Niyas Worte
Christopher sah die Brücke verschwinden, und es schwindelte ihn.
Er spürte die Metallplatten unter seinen Füßen, doch seine Augen konnten sie nicht mehr sehen.
»Hab keine Angst«, hörte er Jumar sagen, irgendwo vor sich. »Es ist in Ordnung. Es ist nur meine bloße Hand auf dem Geländer. Ich habe die Handschuhe ausgezogen. Ich werde meine Finger am Geländer entlanggleiten lassen und nicht loslassen, bis wir drüben sind. Und ich wette mit dir, dass niemand von diesen Feiglingen uns folgt.«
»Um w-was w-wettest du?«, fragte Christopher mit einem unkontrollierbaren Zittern in der Stimme.
»Um dein rotes T-Shirt«, antwortete Jumar ernst. »Es gefällt mir unsagbar gut, und ich würde es nach dieser Reise gern behalten.«
Christopher zweifelte daran, dass nach »dieser Reise«, wo auch immer sie endete, noch viel von dem Red Hot Chili Peppers-T-Shirt übrig sein würde. Es hätte ihn erstaunt, die Wahrheit zu erfahren.
»Du musst weitergehen«, drängte Jumar. »Wenn du zu lange zögerst, probieren sie es womöglich doch aus. Bitte, geh weiter! Halt dich am Geländer fest!«
Die Brücke schwang hin und her, und das Geländer war nicht mehr als ein Stück niedriger Maschendrahtzaun, vermutlich dazu gedacht, Schafe oder Ziegen vorm Hinabstürzen zu bewahren, in jedem Falle aber zu niedrig, um einem Menschen sicheren Halt zu geben. Vor allem, wenn man den Maschendraht nicht sah.
Tief, tief unter sich sah Christopher das farblose Wasser des Flusses brodeln, umrahmt vom spitzen Gesicht des Felsgesteins. Niemanden, der dort hinabstürzte, würde die Welt wiedersehen, die Felsen würden ihn zerschmettern und der Fluss ihn in seinen unheimlichen Wassern begraben, mit sich fortreißen, auf immer.
Christopher spürte, wie der Abgrund ihn anzog, und er dachte an die Augen des Drachen zurück, jene bodenlosen, schwarzen Strudel – nein. Er riss seinen Blick gewaltsam von der Tiefe los und sah nach vorne, zur anderen Seite, wo der Urwald mit seinen grünen Händen winkte.
Dann setzte er einen Fuß vor den anderen, begann, langsam geradeaus zu gehen, durchs Nichts, durch die Luft; ein Seiltänzer ohne Seil.
Was, wenn er danebentrat? Über den zu niedrigen Maschendrahtzaun, ins Nichts? Am liebsten hätte er sich auf die Knie niedergelassen und sich Meter für Meter an dem unsichtbaren Zaun entlanggetastet. Aber hätten die Soldaten in diesem Fall nicht geahnt, dass der Zaun noch da war? Und überhaupt hätte es zu lange gedauert.
Er breitete die Arme aus und biss die Zähne zusammen. Hätte die Brücke nur nicht so geschwankt! Geradeaus gehen, sagte er sich, nur immer geradeaus. Aber wo genau war geradeaus?
Jumar war ihm ein Stück voraus, er konnte ihn pfeifen hören, damit Christopher wusste, wo er sich befand. Der Schweiß lief in Strömen an ihm herab, obwohl es kühl war, hier über dem Fluss.
Hinter sich hörte er die Rufe der Soldaten. Ihre Worte drangen nicht in seinen Kopf, denn sein Kopf war zu sehr damit beschäftigt, nicht an den Abgrund unter ihm zu denken. Doch er hörte ihre Verblüffung, und dann waren da andere Rufe, eine andere Stimme, voller Wut: Kartans Stimme. Seine Wut war so bodenlos wie die Tiefe.
Und einen Moment lang war Christopher sich sicher, dass Kar-tan ihm folgen würde.
Dass er nicht länger zögerte, auf die unsichtbare Brücke hinauszugehen.
Dass seine Hand ihn packen würde, ehe er die andere Seite der Schlucht erreichte – eine kalte, entschlossene Hand. Kalt wie die Hand des Todes.
Er wollte sich nicht umdrehen.
Aber dann tat er es doch.
Und da stand Kartan, reglos, und starrte. Sein Blick erinnerte Christopher an die leeren, schwarzen Augen der Drachen. Und ein unsinniger Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Kartan selbst war ein Drache. Gleich würde er sich verwandeln, sich in schillernde, farbenprächtige Schuppen kleiden, seine Schwingen ausbreiten und über die Schlucht fliegen ... Unsinn.
Kartan verwandelte sich nicht. Stattdessen streckte er einen Arm aus und schob einen seiner Soldaten nach vorne. Seine Bewegung war so rasch, dass der Soldat keine Zeit hatte, sich zu wehren. Natürlich. Er war nicht so dumm, es selbst als Erster zu probieren.
Soldaten gab es viele, wie Bauern beim Schach: Sie waren dazu da, verbraucht zu werden.
Und so sah Christopher an jenem Tag dabei zu, wie einer der Soldaten verbraucht wurde.
Kartan hatte ihn nicht ganz in die richtige Richtung geschoben. Der Mann stolperte vorwärts, streckte Hilfe suchend die Arme aus – und fand nichts.
Er fiel neben dem Anfang der unsichtbaren Brücke in die Tiefe. Das Letzte, was Christopher von ihm sah, waren ein tarngrüner Ärmel und eine hilflos geöffnete Hand.
Die Welt begann, sich um den Wanderer über der Schlucht zu drehen. Es war ihm, als fiele er selbst. Er wusste nicht mehr, ob er es war, der schwankte, oder ob es die Brücke war. Er ging in die Knie, tastete um sich, fand keinen Halt – wo war das Geländer? Dort.
Er schloss die Augen. Krallte sich fest. Nein. Er konnte keinen einzigen Schritt mehr weitergehen. Er würde hierbleiben, den Maschendraht nie mehr loslassen und bis ans Ende seiner Tage mit der Hängebrücke hin und her schwanken –
»Christopher!«, hörte er Jumar leise rufen. »Hierher! Komm! So komm doch! Bitte!«
Ich kann nicht, dachte Christopher. Ich kann nicht, kann nicht, kann nicht.
Arne hätte es gekonnt.
Aber nicht ich.
Doch dann richtete er sich langsam auf, öffnete die Augen und ging weiter.
Denn man kann alles, wenn es nicht anders geht.
Er wusste nicht, wie er die andere Seite der Schlucht erreichte. Doch irgendwie erreichte er sie. Es war wie ein Wunder.
Als er endlich, endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, zitterte er so sehr, dass es ihn schüttelte. Hinter ihm war die Brücke noch immer nicht zu sehen.
»Wo ... wo bist du?«, fragte Christopher erschöpft.
