Arne in der Luft
Als sie von ferne einen Fetzen Grün sahen, atmete Christopher auf.
Man wusste nicht, zu was dieses Tal noch fähig war.
Sie hatten gegen Mittag versucht, im Schatten den Schlaf der Nacht nachzuholen, doch keiner von ihnen hatte es geschafft, lange still zu liegen – wie die Soldaten im Unterholz, wie die Polizisten an den Kontrollpunkten, wie die Aufständischen, die in den Bergen lagen, hatten sie zu viel Angst, um ruhigen Schlaf zu finden – eine unbestimmte, ungerichtete, nervöse Angst. Und ein offenes, inselförmiges Auge wachte in ihren Bewusstsein, ohne zu blinzeln.
Der Abend kroch bereits von den Bergen hinunter, und die Ränder des Flussbettes warfen tiefe, trügerische Schatten, als fließe dort wieder Wasser. Sie hielten sich nahe den Schatten am Rand, um ja nicht den Pfad zu verpassen, der sie aus dem trockenen Fluss hinausführte, und als sie schließlich sein Ufer erklommen und über eine Mauer in der Nähe die Blätter eines dürren Apfelbaumes ragten, kam es Christopher vor, als wäre dieser Apfelbaum das Schönste, was er je gesehen hatte: Sie hatten das Kali-Gandaki-Tal und die Auswüchse seines Wahnsinns endgültig verlassen.
Ein breiter, einladender Weg führte zwischen den Mauern hindurch, und mehr und mehr Obstbäume grüßten sie mit den Spitzen ihrer Äste. Eine sanfte Melancholie lag über dem Ort.
Irgendwo krähte ein falsch gestellter Hahn.
»Aber er hat recht«, sagte Niya. »Für uns ist es Morgen. Zeit, in eines von Arnes Touristenflugzeugen zu steigen und hier wegzukommen.«
Sie strich sich mit einer gewohnten Bewegung das Haar aus dem Gesicht, doch ihr Haar war kurz und nicht mehr im Weg. Stattdessen hörte Christopher, wie sie die Luft scharf zwischen den Zähnen einsog. Seit die Falle, die das Böse hatte fangen sollen, über ihr und Jumar zugeschnappt war, zog sich ein klaffender Riss quer über ihre Stirn – die Spur eines herabrollenden Steines, die immer wieder tropfenweise Blut verlor.
Auch Jumar war zerschrammt und voller blauer Flecken. Und die Schusswunde an Christophers Oberarm brannte, wenn er an sie dachte.
Er versuchte, nicht an sie zu denken. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie dreckig sie waren. Er versuchte, sich nicht zu fragen, wann er das letzte Mal seine Kleidung gewechselt hatte – vor Beginn ihrer Reise?
Es wurde Zeit, dass diese Reise ein Ende nahm. Aber noch nahm sie kein Ende. Noch lag vieles vor ihnen, von dem sie nichts ahnten.
Der Weg stieß auf eine breite Sandstraße, die Gärten wichen zweistöckigen Häusern, von oben bis unten behängt mit Schildern:
»Tickets air of plane«, »Sleeping back forest«, »Best foot before Everest«, »Kodak film rolce«, »cheapiest sun glace and bin-oculars" und so weiter und so fort.
Der Ort war nicht mehr als ein Schlauch, eine äußere Haut aus Restaurants und Geschäften, die Ausrüstung für Wanderer verkauften, und in der Mitte jene breite, sandige Straße. Einen Moment lang überlegte Christopher, ob die Flugzeuge wohl hier auf der Straße landeten, doch kurz darauf gab es zwischen den Häusern ein Tor. Dahinter lag die Landebahn, parallel zur Straße. Ein Kontrollhäuschen aus rohen Brettern zierte den Eingang, doch es war still und dunkel.
Sie standen am Tor und starrten durch seine Metallstäbe wie Tiere in einem Käfig. Die Landebahn war leer. Es war kein einziges Flugzeug zu sehen.
»Vielleicht sind sie alle in irgendeiner Halle«, meinte Jumar ohne Überzeugung. Es gab keine Halle.
Niya zeigte stumm auf das Bretterhäuschen. »Es ist jemand da«, sagte sie.
Und da sah auch Christopher den Umriss im Schatten – den reglosen Umriss eines Menschen.
Sie traten vorsichtig näher. Etwas stimmte nicht. Die Bretterbude glich den Schaltern, an denen sie an anderen Flugplätzen Pässe kontrollierten, und in dem kleinen Fenster saß ein Soldat. Er regte keine Miene. Er schien sie anzusehen, aber seine Augen waren seltsam starr.
Niya griff durch das glaslose Fenster und packte ihn an der Schulter.
Er reagierte nicht. Er rutschte ein wenig in ihre Richtung, das war alles. Sie legte ihre Hand auf seine Wange und schüttelte den Kopf.
»Tot«, stellte sie fest. »Mausetot.«
Christopher spürte Augen in seinem Rücken, andere Augen, und drehte sich um.
Die Sandstraße war nicht länger leer. Einige zaghafte Gestalten waren aus ihren Häusern getreten, hielten sich im Schatten der Wände und beobachteten sie. Ängstlich, feindselig.
