Christopher träumt
»Wer, wer bist du?«, keuchte Christopher. »Wo bist du?«
»Mein Name ist Jumar«, antwortete eine Stimme aus der Luft. »Und ich würde sagen, wo ich bin, hast du gerade gemerkt. Streck deine Hand aus.«
Christopher zögerte. Was würde er fühlen, wenn er gehorchte? Schuppen, Fell, Klauen, Zähne? Dies war ein Albtraum, es konnte nicht wirklich sein.
»Streck deine Hand aus«, wiederholte die Stimme etwas ungeduldig. Sie schien es gewohnt zu sein, dass man ihr gehorchte.
Christopher fühlte, wie eine andere Hand seine nahm und führte, und gleich darauf spürten seine Finger Haut, Haar ... ein Gesicht.
»Siehst du?«, fragte die Stimme – was eine unsinnige Frage war. Natürlich sah Christopher nichts. »Ich bin genauso da wie du. Man kann mich nur nicht sehen.«
»Wie – wieso nicht?«
Die Stimme seufzte. »Keiner weiß das. Ich wurde so geboren. Es hat seine Vor- und Nachteile. Im Übrigen bin ich der Sohn des Königs.«
»Aha«, sagte Christopher verständnislos. »Bitte – welches Königs?«
»Na – des Königs!« rief die Stimme. »Woher kommst du denn, dass du nicht weißt, wer der König ist!«
»Aus meinem Zimmer«, antwortete Christopher wahrheitsgetreu. »Eben saß ich noch auf meinem Bett, und dann stand ich hier im Urwald.«
»Du spinnst«, sagte die Stimme. »Aber Hauptsache, du hilfst mir. Ich bin in eine Falle geraten, so ein Eisending. Frage mich, was für Tiere sie damit fangen. Man müsste die Feder irgendwie aufbiegen ... hier, spürst du sie? Sie ist unsichtbar geworden, weil sie meine Haut berührt. Das ist eines der anderen ärgerlichen Dinge, die geschehen.«
Die Hand führte Christophers Finger über raues, rostiges Eisen, und er fasste in etwas Feuchtes: Blut. Christopher zuckte zurück.
»Ich kann kein Blut sehen«, sagte er.
»Na fein«, sagte Jumar, »du siehst ja auch keins, es ist schließlich unsichtbar. Wenn du hier mal ziehen würdest, dann ziehe ich auf der anderen Seite ...«
So zogen sie gemeinsam an den Eisenkiefern der Falle, mühten sich ab und rangen gemeinsam nach Atem, und schließlich spürte Christopher, wie sich die Eisenstücke bewegten, Millimeter für Millimeter. »Es – es funktioniert«, keuchte Jumar. »Weiter! Weiter!«
Christopher kniff die Augen zu, biss die Zähne zusammen und zog mit aller Kraft. Er stellte sich vor, es wäre sein Bruder Arne, der in der Falle saß, stemmte seine Beine in den Boden und zog... »Warte«, hörte er Jumar flüstern, »so müsste es gehen. Noch ein wenig ...«
Christopher fühlte, wie ihn die blutfeuchte Haut streifte.
»Lass los«, sagte Jumar. »Aber vorsichtig. Sie wird wieder zuschnappen.«
Gehorsam zog Christopher seine Finger zurück, und vor ihm klickte es metallisch. Gleich darauf lag eine eiserne Falle vor ihm auf dem Blätterboden. Als er die aufeinandergreifenden Zähne vorsichtig berührte, fühlte er Blut daran kleben – unsichtbares Blut. Und jetzt sah er auch den Schuh, der daneben lag. Doch kaum hatte er ihn entdeckt, da löste sich der Schuh auch schon in nichts auf. Alles, was von ihm blieb, war das leise Geräusch einer sich schließenden Schnalle.
Sein unsichtbares Gegenüber hatte den Schuh wieder angezogen.
»Bitte«, sagte Christopher, »erkläre mir – alles, was du berührst, wird unsichtbar?«
»Nur die unbelebten Dinge«, antwortete Jumar. »Und Wasser, zum Beispiel, bleibt, wie es ist. Erde und Stein auch. Es ist eine Frage des Ausprobierens. Wenn ich barfuß ginge, würden vermutlich die toten Blätter auf dem Boden verschwinden. Aber der Weg würde bleiben, wo er ist. Meistens trage ich übrigens Handschuhe. Damit die Sachen, die ich hochhebe, nicht verschwinden. Zum Schuheanziehen ist es allerdings unpraktisch.«
»Interessant«, sagte Christopher.
»Tu mir einen Gefallen«, meinte Jumar, »und sag dieses Wort eine Weile nicht mehr.«
Eine halbe Stunde später saßen sie gemeinsam auf einem Felsen am Wegesrand und blickten in ein Tal hinab, durch das sich ein Fluss in leuchtend blauem Gewand schlängelte.
Eigentlich saß Christopher alleine dort. Aber neben ihm gab es eine Stimme, die ihm eine unglaubliche Geschichte erzählte.
Eine Geschichte von einer schlafenden Frau und einem Garten unter einer riesigen Glaskuppel, von Drachen, die in den Bergen lebten und Farben fraßen, von einem sterbenden Diener und von einem König, der sein Land vergessen hatte. Es wäre ein Märchen gewesen, wären nicht die Flugzeuge darin vorgekommen und die Ärzte und die Computerkurse des Thronfolgers und die Panzer.
