Arne im Fluss
Der Weg hinunter, südwärts, war länger als alle Wege, die Christopher je gegangen war. Die Zeit klebte an ihren Sohlen und hinderte sie am Vorwärtskommen, die letzten Gipfel weigerten sich zu weichen, und sie schienen plötzlich nicht weiter an Höhe zu verlieren. Es war eine dieser endlosen Wanderungen, die man im Traum macht und bei denen man niemals irgendwo ankommt –man geht auf der Stelle, man bewegt sich, ohne sich vom Fleck zu rühren.
»Und wenn wir es nicht schaffen?«, fragte Christopher immer wieder. »Und wenn wir nicht rechtzeitig kommen?«
Niemand sprach mehr von uns und ich, du und ihr, zusammen und alleine. Sie hatten die Grenze der Diskussionen erreicht, die Grenze von Streit und Vorwürfen – wie die größeren Höhen hatten sie sie einfach hinter sich gelassen.
»Rechtzeitig – um was zu tun?«, fragte Arne.
»Wir werden rechtzeitig kommen«, antwortete Jumar. »Und wir werden tun, was getan werden muss.«
»Ich wette«, sagte Niya, »du hast noch keine Ahnung, aber du gehst davon aus, dass du es weißt, bis wir in Kathmandu sind.«
»Nein«, erwiderte Jumar schlicht. »Ich habe doch gesagt: Ich habe eine Idee. Ich weiß genau, was wir tun werden.«
In der ersten Abenddämmerung ihrer Reise zu viert berichtete er ihnen von seinem Plan.
Das Gras war wieder gewichen, und um sie breitete sich eine jener Mondlandschaften aus Schotter und Geröll aus. Sie machten ein Feuer, mitten auf dem Mond, zwischen den Steinen, und öffneten eine Konservenbüchse mit eingelegter Fleischpastete, und keiner scherte sich darum, dass sie seit zwei Jahren verfallen war.
»Wacholder«, sagte Jumar. »Christophers Wacholder.«
Alle starrten ihn an.
Er nickte. »Christopher hatte recht. Das ist die Lösung. Wir müssen die Wacholdersträucher wiederfinden. Wir müssen irgendwelche Wacholdersträucher finden. Wir brauchen mehr Holz.«
»Wenn wir weiter hinabkommen, kann ich euch zeigen, wo welcher wächst«, sagte Niya.
»Aber wozu um alles in der Welt brauchst du ausgerechnet das Holz von Wacholder?«, fragte Arne.
Jumar lächelte schlau. Es war immer noch seltsam, ihn dabei wirklich zu sehen, anstatt nur den Anflug eines Lächelns in seinen Worten zu hören.
»Ohne Wacholder wärst du nicht hier«, sagte er. »Wacholderholz war es, womit Christopher den Drachen in die Spinnennetze gelockt hat. Sein Harz brennt bunt. Die Flamme lockt die Drachen an«, erklärte er.
Erwartungsvolles Schweigen hüllte die kleine Gruppe am Feuer ein. Die Flammen schlugen knisternd in die Höhe, wacholderfrei und beruhigend wenig farbenfroh. Einzelne Funken stoben in den Himmel.
»Ich hatte einen Traum«, fuhr Jumar schließlich fort, »einen Tagtraum, gerade heute, als wir den Berg hinabstiegen. Meine Beine stiegen, aber mein Kopf träumte. Er träumte, ich sähe die Stadt von oben. Die Straßen waren voll von Kämpfern, sie füllten die Stadt aus wie Ameisen einen Bau. Ich hörte Schreie aus den Gassen, Schüsse, Sirenen. Ich sah die Hunde fliehen und die Tauben auffliegen. Ich sah die Augen der Menschen hinter ihren Fenstern und ihre Angst. Und ich sah den Palast. Er war dunkel vor Soldaten. Die Panzer auf dem Durbar Square waren bereit zu feuern. Und da verstand ich, dass ich niemals in den Palast hineinkommen werde. Nicht jetzt, wo ich sichtbar bin. Nicht einmal mit dem Siegelring an meiner Hand. Niemand wird Zeit haben, auf etwas zu achten wie einen Siegelring. Ich bin sichtbar geworden, aber die Tore des Palastes sind nun verschlossen für mich. Die Macht des Königs, der verschlossene Raum, die Truhe – das alles ist unerreichbar geworden.«
Er sah in die Runde.
Und dann sagte er: »Wir sind nur zu viert. Wir können nichts ausrichten. Aber ich weiß, wer etwas ausrichten kann. Wir locken die Drachen in die Stadt. So wie Christopher den Drachen gelockt hat.«
»Du bist wahnsinnig«, sagte Christopher.
»Was soll das nützen?«, meinte Niya. »Und – woher kriegst du genügend Spinnennetze?«
Jumar schüttelte langsam den Kopf. »Dies ist kein Witz«, fuhr er fort. »Es ist die einzige logische Konsequenz. Wir locken sie an dem Tag, an dem das Chaos die Straßen ergreift. An dem Tag, an dem die Maos die Stadt stürmen und Kartan seine Männer gegen sie losschickt. An dem Tag, von dem ich geträumt habe. Die Schatten der Drachen werden die Männer allesamt in Bronze verwandeln, Soldaten, Aufständische ... jeden, egal, auf welcher Seite er kämpft. Und wenn alle Soldaten verwandelt sind – wenn der Palast nur noch von Bronzestatuen bewacht wird wie von einer Armee aus Zinn –, dann wird mich niemand länger daran hindern, ihn zu betreten. Dann kann ich mit meinem Vater sprechen. Und dann, endlich, wird er mir die Macht übergeben. Die Macht, mit der wir die Drachen besiegen können.«
Sie schwiegen lange.
Die Dunkelheit jenseits des Feuers war dichter geworden. In dieser Dunkelheit lauerte die Zukunft.
»Es ist ein Märchen«, sagte Niya schließlich, »eines der Märchen, die man sich am Feuer erzählt. Nichts mehr als das. Aber ich bewundere deinen Mut, an die Märchen zu glauben.«
»Nein, es ist nicht mehr als ein Märchen«, sagte Jumar. »Aber auch nicht weniger.«
»Ich weiß nicht –«, begann Christopher.
Und Arne sagte: »Wir müssen es versuchen. Es ist unsere einzige Chance.«
Später saßen sie da und sahen zu den Sternen empor, und Niya sang ihre Lieder für sie, auch ohne die Gitarre.
Mein Herz ist gierig nach Träumen, sang sie, Träumen im Land meiner Väter...