»He!«, rief Christopher, und die Hälfte von ihnen verschwand augenblicklich wieder hinter Türen, die lautlos zuklappten. Die anderen blieben stehen und starrten weiter.
»Was ist hier geschehen?«, fragte Arne.
Niemand antwortete.
Da ging Arne auf die Gestalt zu, die am nächsten stand – behutsam, mit weichen Schritten, wie man auf ein Tier zugeht, das leicht erschreckt und fortläuft. Es war ein alter Mann, der krumm über einen Stock gebeugt dastand. Christopher sah ein ängstliches Flackern in seinen Augen, doch er blieb stehen. Arne hatte sie noch immer: diese Magie, die er auf die Menschen ausübte. Christophers Lächeln mochte dem seinen gleichen, dachte er, aber es würde niemals diesen Zauber auf die Leute ausüben.
Arne war jetzt ganz nahe bei dem alten Mann, und er fragte noch einmal – leise, kaum hörbar:
»Was ist hier geschehen?«
»Sie«, antwortete der Alte. »Sie waren da. Die Kämpfer. Sie haben gesagt, sie brauchen die Flugzeuge. Es gibt nur vier. Drei davon sind nach Kathmandu geflogen, mit zu vielen Männern an Bord. Die Piloten wollten widersprechen, aber sie hatten Angst. Die Soldaten, die den Flugplatz bewachten, hatten auch Angst. Denen hat es nichts genützt. Sie haben gebettelt, aber die Kämpfer haben keinen einzigen von ihnen am Leben gelassen. Wir haben ihre Körper ans östliche Ende des Flugplatzes gebracht. Nur den am Eingang nicht, den ihr gefunden habt. Er, im Schatten, ist in Vergessenheit geraten.«
»Vier«, sagte Arne, »vier Flugzeuge, sagt Ihr? Es gab vier?«
Der Alte nickte.
»Und drei davon sind mit den Kämpfern nach Kathmandu geflogen?«
Wieder nickte er.
»Ich verstehe nicht – wo ist das vierte?«
Der Alte wiegte nachdenklich den Kopf.
»Der vierte Pilot war unterwegs, als sie kamen«, antwortete er. »Sie wussten nicht, dass es einen vierten gab. Es sind schon so lange keine Touristen mehr gekommen, dass die Piloten angefangen haben, seltsam zu werden. Der vierte war der seltsamste von ihnen. Er hat all sein Geld in Treibstoff umgesetzt und angefangen, Runden über den Bergen zu fliegen – ganz alleine, ohne Passagiere. Sie sagen, er hat nicht mehr gegessen, er ist nur noch geflogen, und jeden Abend kam er zurück und fiel auf sein Lager wie tot. Es macht keinen Sinn. Er hat den Verstand verloren. Wir dachten, er würde versuchen, das Land zu verlassen. Mit einem Flugzeug ist vieles möglich. Manche der Leute haben angefangen zu planen. Aber er, er ist jeden Abend zurückgekommen.«
»Bis heute«, sagte Arne.
In diesem Moment hörten sie das Motorengeräusch. Sie blickten alle gleichzeitig zum Abendhimmel auf, der rasch dunkler wurde.
Das Flugzeug flog ohne Lichter – kaum mehr als ein Schatten vor dem Grau der drohenden Nacht. Sie sahen zu, wie es eine Schleife über dem Ort beschrieb, und Christopher fühlte sich an die Drachen erinnert. Doch dies dort war nichts als eine Maschine, silbergrau, metallen, ohne Anmut, ohne Schrecken. Bedeutungslos.
Doch je tiefer sie sich herabschraubte, desto mehr gewann sie an Bedeutung – eine neue Bedeutung. Und in dem Moment, in dem sie ihre Räder ausfuhr und den Grund der Landebahn berührte, wurde sie zum Träger des kostbarsten Gutes unter der Abendsonne, ohne dass ihr Pilot etwas davon wusste: zum Träger der Hoffnung.
Niya öffnete das Gittertor, und sie rannten los.
Der Pilot des letzten Flugzeuges hatte gerade festen Boden unter den Füßen, als er vier Figuren über einen leeren Flugplatz auf sich zulaufen sah. Er blinzelte verwirrt. Wo waren die anderen Maschinen? Weshalb war es so still ringsum? Und wer waren diese vier Fremden?
Er machte einen Schritt zurück, schüttelte den Kopf, blieb verwundert stehen.
Jetzt hatten sie ihn erreicht, keuchend, außer Atem. Drei von ihnen konnten kaum älter sein als vierzehn Jahre.
»Was –?«, begann er.
»Es gibt wieder Passagiere«, sagte ein Mädchen mit kurzem Haar. Von Weitem hatte er sie für einen Jungen gehalten, doch jetzt sah der Pilot, wie schön sie war. So schön, dass er noch einmal verwundert den Kopf schüttelte.
»Es lohnt sich wieder zu fliegen«, fuhr sie fort. »Es lohnt sich vielleicht zum ersten Mal wirklich. Wie viele Passagiere haben in Ihrer Maschine Platz?«
Es war verrückt. Absolut verrückt.
Aber sie sagten ja ohnehin, dass er ein Verrückter war.
Und so stieg der vierte Pilot an jenem Abend zurück in sein Flugzeug, und vier Passagiere kletterten hinter ihm in die Maschine.