»Hier. Ich halte das Geländer noch ein Weilchen fest –«
»Am besten wäre es«, sagte Christopher, »ein Teil von dir könnte immer hierbleiben, und die Brücke würde einfach überhaupt nie wieder auftauchen.«
»Oh, das ist einfach«, antwortete Jumar fröhlich, »ich hacke mir einen Finger ab, und wir befestigen ihn am Geländer.«
»Waaaarte«, sagte Christopher gedehnt und versuchte, einen Gedanken zu greifen. »Wie wäre es mit... Haaren? Könnten wir nicht eine Haarsträhne von dir um das Geländer wickeln?«
»Es käme auf einen Versuch an.«
Der Rucksack erschien auf dem Boden. »Würdest du die Güte haben, mein Taschenmesser zu suchen? Mit einer Hand ist das schwierig.«
Christopher fand das Messer im Durcheinander aus kratzigen Wacholderästen (»wir müssen sie bei Gelegenheit wegwerfen«, murmelte er), Jackenärmeln und der nutzlos gewordenen Taschenlampe, und kurz darauf zierte eine unsichtbare Haarsträhne des Kronprinzen von Nepal das Geländer einer gewissen Hängebrücke über einem gewissen Tal.
Die Brücke ist seitdem nicht mehr gesehen worden.
Manche Leute sagen, sie hätten beobachtet, wie in mondhellen Nächten bisweilen ein Maultier oder ein Schaf dort, wo sie einst war, mitten durch die Luft zur anderen Seite des Abgrundes wanderte. Aber die Leute reden eben.
Nicht weit jenseits des Tales führte der Pfad die beiden Wanderer steil in die Höhe, und diesmal ließen sie die grüne Welt des Urwaldes endgültig hinter sich zurück. Sie wanderten an anderen Tälern entlang, überquerten andere Brücken, Brücken aus Holz, die über weniger reißende Flüsse führten, und das Land änderte sein Gesicht.
Noch etwas änderte sich, langsam, kaum merklich, im Verborgenen. Der nepalesische Thronfolger schwieg lange Zeiten des Tages. Sie sprachen nie über das, was geschehen war, und doch wusste Christopher, dass etwas in seinem umrisslosen Begleiter zerbrochen war, ein kleines Rad im Getriebe seiner Zuversicht; ein Rad, das durch seine Trümmer den ganzen Zweck ihrer Reise ins Wanken brachte. Sie hätten über so vieles sprechen sollen, dachte Christopher, doch stattdessen wanderten sie, wanderten und wanderten, bis zu Erschöpfung, stur geradeaus.
Die Büsche waren nur noch kniehoch, kurzes, trockenes Gras breitete seinen struppigen Mantel über die Erde, und es war, als wäre die Ebene mit den Wacholderbüschen ein erster Vorbote der nächsten Tage gewesen. Die Sonne brannte jetzt im Nacken, und nachts war es kälter denn je.
Christopher merkte, dass es ihm schwerer fiel aufwärtszusteigen.
»Das ist die Höhe«, sagte Jumar – und Christopher war froh, dass er etwas sagte. »Es hat etwas mit dem Sauerstoff zu tun. Nach einer Weile gewöhnt man sich daran. Noch ist es harmlos.«
Christopher hoffte, dass die Maos ihr Basislager nicht jenseits jeglichen Sauerstoffs aufgeschlagen hatten. Doch Jumar behielt recht: Sein Körper gewöhnte sich mit der Zeit an die neuen Bedingungen.
Wenigstens gab es keine Treppen mehr. Dort, wo die Erde nicht allzu sehr anstieg, lagen die Hütten jetzt nicht mehr eng zusammengekauert, sondern vereinzelt und weit verstreut, als hätte man eine Handvoll Spielzeughäuser über der Landschaft verteilt. Dazwischen ragten aus dem niedrigen Gebüsch die klobigen Körper großer, felliger Gestalten auf, die ihre Köpfe mit den langen Hörnern schwermütig hin und her pendeln ließen, als bedächten sie Philosophisches.
»Yaks«, sagte Jumar.
Christopher erinnerte sich an ein Foto in dem Bildband: Vielleicht war es irgendwo hier ganz in der Nähe aufgenommen worden, die Landschaft im Hintergrund war die gleiche gewesen.
Sie hatten den Weg der Touristen verlassen; das letzte zerbrochene Englisch, das sie entdeckten, befand sich an der Wand einer Lehmhütte und verkündete:
Yak Tail – yoghurt forsel here. Lodge.
Vermutlich sollte es »Yak Tail-Lodge" und »yoghurt for sell here" bedeuten, aber es war eine hübsche Vorstellung, dass sie dort Yak-Schwanz-Joghurt verkauften.
Das Lachen blieb ihnen im Hals stecken, als sie den Besitzer der Lodge sahen. Er saß auf seiner eigenen Bank, einer Touristen-leeren Bank, und er war aus Bronze, genau wie das kleine Mädchen auf seinem Schoß.
An diesem Tag zählten sie dreizehn weitere Bronze-Statuen, hohl und leblos. Sie näherten sich den Höhen, in denen die Drachen häufiger unterwegs waren, und auch die grauen Flecken in der Landschaft wurden zahlreicher.
Christopher versuchte, so zu tun, als sähe er sie nicht.
Gegen Abend durchquerten sie einen Landstrich, in dem die Büsche nicht mehr grün waren und das Gras nicht mehr braun, und Christopher war froh, dass das Licht nicht mehr gut genug war, um Genaues zu sehen.
Er war es inzwischen gewohnt, an irgendeine Tür zu klopfen, wenn die Nacht hereinbrach, und noch nie war er abgewiesen worden. Doch an diesem Abend blieben die Türen verschlossen.
»Der Drache«, flüsterte Jumar. »Der Drache, der hier war. Er ist noch nicht lange fort. Die Leute haben Angst.«
»Ein Drache klopft nicht an Türen«, sagte Christopher.
Die allerletzte Tür schließlich öffnete sich einen Spaltbreit, ein Paar Augen musterte Christopher eingehend aus der Dunkelheit dahinter, und er wurde so rasch durch die Tür gezogen, dass er beinahe Angst hatte, Jumar käme nicht hinterher.
Drinnen glommen die Reste eines Feuers in einer Ecke, zwei Kinder schliefen dort auf dem nackten Boden.
»Wer bist du?«, fragte die Frau, die Christopher hereingelassen hatte.
Und Christopher hatte das Gefühl, es wäre besser, wenn er Jumar dieses eine Mal nicht sprechen ließe.
»Ich bin niemand«, antwortete er. »Aber ich brauche einen Platz für die Nacht, und wenn Ihr ein wenig Reis habt, kann ich ihn bezahlen.«
Die Frau nickte, doch ihr Gesicht blieb ohne Regung.
»Dann ist es gut. Niemand war hier, werde ich ihnen sagen, und ich habe niemandem zu essen gegeben.«
Wenig später saßen Christopher und Jumar neben der sterbenden Glut, und die Frau reichte Christopher eine Schale. »Der Reis, den wir haben, macht nicht satt«, sagte sie. »Doch er ist alles, was es gibt.«
Selbst im spärlichen Licht der Glut sah Christopher, dass der Reis keine Farbe hatte. Er hatte keinen Geschmack, und er brachte keine Wärme in seinen Körper. Wenigstens schien er das Gefühl des Hungers zu verjagen.
