Vielleicht.«
Aber auf dem Weg streifte ihre Wange seine – oder war das nur das hohe Gras?
»Und ich habe eine Idee«, sagte Jumar später, viel später, auf dem Weg durch die Nacht – denn keiner konnte mehr schlafen. »Eine Idee, wegen Kathmandu. Dem Chaos. Dem Ende.«
»Das ist auch nötig«, sagte Arne freundlich.
Er hatte sie nichts gefragt. Er würde mit ihnen nach Kathmandu gehen, ins Chaos.
Die Stadt rief sie mit aller Macht.
Es gab nichts mehr in den Bergen, was sie hielt. Die Zeit war gekommen, die Dinge zu ändern.
Fern von den vier Gestalten, die sich an einem Seil die Felswand hinabgleiten ließen, saß Hauptmann Kartan auf seinem schwarzen Hengst und beobachtete die letzten Übungen seiner Truppen.
In einem kahlen Raum in einer geschmolzenen Stadt drückte der große T seine Zigarette aus und trat ans Fenster.
Der Anfang des Endes begann.
Bald würde der Vorhang sich heben – die Schauspieler waren bereit.