Und Arne, der so etwas konnte, lauschte eine Weile und stimmte schließlich in seinem Bass mit ein. Später, viel später, würde sich Christopher daran erinnern, wie sie zu zweit gesungen hatten ... Es war eine so schöne Nacht, eine so schöne Nacht zwischen all dem Schrecklichen der letzten Zeit... und er sah etwas in Jumars Augen, das sich in denen von Niya spiegelte. Etwas, das ihn leise bat zu gehen. Es tat weh, doch die Nacht hatte recht. Er war es nicht, der zu Niya gehörte. Eine Welt aus Blutgeruch und schweren Stiefeln lag zwischen ihnen, eine Welt, in der sie sich niemals ganz treffen konnten. Als das Feuer an jenem Abend heruntergebrannt war, stand er auf und winkte Arne, ihn zu begleiten.
»Lass uns ein Stück gehen«, sagte er. »Es ist eine schöne Nacht.«
Und Arne folgte ihm, ohne zu widersprechen.
Als das Feuer nur noch ein Punkt in der Ferne war, drehte Christopher sich um und sah zurück. Aber außer den Resten der Glut war nichts mehr dort zu erkennen.
Christopher ging noch ein Stück weiter und setzte sich schließlich auf einen Felsen und sah hinab ins nächste Tal. Irgendwo dort in der Ferne glühten andere Punkte; andere Feuer, weit, weit in der Ferne.
Arne setzte sich neben ihn, schweigend.
»Ich dachte, es wäre besser, die beiden einmal allein zu lassen«, sagte Christopher nach einer Weile.
»Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht«, gab Arne zu. »Und ich konnte nicht herausfinden, mit wem von euch beiden sie –«
Christopher legte den Finger an die Lippen. Er sah Arne an und lächelte.
»Ich mag dich sehr, Arne«, sagte er. »Ich habe dich immer bewundert, so wie alle. Und natürlich bist du der Ältere und ... Aber die Welt ist komplizierter, als du denkst.«
»Vielleicht«, sagte Arne.
»Nicht, dass ich es verstehe.« Christopher lachte leise. »Ich verstehe gar nichts. Auch Niya nicht. Sie liebt das Leben, aber sie liebt auch den Tod, und manchmal ist es, als müsste sie noch etwas erledigen, ehe sie ihn umarmt. Jemanden töten. Jemanden retten. Mit jemandem schlafen. Als wüsste sie, dass sie nicht mehr viel Zeit hat.«
»Aber – warum? Warum soll ihr nicht so viel Zeit bleiben wie uns allen?«
Christopher zuckte die Schultern. »Vielleicht gibt es keinen Platz für sie in der Welt, die nach dem Chaos kommt«, sagte er. »Vielleicht ist sie nicht gemacht für den Frieden.«
Arne streckte seine Hand aus und berührte Christophers Wange –
»Du weinst ja«, sagte er.
Christopher schüttelte unwillig den Kopf. »Das ist der Tau in der Nachtluft«, sagte er.
Arne legte seinen Arm um ihn, wie er es früher getan hatte, und so saßen sie und sahen in die Zukunft hinaus, die man nicht erkennen konnte in der Dunkelheit.
»Da sitzt mein kleiner Bruder im Tau«, sagte Arne, »und ist so weise geworden und mir beinahe fremd. Wenn es sich nicht so überheblich anhören würde, würde ich sagen, dass ich stolz auf ihn bin.«
Christopher lehnte seinen Kopf an Arnes Schulter.
»Weißt du noch«, flüsterte er, »damals, als ich mir kurz vor Weihnachten den Knöchel verstaucht hatte und du mich huckepack in die Kirche getragen hast?«
»Natürlich weiß ich das noch. Wir haben den ganzen Weg über gekichert, und beinahe wäre ich auf einer vereisten Pfütze ausgerutscht und hätte mir auch noch ein Bein gebrochen.«
»Jetzt ist bald wieder Adventszeit«, sagte Christopher. »Und irgendwann kommt Weihnachten. Ich frage mich, ob unsere Eltern in diesem Jahr ohne uns feiern werden. Es wird so leer sein und so traurig zu Hause. Ob sie einen Baum haben, wenn wir nicht da sind?«
»Oh, sie werden einen Baum haben«, antwortete Arne fest. »Und wir beide werden ihn schmücken, und wie ich dich kenne, wirst du von der Leiter fallen und dir irgendetwas brechen.«
Der nepalesische Kronzprinz schlief tief in dieser Nacht, tief und traumlos. In seinen Armen schlief ein Mädchen mit wirrem, schwarzem Haar.
Als er aufwachte, war sie nicht mehr dort.
Er fuhr hoch und sah sich um, verwirrt zunächst, den Schlaf noch im Kopf und in den Augen.
Zwei Schlafende lagen unweit neben der kalten Feuerstelle, in ihre Jacken gewickelt: Christopher und Arne. Dann drehte er sich um und sah sie.
Sie stand aufrecht in einem frühen Sonnenstrahl und hielt ihr Messer in der Hand, die Klinge blitzend im Licht des Morgens. Er erschrak. Aber sie lächelte. Zu ihren Füßen lag das schwarze, verfilzte Fell eines Tieres. Das Haar auf ihrem Kopf war kurz.
Leise stand Jumar auf und ging zu ihr hinüber.
Er griff nach ihrem Kinn, drehte ihren Kopf ein wenig, betrachtete, begutachtete und sagte schließlich: »Du bist schön. Aber warum hast du ...?«
»Man hätte sie nie wieder kämmen können«, antwortete Niya und lachte. »Und vielleicht wollte ich schön sein?«
»Komm mit mir fort«, sagte er. »Wenn all dies hier vorüber ist. Ich werde nach Europa gehen. Für eine Weile. Oder vielleicht nach Amerika. Komm mit. Ich meine es ernst.«
Sie fuhr sich durch das geschorene Haar, nachdenklich.
»Wer weiß«, antwortete sie vage. »Lass uns die anderen wecken. Es ist Zeit aufzubrechen.«
Sie frühstückten eine Dose mit eingelegten Früchten und etwas Trockenfleisch.
Und auf ihrem endlosen Weg abwärts begann der Thronfolger Nepals von der Zeit danach zu träumen – der Zeit nach dem Chaos, der Zeit nach dem Tag, an dem sie die Drachen in die Stadt rufen würden: einer Zeit voller Ruhe, voller Bücher, voller Schalen mit Früchten und Badewannen.