Nachts jedoch wachte Christopher davon auf, dass sein Magen knurrte.
Es war, als hätte er nie etwas gegessen.
Er lag wach und starrte in die Dunkelheit. Die Glut war längst zu kalter Asche geworden, und draußen heulte der Wind wie ein tollwütiger Hund.
»Du kannst nicht schlafen, habe ich recht?«, flüsterte die Frau. »Ich kann deine Gedanken fühlen. Du bist auf der Suche nach etwas, nicht wahr?«
Sie musste irgendwo hinter ihm in der Schwärze sitzen, aufrecht und wach.
»Niemand kann mehr schlafen in diesem Dorf, flüsterte die Frau. »Zu viele Nächte sind zerrissen worden vom Klopfen an den Türen. Zuerst waren sie da, die in den Bergen sitzen, und baten um Unterschlupf. Ihre Bitten waren schwarz und glänzten im Sternenlicht mit polierten Läufen, aber wer sie einließ, zu dem waren sie höflich. Dann jedoch kamen die Uniformierten, die sie suchten. Und ihre Fragen waren rot wie Blut und rochen nach dem kalten Schweiß der Angst. Manche der Häuser stehen jetzt leer. Sie liegen voller Scherben. Das sind die, in welchen die Männer aus den Bergen schliefen. Die Soldaten haben nichts von ihnen übrig gelassen. Und nun – nun suchen sie noch einen – einen Flüchtigen, einen Jungen, so alt wie du.«
»Weshalb suchen sie ihn?«
»Wenn die Uniformierten kommen, gibt es keine Fragen, die mit weshalb beginnen.«
Christopher ließ das Schweigen eine Weile die Luft füllen, sich ausdehnen und wieder zusammensacken, und schließlich fragte er:
»Als sie da waren – habt Ihr sie reden hören? Sprachen sie von drei Ausländern, die sie in einem ihrer Lager in den Bergen ... zu Gast hatten?«
Die Frau schien zu zögern.
»Merkwürdig, dass du das erwähnst«, antwortete sie schließlich, »denn als ich dich heute sah, da dachte ich, dass du einem von ihnen ähnlich siehst.«
Christopher setzte sich so abrupt auf, dass sich die Dunkelheit um ihn drehte.
»Ihm ähnlich sehe? Wem?«
»Die drei Ausländer«, sagte die Frau. »Sie waren hier. Sie waren auf dem Weg zu ihrem Basislager, jenem, von dem keiner weiß, wo es sich befindet, und dorthin brachten sie sie. Ich habe sie gesehen, drei junge Männer, groß und mit hellen Augen. Die, in deren Haus sie schliefen, die sagten, die Kämpfer hätten sie mit Respekt behandelt. Als sie im Morgengrauen aufbrachen, kamen sie an meiner Tür vorüber, und einer von ihnen lächelte mich an. Er hatte blondes Haar, beinahe weiß, und sein Lächeln war so freundlich. Er war es, dem du ähnlich siehst.«
Christopher lauschte in der Dunkelheit auf das Pochen seines Herzens. Es raste so schnell wie noch nie, und er musste sich zwingen, ruhig zu atmen.
Arne.
Er war es. Er war hier gewesen. Er lebte. Es ging ihm gut.
Und er, Christopher, befand sich auf dem richtigen Weg.
»Seine Augen waren hell?«, flüsterte er. »Und sein Haar beinahe weiß? Aber wie kann ich ihm dann ähnlich sehen?«
»Es war das Lächeln«, antwortete sie. »Du hast das gleiche Lächeln.«
»Ich – ich –« Er stockte. Das gleiche Lächeln? Jenes umwerfende, strahlende Lächeln, mit dem Arne die Mädchen scharenweise verzauberte, ohne es überhaupt vorzuhaben?
Jenes Lächeln, das bis in die Herzen von Fahrkartenkontrolleuren und Verkehrspolizisten reichte? Jenes Lächeln, das sie alle auf ihren Gruppenfotos haben wollten?
»Ich fürchte«, flüsterte Christopher schließlich, »ich lächle nicht sehr oft.«
Der nächste Morgen sah sie auf dem Weg, noch ehe der Tag begann.
Das Sonnenlicht sollte keinen Fremden in jenem gastfreundlichen Haus vorfinden.
Und so wanderten sie weiter, Hunger im Bauch und Erschöpfung in den Beinen. Doch in Christophers Herz sang es.
»Arne war hier«, erklärte er Jumar. »Sie hat ihn gesehen. Nachts, als du schliefst, haben wir uns unterhalten. Es geht ihm gut, und es sieht tatsächlich so aus, als brächten sie ihn und die anderen in ihr Basislager.«
Jumar schien zu zögern.
»Auch ich habe ihn gesehen«, sagte er nach einer Weile.
»Wie bitte? Du hast ihn – gesehen? Wo? Wann?«
Er blieb stehen, griff ins Nichts, fand Jumars Schulter und rüttelte daran.
»Unter der Erde, am Fluss«, fuhr Jumar fort. »Als du bewusstlos warst. Die Maos, die ich dort vorbeikommen sah – sie waren nicht allein. Sie hatten die drei Ausländer bei sich. Es war so dunkel, und nur der ganz vorne trug ein Licht ... sie hatten ihnen die Augen verbunden. Ich glaube ... einer sah aus wie dein Bruder. So, wie du mir erzählt hast, dass er aussieht.«
Die Gedanken in Christophers Kopf fielen durcheinander wie ein Steinschlag.
Vielleicht war es nicht Arne gewesen. Vielleicht doch. Vielleicht war er ihm ganz nahe gewesen. Zum Berühren nahe. Und Jumar hatte geschwiegen.
Er hatte Arne beinahe gefunden. Und er hatte ihn wieder verloren.
»Warum, Jumar?«, flüsterte er. »Warum hast du nichts gesagt?«
»Ich war mir nicht sicher, was mit ihnen geschehen würde. Die Maos hatten Waffen, deshalb habe ich geschwiegen.«
Der Ärger stieg glutheiß in Christopher hoch. Er brannte in seiner Kehle. Er wollte Jumar anschreien, der Ärger verlangte es von ihm, doch er war es nicht gewohnt, Leute anzuschreien. So wurde seine Stimme noch leiser.
»Es ist doch eine Schande«, wisperte er, »dass man dir nicht ins Gesicht sehen kann.«
»Nun hör auf, sauer zu sein«, sagte Jumar. »Wenn ihnen etwas geschehen wäre – wäre es dann nicht besser gewesen, du hättest es nicht gewusst? Wir hätten doch nichts ändern können –«
»Du bist unsichtbar. Schon vergessen?«
»Ja – und?«
»Du hättest sie befreien können.«
»Man kann auch auf Unsichtbares schießen. Christopher –ich – ich hatte Angst.«
»Ach was.« Christopher schüttelte den Kopf.
Tausend Worte drängten sich auf seiner Zunge, um gesagt zu werden. Doch es würde nichts nützen. Jetzt nicht mehr.