»Und nun erzähle du mir etwas über dich«, sagte die Stimme ohne Gesicht. »Ich weiß noch immer nichts als deinen Namen. Wieso bist du hergekommen?«
Das liegt daran, dass du die ganze Zeit über redest, dachte Christopher.
»Ich heiße Christopher«, antwortete er etwas steif.
»Und wieso bist du hergekommen, Kri... Kissen... Ki-scho...?«, fragte Jumar.
»Christopher«, verbesserte Christopher, um Zeit für eine Antwort zu gewinnen.
»Krischnofer. Wieso bist du hier?«
Ich weiß es nicht, wollte Christopher antworten. Doch dann sagte er etwas anderes.
Er sagte: »Ich glaube, ich bin gekommen, um meinen Bruder zu finden. Arne. Er ist schon neunzehn, und er war eine Weile in Nepal, um in einem Kinderheim zu arbeiten. Er tut solche Dinge. Alle haben ihn gern.«
»Und wo ist er jetzt?«
Christopher seufzte. »Das«, sagte er, »weiß keiner so genau. Sie glauben, die Maoisten haben ihn entführt. Aber sicher ist sich keiner. Er wollte im Annapurnagebiet wandern gehen, ganz alleine ... er ist nicht zurückgekehrt.«
Jumar schwieg eine Weile. Er schwieg so lange, dass Christopher begann, an seiner Existenz zu zweifeln. Vielleicht saß er doch alleine auf dem Felsen über dem unverschämt blau glitzernden Fluss?
Er streckte die Hand aus – und spürte, wie eine andere Hand sie drückte.
»Ich bin unterwegs«, sagte Jumar, »um das Lager der Aufständischen zu finden. Und du bist unterwegs, um deinen Bruder zu finden. Und vielleicht ist beides ein und dasselbe. Warum gehen wir nicht zusammen?«
Christopher lächelte. »Hat jemand behauptet, dass wir nicht zusammen gehen? Ich meine, natürlich ist dies ein Traum, und ich werde bald daraus aufwachen, aber solange ich ihn träume, kann ich ihn ebenso gut mit dir zusammen träumen.«
Das war ein sehr schöner Satz, fand Christopher, und es war eigentlich schade, dass keines der Mädchen aus seiner Schule ihn gehört hatte – jener Mädchen, die ihre Tage stets damit verbracht hatten, einen von Arnes schönen Sätzen abzubekommen.
Der Weg wurde steiler, und grobe, steinerne Stufen schlichen sich hinein. Zuerst ging Jumar voran, doch Christopher stieß andauernd gegen ihn. Es war nicht besonders praktisch, unsichtbar zu sein.
So führte Christopher, und hinter sich hörte er Jumars schweren Atem und manchmal das Knacken eines Astes unter seinen Sandalen. Wenn der Weg eben war, sprachen sie miteinander. Solange Christopher sich nicht nach Jumar umdrehte, konnte er sich vorstellen, es wäre ein ganz normaler Mensch, mit dem er unterwegs war, und das war in jedem Fall ein besseres Gefühl, als dauernd mit einer Stimme zu sprechen, die mitten aus der Luft kam.
»Wo befindet sich dieses Lager der Aufständischen?«, fragte Christopher. »Weißt du den Weg dorthin? Wie weit ist es?«
»Oh, wir werden uns erkundigen«, antwortete Jumar. »So genau weiß ich natürlich nicht, wo es ist, und vielleicht ist es nicht leicht zu finden. Aber es ist irgendwo hier in diesen Bergen.«
»Ach was«, meinte Christopher, »da kann es sich ja nur um Wochen handeln, bis wir hinkommen.«
Vielleicht war es gut, dass er nicht wusste, wie viel Wahrheit in seinen Worten lag.
»Sag mal«, fragte Jumar später, »wie kommt es eigentlich, dass du so ... normal aussiehst? Hast du nicht erzählt, du wärst aus Holland oder Schweden oder so?«
»Deutschland«, verbesserte Christopher.
»Alles das Gleiche«, sagte Jumar. »Wieso bist du nicht groß und blond?«
»Du meine Güte! Nicht alle Deutschen sind blond und trinken rund um die Uhr Bier vor dem Fernseher!«
»Aber du siehst aus wie die Leute hier«, beharrte Jumar. »Ich habe oft am Fenster gestanden und die Touristen beobachtet, die über den Durbar Square gingen. Und ich kenne eine Menge von euren Filmen. Die Leute darin sind groß und plump und bewegen sich mit der Eleganz von Elefanten.«
»Tatsächlich? Und ich?«
»Du bewegst dich ganz normal, finde ich. Du hast die richtige Größe, und dein Gesicht ist nicht seltsam sondern auf die richtige Art geformt.«
Christopher seufzte. »Da, wo ich herkomme, sehen die Leute das anders. Ich hatte diese Großmutter. Sie kam aus Nepal.«
»Sprichst du deshalb unsere Sprache?«
»Eure Sprache?« Bisher hatte Christopher überhaupt nicht darüber nachgedacht. Sprach er nepali? Anfühlen tat es sich wie deutsch.