Er träumte sich durch drei Tage ihrer Wanderung, er spürte seine Füße nicht und dachte an das Danach: In seinen Träumen trug Niya keinen grün gefleckten Parka mehr und keine klobigen Stiefel, sie schwebte in sauberen Kleidern an seiner Seite durch die Korridore des Palasts, durch den Mittelgang eines Flugzeugs, Straßen in fernen Ländern entlang – und er brauchte nur die Hand auszustrecken, um die ihre zu berühren. In seinen Träumen lag kein Gewehr mehr über ihrer Schulter. In seinen Träumen war alles anders.
Die Mondlandschaft blieb zurück, sie erreichten wieder die Steppe, in der es hier und da Dörfer gab, erste Büsche und geduckte Bäume trauten sich hervor, wurden mehr, und hier und da blickte ein grasendes Yak oder ein Muli aus dem niedrigen Gesträuch und beäugte sie verwundert. Sie fanden auch Wacholder, sie stolperten beinahe darüber, doch während er seinen Rucksack mit dem Wunderholz der duftenden Büsche füllte, träumte der Thronfolger Nepals weiter: Er träumte von seiner Mutter, die durch den Garten schlenderte und lauschte, während er ihr von seinen Abenteuern erzählte, und ab und zu ungläubig den Kopf schüttelte. Er träumte von seinem Vater, der ihm gegenüber in einem Restaurant in der Hauptstadt saß, kein König mehr, nur noch ein Vater, und der ihm sagte, wie stolz er auf ihn war. In seinen Träumen war sein Vater jünger und wieder gesund. In seinen Träumen hatte Kartan gelogen. Er hatte nie einen Tumor in seinem Kopf gehabt.
Die Träume sahen die schwarz-weißen Flecken in der Landschaft und die Bronzefiguren in den Feldern, durch die sie jetzt hin und wieder kamen, aber sie schienen bereits einer furchtbaren Vergangenheit anzugehören.
Am vierten Tag ihres Abstiegs wurde Jumar jäh aus seinen Träumen gerissen.
Es gab jetzt schon wieder einzelne, hohe Bäume, und sie bewegten sich am Rand des ersten grünen Tales, wo der Reis an den Hängen wuchs und ein blauer Fluss in der Tiefe rauschte. An einem der Hänge klebte ein Dorf, und Jumar schickte seine Träume voraus.
»Dort werden wir etwas zu essen bekommen, was noch nie eine Konservenbüchse von innen gesehen hat«, sagte er. Seine Schritte trugen ihn seinen Träumen nach, beflügelt, leicht, rasch –und als er sich umdrehte, hatte er die anderen weit hinter sich gelassen. Doch ihm war nicht nach Anhalten zumute, der Weg war hier breit und bequem, und seine Füße liefen wie von selbst weiter. Er winkte zurück und ging weiter. Bei den Häusern würde er auf sie warten. Er sah etwas Blau-Weißes aus der Ferne, etwas wie ein Schild für Touristen, und vielleicht waren sie in diesem Dorf tatsächlich auf Gäste eingestellt. Er würde sich auf einen Stuhl in einen Garten setzen, und jemand würde eine alte, laminierte Speisekarte mit Eselsohren und falschem Englisch hervorkramen, die noch aus der Zeit der Touristen stammte ... man würde ihn sehen, oh ja, ihn selbst. Zum ersten Mal müsste Christopher seiner Stimme keinen Körper leihen.
Wie wunderbar würde das sein!
Der Weg schlängelte sich kurvig den Hang hinunter, und dann hatte Jumar die ersten Häuser erreicht. Doch sie lagen seltsam still vor ihm. Er seufzte. Ein weiteres verlassenes Dorf.
Kein Stuhl im Garten, keine laminierte, alte Speisekarte. Nur Melancholie und Vergangenheit in den leeren Gassen. Irgendwo schnaubte ein Pferd – hatten sie es vergessen?
CHECKPOINT, las Jumar auf dem blau-weißen Schild, das ihn von ferne gelockt hatte.
TO REST PEAS REGISTER HER.
Er verkniff sich ein Grinsen. Um Erbsen auszuruhen, registriere sie. Vermutlich war es anders gemeint: Tourists please register here ... Touristen bitte hier melden.
Aber da waren keine Touristen, schon lange nicht mehr, und da war vor allem niemand, um sie zu kontrollieren, in Listen einzutragen, zu zählen – es war gar niemand da.
Eine hölzerne Tür klappte hinter dem blau-weißen Schild im Windzug hin und her, und Jumar öffnete sie und betrat einen leeren Raum. Große, glaslose Fenster nahmen die gesamte hintere Wand ein, hinter ihnen nichts, und weit unten das Flusstal. Der Register-Point hing halb in der Luft: malerische Höhen für einen womöglich etwas teureren Tee, ein gutes Geschäft.
Der Atem der Vergangenheit hing über dem Raum. Jumar trat ans Fenster und sah hinaus, hinunter ins Tal, wo wieder Grünes winkte. Neben dem Raum gab es eine kleine Terrasse, auch sie lehnte sich wagemutig über den Abgrund. Zwei verwitterte Stühle standen in Betrachtung der Szenerie versunken.
Auch die Tür zur Terrasse war nur angelehnt. Jumar trat hindurch – und sah, dass jemand am Geländer der Terrasse stand. Er stand so still, dass er ihn erst bemerkte, als er sich umdrehte.
Im gleichen Moment drückte der Wind die Terrassentür zu.
Und Jumar erstarrte.
Der Mann am Geländer war hochgewachsen und hatte ein faltenloses Gesicht, wie frisch gebügelt. Nein. Dies konnte nicht sein. Dies war unmöglich.
Ein bemühtes Lächeln querte kurz das Gesicht des Mannes.
»Das ist aber eine Überraschung«, sagte er.
Jumar trat einen Schritt zurück, tastete nach der Türklinke –und wusste bereits, dass es zu spät dafür war. Ich bin sichtbar, dachte er, und es traf ihn wie ein elektrischer Schock: Er sieht mich, ich bin wie jeder andere. Keine Tricks mehr, keine schwebenden Gegenstände, keine Angriffe aus dem Hinterhalt.
Und plötzlich wusste er auch, wessen Pferd er hatte schnauben hören.
Kartans Finger umschlossen seinen Arm, ehe er Zeit hatte, überhaupt an das Gewehr auf seiner Schulter zu denken. Es waren kalte Finger, hart wie Stahl. Sie drehten ihm die Arme geschickt und blitzschnell auf den Rücken und zogen ihn bis ans Geländer der Terrasse. Er hatte lange nicht mehr gekämpft, er war ein Befehlegeber, ein An-der-Seite-Steher, ein Überwacher. Doch er hatte nichts verlernt.