Ihre Geschichte war verworren und verwirrend, und er hatte gerade erst begonnen, sie zu begreifen. Sein Kopf hing noch in den Gipfeln, über die er an diesem Tag geflogen war – seine Gedanken waren noch gefangen im glitzernden Schnee, dem schimmernden Abendlicht auf den Gletschern, den Spitzen der Berge, die er nicht verlassen konnte.
»Es ist zu dunkel«, sagte er, ein letzter Versuch, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. »Niemand fliegt, wenn es so dunkel ist. Nicht in diesen winzigen Flugzeugen. Es ist nicht erlaubt.«
»Es kümmert niemanden mehr«, sagte Jumar, »was in diesem Land erlaubt ist und was nicht. Das Chaos kommt. Ihr werdet es sehen. Der König liegt im Sterben, und die Maoisten –«
Der Pilot legte erschrocken den Finger an die Lippen.
»Es macht keinen Sinn mehr zu schweigen«, fuhr Jumar fort, beinahe wütend, und Christopher legte ihm die Hand auf den Arm: ruhig, ruhig.
»Namen sind nichts als Seifenblasen«, flüsterte Jumar. »Sie sind hohl. Nichtssagend. Ich kann es tausend Mal aussprechen, und nichts wird geschehen: Die Maos sind vor Kathmandu, die Kommunisten, die Aufständischen, die Terroristen, die Kämpfer.«
Der Pilot zuckte bei jedem Wort zusammen wie unter einem Hieb.
»Doch wenn dieses Flugzeug heute Nacht nicht fliegt, werden sich ihre Namen verwandeln – in Blut, in Kugeln, in Feuer. Und Kartan wird mit diesem Blut seinen Namen auf die Wand des Palastes schreiben. Und es wird nicht mehr zählen, wer den Kampf in den Straßen gewinnt.«
Der Pilot seufzte ergeben.
»Du hast eine Menge schöne Worte«, sagte er. »Wer bist du, dass du so sprichst?«
Christopher sah, wie Jumar schluckte. »Ich bin niemand«, antwortete er. »Ich bin eine Waise ohne Familie. Ich bin nichts. Es ist nicht wichtig, wer ich bin.«
Der Pilot startete den Motor, drehte sich zu ihnen um und musterte sie der Reihe nach.
»Ihr wisst, dass sie sagen, ich wäre verrückt«, rief er gegen das Knattern des Motors an. »Und ich muss verrückt sein, wenn ich euch heute Nacht fliege. Doch die Verrückten sehen. Ihr seid so jung! Viel zu jung. Aber der Tod ist mit euch in dieses Flugzeug gestiegen. Ich spüre ihn im Nacken. Und nicht ich bin es, auf den er es abgesehen hat. Einen von euch wird er finden, dort in Kathmandu.«
Damit wandte er sich wieder nach vorne, und kurz darauf rollte eine letzte, einsame Maschine über den einzigen Flugplatz im Annapurnagebiet, verließ den Boden, reckte ihre Nase in die Nacht und stieg – stieg, stieg, stieg, zu den Sternen empor, bis sie genug an Höhe gewonnen hatte und sich in einer parallelen Linie zum Erdboden in die Luft legte, vor sich in der Ferne ein Ziel, das noch keiner ihrer Insassen sehen konnte:
die Stadt der nepalesischen Könige.
Kathmandu.
Das Flugzeug kam nicht in seiner Gänze nach Kathmandu.
Es verlor auf dem Weg seine Farben.
Sie begegneten dem Drachen außerhalb des Sternenlichts. Die Wolken hatten sich dicht und dick vor das Firmament der Nacht geschoben, und die Positionslichter des Flugzeuges waren die einzige Lichtquelle weithin. Rot und grün blitzte es an den Flügelspitzen, rot und grün, rot, grün – als Christopher aufwachte, lag Niyas kurzgeschorener Kopf an seiner Schulter.
Er sah sie kaum, spürte sie nur: ihre Wärme, ihr weiches Haar an seinem Hals, ihren Atem auf seiner Haut. Und dann sah er das Schimmern in der Nacht. Ein leises, kaum wahrnehmbares Schimmern, das dennoch alle Farben des Regenbogens in sich vereinte.
Der Pilot sah es auch.
»Was zum Teufel ist das?«, fragte er.
»Ein Drache«, flüsterte Christopher. Außer ihnen schien niemand wach zu sein.
»Ihre Farben leuchten ganz von selbst, aus sich heraus. Nur ein wenig. Gerade so viel, dass man sie sieht.«
Sie konnten jetzt die ausgebreiteten Schwingen des Drachen erkennen, kurz darauf seinen grazilen Hals, seinen schlangengleichen Körper – er flog direkt auf sie zu.
Der Pilot fluchte und riss die Nase des Flugzeuges nach oben, aber auch der Drache änderte seine Flugbahn ein wenig – vielleicht war es Zufall –, und so bewegten sie sich weiter aufeinander zu.