»Angst!«, sagte Christopher. »Unsinn. Ich weiß, warum du nichts getan hast. Und nichts gesagt. Du brauchst es gar nicht zu erklären.«
Er spürte, wie sich Jumar in seinem Griff wand. »Weil – weil ich nicht wollte, dass du traurig bist! Christopher! Darüber, dass wir ihnen nicht helfen können. Noch nicht, Christopher, nur: noch nicht. Nicht dort unten am Fluss. Wenn wir das Lager finden –«
»Unsinn«, zischte Christopher. »Du brauchst mich. Deswegen. Du hast gedacht, wenn ich Arne finde, war es das. Dann verlass ich dich. Dann musst du alleine weitergehen und dich alleine durchschlagen zu diesem – diesem was auch immer, Basislager oder was.«
Jumar schwieg.
»Dabei brauchst du nicht mal mich. Das Einzige, was du brauchst, ist mein Körper, um zu den Menschen zu sprechen. Sonst gar nichts.«
Er ließ Jumars Schulter los und spuckte vor ihm aus.
»So«, sagte er, »das ist es nämlich, was ich von dir halte. Und nun such dir einen anderen, der dir seinen Körper leiht.«
Damit drehte er sich um und ging den Weg entlang, einen Weg, den auch sein Bruder gegangen war. Einen Weg, der ihn zu Arne führen würde. Er vergrub die Hände tief in den Taschen, zu Fäusten geballt, und die Wut sang in seinem Kopf.
Es kam ihm vor, als ließe sich sogar die Luft schwerer atmen durch die Wut, die sein Inneres verstopfte. Aber vermutlich war es nur wieder die Höhe.
Der Weg wurde schmaler und steiler, schlängelte sich zwischen Geröll und struppigem Gebüsch hindurch, und manchmal war er sich nicht sicher, ob es überhaupt ein Weg war, auf dem er sich bewegte, oder viel eher ein ausgetrocknetes Bachbett.
Als er sich das erste Mal umdrehte, sah er die letzten Hütten weit unter sich liegen.
Sonst sah er nichts. Natürlich nicht.
»Jumar?«, fragte Christopher. Er erhielt keine Antwort.
»Bitte«, sagte er laut, »umso besser.«
Und so wanderte er weiter, wanderte alleine, weiter und weiter, höher und höher stieg er; und seine einzigen Begleiter waren sein Hunger und seine eigenen Gedanken. Zwei Stunden später war nirgendwo mehr ein Weg oder auch nur ein Bachbett zu entdecken. Das Einzige, was er fand, war ein länglicher Haufen Geröll, der wie eine eingestürzte Mauer wirkte. Christopher setzte sich daneben auf den steinigen Boden, lehnte sich an die Mauer, die keine war, konzentrierte sich eine Weile darauf, die kalte Luft ein- und auszuatmen, und hielt sein Gesicht in die Sonne.
Sie brannte auf den Wangen wie die Wut zuvor in seinem Herzen, doch als er die Wut jetzt suchte, konnte er sie nirgends mehr finden. Und er begann sich zu fragen, ob es richtig gewesen war, Jumar all diese Dinge an den Kopf zu werfen.
Vielleicht hätte er Arne wirklich nicht befreien können. Und wenn Jumar Christopher brauchte, brauchte er nicht auch Jumar? Jumar hätte ihm womöglich sagen können, wo der Weg weiterführte. Ob es noch einen Weg gab. Dies war Jumars Land, und er kannte seine Zeichen. Bedeutete dieser Geröllhaufen etwas, neben dem er saß, oder war es ein zufälliger Geröllhaufen?
Er nahm einen Stein in die Hand – einen glatten, ovalen Stein, flach, beinahe wie eine Platte. Und als er ihn umdrehte, stand etwas darauf. Etwas war dort eingeritzt. Schriftzeichen. Keine allerdings, die er lesen konnte. Er sprach zwar aus unerfindlichen Gründen die Sprache des Landes, aber seine Schrift kannte er nicht. Jumar kannte sie.
Christopher stand auf und ging an dem länglichen Gebilde aus losen Steinen entlang.
An seinem anderen Ende kauerte jemand am Boden.
Er zuckte zusammen und blieb stehen – und für einen Moment dachte er, es wäre Jumar. Aber Jumar war unsichtbar. Und Jumar war nicht mehr bei ihm.
Es war ein alter Mann, der dort im Windschatten kauerte.
Und er war aus Bronze.
Christopher schüttelte sich und machte einen Schritt zurück. Dann noch einen – und dann begann er, eilig weiterzugehen, hangaufwärts, irgendwohin: noch immer allein.
Die Sonne befand sich schon auf dem Weg nach unten, als er, noch immer weglos, den Kamm der Bergkette erreichte. Auf der anderen Seite breitete sich ein Tal aus. Erst dahinter stieg das Gebirge weiter an, und in der Ferne blitzte ihm das Eis der wirklichen Höhen entgegen. Christopher blieb stehen und fragte sich, ob er hinunter in das Tal gehen sollte oder auf dem Hügelkamm entlang.
Arne lächelte aus dem Dunkel der Erinnerung zu ihm herauf und sagte: »Wenn du ins Tal gehst, lesen wir weiter auf Seite 51. Wenn du lieber den Grat entlangwanderst, lesen wir weiter auf Seite 67.«
Er hielt ein Buch auf dem Schoß und saß neben Christopher an einem Bach. Die Sonne schien, und sie ließen ihre bloßen Füße ins Wasser baumeln. Christopher war noch zu klein, um selbst zu lesen. Was hatte er geantwortet, an jenem Tag?
»Wir gehen doch zusammen«, hörte er sich mit der Stimme eines Fünfjährigen sagen. »Wir gehen zusammen hinunter ins Tal, denn dort gibt es Menschen, und dort gibt es etwas zu essen. Oder was meinst du?«
Aber Arne war nicht da, und er konnte ihm nicht helfen.
Das Tal war eng, und das Dorf darin schien Christopher das hübscheste, das er je gesehen hatte. Die Häuser standen hier dicht an dicht, und auf ihren flachen Dächern wuchsen Gebets-flaggen in die Höhe, rot, grün, gelb und blau; dicht an dicht knatterten sie im Wind wie papiernes Kinderspielzeug. Die Wände der Häuser bestanden hier nicht mehr aus Lehm, sondern aus übereinandergeschichteten Steinen, schieferartig, und hinter Mauern aus ebendiesem Stein winkten die Zweige von Obstbäumen. Pfirsiche und Äpfel hingen an ihren Ästen, Birnen und Aprikosen, und Christopher beobachtete von ferne, wie die Ziegen auf den Mauern herumkletterten, um das Gras zwischen den Steinen zu fressen. In der größten Gasse floh eine Schar Hühner vor einem übermütigen kleinen Jungen, und auf dem niedrigen Dachboden einer Scheune am Rand der Obstgärten drehten zwei Männer das Heu.