»Da komme ich hier herauf, um noch einen letzten Blick auf das Land zu werfen«, sagte er, und seine Stimme war ruhig und ohne Gefühl. »Ehe es das meine wird. Und wen finde ich? Den Freund unseres kleinen Thronfolgers. Der Zufall spielt merkwürdige Spiele mit uns, nicht wahr?«
Jumar antwortete nicht. Kartans Worte sanken nur langsam in seinen Kopf. Den Freund des Thronfolgers.
»Siehst du, dort unten?«, fragte er. »Das sind meine Leute. Sie verlassen die Berge. Ich brauche sie nicht mehr hier oben. Es macht keinen Sinn mehr, Land von den Maos zu gewinnen. Nicht in den Bergen. Sie kommen herunter zu mir, ins Tal, weil sie glauben, sie könnten meine Leute dort schlagen. Ich kenne ihre Pläne. Natürlich sind diese Unsinn. Siehst du, wie viele alleine dort unten unterwegs sind? Ich ziehe sie ab, sammle sie in der Stadt... Tausende und Tausende und Tausende.«
Und Jumar sah. Von dort aus, wo sie standen, konnte man nur einige Biegungen des Weges zwischen den Bäumen ausmachen. Doch dieser Weg war schwarz von Menschen, Maultieren und Pferden. Er sah Uniformknöpfe im Sonnenlicht blitzen und Gewehrläufe glänzen, sah die Abzeichen auf dieser oder jener Brust strahlen und das frisch gestriegelte Fell der Pferde schimmern. Und er hoffte, dass Christopher, Niya und Arne langsam gingen –zu langsam, um die endlose Karawane der Soldaten einzuholen.
»Jetzt, wo ich dich in den Fingern habe«, fuhr Kartan fort, »brauche ich dich nicht mehr. Der unsichtbare Sohn des Königs mag am Leben sein, doch es nützt ihm nichts mehr. Es ist zu spät für ihn.«
»Zu spät?«, fragte Jumar und biss sich auf die Lippen.
»Ja, viel zu spät«, nickte Kartan. »Ich schließe aus deiner Anwesenheit, dass er nicht weit von hier ist, nicht wahr? In vier Tagen wollen sie die Stadt angreifen. Meine Augen und Ohren sind überall. Auch in ihren Reihen. In vier Tagen kann auch ein Unsichtbarer die Geschichte nicht ändern. Ich werde dich laufen lassen, wenn du mir das Gewehr gibst. Ich brauche keine Informationen mehr von dir, und ich habe ein gutes Herz.«
Er schüttelte den Kopf. »Sag deinem Freund, dass er mir leidtut. Er hat nichts, wohin er zurückkehren kann, dein Freund mit dem Siegelring. Sein Vater wird ihn nicht mehr hören.«
Jumar zwang sich zu schweigen.
»Traurig, aber wahr«, sagte Kartan. »Der König liegt im Sterben. Ich habe ihn besucht, ehe ich in ein Flugzeug stieg und ein letztes Mal hierherkam. Es dauert nicht mehr lange. Wenn der Kampf um die Stadt sein Leiden abkürzt, wird es nur gut für ihn sein. Die Ärzte, die sagen, sie geben nie jemanden auf, haben ihn aufgegeben. Nur noch die Krankenschwestern wachen an seinem Bett im Palast.«
Jumar biss die Zähne zusammen, presste die Lippen aufeinander, verbot sich zu sprechen. Aber die Worte quollen aus seiner Kehle wie von selbst.
»Wie lange – bleibt ihm noch?«
Kartan wiegte nachdenklich den Kopf. »Ein Tag? Eine Woche? Ich bin keiner von den Ärzten. Vielleicht ist er schon jetzt nicht mehr bei Bewusstsein?«
Da sah der Thronfolger Nepals seinen Vater vor sich, sah ihn in seinem großen Bett, das er seit Beginn ihres ewigen Schlafes nicht mehr mit der Königin teilte, sah ihn unter all den prächtigen, bestickten Kissen inmitten von kühler Seide liegen, hörte den Ventilator über ihm summen – und wie klein, wie winzig die Gestalt seines Vaters wirkte! Wie verloren!
»Er hat nach seinem Sohn gefragt«, sagte Kartan. »Aber keiner konnte ihm eine Antwort geben. Er wird wohl nie mehr mit ihm sprechen.«
Da stieg etwas Heißes, Ungewohntes in Jumar auf, etwas, das er nicht kannte und das ihm Angst machte. Es war, als erhebe sich der Schmerz in ihm und wollte hinaus, und da er seinen Mund verschlossen vorfand und die Worte verboten, wählte er seine Augen. Der Ausblick in das grüne Flusstal verschwamm vor Jumar, und er blinzelte. Etwas Warmes lief seine Wange hinunter, fand seinen Mund, schmeckte salzig dort.
In seinem Kopf tauchten Niyas Worte auf:
#Von mir wirst du keine Tränen sehen,
ich werde über die Berge gehen,
ich habe noch nie geweint.
Es war wahr: Er hatte noch nie geweint. Die Tatsache verwunderte ihn, und die Macht der Tränen, die jetzt aus ihm heraus-flossen, überraschte ihn. Woher kam nur all dieses Wasser? Wieso konnte er es nicht zurückhalten? Er kämpfte umsonst. Seine Augen brannten, und hinter dem Film aus Tränen sah er das große Bett und seinen winzigen Vater, und er wusste, dass Kartan recht hatte: Es war zu spät.
Der König würde nie mehr mit seinem Sohn sprechen. Er würde nie erfahren, weshalb er die Stadt verlassen und was er alles gelernt hatte. Und er würde sterben, ohne ihn ein einziges Mal gesehen zu haben.
»Moment«, hörte er Kartans Stimme über sich. »Weinst du? Du weinst doch nicht etwa?«
Seine kalten Finger fuhren über Jumars Wange und fanden die verräterischen Tropfen dort.
Durch den Schleier vor seinen Augen sah Jumar, wie Kartan seine Finger anstarrte.
»Du bist nicht sein Freund«, sagte er langsam. »Du bist nicht der Freund des Thronfolgers.«
Nun war das gebügelte Gesicht ganz nahe, der Blick darin suchte unter Jumars Tränen ... suchte und fand.
»Nein«, stellte Kartan fest. »Du siehst ihm ähnlich. Aber du bist nicht er. Du bist es selbst. Du bist der Sohn des Königs. Der Thronfolger. Der Kronprinz.«
Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Du bist – sichtbar.«
In diesem Moment wusste Jumar, dass er Kartan nicht mehr belügen konnte. Und er wusste, dass ihm nur diese eine Sekunde blieb, in der Kartans Überraschung seinen Griff lockerte.