»Es muss an diesem Traum liegen«, murmelte er verwirrt. »Es ist ja nichts weiter. Nur ein Traum. In Träumen kommt das schon einmal vor, dass man plötzlich fremde Sprachen spricht. Es wird wirklich höchste Zeit, dass der Morgen kommt und ich aufwache.«
Der Morgen jedoch kam nie, und die Auswüchse von Christophers Traum sollten für lange Zeit immer dunkler und beunruhigender werden, und der Strudel an Ereignissen, in den sie ihn rissen, weigerte sich standhaft dagegen, durch das Licht eines Sonnenstrahls in seinem Zimmer zu verblassen.
Im Gegenteil: Der Traum, der keiner war, wurde wilder und wilder.
Nach einer schier endlosen Zeit des Aufstiegs gaben die riesigen, schlingpflanzenbehangenen Bäume den Blick auf eine Hochebene frei, und ein hellgrüner Ozean aus Reisfeldern erstreckte sich vor ihren Blicken. In der Ferne lagen die braunen Dächer eines Dorfes. Ein Windhauch strich über die Reispflanzen, und als sich die Halme unter seinen sachten Fingern bogen, war es, als kräusle sich eine ungewöhnlich grüne Meeresoberfläche. Christopher blieb stehen und lauschte. Da war das Rieseln von Wasser, und dann war da noch ein Geräusch in der Luft – war das der Wind in den Zweigen des Urwaldes?
Jumar sah ihn lauschen. »Was du hörst, ist die Bewässerung der Felder«, sagte er. »Der Reis steht im Wasser, und das Wasser läuft in Rinnen von einem Feld zum nächsten. Ich habe das System in einer meiner Unterrichtsstunden gelernt –«
Christopher legte den Finger an die Lippen. »Das ist es nicht«, flüsterte er. »Hörst du jenes andere Geräusch? Über uns, in der Luft?«
»Der Wind«, sagte Jumar gleichgültig, und seine Stimme wanderte an Christopher vorbei, aus dem Wald hinaus auf die Reisfelder. »Oder die Zikaden. Du machst dir zu viele Gedanken. Komm! Da vorne ist ein Dorf, und vielleicht finden wir dort etwas Essbares. Ich bin am Verhungern.«
Christopher zögerte. Das Geräusch in der Luft war jetzt näher herangekommen. Es war wie ein winziges Zischeln, ein leises Rascheln, ein beunruhigendes Knistern, das sich heimlich heranschlich. Im Grün der Reisfelder sah er die bunten Tupfen einzelner Arbeiter, und auch sie richteten sich jetzt auf, um zu lauschen. Da war ein Zischen und Flattern in der Luft, als näherte sich ein Schwarm Vögel, ein riesiger Schwarm Vögel, Hunderte, Tausende –
Der Wind war stärker geworden und die vielen winzigen Stimmen des Waldes verstummt.
Christopher sah auf. War dort nicht etwas wie ein Umriss hoch oben über den Wipfeln der Bäume zu erahnen, in dessen Schatten er stand? Bewegte sich da nicht eine große Gestalt über ihn hinweg?
Sekunden später sah er, wie die Menschen auf den Feldern begannen zu laufen. Sie rannten die schmalen Pfade zwischen den Reisfeldern entlang auf das Dorf zu, das Christopher in der Ferne entdeckt hatte: stolperten, fielen und rappelten sich wieder auf, und als eine der Frauen in einer roten Bluse sich umdrehte, da glaubte er, das Entsetzen auf ihrem Gesicht zu sehen wie eine Maske: furchterregend und verzerrt.
Irgendwo in seinem Inneren schloss sich eine kalte Faust um seine Eingeweide.
»Jumar!«, rief Christopher. »Wo bist du? Komm zurück!«
Aber er wartete nicht auf die Antwort. Er sprintete los, voran auf dem Pfad, der aus dem Wald hinausführte, stieß gegen einen unsichtbaren Körper und riss ihn zurück in den Schutz des Waldes. Schutz wovor?
Keuchend stand er zwischen den Blätterarmen des Unterholzes und starrte mit Jumar zusammen auf die grüne Fläche der Felder hinaus, bis seine Augen brannten. In seinem Herzen aber brannte die Angst, die Angst vor dem Unbekannten.
Und dann sahen sie den Schatten auf der grünen Oberfläche der Felder. Er bewegte sich darüber hinweg wie ein riesenhafter Fisch, und es war, als erzitterten die Halme unter seiner Berührung. Christopher hob seinen Blick zum blauen Himmel, doch der Himmel war nicht länger blau. Etwas bedeckte ihn – zuerst glich es einer bunten Wolke, aber die Wolke besaß eine Form. Sie besaß einen Kopf und zwei riesige Schwingen, sie besaß Klauen und einen peitschenden Schweif, und nun schien sie dichter als zuvor: Es war ein Drache.
Ein Drache wie die, von denen Jumar gesprochen hatte.
Ein Drache, der sich mit bunten Flügeln von den Gipfeln herabgeschwungen hatte.
Ein Drache, der gekommen war, um zu vernichten.
Er wand sich schillernd durch den Wind, beschrieb einen Bogen über den Feldern und riss mit riesigen, blitzenden Krallen an der Luft, als wollte er sie zerfetzen.
»Also gibt es sie doch«, wisperte Jumar.
Christopher nickte. Es gab sie, die Drachen, und hier, nur wenige Meter entfernt von ihnen, entblößte einer von ihnen seine volle, farbige Pracht.