»Es wird nichts geschehen«, sagte Christopher und legte so viel Zuversicht in seine Stimme, wie er nur irgend konnte. »Wir werden einfach durch ihn hindurchfliegen.«
»Durch ihn – hindurch? Was soll das heißen?«
»Er hat keinen festen Körper. Er besteht aus Schmetterlingen. Tausenden und Abertausenden von Schmetterlingen. Das ist alles.«
»Du erwartest doch nicht, dass ich das glaube?«, fragte der Pilot.
Doch in diesem Moment war es zu spät für Glauben oder Zweifel: Der schimmernde Körper raste auf sie zu, oder sie rasten auf ihn zu, und selbst Christopher machte sich auf einen Aufprall gefasst, einen Zusammenstoß, eine Explosion –
Doch nichts geschah. Gar nichts. Sie durchquerten den Körper des Drachen wie eine Wolke. Jumar hatte recht gehabt. Er hatte keinen Körper. Es waren tatsächlich Schmetterlinge. Wie sie in dieser Höhe fliegen konnten, würde Christopher für immer ein Rätsel bleiben. Aber gegen vieles andere, das auf ihrer Reise bereits geschehen war, war es ein kleines und unwichtiges Rätsel.
Der Kiefer des Drachen schnappte zu, ohne dass einer der Insassen des Flugzeuges es sah, und er fraß das Glänzen des Metalls und die Farben der Positionslichter lautlos, im Vorüberflie-gen.
Dann war er fort. Sie sahen, wie er seinen Hals einmal nach dem Flugzeug umwandte und einen nervösen Schwall Feuer in die Nacht spie. Aber zu diesem Zeitpunkt war er schon zu weit weg, um sie zu gefährden.
Christopher hörte den Piloten aufatmen. Oder hörte er sich selbst?
Die Lichter an den Flügelspitzen blinkten wie zuvor, nein: Grau – grau. Grau – grau.
Ein farbloses Blinken, ohne Unterschied zwischen rechts und links, vorne und hinten.
So landeten sie im Schutz der Nacht auf einer Straße vor Kathmandu, und die farblosen Lichter erloschen.
»Weiter heran komme ich nicht«, erklärte der Pilot. Christopher fuhr durch Niyas kurzes Haar, und sie erwachte mit einem winzigen Gähnen.
»Wir sind da«, flüsterte er.
»Ich wünsche eine angenehme Nachtwanderung«, sagte der Pilot. »Bis zur Stadt müssten es noch um die zwei Stunden sein.«
Kurz darauf standen sie auf einer verlassenen Asphaltstraße voller Schlaglöcher und sahen zu, wie sich ein kleines Flugzeug mit farblosen Positionslichtern zurück in den Nachthimmel schraubte, um nordwärts davonzufliegen.
Der vierte und letzte Pilot des Annapurnagebiets kam nicht weit. Am Rande des Kathmandu-Tales fiel die Nadel der Treibstoffanzeige auf null, und er schaffte es gerade noch über die erste, bewaldete Bergkuppe, ehe der metallene Körper der Maschine durch die Luft sackte, schwer geworden, müde.
Die es sahen, sagten später, er wäre mitten im Tal, noch in der Luft, an einem unsichtbaren Hindernis zerschellt, dort, wo einst eine Brücke über den rauschenden Fluss geführt hatte.
Das Letzte, was er sah, waren die schneebedeckten Gipfel in der blauen Ferne; die Gipfel, die er nicht übers Herz gebracht hatte zu verlassen – obgleich man von jenem Tal aus keinen einzigen schneebedeckten Gipfel sehen kann.
Sie wanderten die Asphaltstraße entlang wie im Traum.
Der Wind schob die Wolken beiseite, und die Sternbilder wanderten mit ihnen.
»Ich werde sie vermissen«, sagte Arne. »Diese Sterne. Bei uns sind sie anders.«
Und Christopher stellte sich vor, wie sie später, viel später, zu Hause auf der Terrasse sitzen und zum Nachthimmel emporsehen würden und an die Sterne Nepals denken.
Aber die Worte des Piloten hallten in seinen Ohren wider, beinahe übertönt vom Maschinenlärm: Die Verrückten sehen ... Ihr seid so jung! Viel zu jung. Aber der Tod ist mit euch in dieses Flugzeug gestiegen. Ich spüre ihn im Nacken. Und nicht ich bin es, auf den er es abgesehen hat...
Vielleicht würden sie niemals zusammen dort sitzen, auf der Terrasse, zu Hause. Vielleicht würde einer von ihnen beiden für immer hierbleiben, für immer jung.
Sie schliefen die wenigen Stunden bis zum Morgen in einem Graben nahe bei den ersten Häusern. Als die Sonne aufging, fiel sie auf Hunderte von Straßenkontrollen, Dutzende von Soldaten, die die Eingänge der Stadt bewachten. Jeder winzige Weg, der nach Kathmandu hineinführte, war an diesem Morgen von einem Trupp Soldaten gesäumt.
Manche von ihnen hatten Angst, man sah es, wenn die Tonbecher und die Plastiktassen zitterten, aus denen sie an den Buden am Straßenrand ihren Tee tranken. Manche hatten leuchtende Augen: Endlich würde etwas geschehen. Endlich würden die Jahre der Ungeduld, der endlosen Stunden an Bus-Kontrollpunkten, des ohnmächtigen Wartens ein Ende haben. Manche schienen sich zwischen beidem nicht entscheiden zu können. Und manche schienen zu glauben, dass gar nichts passieren würde.