Es kostete ihn all seine Willenskraft, das Bild seines sterbenden, geschrumpften Vaters gewaltsam aus seinem Kopf zu verdrängen, und er entwand sich Kartans Griff mit einem Ruck.
Kartans Hände folgten ihm nicht. Stattdessen glitten sie in seine Tasche, und Jumar blickte in den Lauf eines Revolvers.
Doch da stand er schon auf dem Geländer.
Als Kartan abdrückte, machte der Sohn des Königs, der Thronfolger Nepals, der Kronprinz einen Schritt nach hinten: einen Schritt ins Nichts. Einen Schritt in die Zukunft.
Er fiel lautlos.
Kartan sah ihm nach, schüttelte den Kopf und steckte die Waffe ein.
Dann verließ auch er den Checkpoint, stieg auf sein schwarzes Pferd und ritt seinen Leuten nach. Es wurde Zeit, dass sie nach Kathmandu hinunterkamen, wo er sie brauchte.
Sie waren nur noch hundert Meter von den ersten Häusern des Dorfes entfernt, als der Schuss fiel.
»Was –?«, fragte Christopher.
Niya legte den Finger an die Lippen und lauschte. Ein Pferd schnaubte. Jemand sprach beruhigend auf das Tier ein, und gleich darauf hörten sie seine Hufe auf dem steinigen Weg; Hufe, die sich rasch entfernten.
Sie rannten los, ohne zu wissen, warum. Niya erreichte die Wegbiegung als Erste, und von hier aus sahen sie ihn: einen Reiter auf einem schwarzen Pferd.
Und hinter ihm, weiter unten, die Schlangenlinien endloser Reihen von Soldaten.
»Verdammt will ich sein«, flüsterte Niya, »wenn das nicht Kartan ist, der dort reitet. Aber er reitet, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Oder der Tod.«
Sie schien dem Nachhall ihrer eigenen Worte zu lauschen.
»Wo ist Jumar?«, fragte Arne.
Niemand antwortete ihm. Niya legte das Gewehr an und zielte auf den Reiter auf dem schwarzen Pferd, aber Christophers Arm kam ihr in die Quere.
»Wenn du jetzt schießt, sind wir alle tot«, zischte er. »Da unten ist eine halbe Armee unterwegs!«
Diesmal ließ Niya die Waffe sinken und nickte.
Und dann stand sie lange stumm mitten auf dem Weg und sah Kartan nach, bis er um eine weitere Biegung des Weges verschwand.
»Jumar«, sagte sie schließlich. »Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm fortgehen würde. Nach Europa. Oder nach Amerika.«
Sie lächelte, ihre Augen tränenleer.
»Sieht aus, als wäre er ohne mich fortgegangen«, sagte sie.
Sie suchten den Checkpoint und die übrigen Häuser ab, ohne eine Spur von Jumar zu finden.
Und als sie schließlich aufgaben und ihren Abstieg fortsetzten, klammerte Christopher sich an eine Hoffnung, von der er wusste, dass sie unsinnig war: Irgendetwas war geschehen, das Jumar zwang, sich zu verstecken – er war Kartan entkommen, und womöglich war er sogar wieder unsichtbar. Aber im rationaleren Teil seiner Seele begriff er die Ironie: Nach so vielen Beinahe-Be-gegnungen mit dem Tod, nach so vielem Gerade-noch-Entkom-men war es ein Zufall gewesen, nichts als ein dummer Zufall, der Jumar das Leben gekostet hatte.
Aber wie sollten sie ohne ihn weitermachen? Wie sollten sie nach Kathmandu gehen und seinen Plan ausführen?
Selbst Jumars Rucksack mit dem harzigen Holz des Wacholders war unwiderruflich verloren.
»Es kommt nicht darauf an, wie. Wir werden es tun«, sagte Niya. »Nur darauf kommt es an. Weißt du noch, was Jumar immer gesagt hat? Ich habe keine Ahnung, aber bis wir dort oder dort ankommen, wird mir schon etwas einfallen. Und ihm ist etwas eingefallen, jedes Mal. Habe ich recht?«
Christopher nickte.
»Wir lassen ihn nicht im Stich«, sagte Niya. »Nur, weil er vielleicht nicht mehr bei uns ist.«
Aber jeder Schritt, den sie an diesem Tag abwärtsgingen, schmerzte Christopher wie ein Messerstich, und jeder Meter zog sich endlos hin – und er wusste, dass es Niya genauso ging, auch wenn sie es nie, niemals zugegeben hätte.
Das Wasser war kalt.
Kälter, als er gedacht hatte.
Moment. Hatte er damit gerechnet, im Wasser zu landen?
Nun, vielleicht. Vielleicht in irgendeinem verborgenen Raum seines Bewusstseins, in dem die wichtigeren Entscheidungen ohne ihn gefällt wurden.
Er ging unter, kam wieder hoch, rang nach Luft und fand sich in einem Wirrwarr aus Strudeln.
Immerhin, dachte er. Immerhin fließt dieser Fluss nicht unterirdisch. Es gibt Licht, und es gibt ein Ufer, das man sehen kann. Dies ist gar nichts.
Dies ist die Luxusausgabe von etwas, das wir schon lange überstanden haben.
Er wollte lachen, doch er bekam Wasser in den Mund und hustete und spuckte stattdessen, was äußerst unschicklich ist für einen Thronfolger auf seinem Weg zum Thron, aber seine Lungen geboten ihm es, ohne Widerrede zu dulden.
Die Strudel waren stark. Stärker, das musste er zugeben, als die in dem Fluss unter der Erde.
Sie nahmen ihn in ihre Arme und drückten ihn unter Wasser, zogen ihn wieder hoch, wirbelten ihn herum und sangen von vergangenen Zeiten, in denen sie aufblasbare Boote auf ihren nassen Scheiteln balanciert hatten. Zeiten, in denen sie kein Feind gewesen waren, sondern eine Attraktion, eine seitenfüllende Beschreibung in englischen Fremdenführern, eine Angelegenheit, auf die das Land stolz war und die sich leicht in Dollar umsetzen ließ: White water rafting in Nepal, so close to nature...
Jumar kämpfte verbissen darum, oben zu bleiben.