»So muss es früher überall gewesen sein«, sagte er mit einem Seufzen – er sagte es zu Arne, der nicht da war, oder zu sich selbst oder zur Luft des Nachmittags.
»So wird es später wieder überall sein«, sagte eine Stimme neben ihm.
Christopher zuckte zusammen.
Da war niemand.
Und dann lächelte er. »Jumar?«
»Hm, ja«, sagte Jumar. Er schien etwas verlegen zu sein.
»Es ... es tut mir leid. Du hattest recht. Vielleicht. Dass ich dich brauche.«
»Mir tut es auch leid«, murmelte Christopher. »Womöglich brauchen wir uns gegenseitig. Ich wollte dich fragen, was die Zeichen auf den Steinen bedeuteten ...«
»Einfache Gebete. Du hast irgendwo dort den Weg verloren.«
»Und du – du bist mir nachgegangen, vom Weg ab?«
»Hmm.«
»Versprich mir«, sagte Christopher, »versprich mir, Jumar, dass du mir ab jetzt von allem erzählst, was du siehst. Es ist wichtig.«
Jumar seufzte. »In Ordnung. Ich verspreche es.«
»Dann verspreche ich dir, dich nicht allein zu lassen. Auch wenn ich Arne finde. Ich helfe dir, das Basislager zu entdecken und ... und alles, was noch kommt.«
Sie schwiegen.
»Jetzt könnten die Geigen einsetzen«, sagte Jumar schließlich.
»Bitte?«, fragte Christopher irritiert.
»Die Geigen. In den amerikanischen Filmen wären an dieser Stelle Geigen.«
Da boxte Christopher vor sich ins Nichts, und etwas Unsichtbares boxte aus dem Nichts zurück, aber dann sagte Jumar: »Moment. Sieh nur. Dort!«
Er nahm Christophers Arm und zeigte mit ihm in die Richtung, die er meinte.
Da sah auch Christopher den Schatten, der den Berg gegenüber entlangglitt, hinab, hinab, auf das Dorf zu. Christopher suchte den blauen Himmel ab, und er brauchte nicht lange zu suchen: Der Drache schillerte grün und violett, rot und gelb, blau und silbern –
Er duckte sich und spürte, dass Jumar das Gleiche tat.
Einen Augenblick krallte sich wieder die Angst in ihm fest, doch der Drache kam nicht auf sie zu. Er hatte ein anderes Ziel, und gleich erreichte er es:
Die Menschen in den Gassen des Dorfes liefen durcheinander wie Ameisen, Türen wurden hektisch geschlossen, Kinder in die Häuser gezerrt – kurz darauf waren die Gassen menschenleer. Christopher atmete auf. Sie hatten es geschafft.
Aber der Drache scherte sich nicht um die Menschen, die zerstörerische Macht seines Schattens war nur eine Nebenwirkung, von der er vielleicht nicht einmal selbst etwas wusste. Seine weiten Schwingen bedeckten das Dorf, als er sich darauf niederließ und begann, die Farben zu fressen: das saftige Grün der Obstbäume, das Gelb der Aprikosen, das Rot der Pfirsiche, das goldene Glänzen des frischen Heus.
Als Christopher und Jumar im lauen Licht des frühen Abends das Dorf erreichten, war der Drache lange fort. Die Menschen wagten sich wieder aus ihren Häusern und fuhren mit ihrer Arbeit fort – sie wendeten farbloses Heu und ernteten schwarzweiße Früchte.
Die Aprikosen waren grau, die Pfirsiche waren grau, die Häuser waren grau, und auch die Stimmung des Abends war grau: Das Dorf glich einer erloschenen Kerze. Sein bunt glühender Farbfleck im eintönigen Braungrün der Berge hatte sich in eine graue Pfütze verwandelt, eine Pfütze aus ungeweinten Tränen. Und mit einem Mal wirkten die braungrünen Berge beinahe bunt dagegen. Wann würden die Drachen ihre Farben fressen?
Wie lange würde es noch dauern, bis das ganze Land schwarzweiß war?
»Oh, wie wütend es einen macht, wie wütend!«, zischte Jumar. »Wenn ich nur die Macht meines Vaters schon besäße! Es muss endlich etwas geschehen!«
Dieser Meinung waren auch andere.
Und an jenem Tag, in jenem Dorf ohne Farben, sollte die Reise der beiden Wanderer eine gänzlich neue und unerwartete Richtung bekommen.
Die einzige größere Gasse des Dorfes öffnete sich zu einem kleinen Platz, und zur Überraschung der beiden Jungen erklang von dort aus Musik. Der Rhythmus von Trommeln und etwas wie eine hektische Melodie schwebten vom Platz her zu ihnen herüber, lockten und warben, und dann sahen sie auch die Menschenmenge, die sich auf dem Platz versammelt hatte.
Sie stellten sich in die hinterste Reihe und machten die Hälse lang.
Ja, dort, in der Mitte des Platzes, saßen zwei Männer am Boden und trommelten. Ein dritter stand hinter ihnen und entlockte einer alten Geige eine zu schnelle Reihenfolge an mäßig zusammenpassenden Tönen, und ungefähr ein Dutzend weitere lehnten an einer Hauswand. Die Männer trugen tarngrüne Militärjacken und schwere Stiefel, und unter den Jacken blitzten die Patronengurte. Es war nur allzu klar, um wen es sich handelte.
»Es ist schwer zu erkennen«, wisperte Christopher. »Sie sind keine besonders guten Musiker. Aber das, was sie spielen – ich habe das Gefühl, es soll die Internationale sein!«
»Die was?«, fragte Jumar, denn da gab es eine eventuell politisch motivierte Bildungslücke in seinem königlichen Privatunterricht.
Doch Jumar würde wohl im Lexikon nachsehen müssen, wenn er wieder zu Hause im Palast war, denn Christopher kam nicht zum Antworten.
Denn in diesem Moment verstummten die Trommeln, die schrägen Töne der Geige versiegten, und ein Mädchen trat nach vorne, in die Mitte des Platzes. Sie hob eine Hand, und das Gemurmel auf dem Platz erstarb, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
Christopher schnappte nach Luft.
Es ging etwas von dem Mädchen aus, dem man sich nicht entziehen konnte, etwas, das beinahe unheimlich war: Er schätzte sie auf nicht viel älter, als er selbst es war, und doch bedurfte es nicht mehr als ihrer Hand, um die Menge zum Schweigen zu bringen. Sie sah sich in der Runde um, und ihr Blick traf auch Christopher. Er fühlte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Dieses Mädchen war anders als alle Mädchen, die er kannte.
Ihre Augen, von der Form zweier schmaler Mondsicheln, waren dunkel, beinahe schwarz – doch sie waren nicht kalt und hart wie die des jungen Kämpfers, den er tot am Brunnenrand gefunden hatte. Da war ein Glühen in ihnen und ein Funkeln, so lebendig wie die Knospen der Bäume und der Wind in den Zweigen, heiß wie das Feuer der Sonne, gefährlich: Man konnte daran verbrennen.