Denn die, vor denen sie Angst hatten, deren Auftauchen sie herbeisehnten, auf die sie nicht länger warten wollten – sie waren unsichtbar. Sie lauerten ganz nahe bei der Stadt, doch niemand hörte sie. Sie beobachteten die Soldaten, und niemand sah sie. Auch sie warteten – warteten im Verborgenen. Warteten auf den richtigen Moment.
Auf den Befehl.
Auf die Entscheidung des großen T.
»Sie werden nachts angreifen«, sagte Niya. »Der Plan ist alt. Es wird im Schutz der Dunkelheit geschehen, wenn nur das Mondlicht sie verrät.«
»Umso besser für uns«, sagte Jumar mit einem schlauen Lächeln.
Die Zeiten der Stadtmauern waren seit Jahrhunderten vorbei, die Zeiten, in denen man die Belagerer und die Belagerten schon von Weitem sah, in ihren verschiedenfarbigen Uniformen wie Spielfiguren. Die Zeiten der Märchen und der großen Eroberungen, in denen jedermann wusste, wer wohin gehört, einfach und klar. Die Zeiten, in denen stolze Fanfaren aus polierten Blasinstrumenten zum Angriff bliesen.
Dies würde ein lautloser Angriff sein, und niemand, für dessen Ohren er nicht bestimmt war, würde den Befehl dazu hören. Und alle Kontrollen am Straßenrand würden nichts nützen, denn es gab Wege in die Stadt, die niemand kannte, für dessen Augen sie nicht bestimmt waren.
Und auch die vier Wanderer auf der Asphaltstraße waren bei Sonnenaufgang zu Schatten geworden, auch sie schlichen lautlos in die Stadt.
Sie kamen durch einen der Abwasserkanäle wie die Ratten, und eine, mit kleinen Augen und nervös zuckender Nasenspitze, begegnete ihnen, während sie geduckt durch den Schlamm und den Unrat wateten. Sie blickte ihnen nach, die Schnurrhaare zitternd, misstrauisch. Doch in ihren Augen glomm das Wissen, ehe sie in einem Loch an der Seitenwand des Kanals verschwand.
»Wo entzünden wir das Holz, und wann?«, fragte Christopher flüsternd.
Doch Jumar schüttelte den Kopf. »Wir entzünden es gar nicht«, antwortete er. »Wenn wir es auf einen großen Haufen legen und tatsächlich schaffen, es anzuzünden, ohne dass uns jemand daran hindert, wird es eine hohe Flamme schlagen, doch die Flamme wird nur an einem Punkt brennen. Es wird nicht reichen. Wir wollen nicht einen Drachen anlocken, wir brauchen sie alle, jeden einzelnen. Das, was sie leuchten sehen in der Ferne, muss so groß aussehen wie möglich: Die ganze Stadt muss glühen und Funken sprühen, und wenn es nur für Minuten ist.«
Christopher sah ihn fragend an.
»Wir verteilen die Hölzer«, erklärte Jumar.
»Verteilen? An wen?«
»An die Bewohner der Stadt. Wenn die Kämpfer in den Straßen sind, werden in den Fenstern Kathmandus Fackeln glühen, Tausende von Fackeln, die bunte Funken sprühen. Die Stadt wird ein Teppich aus Licht und Farben sein. Ein Teppich, der bis zu den Bergen glüht und dem keiner der Drachen widerstehen kann.«
»Und wie willst du die Leute dazu bringen, die Äste anzuzünden? Ich meine: Für sie wird es keinen Sinn machen –«
»Doch«, sagte Jumar. »Denn wir werden ihnen erklären, was geschieht.«
Sie kauerten eine Weile schweigend im Abwasserkanal. »Du glaubst doch nicht«, sagte Christopher schließlich, »dass die Leute freiwillig Fackeln entzünden, von denen sie wissen, dass sie die Farbdrachen anlocken?«
»Es ist unsere einzige Chance«, antwortete Jumar.
»Er hat recht«, sagt Niya. »Es geht darum, dass alle mithelfen. Ohne das Volk kann sich nichts ändern.« Und sie stieß Jumar leicht in die Seite und lachte leise. »In seinem Herzen ist der Thronfolger Nepals doch ein guter Kommunist.«
Sie zerbrachen die Wacholderäste in so viele kleine Stücke, wie sie konnten, und jeder von ihnen stopfte sich seine Taschen voll damit. Es würde nicht für alle Häuser der Stadt reichen, natürlich nicht, aber in jeder Straße ein Licht musste genügen.
Jumars Worte wiederholten sich in Christophers Kopf wie ein unendliches Echo: Es ist unsere einzige Chance, es ist unsere einzige Chance, unsere einzige Chance ...
»Heute werden wir die vier Menschen in der Stadt sein, die am härtesten arbeiten«, sagte Jumar. »Bis zum Abend müssen wir so viele Leute überzeugt haben, wie wir nur können. Sagt ihnen, sie sollen die Fackeln entzünden, wenn sie das Läuten der Glocke vom Durbar Square her hören, der Glocke vom größten der Tempel dort. Ich habe sie oft gehört, vom Palast aus. Ihr Läuten wird unser Zeichen sein, damit alle Lichter gleichzeitig strahlen. Wenn die Kämpfe beginnen, müssen wir alle vier oben auf dem größten Tempel sein. Bis dahin trennen wir uns, wir werden ausschwärmen wie die Ratten aus diesem Kanal, und dort treffen wir uns wieder.«
Er schwieg und sah sie der Reihe nach an.