Felsen tauchten in seinem Blickfeld auf, brachen die Oberfläche des Flusses, drohten ihm mit ihren harten Konturen. Er ließ sich von den Strudeln um die Felsen herumtragen, doch es war nicht einfach, und seine Arme begannen zu schmerzen. Überhaupt schmerzte sein ganzer Körper, und er betete, dass ihn das letzte bisschen Kraft nicht verließ. Dies war etwas anderes als die geregelten Bahnen, die er im königlichen Pool geschwommen war, in widerstandslosem, blauem, gechlortem Wasser. Dieses Wasser hatte einen eigenen Willen, und es kümmerte sich wenig darum, ob das, was es untertauchte, Baumstamm war, Bettler oder Kronprinz.
Wie die Blutegel hatte das Wasser gewisse kommunistische Züge: Der nasse Tod in seinen Fängen gehörte allen, so wie das Leben, das es denen wiedergab, die ihm entrannen.
Es konnte sich lange, lange nicht entscheiden, auf welcher Seite dieser Rechnung der allzu sichtbare Kronprinz Nepals auftauchen würde.
Aber er tauchte auf, schließlich, endlich, und jemand zog ihn aus dem Wasser, und Arme zerrten an ihm, um die ungewöhnliche Fracht des Flusses zu bergen.
Doch man soll den Dingen nicht vorgreifen ...
Das letzte Stück des Weges ins Tal hinab war steil und bestand einmal mehr aus Stufen. Es dauerte, bis sie auf Höhe des Flusses ankamen. Bisher hatte Christopher geglaubt, es wäre anstrengender, aufwärts unterwegs zu sein, doch seine Knie begannen zu zittern, und die Treppen schienen nicht enden zu wollen. Manchmal glaubte er, die Kontrolle über seine Füße zu verlieren, sah sie ganz von alleine losrennen, sah sich darüber stolpern und auf dem kürzesten Weg in die Tiefe stürzen ...
»Langsam, laaangsam«, sagte Niya. »Das ist das Geheimnis.«
Unten, am Fluss, strahlten ihnen Häuser entgegen wie eine Oase. Die sich windende Schlange des Militärs hatte sich längst außer Sichtweite gewunden, doch dort unten gab es noch immer Leben in den Gassen – ameisengleich krochen die Menschen darin umher, schwarze Punkte, die ein Nachtlager versprachen.
»Was glaubst du, wie lange ist es bis zu dem Dorf dort unten?«, fragte Christopher.
»Wenn es hochkommt, eine Stunde«, antwortete Niya, und Arne grinste und sagte: »Aber ich fürchte, es kommt nicht hoch. Ich fürchte, wir müssen hinuntersteigen.«
Es wurde bereits dunkel, als sie den Fluss rauschen hörten.
»Das ist das Schönste, was ich seit Langem gehört habe«, erklärte Arne, und niemand widersprach ihm. Ja, sie waren wieder in einem Teil des Landes angekommen, in dem Flüsse rauschten und grüne Bäume mit riesigen Blättern von lianenumrankten Stämmen winkten, wo Vögel im Urwald lärmten und Zikaden unsichtbar im Unterholz Elektrozäune imitierten und verborgen im Unterholz Affen krakeelten.
Die Höhe war nur eine vage, unwirkliche und verblichene Erinnerung, der Schnee, das Eis, die Mondlandschaften kaum noch wahr.
Aber selbst in der Dunkelheit ahnten sie, dass die Bäume nicht so grün waren, wie sie erschienen. Das Licht der Sterne fiel auf graue Flecken im Wald und auf farblose Blumen, und einigen der Hausdächer fehlte die Farbe.
Der Ort besaß eine breite Brücke aus starken Holzbohlen, besser: Teile des Ortes lagen auf jener Brücke. Häuser drängten sich dicht an dicht über dem Wasser; Blumen wuchsen aus alten Metallkanistern und zerbrochenen Kannen, ein Weihnachtsstern, groß wie eine Ulme, winkte mit seinen vereinzelten roten Blüten vom Ufer her, und irgendwo ertönte aus einem Fenster das unzusammenhängende Gequäke eines empfangsgestörten Fernsehers, in dessen Satellitenschüssel auf dem Wellblechdach ein Huhn nistete.
Vor einer der Hütten auf der Brücke hing ein Schild, das großartig verkündete:
HOME MAD MOMOS FRESH.
Daneben war ein Bild von einem schielenden Menschen mit zu kurzen Beinen und sehr langen Armen, der vor einem Teller voller blasser Halbmonde saß. Das Bild war schwarz-weiß, obgleich es schien, als wäre es früher farbig gewesen.
»Wenn sie wirklich Momos machen, auch ohne dass Touristen da sind ... das wäre wunderbar«, sagte Niya. »Erstens kann ich kein Dosenessen mehr sehen, und zweitens ist der Rucksack ... mit Jumar ... verschwunden.«
Sie verstummte, und Christopher dachte daran, wie hungrig er war und dass es doch schrecklich war, ans Essen zu denken, wo Jumar nie wieder zusammen mit ihnen essen würde.
Aber sein Hunger drängte sich in den Vordergrund.
»Was sind Momos?« fragte er.
»Eine Art Ravioli«, erklärte Arne – sichtlich froh, dass sie das Thema des Rucksacks und seines Besitzers nicht weiterverfolgten. »Sie sehen tatsächlich so aus wie auf dem Bild. Nur, dass man nicht unbedingt immer schielt, wenn man sie isst.«
Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm erschien jetzt in der Tür des Vielleicht-Restaurants und warf ihnen einen misstrauischen Blick zu. An Arnes blonden Haaren erkannte sie vermutlich einen Touristen, ohne zu begreifen, was er hier tat oder weshalb er in Begleitung von zwei jungen Maoisten war. Ihr Gesicht spiegelte eine Mischung aus Angst und Neugierde, und sie schien sich nicht recht zwischen beidem entscheiden zu können.
Arne entschied.
Er schenkte ihr sein umwerfendstes Lächeln und sagte: »Wir sind unglaublich hungrig. Ob wir hier wohl richtig sind?«
Da nickte sie und führte sie in einen verlassenen Raum mit drei Tischen, auf denen die Plastikblumen einstaubten. Wie kamen die Leute bloß auf die Idee, Touristen hätten diese besondere Vorliebe für Plastikblumen?
»Setzt euch«, sagte die Frau, und das Kind auf ihrem Arm beobachtete sie großäugig und triefnäsig.
»Dies ist der seltsamste Tag seit Langem. Zuerst kommt Ewigkeiten gar niemand und dann ... Es ist schon ein Fremder da. Mein Mann und sein Bruder haben ihn aus dem Fluss gezogen.«
Erst da sahen sie, dass der Raum nicht ganz so verlassen war, wie er schien.
In der hintersten Ecke saß jemand.