Sie hatte das breite, flache, ebenmäßige Gesicht der Menschen im Norden von Nepal, und die Haut direkt über ihren Wangenknochen war dunkel und durchzogen von feinen, hellen Rissen wie in aufgeplatzter Farbe. Christopher hatte es schon bei den Kindern hier oben gesehen – Spuren der Sonne und der Höhe, die ureigne Handschrift der Berge.
Das schwarze Haar des Mädchens hing offen um ihr Gesicht, und es hatte lange keinen Kamm mehr gesehen. An einigen Stellen war es verfilzt wie das Fell der Schafe, und Christopher glaubte, Stücke von Blättern und Zweigen darin zu erkennen. Sie trug tarngrüne Hosen, an den Knien schon lange zerschlissen, und ein weites, graues Hemd. Über ihrer Schulter hing ein Gewehr.
Er zweifelte einen Moment. Womöglich war dies kein Mädchen. Womöglich war es ein Junge mit langem Haar? Nein. Unter dem Hemd zeichnete sich deutlich der Umriss von Brüsten ab, noch zaghaft und zögernd, doch sie waren da, keine Frage, und Christopher schluckte. Ihm wurde bewusst, dass er sie anstarrte. Er war sogar so beschäftigt damit gewesen, sie anzustarren, dass er nicht einmal gemerkt hatte, wie sie begonnen hatte zu sprechen. Erst jetzt drangen ihre Worte in sein Bewusstsein.
Und es waren Worte, in denen dasselbe Feuer loderte wie in ihren Augen.
»Eure Kinder hungern, und euer Vieh wird nicht satt werden von Gras auf farblosen Weiden«, sagte sie. »Ist es nicht so?«
Ein zustimmendes Raunen lief durch die Menge.
»Der König aber verlangt seine Steuern von euch, ohne sich eurer Sorgen anzunehmen«, fuhr sie fort. »Ist es nicht so?«
Wieder das Raunen.
»Und ich frage euch: Wie lange wollt ihr warten und zusehen, wie die Tiere sterben und die Bäuche eurer Kinder anschwellen vom Hunger? Wie lange wollt ihr zuhören, wenn sie nachts weinen, weil sie keinen Schlaf finden? Wie lange wollt ihr euch in euren Häusern verstecken vor den Schatten der Drachen? Wie lange wollt ihr zittern vor den Truppen Kartans, die euch den Rest eurer Vorräte nehmen, wenn sie Quartier in euren Häusern beziehen? Wie lange wollt ihr das Blut riechen, das sie vergießen? Wie lange wollt ihr warten? Wollt ihr warten, bis er, Kartan, auf seinem nachtschwarzen Pferd nach Kathmandu hineinreitet und sich selbst zum König macht?«
Das Raunen wurde lauter, schwoll an wie ein Fluss: Nein, nein. Nein, so lange wollten sie nicht warten. Und Christopher ertappte sich dabei, wie auch er mit ihnen wisperte, ganz leise Nein.
»Mein Name ist Niya«, sagte das Mädchen. »Und ich bin eure Schwester. Mein Vater ist in die Berge gezogen, um sich denen anzuschließen, die die Dinge ändern wollen«, fuhr das Mädchen fort. »Schon vor vielen Jahren, als die in den Bergen noch wenige waren. Wir haben seine Kleider vor der Tür gefunden, durchtränkt von Blut, und in sein Hemd gewickelt war ein Herz. Vielleicht war es das Herz einer Ziege, aber vielleicht auch nicht. Kartans Grausamkeit kennt keine Grenzen. Meine Brüder sind ihm nachgezogen, und sie sind nicht zurückgekehrt. Meine Mutter hat sich im Fluss hinter unserem Dorf ertränkt, als die Soldaten kamen, um sie nach ihnen zu fragen. Ich aber habe mich versteckt, und ich bin in die Berge gezogen, und man sagte mir, dass sie auch meine Brüder getötet haben. Mein Name ist Niya, und ich bin eure Schwester. Denn ich habe sonst niemanden mehr.«
Die Menge schwieg nun, kein Laut war zu hören, und in der Stille sanken die Worte des Mädchens in die Herzen der Menschen auf dem Dorfplatz und begannen darin zu keimen wie grüne Samen.
»Eure Kinder hungern«, wiederholte das Mädchen mit Namen Niya, »denn die Früchte in euren Gärten sind farblos, der Reis auf den Feldern ist farblos und macht nicht satt. Ihr sitzt in der Klemme wie furchtsame Tiere: Auf der einen Seite lauern die Drachen, lauert der Hunger. Auf der anderen Seite lauert Kar-tan. Und die einzige Macht, die Drachen besiegen kann und Kar-tan in seine Schranken weisen, ist die Macht des Königs. Ihr wisst das. Und ich weiß es. Und jeder Kämpfer in den Bergen weiß es. Nur der König scheint es vergessen zu haben. Aber wir, wir werden uns die Macht holen. Wir sind stark, und wir werden noch stärker werden. Wir sind viele, und wir werden noch mehr werden. Und bald, bald schon werden wir nach Kathmandu hinunterziehen, wir werden Kartans Truppen so weit fortjagen, dass sie den Rückweg nie, niemals finden, und alles wird sich ändern. Es wird keine Reichen mehr geben und keine Armen. Die Tore des Palastes werden offen stehen. Und der König wird weinen.«
Sie strich sich das verfilzte, schwarze Haar zurück und sah in die Runde, wie sie es zu Anfang getan hatte. Es war, als sähe sie jedem Einzelnen in die Augen. Niemand konnte sich ihrem funkelnden Blick entziehen. Und Christopher spürte, wie ein Funken ihres Feuers sich auch in ihm entzündet hatte, winzig, glimmend. Hell.
Voller Hoffnung.
»Wir in den Bergen«, schloss das Mädchen, »wir brauchen euch. Der große T, von dem ich euch nichts erzählen muss, braucht euch. Auch er ist euer Bruder, wie er mein Bruder ist, und er wartet auf euch. Auf jeden Einzelnen von euch. Männer und Frauen. Wer mutig ist, der wird zu uns stoßen und uns helfen, für Gerechtigkeit zu kämpfen. Heute Nacht, wenn der Mond aufgeht, warten wir oben auf dem nördlichen Hang auf euch.«
Sekundenlang schwieg die Menge noch, dann begannen einige zu klatschen, und schließlich stimmten alle mit ein. Christopher sah auf seine Hände hinab und merkte, dass auch er klatschte. Die Worte des Mädchens mit dem glühenden Blick und dem wilden Haar hatten einen Anker in seinem Herzen gefunden.
Waren nicht Leute wie dieses Mädchen es, die Arne gefangen hatten? Aber mit einem Mal begann er zu zweifeln. Hielten sie Arne wirklich gefangen? Oder war dies alles ein großes Missverständnis? Arne hätte ihrer Rede Beifall gespendet. Arne wäre mit ihr gegangen, Arne: groß, blond und mutig, bereit, für Gerechtigkeit zu kämpfen.
Vielleicht war es genau das, was geschehen war. Vielleicht war er freiwillig bei den Aufständischen.