»Wie schön er ist«, flüsterte Christopher voller Überraschung. »Wie wunderschön!«
Denn in den Menschen wohnt, verborgen in der Tiefe, die Überzeugung, alles Böse wäre hässlich und alles Gute schön, und es wird wohl nie jemand herausfinden, warum es so ist.
Der Drache fegte einmal über die Hochebene hinweg und ließ sich dann darauf nieder, um seinen schlanken Kopf auf dem grazilen Hals in den Reis hinabzuneigen, als wollte er auf einer überdimensionierten Wiese grasen.
»Was – was tut er?«, fragte Christopher.
»Er frisst die Farben«, antwortete Jumar flüsternd. »Sieh nur!«
Und Jumar hatte recht: Als sich der schillernde Drache langsam über die Felder vorwärtsbewegte, hinterließ er eine Spur schwarz-weißer Fläche. Es war, als verwandelte sich alles, was er berührte, in den Ausschnitt einer zweitklassigen Zeitung, gedruckt auf billiges, grobes Papier: Das leuchtende Hellgrün der Halme machte einem schmutzigen Hellgrau Platz, und das hölzerne Braun der nassen Bewässerungsrohre, in denen sich zuvor hier und da regenbogenfarbenes Sonnenlicht gespiegelt hatte, wich einem stumpfen Schwarz.
»Wo sind die Menschen?«, fragte Christopher. »All die Menschen, die auf den Reisfeldern waren?«
Sosehr er seine Augen auch anstrengte, er konnte nirgendwo die rote Bluse der Frau entdecken, die er hatte davonlaufen sehen, und auch von den anderen Arbeitern war keine Spur mehr auf den Feldern auszumachen.
»Vielleicht haben sie ihr Dorf rechtzeitig erreicht«, wisperte Ju-mar. Alles in Christopher drängte darauf, ihm zu glauben, doch er wusste, dass Jumar unrecht hatte. Auch mit den Menschen war etwas geschehen.
Aber was?
»Das ist noch nicht alles –«, hatte der alte Tapa zu Jumar gesagt, oder so hatte Jumar es zumindest erzählt. Es gab noch etwas, das man über die Drachen wissen musste, etwas außer der Tatsache, dass sie die Farben fraßen. Etwas, das womöglich die Menschen betraf.
Der Drache ließ sich Zeit. Ab und an hob er den Kopf, pendelte ihn auf seinem langen Hals hin und her und beäugte seine Umgebung – und seine Augen waren beinahe das Beunruhigendste an ihm. Sie waren nicht da. Dort, wo er Augäpfel hätte haben sollen, Pupille und Iris, war nichts in seinem Kopf als dunkle Löcher. Alles an ihm war bunt und schön, bis auf diese Augen – oder die Stellen, an denen sie hätten sein sollen. Und dennoch schien er hervorragend zu sehen. Es war, als hätten seine Augen keinen Grund, als wären sie endlos, bodenlos, und alles, was er damit ansah, müsste in ihnen verschwinden.
Ein Sog ging von ihnen aus – als Christopher von ferne diese Augen sah, kam es ihm vor, als stünde er an einem Abgrund, der ihn zu verschlingen drohte. Er suchte nach Jumars Hand.
»Glaubst du«, wisperte er, »er sieht uns?«
»Ich weiß nicht«, wisperte Jumar zurück.
Christopher machte einen Schritt nach hinten, tiefer in den Schutz des Urwaldes. Dann noch einen Schritt – und beim dritten Schritt trat er auf einen trockenen Ast, der mit einem leisen Knacken zerbrach. Hätten die Vögel gesungen wie sonst – die vielen, Abertausend Vögel mit ihren Abertausend Melodien –, hätten die Blätter gerauscht – die vielen, Abertausend Sorten von Blättern –, hätten die winzigen Bewohner des Waldbodens geraschelt wie sonst –, dann hätte niemand das Knacken auch nur wahrgenommen. Aber der Wald schwieg. Die Vögel waren verstummt, kein einziger sang mehr, die Blätter rauschten nicht, und die winzigen Waldbewohner saßen still in ihren Verstecken. Eine tödliche Stille hatte sich über den immergrünen Wald gesenkt.
Und in dieser Stille hallte das Knacken des winzigen, trockenen Astes wie ein ohrenbetäubender Gongschlag. Christopher erstarrte, und er spürte die Angst an Jumars Hand in der seinen. Der Drache hob den Kopf.
Er schwenkte seinen Hals einmal im Halbkreis und fixierte suchend den Waldrand. Christopher wagte nicht zu atmen. Er sah die leeren, schwarzen Augen des Drachen durchs Geäst wandern wie Suchscheinwerfer, wenngleich sie kein Licht ausstrahlten, sondern es einzusaugen schienen. Nach einer unendlichen Zeit des Beobachtens und Lauschens setzte der Drache sich in Bewegung. Seine Schritte waren von so vollendeter Eleganz, wie sein Flug in der Luft es gewesen war. Es war, als würde er durch die schwankenden Halme hindurchfließen, anmutig, beinahe schwerelos. Er knickte kaum eine Reispflanze mit seinen makellosen, schillernden Schuppen-Pranken. Und jene makellosen Pranken mit den makellosen Krallen trugen den Drachen auf den Waldrand zu. In Christophers Kopf gab es zwei Gedanken: weglaufen. Bleiben. Weglaufen. Bleiben.