Er saß vor einem Teller mit blassen Halbmoden aus Nudelteig, und die Szene ähnelte der gemalten Szene auf dem Schild so sehr, dass Christopher einen Moment glaubte, der Mensch vor dem Teller würde schielen.
Aber er grinste nur. Ein bekanntes Grinsen.
»Ich, äh, habe den direkten Weg genommen«, sagte Jumar. Sein Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen und wieder zurück.
Jumar erzählte die Geschichte genau vier Mal.
Sie schliefen in dem Haus auf der Brücke, seit Langem wieder satt. Unter ihnen rauschte der Fluss, neben dem Feuer trocknete Jumars inzwischen ziemlich mitgenommener Rucksack, und eine Katze machte sich auf Christophers Füßen breit.
Sie wisperten lange im Dunkeln, wie Kinder es tun.
In die Erleichterung darüber, Jumar wiederzuhaben, schlich sich auf leisen, dornigen Füßen Jumars Trauer über das Ende seines Vaters, das nicht mehr lange auf sich warten ließ.
»Vielleicht«, sagte er, »stimmt es nicht. Vielleicht hat Kartan die ganze Sache nur erfunden.«
Doch obwohl alle zustimmend murmelten, glaubte das keiner von ihnen.
Christopher träumte von dem großen Bett voller Seidenkissen, in dem der sterbende König lag – gerade so, als teilte er Jumars Sorgen, indem er auch seine Träume teilte. Vor langer Zeit hatte er schon einmal gedacht, ihre Geschichten hätten sich zu sehr ineinander verwoben, um sie noch auseinanderzupflücken. Und er hatte recht gehabt.
Einen Tag später erreichten sie ein Tal, das trockener war als alle Landstriche, die sie bisher durchwandert hatten und staubiger als ihre staubigsten Gedanken. Selbst die Drachen schienen das Tal zu meiden, denn es bot ihnen nichts: Die einzige Farbe, die dort existierte, war ein eintöniger, heller Braunton.
Aber wenn man kein Drache war, gab es keine Möglichkeit, als in diesem Tal entlangzuwandern – wie eine breite Straße wand es sich zwischen den steil ansteigenden Bergen entlang, sein Fluss längst eins mit der Ewigkeit oder der Vergangenheit oder der Vergänglichkeit, in jedem Fall aber tot und ohne Wasser.
Nicht einmal der hungrigste Farbdrache hätte einen Anreiz verspüren können, sich in diesem Tal niederzulassen.
Das Grün des Urwalds war respektvoll vor den gewaltigen Staubwolken des Tales zurückgetreten und hatte die vier Wanderer allein gelassen, allein inmitten von wasserloser, karger, gelblich-brauner Landschaft, inmitten von lebensfeindlichem, knirschendem Kies und Visionen von Gärten in der flimmernden, gartenlosen Luft. Staubträchtige Winde fegten durch das ausgetrocknete Flussbett. Die Sonne brannte unerbittlich auf jeden ein, der darin unterwegs war, als wollte sie die Wanderer entmutigen, sie zurückscheuchen, ihnen sagen: Dies mag aussehen wie die breiteste Straße des ganzen Landes, doch es ist nicht mehr als das Grab eines lebendigen Flusses, der Tod selbst, gereinigt von Tränen.
Es musste das Kali-Gandaki-Tal sein, durch das sie wanderten: Christopher entsann sich vage, davon gelesen zu haben. War auch vom Kali-Gandaki-Tal ein Foto in jenem verhängnisvollen Bildband gewesen? Er wusste es nicht mehr.
Sie wanderten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in dem toten Flussbett entlang, ohne einer einzigen Pflanze zu begegnen. Sie begegneten Maultierdung und Knochen, Fetzen von verblichenem Stoff und Papier, die der Wind mit sich trug. Aber nichts, was lebte.
Jede Böe fegte ihnen Hände voll Staub ins Gesicht, sodass sie die Augen zusammenkneifen mussten. Und es war wieder warm.
Zuerst begrüßte Christopher die Wärme, doch dann wurde sie unerträglich. Sie zogen die Jacken aus, schleppten sie eine Weile mit und ließen sie schließlich liegen. Der Schweiß rann in kleinen Wasserfällen an Christophers Rücken hinunter, vermischte sich mit dem Staub und klebte ihm die Kleidung auf den Leib. Sie ließen auch die klobigen Schuhe liegen, und Jumar fischte seine lange vergessenen Sandalen und Christophers Turnschuhe aus seinem Rucksack. Niya wanderte barfuß voran.
Wie anders sie aussah, mit ihren kurzen Haaren!
»Es dauert zu lange«, sagte Jumar am Nachmittag. »Verdammt, es dauert zu lange! Hinter diesem Tal liegt noch eine Menge Land, ehe wir eine einigermaßen große Straße erreichen und einen Bus nach Kathmandu finden. Falls überhaupt noch Busse fahren, wenn wir dort sind. Kartan hat gesagt, noch drei oder vier Tage ... wie sollen wir das jemals schaffen?«
Sie hatten sich zum Rasten im Kies des Flussbettes niedergelassen, denn es gab nirgendwo Schatten.
Und zu ihrer Überraschung war es Arne, der diesmal den Kopf schüttelte.
»Wir brauchen keinen Bus«, sagte er. »Dort, wo der Weg wieder aus dem Flussbett hinausführt, liegt eine Stadt, die einen Flughafen hat. Einen winzigen Flughafen, so einen, der Rund-flüge über die Berge veranstaltet und der Wanderer zurück in die Stadt fliegt, wenn sie nur Zeit für die Hälfte der Strecke haben.«
Alle starrten ihn an.
»Touristenwissen. Manchmal hilft auch das weiter. Ich hatte erwogen, meinen Rückweg abzukürzen und zu fliegen, damit ich rechtzeitig wieder in dem Kinderheim bin, wo ich arbeite.«
»Nun bist du wohl ein wenig zu spät«, sagte Christopher.
»Ach, die zwei Monate!« meinte Arne leichthin und grinste.
Und so kam es, dass sie die zweite Hälfte eines Rundflugs planten, ohne die erste antreten zu wollen ...
Aber zunächst geschah etwas ganz anderes – etwas, das den Flugplatz in die blaugraue Ferne des Unerreichbaren rückte. Etwas, das all ihre Pläne infrage stellte – nicht nur die Zeitpläne: In die dringende Frage nämlich, ob sie Kathmandu überhaupt erreichen würden, und wenn ja, wie viele von ihnen ...