Vielleicht hatten sie ihnen damals, auf dem Weg am unterirdischen Fluss entlang, nur die Augen verbunden, damit sie später nicht das Geheimnis jenes Weges verraten konnten. Jumar hatte nichts davon gesagt, dass man sie gefesselt hatte ...
Der Gedanke war so unerhört und neu, dass er Christopher schwindelig machte. Aber ja, so musste es sein. Er stand einen Moment lang benommen, blinzelte – diese Augen – es war, als hätten sie ihn verhext.
Und dann war es, als schnellte die Zeit vor wie ein Gummiband: Christopher merkte, dass er mit untergeschlagenen Beinen im Staub des Dorfplatzes saß. Die Leute hatten ein Festmahl für ihre Gäste aufgetischt, und es schien ganz natürlich, dass auch er und sein unsichtbarer Begleiter daran teilnahmen: Aber wie sehr unterschied sich dieses Festmahl von jenem, das in der Feldküche der Soldaten für den Kronprinzen zubereitet worden war!
Wie viel ärmlicher war es, und doch wie viel ehrlicher! Vielleicht, dachte Christopher, waren dies die letzten Vorräte, die das Dorf hatte – die letzten Vorräte, die noch Farbe enthielten, noch Leben und Geschmack: die letzten gelben Aprikosen, die letzten grünen Bohnen, der letzte Reis, der satt machte. Beinahe schämte er sich, davon zu essen, aber die Menschen neben ihm drängten ihn dazu, und der Hunger in seinem Magen ließ sich nicht länger ignorieren.
Seine Augen suchten das Mädchen mit dem wirren Haar und fanden es am anderen Ende des Platzes, umringt von einer Schar Männer, die ihr Fragen zu stellen schienen. Sie hatte das Gewehr im Schoß wie ein Kind, während sie aß. Einmal sah sie zu Christopher hinüber – oder vielleicht sah sie nur zufällig in seine Richtung, aber er senkte den Blick.
Näher bei ihnen saß einer derer, die getrommelt hatten, und Christopher hörte, wie einer der alten Männer aus dem Dorf ihn fragte: »Ist es wahr, dass ihr den Feldern die Farben zurückgebt?«
Der Trommler schien zu zögern. »Es ist wahr«, antwortete er schließlich. »Wir geben ihnen die Farbe zurück.«
»Und der Reis wird wieder grün sein? Und die Aprikosen werden wieder gelb sein?«
»Sie werden nicht mehr gelb sein«, erwiderte der Mann. »Aber sie werden wieder satt machen.«
»Und die Bronzestatuen? Ist es auch wahr, dass ihr sie zurückverwandelt?«
Da wiegte der Mann den Kopf. »Wir werden beginnen, es zu tun«, sagte er, »bald, bald. Sobald sie eine Methode gefunden haben, die Drachen zu fangen. Bisher ist es nicht gelungen. Aber die dort oben im Gebirge, die arbeiten daran. Wir werden euch alles zurückgeben, was ihr verloren habt, wenn ihr uns helft.«
Dann schwieg er für den Rest des Mahles. Die Aprikosen –nicht wieder gelb – aber was dann? Christopher begriff nicht, doch in diesem Moment begriff er nichts, es kam ihm vor, als spräche die Welt um ihn herum mit einem Mal eine andere Sprache. Er verstand ihre Worte, er hörte ihre Sätze, doch sie drangen nicht zu ihm durch.
»Wenn wir ihnen folgen, führen sie uns vielleicht dorthin, wo wir hinwollen«, wisperte Jumar an seiner Seite. Christopher zuckte zusammen. Er hatte Jumar beinahe vergessen.
»Zum Basislager«, fuhr Jumar flüsternd fort, »wohin ich die ganze Zeit über wollte. Wo vermutlich auch dein Bruder ist.«
»Sicher«, murmelte er. »Wir folgen ihnen.«
Und er dachte, dass er jetzt an Arne denken musste, dass er ihm vielleicht schon ganz nah war ... aber ein Paar brennender Augen hatte Arnes Platz in seinem Kopf eingenommen, plötzlich und ohne um Erlaubnis zu fragen.
Sie verließen das Dorf vor den Männern, ohne dass jemand überhaupt etwas davon bemerkte.
Eine Hausmauer warf ihren freundlichen Schatten über sie, und die Sonne ging groß und oval hinter den Bergen unter, rot wie Blut, glühend wie die Augen des Mädchens.
Sie warteten lange, schweigend.
Irgendwann kam eine Gruppe von Männern auf Pferden und Maultieren vorbei, Christopher zählte dreizehn. Die Satteltaschen barsten beinahe von dem, was ihnen das Dorf mit auf den Weg gegeben hatte, und das Mondlicht spiegelte sich auf den blanken Läufen ihrer Waffen. Sie sangen – nicht die Internationale, sondern ein langsames, leises, melancholisches Lied, deren Worte Christopher nicht auszumachen vermochte.
»Wo – wo ist sie?«, flüsterte Jumar, als die Männer vorbei waren.
»Vielleicht reitet sie nicht mit ihnen zurück«, antwortete Christopher. »Vielleicht hat sich ihre Gruppe getrennt, und ein Teil von ihnen zieht zum nächsten Dorf weiter.«
»Ja, vielleicht«, sagte Jumar. Christopher hörte die Enttäuschung in seiner Stimme, schlecht verborgen. Und hörte er nicht die gleiche Enttäuschung als stillen Widerhall in sich selbst?
»Du hättest sie gerne noch einmal gesehen, nicht wahr?«, fragte Christopher wispernd.
Er bekam keine Antwort.
»Jumar«, sagte Christopher, »sie ist eine von denen, die du töten willst! Eine von ihren Anführern!«
»Sei still«, sagte Jumar schroff, und Christopher hörte Stoff rascheln, als er sich erhob.
Aber er hörte noch etwas. Etwas, das Jumar murmelte, mehr zu sich selbst:
»Und der König – der König wird weinen.«
Denn das war es, dachte er, was er wollte, der Thronfolger Nepals. Die Reue seines Vaters, der ihn niemals ernst genommen hatte.
»Wir müssen los. Wenn wir sie nicht verlieren wollen, ist es höchste Zeit, denn sie sind zu Pferd.«
Der Hang im Norden des Dorfes war kahl und karg wie der Mond, dessen fahles Licht ihn beschien. Schotter bedeckte seine Oberfläche zwischen einzelnen Grasbüscheln, und man konnte kaum sagen, wo der Weg sich befand. Die Pferde zeichneten sich als schwarze Klumpen über ihnen ab, und sie hörten, wie ihre Hufe im Schotter Halt suchten. Kleine Steine rieselten ihnen entgegen.
»Wenn sie sich jetzt umdrehen«, wisperte Christopher, »sehen sie uns in diesem Licht so klar wie am Tag.«
»Sie drehen sich nicht um«, flüsterte Jumar, und er behielt recht.
Der Hang endete unterhalb einer steilen Felswand, und dort verloren sie die Schemen der Reiter aus den Augen: Ihre Schatten verschmolzen mit denen der Wand, und vermutlich warteten sie dort unter den überhängenden Felsen auf jene Mutigen aus dem Dorf, die sich ihnen anschließen wollten.