Und sie alle nickten.
Aber nur drei von ihnen würden da sein, und er wusste es nicht; er wusste es nicht.
Es ist schwer, sich in einem Abwasserkanal zu umarmen, wenn die Decke niedrig ist und der Boden voll Unrat und brackigem Wasser. Doch irgendwie gelang es ihnen.
Christopher merkte, dass seine Hände zitterten, als er die von Jumar drückte, und Niya hielt ihn ein wenig zu lange fest für eine, die niemals Angst hat.
»Verirrt euch nicht in den Gassen«, wisperte sie und lachte wieder. »Und vergesst nicht, dass es purer Kommunismus ist, was wir hier wahr machen!«
Doch dann wurde sie mit einem Mal ernst.
»Denkt daran«, sagte sie. »Die Maos wissen, dass wir Verräter sind. Der große T sorgt dafür, dass jeder die Gesichter von Verrätern kennt. Ihr erinnert euch an die Männer, die sie zurückgebracht haben, damals, in der geschmolzenen Stadt?«
Sie nickten.
»Wenn einer von uns ihnen im Chaos in die Hände fällt, heute Nacht«, fuhr Niya fort, »und es nicht möglich ist, ihn zu befreien – dann müssen die anderen ihn töten. Ich habe es schon einmal gesagt, aber ich sage es noch einmal: Der Tod ist besser als das, was sie mit Verrätern tun. Ich habe es gesehen. Ich weiß es. Und das ist, wovor ich Angst habe. Der Tod selbst ist nicht schlimm, solange er rasch kommt.«
»Was –?«, begann Christopher, doch sie schüttelte den Kopf.
»Gehen wir«, sagte sie. »Es wird höchste Zeit.«
Niemand sah die vier Gestalten, die an jenem Morgen in einer düsteren Gasse aus der Kanalisation kletterten. Und wenn sie doch jemand sah, so verschloss er die Augen und sagte sich, er hätte nichts gesehen. Zu viele unerklärliche Dinge geschahen in den Schatten der Stadt dieser Tage – zu viele Dinge, die man besser nicht sah.
Auf dem Durbar Square warteten zwischen den Tempeln vier Panzer. Auch sie hatten schon zu lange gewartet. An diesem Abend würden sie lebendig werden, und die wenigen Menschen, die an ihnen vorübergingen, glaubten, die Seiten der gewaltigen Metallkörper beben zu sehen wie die Flanken nervöser Tiere. Das war natürlich Einbildung. Die Luft in der Stadt selbst bebte, und wo sie still stand, da konnte man sie schneiden, so dicht und dick war sie vor Anspannung und Angst. Keiner wusste, aber alle ahnten.
Keiner sprach, aber alle dachten.
Keiner gab es zu, aber alle spürten es.
Nichts war mehr normal in der Stadt.
Und durch diese bebende, zitternde Luft bewegte sich Christopher, die Taschen voll vom Duft des Wacholders. Es ist Unsinn, sagte er sich. Es ist vollkommen verrückt. Es kann niemals funktionieren.
Es ist unsere einzige Chance.
Die erste Tür, an die er klopfte, öffnete sich nur zögernd, und er schlüpfte in einen dunklen Hausflur.
»Was willst du?«, fragte eine junge Frau. »Ich kenne dich nicht.«
Christopher drückte ihr ein Stück Holz in die Hand, und sie starrte es verständnislos an.
»An diesem Stück Holz hängt eine Geschichte«, sagte er, »die zu lang ist, um sie hier und jetzt zu erzählen. Wenn die Glocke des größten Tempels auf dem Durbar Square heute erklingt, müsst ihr das Holz anzünden und die Fackel in euer Fenster stellen. Es wird Abend sein, oder Nacht. Und überall in der Stadt werden die gleichen Fackeln leuchten. In den Straßen werden die Leute Kartans gegen die Aufständischen kämpfen. Ihr wisst das, ich muss es euch nicht sagen.«
Ein Mann war hinter die Frau in den dunklen Hausflur getreten und musterte Christopher, lauschend, aufmerksam. Die Worte, die er sprach, waren nicht seine Worte. Es waren Jumars Worte; Jumars gewandte, gefeilte Sätze. Er brauchte sie, und sie kamen ihm wie selbstverständlich zu Hilfe, ohne dass er sich erklären konnte, woher.
»Das Licht der Fackeln wird kein gewöhnliches Licht sein«, fuhr er fort. »Es wird in allen Farben des Regenbogens sprühen und funkeln. Und es wird die Drachen herbeilocken.«
»Die Drachen?« fragte der Mann.