Weglaufen wäre laut. Bleiben wäre leise. Weglaufen wäre aktiv. Bleiben passiv. Weglaufen wäre ein Versuch – ein sinnloser. Bleiben wäre sinnlos, ohne etwas versucht zu haben. Er fühlte, wie Jumar an seiner Hand zog. Sollte er –
Da blieb der Drache stehen, genau vor dem Waldrand.
Und es war Christopher, als sähe er ihn an.
Vielleicht konnten seine leeren Augen durch die seinen hindurchsehen. Vielleicht konnten sie in ihn hineinsehen, bis auf den Grund seiner Gedanken. Vielleicht konnten sie seine Angst als hellen, pulsenden Umriss dort erkennen. Vielleicht konnten sie sein Herz schlagen sehen und beobachten, wie es das Blut in hektischen Stößen durch seine Adern pumpte – vielleicht konnten sie den Tod dort ausmachen, als schimmernde Möglichkeit der nächsten Sekunden.
Christophers Mund war trocken, und seine Kehle brannte. Er wollte sich abwenden vom Blick des Drachen, wollte die Augen schließen – doch er konnte nicht. Die schwarze Leere hatte sich an ihm festgesaugt.
Nach einer Ewigkeit neigte der Drache den Kopf wie zu einem Nicken – einem Gruß –, aber wahrscheinlich war es nur eine unwillkürliche Bewegung des langen, wippenden Halses. Dann drehte er sich abrupt um und senkte sein Drachengebiss wieder ins verbleibende Grün des Reisfeldes, um weiter seine Farbe zu fressen.
Erst als Jumars Griff sich löste, merkte Christopher, wie fest er seine Hand umklammert hatte. Die Angst strömte langsam aus jeder Pore seines Körpers und hinterließ ein kribbelndes Gefühl der Abwesenheit. Er hätte sich gerne auf einen Stuhl fallen lassen, aber es war kein Stuhl da – und überhaupt war es besser, noch ein Weilchen reglos stehen zu bleiben.
Und so blieben sie stehen, lange, lange Zeit verharrten sie im schattigen Schutz der riesigen Urwaldblätter: zwei verschüchterte kleine Tiere, die sich nicht mehr aus ihrem Unterschlupf herauswagen. Christopher spürte Jumars Körper dicht an den seinen gedrängt, und er wusste nicht, wer von ihnen für das Zittern verantwortlich war.
Schließlich entfaltete der Drache seine Schwingen mit einem Knistern wie von Millionen winziger Blätter von Seidenpapier, warf mit seinen abgründigen Schwarzaugen einen letzten Blick in die Runde und faltete dann den langen Hals wie ein Reiher. Er war jetzt grüner als zuvor.
Die Klauen, die sich vom Boden abstießen, hinterließen keine Spuren dort. Christopher sah zu, wie der Drache in den blauen Himmel aufstieg, sich höher und höher hinaufschraubte und dabei wieder auf eine unerklärliche Weise an Dichte zu verlieren schien.
Schließlich war er nur noch ein winziger grüner Punkt im Licht des Nachmittags, grün wie die Reisfelder, deren Farbe er gefressen hatte – und dieser Punkt entfernte sich nach Nordosten: dorthin, wo die höchsten Gipfel des Himalaja lagen, deren schnee- und eisbedeckte Spitzen in unerahnbarer Ferne warteten.
Die Gipfel warteten auf die Rückkehr des Drachen, und sie warteten noch auf etwas anderes, aber das war nur wieder eines dieser Gerüchte.
Sie gingen den Pfad zwischen den Feldern schweigend entlang.
Hinter ihnen lag der Urwald – immergrün und noch immer grün. Vielleicht würde der Drache seine Farben das nächste Mal fressen. Denn vor ihnen gab es keine Farben mehr. Die Felder starrten ihnen als schmutzig weiße Fläche entgegen, und in der Ferne reckte das Dorf mattschwarze Dächer in die Höhe. Nur dem Blau des Himmels schien der Drache nichts anhaben zu können. Es war zu weit weg.
Ein paar Mal wäre Christopher beinahe ausgerutscht und in das Wasser zwischen den Halmen gefallen, doch er fing sich jedes Mal gerade noch. Das Wasser zwischen den Halmen war von einem blassen, durchsichtigen Grau – wie das Wasser, in dem man einen Pinsel zu oft von zu vielen verschiedenen Farben gesäubert hat. Christopher vermied es, daran zu denken, was geschah, wenn man in dieses Wasser fiel.
Vermutlich nichts. Aber man konnte es nicht wissen.
Die Reispflanzen standen regungslos und stumm wie eine bloße Erinnerung ihrer selbst, und der schwarze Schlamm, der sich schmatzend an Christophers Turnschuhen festsog, wirkte matt und tot. In der Luft lag ein Gefühl unerklärlicher Trostlosigkeit, als vermisste die Welt ihre Farben. Christopher sah an sich hinab. Er trug ein rotes T-Shirt mit Red Hot Chili Peppers-Logo und blaue Jeans, und an diesem Nachmittag erschien ihm seine Kleidung das Schönste und Beruhigendste, was er je gesehen hatte.