Christopher sah sich um.
Unter ihnen lag der Hang leer im Mondlicht. Das Dorf schien zu schlafen. Jetzt, bei Nacht, war kaum zu sehen, dass ihm die Farben fehlten, und es wirkte so friedlich wie ein Bild.
»Feiglinge«, hörte er Jumar zischen.
»Wie?«, fragte Christopher irritiert.
»Oh, nichts. Komm weiter.«
Aber viel weiter kamen sie nicht.
Denn kurz drauf spie das friedliche Bild der Hütten einen Trupp Reiter aus, der vom Tal her heraufstürmte, als wäre der Teufel hinter ihm her. Zuerst dachte Christopher: Das sind die Männer des Dorfes. Sie haben sich doch noch entschlossen, den Aufständischen zu folgen. Dann dachte er: Aber warum haben sie es so eilig? Und wie kommt es, dass sie auf jenen stattlichen, hochgewachsenen Pferden sitzen, die in den Bergen so selten sind?
Und dann dachte er: Sie kommen genau auf uns zu. Auf mich. Denn ich bin alles, was sie sehen.
Und wie gut sie ihn sahen, auf dem kahlen Hang in der mondhellen Nacht!
Wie eine Zielscheibe stand er auf dem Schotterweg, wie eine Strohpuppe auf einem Übungsplatz, wo man denen, die es nicht lernen wollte, das Schießen beibrachte.
»Uniformen«, sagte Christopher. Er war stehen geblieben, denn es lohnte sich nicht mehr fortzulaufen, und er sprach laut, denn es lohnte sich nicht mehr zu flüstern. »Sie tragen Uniformen. Ich kann ihre Schulterklappen sehen.«
»Kartans Männer«, sagte Jumar. »Sie sind nicht hinter den Maos her.«
Die Worte fielen in die Dunkelheit wie Blutstropfen in klares Wasser. Sie breiteten sich darin aus und gaben der Nacht einen strengen Geruch nach kaltem Stahl und schwitzender Angst.
Kartans Männer.
Sie näherten sich rasch, das Getrappel der Pferdehufe zerbrach die Stille in tausend kleine Stücke, und es war, als könnte man Kartans Atmen darin hören wie den einer großen Raubkatze, dichter und dichter –
Was sollen wir tun?, wollte Christopher fragen, doch er wusste, dass es keine Antwort darauf gab.
Er drehte sich sinnlos um die eigene Achse, auf der Suche nach – ja, nach was?
Er fand es, ohne zu wissen, was er gesucht hatte.
Und es geschah. Plötzlich, ohne Vorwarnung, war da ein weiterer Reiter, ein Reiter auf einem kleinen, gedrungenen Pferd, beinahe einem Pony. Er tauchte von der Seite auf, aus dem Nichts, in einer Wolke aus Schotter und Staub, und galoppierte schräg über den Hang auf sie zu, ein zweites Pferd dicht auf seinen Spuren.
»Was –«, begann Christopher. Im nächsten Moment war der Reiter neben ihm, die Staubwolke hüllte ihn ein, der Schotter spritzte auf wie scharfe, harte Wassertropfen, und jemand befahl vom Rücken des Pferdes: »Steig auf.«
Und da erkannte Christopher sie.
Es war das Mädchen mit dem wirren Haar, Niya, und später hätte er schwören können, ihre Augen glühten auch im Dunkeln wie Kohlen, obwohl das natürlich Unsinn war.
»Was – ich –«, stotterte Christopher. »Ich bin keiner von euch. Du ahnst nicht, wie wenig ich zu euch gehöre.«
»Mir gleich«, erwiderte sie knapp. »Steig auf das verfluchte Pferd.«
Christopher fühlte sich von Jumar auf den Rücken des reiterlosen Pferdes gezogen. Sie ließ seine Zügel los, die sie bis jetzt gehalten hatte, und Sekunden später jagten sie gemeinsam durch den Staub dahin, nein: Sie wurden gejagt. Christopher klammerte sich verzweifelt am Hals des Pferdes fest, Jumar hatte die Arme um seine Hüfte geschlungen, und als er sich einmal umsah, waren die Soldaten ganz nahe.
Niya führte sie nicht hinauf in den Schatten der Steilwand, wo ihre Männer warteten, sondern parallel zur Steigung des Hanges. Christopher hörte die Hufe der Pferde ihrer Verfolger, er hörte sie etwas schreien, verstand aber nicht. Ein Schuss fiel, ohne sein Ziel zu treffen. Ein zweiter. Er duckte sich tiefer über den Hals des Pferdes.
Und dann sah er, wie Niya sich mitten im Galopp umdrehte. Das Gewehr, das er zuvor über ihrer Schulter gesehen hatte, war ein Teil ihres Körpers, es verschmolz mit ihr, wurde zur Verlängerung ihres brennenden Blickes, und der Schuss, der sich daraus löste, traf sein Ziel. Christopher hörte das Wiehern, den Schrei, und seine Ohren drohten zu bersten. Ihre Bewegungen brannten sich in sein Gedächtnis wie eine Pulverspur, er sah sie in Zeitlupe, sah sie immer wieder, noch lange danach, im Traum, und auch Jahre später:
Wie alles, was er immer wieder sehen würde, all das, was Niya getan hatte.
Schuss um Schuss schickte sie in die Nacht; Brieftauben ihrer tödlichen Botschaft. Die Antworten ließen nicht auf sich warten, doch sie wurden vereinzelter, und schließlich hüllte eine große, schwere Stille sie ein. Niya hielt die Pferde an.
Hinter ihnen gab es am Hang schwarze Flecken in der Stille. Flecken am Boden, wie Steine.
Sie waren ganz ruhig jetzt, ganz friedlich. Sie hatten Niyas Botschaft erhalten.
Die vier Pferde, die den Hang hinuntertrabten, waren reiterlos.
»Sie sind zu nichts gut in den Bergen«, sagte Niya. »Es ist die falsche Sorte Pferd. Kartan wird die Gesetze der Berge niemals lernen.«
Sie musterte Christopher, und obgleich er wieder die Augen niederschlug, spürte er ihren forschenden Blick über sein Gesicht wandern wie suchende, tastende Finger.
Und Christopher wusste nicht, vor wem er mehr Angst hatte –vor Kartan oder vor ihr.
Doch sie hatte sein Leben gerettet. Und ihr Blick hatte sich in sein Herz gegraben – es war ein Blick mit Widerhaken. Er konnte nichts dagegen tun, dass er jetzt in ihm nistete.
»Es ist einfacher, aber ich schieße nie auf Pferde«, erklärte sie. »Die Pferde können nichts dafür.« Dann streckte sie die Hand nach Christopher aus und hob sein Kinn sachte an, sodass er ihr in die Augen sehen musste.
Und zum ersten Mal fand er ein Lächeln darin. Es überraschte ihn, denn es war ein beinahe schüchternes Lächeln.
»Weshalb wollen sie dich unbedingt töten?«, fragte sie.