»Ihre Schatten werden auf die Kämpfer in den Straßen fallen und sie zu Bronze verwandeln«, sagte Christopher. »Und auch das muss ich euch nicht sagen.«
Der Mann neigte den Kopf. »Wir wissen davon. Es war noch kein Drache in der Stadt, aber die Geschichten erreichen uns im Gepäck derer, die aus den Bergen kommen.«
»Solange ihr die Fackel entzündet und im Schutz eures Hauses bleibt, wo kein Schatten hinfallen kann, wird euch nichts geschehen. Wenn die Schatten der Drachen getan haben, wozu wir sie rufen«, schloss Christopher, »werden sie verschwinden. Es wird die Macht des Königs sein, die sie verschwinden lässt. Für immer. Der König hat einen Sohn, und er ist hier, ganz in der Nähe. Mehr kann ich euch nicht erklären.«
Eine Weile schwiegen die beiden, dort im Dunkel des Hausflurs, wo die Farbe von den Wänden blätterte. Christopher erwartete, dass sie sich umdrehen und hinter einer der zahlreichen Wohnungstüren verschwinden würden, wortlos, ohne ihm zu glauben.
Doch schließlich streckte der Mann seine Hand aus und sagte leise: »Wir brauchen mehr von dem Holz, um es in der Straße zu verteilen. Wir werden unsere Türen verschließen, wenn der Abend kommt, doch gegen Kartan und gegen die Aufständischen wird auch das stärkste Schloss auf Dauer nichts nützen. Ich weiß nicht, von was du sprichst und ob es wahr ist. Aber es macht keinen Unterschied. Es ist unsere einzige Chance.«
Jumars eigene Worte wurden klein, und seine Sätze schienen zu schwanken. Und mit einem Mal packte ihn die Nervosität, jene herzflatternde, knieerweichende Nervosität, die einen vor Prüfungen heimzusuchen pflegt. Aber der Thronfolger Nepals hatte noch nie eine Prüfung bestehen müssen. Seine Privatlehrer waren sanfter Natur gewesen, freundlich und nachgiebig, und ein guter Schüler wie er, hatten sie gesagt, bräuchte keine Tests zu schreiben. Er hatte auch ohne Prüfungen gelernt.
Sicher – vielleicht war es eine Prüfung gewesen, die Höhle des Drachen zu betreten. Ein ganz eigene Art Prüfung. Aber damals hatte niemand ihm zugesehen.
Nun kam es ihm vor, als beobachtete die Stadt ihn mit tausend Augen, um zu sehen, was aus ihrem Sohn geworden war. Mit einem Mal fühlte er sich ohne Christopher und Niya allein und ausgeliefert – seinem eigenen Plan ausgeliefert, seinem eigenen Mut.
In jedem Haus, hinter jeder Tür fürchtete er, man werde ihn fortjagen, ihn auslachen, ihm nicht zuhören. Doch sie hörten ihm zu. Sie waren freundlich. Sie luden ihn zum Essen ein, drängten ihm hier eine Tasse Tee auf und dort eine Handvoll Reis, und er wunderte sich jedes Mal.
Er sagte ihnen nicht, wer er war. Einst hatte er es für wichtig gehalten. Nun war es ganz und gar bedeutungslos geworden.
Die Holzstückchen gingen von Hand zu Hand, wurden begutachtet, betastet, beschnuppert...
Wie es duftete, das Holz, das dieser seltsame, schüchterne Junge ihnen brachte! Solch einen Duft hatten sie noch nie gerochen. Es musste etwas Besonderes damit auf sich haben – und er erklärte es ihnen, zögernd, fast mussten sie ihn darum bitten: Dies war Holz, das die Geschichte der Stadt ändern würde. Ihre Geschichte. Wunderholz. Drachenholz.
Und dann? Was sollte dann geschehen? Alles sollte sich zum Guten wenden? Soldaten aus Bronze? Stumme, reglose Kämpfer? Nutzlose Gewehre? Stille Kugeln? Panzer ohne Fahrer? Ein Palast – ohne König? Aber wie war das möglich?
»Du sprichst merkwürdige Worte«, sagten sie dem schüchternen Jungen. »Worte, die schwer zu glauben sind. Aber wir werden an dich denken, wenn die Dunkelheit kommt, und wenn die große Glocke erklingt, werden wir die Fackeln in unseren Fenstern anzünden. Wir werden lauschen und beobachten, hinter verriegelten Türen – sehen, was geschieht. Ob etwas geschieht.« Sie klopften ihm auf die Schulter und wollten ihn zum Bleiben nötigen, doch er sagte, er müsste weiter, weiter, weiter ...
Arne gab den Menschen das Holz mit einem Lächeln.
Er brauchte nicht viel zu sagen. Die Sprache, die er mühsam gelernt hatte, gab ihm nicht genügend Worte, um zu erklären, zu erzählen, zu überzeugen: Sein Lächeln musste genügen. Und es genügte, das magische, weite Lächeln auf seinem fremdländischen Gesicht, das Strahlen seiner hellen Augen, es verzauberte sie auch ohne Worte.
Sie begriffen natürlich, was er von ihnen wollte. Und sie versprachen, es zu tun. Es musste etwas Gutes sein, dieses duftende Holz, etwas, das eine Wirkung hatte, obgleich noch abzuwarten war, welche. Sie würden es für den jungen Mann mit dem blonden Haar und dem strahlenden Lächeln entzünden, sobald die Abendluft den ersten Ton der Glocke durch die Stadt trug, und dann würden sie warten ...