»Der – der Fluss!«, rief Christopher verblüfft. »Er ist wieder da!«
»Was für eine nette Geste von ihm«, bemerkte Niya. »Wieder da zu sein, meine ich.«
Sie standen am Rand des Tales, und in seiner Mitte, wo der Boden jetzt tiefer war, sickerte es klar und glitzernd zwischen den Kieseln empor. Das Glitzern begann als eine Handvoll winziger Rinnsale, Haarsträhnen von kühlem Nass inmitten von absoluter Trockenheit; ein Blinzeln blauer Spiegelaugen im blinden Nichts der wüsten Landschaft. Dann vereinigte es sich, gewann an Courage und Lebenslust, sprang voller Übermut von Stein zu Stein, weitete sich, breitete sich, strudelte, sprudelte; gleißendes, reißendes Wasser, ungezähmter, unverschämter Fluss: ja. Er war wieder da.
Wo aber war er hergekommen?
Hatte er sie die ganze Zeit über als unterirdische Ader begleitet? Sich hier auf einmal an die Welt über der Erde erinnert? Lag sein Bett an dieser Stelle so viel tiefer, dass das Grundwasser ...? Unmöglich.
Um bei Tatsachen zu bleiben: Der Fluss griff mit großen, kühlen Händen ins Tal, und in seinen Armen hielt er eine Insel. Kurz hinter der Insel teilte er sich.
Und nicht nur der Fluss: Das Tal teilte sich. Mit dem Tal jedoch teilte sich der Weg.
Sie sahen sich an und wussten, was die anderen dachten.
»Welches ist das richtige Tal?«, fragte Jumar. »Das, das uns zum Flugplatz führen wird? Wir haben keine Zeit, tagelang in die Irre zu laufen.«
Arne zuckte hilflos die Schultern.
Aber dann wies er auf die Insel.
»Es sieht fast so aus, als wohnte dort jemand«, sagte er, »den wir fragen könnten.«
Der wiederauferstandene Kali Gandaki lag im unveränderten Staub des Nachmittags – es war, als hätte man an seinen Ufern noch nichts vom unerwarteten Auftauchen des Wassers bemerkt. An jenen Ufern wuchs nichts, gar nichts, kein einziges winziges Grasbüschel, keine sterndornige Distel, nicht einmal ein Kaktus. Auf der kleinen Insel jedoch sprießte und wucherte ein überschäumend grüner Garten.
Vielleicht, dachte Christopher, waren alle Pflanzen von den Flussufern in diesen Garten ausgewandert – die unsinnige Vorstellung bemächtigte sich seiner, wie sie sich in die Fluten stürzten und hinüberschwammen – denn dort gab es jemanden, der sich um sie kümmerte: Ordentliche Reihen von gepflügter, dunkler Erde beherbergten grüne Sprösslinge, dunkelblättrige Büsche warfen großzügig mit Schatten, die langen, dünnen Äste von Oleander winkten mit rosafarbenen Windmühlen-Blüten. Und mitten zwischen Kürbis- und Kartoffelpflanzen, zwischen Linien aus hohem, windwippendem Mais und kopfnickenden Getreidehalmen lag grausteinern eine einzige Hütte.
Von hier glich die Insel – geformt von den Stromlinien des Flusses – einem grünen Auge: einem weisen, niemals blinzelnden, niemals schlafenden Auge mit einer steinernen grauen Pupille.
»Jemand wohnt dort«, stellte Jumar fest.
»Und wir werden ihm einen Besuch abstatten«, sagte Arne.
Während sie zum Fluss hinuntergingen, ihre Füße noch im trockenen Staub, waren da Worte in der Luft – Worte, die nichts mit Beeilung zu tun hatten und die sich ganz von selbst zu murmeln schienen. Mit der Stimme eines Thronfolgers zum Beispiel, dessen letzte Begegnung mit einem Fluss weniger begeisternd ausgefallen war:
»Frische Tomaten –«
Oder der Stimme einer abtrünnigen Kämpferin, zu jung für ihr Leben: »Reis –«
Und dann waren sie am Ufer, und dann standen sie im Fluss, die Schuhe über den Schultern, die Hosenbeine im Wasser, getränkt mit der Strömung.
Christopher bückte sich, tauchte auch seine Hände hinein und schloss für einen Moment die Augen. Es war, als hätte er jahrelang kein Wasser mehr gesehen, gefühlt, gerochen, geschmeckt.
Der Staub und die Hitze, die hohe Sonne des schier unendlichen Kali-Gandaki-Tals hatten alle Erinnerungen an Wasser in ihm ausgelöscht: begraben unter einer Welt aus trockenem Kies, Tierknochen, Papierfetzen. Niyas Stimme zerschnitt seine Gedanken.
»Wenn wir zu der Insel wollen, müssen wir hindurchschwimmen«, sagte sie. »Es wird schnell tief.«
Christopher seufzte – sehnsuchtsvoll. »Es gibt nichts, was ich lieber täte.«
»Schwimmen wir alle?«, fragte Jumar. »Es würde reichen, wenn einer von uns nach dem Weg fragt.«
»Und wenn die Insel nicht so friedlich ist, wie sie vorgibt zu sein?«, meinte Arne. »Sollten wir nicht zusammen gehen?«
Jumar schien zu überlegen, doch schließlich nickte er. Dann stopfte er alle ihre Schuhe in seinen Rucksack – fürchtete jedoch um das Wacholderholz: und fand eine unromantische, alte Plastiktüte in den Tiefen seines Gepäcks, in die er das Herzstück ihres wahnsinnigen Plans wasserfest verknotete. Schließlich nahm Arne den Rucksack auf den Rücken und bedeutete Jumar, ihm in den Fluss zu folgen. Jumar folgte, und Christopher glitt nach ihm ins wunderbar kühle Wasser.
In der Mitte zwischen Ufer und Insel drehte er sich nach Niya um.
Und was er sah, verblüffte ihn so sehr, dass er einen Moment lang vergaß zu schwimmen:
Er sah Niya – oder besser: Niyas Kopf, und dann sah er ihn nicht mehr. Da war ein Arm – ein zweiter – wieder ein schwarzer Haarschopf, Finger, ins Leere greifend – hilflos; verzweifelt.
Niya, die Kämpferin, kämpfte mit dem Kali Gandaki um ihr Leben, einen keuchenden, gurgelnden, würdelosen Kampf. In Christopher tauchte ein Gedanke auf: Ein Krampf in einem Fuß – hierzulande und bei ihrer Dosendiät wahrscheinlicher – aber nein. Die Wahrheit drängte sich klar und gemein in sein Bewusstsein: Niya konnte nicht schwimmen.