Beinahe zärtlich strich er über den ausgeblichenen T-Shirt-Stoff – und in diesem Moment stolperte er über etwas. Er fluchte leise, obgleich er nicht gut war im Fluchen (Arne war besser gewesen), taumelte und hielt sich an Jumar fest, und gleich darauf lagen sie beide bäuchlings im grauen Wasser. Das Wasser hätte erfrischend kalt sein müssen in der heißen, stickigen Luft, doch es schien auch seine Temperatur verloren zu haben. Es war weder kalt noch warm. Es war gar nichts. Es fühlte sich nass an, aber nicht einmal besonders nass.
Als Christopher sich aufrappelte, hatte er Angst, auch sein T-Shirt hätte nun seine Farben verloren, aber bis auf einige graue Schlammreste, die daran klebten, war es rot wie zuvor.
Er blickte sich um – und in diesem Moment packte ihn die Einsamkeit wie eine Faust, die alles Leben aus ihm presste. Hier saß er, allein inmitten einer schwarz-weißen Landschaft ohne Freude und ohne Leben, und der einzige Farbfleck in dieser Einöde war er selbst.
Es gab keinen Weg, auf dem er in sein altes Leben zurückkehren konnte: in sein Zimmer voller bunter Poster und Tapeten, in dem das goldene Oktoberlicht in Pfützen auf dem Fußboden lag. Er war gekommen, um Arne zu finden, aber konnte er ihn finden?
War es möglich? War er nicht zu klein, zu jung, zu schwach und zu ängstlich dafür?
»He, Christopher«, sagte da eine Stimme neben ihm. »Was ist los? Träumst du?«
Christopher lächelte. »Ich fürchte, nein«, sagte er. »Und ich habe es eben erst eingesehen.«
Aber die Wärme kehrte langsam zurück in sein Herz, denn er war nicht allein, auch wenn es so schien. Hier, neben ihm, saß jemand im grauen Wasser, der genauso jung und genauso groß war wie er und genauso wenig Ahnung davon hatte, wie die Dinge weitergehen sollten.
»Sieh nur, über was du gestolpert bist!«, sagte Jumar.
»Hältst du es zufällig in der Hand?«
»Ja – und?«
Christopher seufzte. »In diesem Fall müsstest du es loslassen, damit ich es sehen kann.«
»Oh.«
Jumar ließ los, und Christopher erschrak, denn für einen Moment dachte er, da läge noch jemand neben ihm im Wasser. Dann sah er, dass dies kein Mensch war, sondern eine Figur aus toter Bronze. Sie musste zuvor auf dem Weg gelegen haben und mit ihnen ins Wasser gestürzt sein. Christopher betrachtete sie stirnrunzelnd.
»Was«, sagte er langsam, »tut eine Bronzestatue auf einem Pfad mitten durch die Reisfelder irgendeiner Hochebene?«
»Keine Ahnung«, sagte Jumar, der in seinen vierzehn Jahren gelernt hatte, dass es nichts nützte, nur mit den Schultern zu zucken.
Christopher drehte die Figur ein wenig. Sie war nicht so schwer, wie er gedacht hatte – offenbar war sie innen hohl.
Es war die Figur einer Frau, aber etwas daran stimmte nicht. Die Bronzestatue trug einen einfachen Rock und eine Bluse, sie hatte weder ein besonders ebenmäßiges Gesicht noch einen besonders anmutigen Körperbau – sie war zu real. Christopher hievte die Figur auf den Weg hinauf und richtete sie auf. Die Frau war kniend dargestellt, das Gesicht zum Himmel erhoben, einen Arm über dem Kopf. Es war weder ein Gebet noch eine anderweitig sinnvolle Geste: eine seltsame Position, um irgend-jemanden darzustellen.
Und dann begriff er, dass sie überhaupt nicht dargestellt worden war.
»Jumar«, sagte er mit einem kalten Unbehagen in der Stimme. »Hast du diese Frau gesehen, die fortlief und sich noch einmal umdrehte? Die mit der roten Bluse?«
»Leider nicht. Ich war zu beschäftigt damit, von dir ins Dickicht gezerrt zu werden.«
»Und du kannst von Glück sagen, dass ich das getan habe«, murmelte Christopher langsam. »Komm mit. Ich habe so eine Ahnung.«
Sie kletterten aus dem temperaturlosen Wasser des Reisfeldes zurück auf den Weg und waren kaum hundert Meter gegangen, als eine weitere deplatzierte Bronzestatue ihn versperrte. Diesmal war es ein Mann. Er lag flach auf dem Boden, die Arme über dem Kopf, als wollte er sich vor etwas schützen. Es hatte ihm nichts genützt. Direkt vor ihm saß ein bronzenes Kind, als wäre es eben gefallen und versuchte nun, sich aufzurappeln. Doch es würde nie mehr auf zwei Beinen stehen.
Es war zu spät dafür.
»Sie sind verwandelt worden«, wisperte Jumar. »Sie alle sind verwandelt worden.«
Christopher nickte.
»Und nun sind sie hohl innen, hohl wie die ganze Landschaft.
Es ist nichts mehr von ihnen da, keine Seele, keine Wärme, nur noch eine äußere Hülle. Es ist wie mit dem Wasser, das keine Temperatur mehr hat.«
»Aber die Bronze ist nicht schwarz-weiß«, stellte Jumar fest. »Sie ist ganz eindeutig bronzefarben. Der Drache war nicht darauf aus, ihre Farben zu fressen.«
Wieder nickte Christopher, stumm. Es ist wie ein Symbol, wollte er sagen. Ein Symbol für die Menschen. Aber er schwieg. Vielleicht gab es irgendwo eine Erklärung. Irgendwo dort oben in den Berggipfeln, von wo die Drachen kamen.