Niya war erschöpft. Der Abend nahte mit großen Schritten. Sie hatte so viele Häuser betreten, zu so vielen Menschen gesprochen – sie fühlte sich müde und ausgelaugt. Zum ersten Mal seit Langem verlangte ihr Körper nach Ruhe: nach einem Platz im kühlen Schatten, nach Stille, absoluter, vollkommener Stille.
Es war, als wäre sie leer, als wären alle Worte und alle Gesten aus ihr hinausgeflossen und hätten nichts zurückgelassen als einen großen, kahlen Raum, in dem sie sich niederlassen und ein wenig ausruhen wollte. Ein wenig nur –
Sie hatte das letzte Stück Holz fortgegeben, die letzte Tür schloss sich hinter ihr, und sie ging eine letzte Gasse hinab, die aussah wie alle anderen Gassen: eng, überspannt von Wäsche, Abfall in den Ecken; Musik aus einem offenen Fenster; dösende Hunde.
Als sie am Ende jener Gasse ankam, stellte sich ihr jemand in den Weg.
Sie wusste nicht, woher er gekommen war – er musste gewartet haben, irgendwo in den Schatten. Ihre Aufmerksamkeit hatte nachgelassen.
Er packte sie hart am Arm, und der Schreck des Unerwarteten durchlief sie wie ein elektrischer Schlag. Dann sah sie ihm ins Gesicht, erkannte ihn: Es war einer der Trommler, mit denen sie in den Bergen unterwegs gewesen waren. Einer derer, die ihre brennenden Reden begleitet hatten.
»Niya –«, sagte er. Da war ein Zögern in seiner Stimme, ein Bedauern. Und womöglich wäre es ihr gelungen, sich loszureißen. Doch nun standen zwei andere hinter ihm, zwei, die sie nicht kannte, und dann trat ein Dritter dazu, den sie im Basislager gesehen hatte. Sie blickte von einem zum anderen und rechnete ihre Chancen aus. Sie standen schlecht.
Der aus dem Basislager sprach jetzt zu ihr. Sie sah seinen Mund auf und zu klappen, doch es dauerte, bis die Worte in ihr Bewusstsein drangen.
»Hast du gedacht, wir erkennen dich nicht wieder, wenn du dir die Haare abschneidest und barfuß läufst wie ein Bettler?«, fragte er. »Ich hätte dich für schlauer gehalten, Mädchen. Der große T lässt seit Langem nach dir suchen. Eine Verräterin darf man nicht einfach so laufen lassen. Es gab eine Menge böses Blut im Lager, nachdem du verschwunden warst.«
Er lächelte ein Lächeln, das Niya nicht gefiel. »Aber jetzt bist du ja wieder da, nicht wahr?«
Niya wand sich vergebens im Griff der beiden Männer, die sie hielten.
»Lasst mich los«, zischte sie, und ihre Augen sprühten Blitze. »Der große T hat heute Abend anderes zu tun, als sich mit mir zu beschäftigen. Lasst mich gehen. Ich habe euch nichts zu sagen.«
»Oh, das glaube ich aber doch«, erklärte der Mann aus dem Lager. »Ich glaube, du hast uns einiges zu sagen. Was du hier tust, zum Beispiel.«
Niya biss sich auf die Lippen und schwieg.
Er hob ihr Kinn an und sah in ihre blitzenden Augen. Doch auch Niya wusste, dass ihr jetzt nicht einmal die Glut ihres Blickes mehr nützte.
»Nehmt sie mit«, sagte der Mann und drehte sich um, um vorauszugehen.
Sie versuchte ein letztes Mal, sich zu befreien, trat, biss und kratzte, ein wildes Tier der Berge, doch eine Faust landete in ihrem Magen, und gleich darauf fand sie sich auf dem Boden wieder, im Staub der Gasse. Die Tritte hagelten auf sie ein wie ein Versprechen, das sich erfüllt.
Sie hatte es längst geahnt.
Schließlich wehrte sie sich nicht mehr, lag ganz still, den Kopf mit den Armen schützend. Und tief innen wurde sie hart, wurde zu Eisen, zog sich einen Panzer an, durch den niemand hindurchdringen konnte, stählte sich gegen den Schmerz.
Die Männer zogen sie hoch und schleiften sie mit sich wie einen leblosen Gegenstand.
Hinter den Fenstern, an denen sie vorüberkamen, sah Niya Augen. Augen im Schatten, Augen im Dunklen. Niemand kam ihr zur Hilfe. Sie schleiften sie nicht weit. Bereits zwei Straßen weiter öffnete sich das Tor zu einem Hof, und jemand ließ sie ein.
»Sie denken, all unsere Leute warten außerhalb der Stadt«, sagte der Mann aus dem Lager. »Aber ich hoffe, du bist nicht so dumm wie Kartans Leute? Du musst gewusst haben, dass auch die Stadt Augen und Ohren hat, die uns berichten.«
Niya wandte den Kopf noch einmal, ehe sie sie durch das Tor stießen. Am Ende der Gasse entdeckte sie zwei Gestalten, die außer ihr niemand sah. Und sie nahm ein winziges Fünkchen Hoffnung mit hinter das Tor, unstet und flackernd. Aber es war da.