Sie stiegen über die beiden am Boden liegenden Bronzestatuen hinweg und wanderten schweigend auf das Dorf zu. Vielleicht gab es dort eine Antwort. Später sagten die Leute, an dem Tag, da der Drache kam, hätten sie auf dem einzigen Pfad die Spuren von zwei Paar Schuhen gesehen, wo nur ein Fremder gegangen war.
Das Braun der Hütten begrüßte die beiden Wanderer mit einem freundlichen Gesicht, und das Gelb-Rot-Grün-Blau der Gebetsflaggen auf den Dächern der Häuser strahlte sie an wie ein Willkommensgruß.
Christopher atmete auf und warf einen Blick zurück. In der Ferne winkte der Wald mit dunkelgrünen Blättern. Ihn hatte der Drache verschont. Dieses Mal.
»Ich will nie, nie wieder durch solch fürchterliche, schwarzweiße Felder wandern«, sagte er leise. Denn er ahnte nicht, wie viele solcher Felder, wie viele Urwälder und Berghänge ohne Farbe noch vor ihnen lagen.
Das Dorf wirkte wie ausgestorben, und zuerst befürchtete Christopher, alle seine Bewohner wären auf den Reisfeldern gewesen. Doch dann sah er, wie ein paar Kinder um eine Ecke spähten, und irgendwo hinter einem Fenster bewegte es sich:
Noch hatten die Menschen Angst davor, dass der Drache zurückkam.
Mitten im Dorf gab es ein Haus, dessen Türen und Fenster in einem leuchtenden Blau angestrichen waren, und auf die weiße Wand gepinselt prangten die Buchstaben:
Elect Try City here.
Davor saß ein riesiges weißes Huhn und sah sehr zufrieden mit sich aus – gerade so, als hätte es die Worte eben selbst an die Wand geschrieben.
»Wählen Sie hier eine Versuchsstadt«, übersetzte Jumar, der Englisch bei einem echten englischen Lehrer gehabt hatte, ehe der Lehrer vor Kurzem beschlossen hatte, dass es besser sein könnte, den Palast und das Land zu verlassen.
»Ich glaube, sie wollten uns mitteilen: Es gibt hier Elektrizität«, sagte Christopher.
»Hm. Das kann auch sein.«
Unter Elect Try City here stand hot sour 24 howers, und Jumar merkte an, dass sie heißes Saures verkauften, es aber auch sein könnte, dass sie eine Dusche meinten.
Und erst da begriff Christopher: Offenbar war der Weg, auf dem sie gekommen waren, Teil der Touristenroute. Vielleicht war Arne hier gewesen. Er wischte die plötzlich schweißnassen Hände an seinen Jeans ab und sah sich um. Vielleicht war Arne durch diese Tür gegangen. Vielleicht hatte er in diesem Haus übernachtet.
»Lass uns fragen«, sagte er, »ob wir hier schlafen können. Es ... es wird schon dunkel, und es ist sicher besser, heute nicht mehr weiterzugehen ...«
»Von mir aus«, sagte Jumar.
In diesem Moment öffnete sich die Gartentür des grellblauen Gartenzauns, und hinter einer Hecke aus hohen Blumenstauden spähte eine Frau hervor, die ein Kind auf dem Arm trug.
»Sprichst du immer mit dir selbst?«, fragte sie.
»Oh, bisweilen«, antwortete Jumar, und Christopher sagte: »Selten«, und die Frau lächelte ihn unsicher an.
»Was denn nun?«
»Ich suche ein Zimmer für die Nacht«, erklärte Jumar, und Christopher begriff zu spät, dass er besser daran tat, den Mund zu bewegen, wenn sein unsichtbarer Begleiter es sich in den Kopf gesetzt hatte, etwas zu sagen.
»Oh, freie Zimmer habe ich genügend«, antwortete die Frau und lachte. »Ich habe nur freie Zimmer. Es sind schon seit Langem immer weniger Touristen geworden, und seit ein paar Wochen kommen gar keine mehr. Man kann sich an einem Finger ausrechnen, weshalb. Also komm herein. Es ist nicht teuer.«
»Haben wir überhaupt Geld?«, fragte Christopher flüsternd, während die Frau voran durch den Garten ging und dann eine wackelige, hölzerne Außentreppe hinaufstieg.
»Keine Sorge«, flüsterte Jumar. Die Frau drehte sich um, runzelte die Stirn, sagte aber nichts, und Christopher räusperte sich ausführlich, so als hätte er das die ganze Zeit über getan, statt zu flüstern.
»Die – äh – Bergluft«, sagte er. »Mein Hals.«
Oben blieb die Frau auf einer Galerie stehen, an der Christopher sieben Zimmer zählte.
Die Frau öffnete die Tür zum ersten, dessen Inventar aus zwei Betten und einem Fenster bestand. Er sah hinaus, und da lagen zu seinen Füßen vor dem Dorf die farblosen Felder, als wollten sie ihm nicht erlauben, sie auch nur für einen Moment zu vergessen.
»Hast du den Drachen gesehen?«, fragte die Frau leise.
Christopher nickte, und Jumar sagte: »Nein" und dann versuchte Christopher, ihn zu treten, aber er stieß sich nur den Fuß an der Bettkante. Die Frau bedachte ihn mit einem seltsamen Blick.
»Es war das erste Mal, dass einer von ihnen hierhergekommen ist«, sagte sie. »Sie wagen sich weiter und weiter von ihren Gipfeln herunter. Ich habe ihn beobachtet, von hier oben aus. Er war schön, aber er hatte diese schrecklichen Augen – Augen, die alles zu verschlingen schienen, so dunkel und tief. Und der Reis, dessen Farbe er gefressen hat, wird niemanden satt machen, das kann man von überall hören. Es geht nicht gut mit diesem Land, es geht nicht gut. Es werden noch schrecklichere Dinge geschehen, ich habe so etwas im Blut.«
Das Kind auf ihrem Arm war aufgewacht und begann zu quengeln.
»Ja, du«, sagte die Frau zu ihm. »Du weißt noch nichts von den Dingen da draußen, was? Du hast es gut. Sie sagen, auf wen der Schatten der Drachen fällt, der wird zu Stein. Weißt du etwas darüber? Ist es wahr?«
»Nein«, sagten Jumar und Christopher gleichzeitig. Und Christopher spürte, wie sich etwas in ihm zu einem Klumpen zusammenzog. Der Schatten der Drachen.
Was wäre geschehen, wenn er den unsichtbaren Thronfolger nicht zurück ins Dunkel des Waldes gezogen hätte? Dann stünde Nepal, dachte er, nun wohl ohne einen Thronfolger da und mit nichts als einer hohlen Bronzestatue, unsichtbar oder nicht.
»Eine Frau, zwei Dörfer weiter, die ist verwandelt worden. Sie hatte den schönsten Garten weit und breit, und eines Tages kam ein blauer Drache, um seine Farben zu fressen. Das war einer der ersten, die von den Bergen herunterkamen und in der Gegend gesehen wurden. Sie war dabei, die Ranken hochzubinden, da fiel der Schatten des Drachen auf sie, so erzählt man es. Vierzig Tage und vierzig Nächte lang war sie aus hohler Bronze, ohne Herz und ohne Seele. Sie haben die Statue auf die Felder hinausgebracht, weil sie ihnen unheimlich war. Dann ist der Drache wiedergekommen, um dort vor dem Dorf das Gelb der Maiskolben zu verschlingen. Und die Kinder wollen von Weitem gesehen haben, wie sein Flügel sie im Vorbeifliegen streifte. Als der Drache fort war, stand die Frau auf und ging ins Dorf zurück, zu ihrem farblosen Garten. Es heißt, die Berührung des Drachen hat sie zurückverwandelt. Seit jenem Tag, sagen sie, sitzt sie in ihrem schwarz-weißen Garten und spricht mit niemandem mehr.«
Die Frau seufzte. »Es gibt zu viele Gerüchte«, sagte sie, »und zu viele Lügen. Aber auch zu viel Wahrheit. Am gefährlichsten sind die Gerüchte, die einem Hoffnung machen, denn das sind jene, die einen mit der Enttäuschung der Wahrheit töten. Manche sagen, dass sich die Dinge bald ändern werden. Dass einer kommt, der sie ändert. Das ist so ein gefährliches Gerücht. Der König soll einen Sohn haben, von dem bisher niemand wusste. Ich frage dich: Wie kann das sein? Wie kann ein König einen Sohn haben, ohne dass das Volk davon weiß? Und selbst, wenn es wahr ist: Was soll er tun, jetzt, wo die Drachen selbst hierher kommen?«
Da fand Christopher Jumars Fuß endlich und trat sehr, sehr fest darauf, damit Jumar den Mund hielt.
Als die Sonne über den Blüten des Gartens unterging, saßen sie zusammen mit der Frau und ihren drei Kindern auf dem Boden in der Küche und aßen von großen Tellern Dhal Bhat. Christopher hatte gelesen, dass Dhal Bhat Reis mit Linsen war, aber nirgendwo hatte gestanden, wie es schmeckte, und das war ein Glück. Er war froh, dass Jumar neben ihm auf dem verblichenen Teppich saß, denn Jumar war wirklich hungrig, und so verschwand der Berg Reis nach und nach.
Jumar erledigte auch das Reden. Vielleicht, dachte Christopher, wäre es gut, einen wie ihn in der Schule dabeizuhaben: jemanden, der einspringen konnte, wenn er mal wieder nicht wusste, was er sagen sollte, und dessen unsichtbare Hände halfen. Andererseits wäre der Basketball zum Beispiel unsichtbar gewesen, wenn Jumar ihn berührt hätte, und das hätte sicher für Verwirrung gesorgt.
»Das Gerücht, das Ihr über den Prinzen gehört habt, ist wahr«, sagte Jumar, als er die erste Portion Dhal Bhat verdrückt hatte. »Er ist hier.«
»Hier?« Die kleine Frau sah sich um. »Wie meinst du das?«
»Genauso, wie ich es gesagt habe«, erklärte Jumar, und Christopher stellte sich vor, wie er mit einem Lächeln auf den unsichtbaren Zügen das verblüffte Gesicht der Frau beobachtete.
»Willst du damit sagen ...« Sie musterte Christopher von oben bis unten – das verblichene Red Hot Chili Peppers-T-Shirt, die Jeans, die Turnschuhe –, und dann warf sie den Kopf zurück und lachte und lachte, bis ihr die Tränen kamen. Christopher hätte beinahe mitgelacht.
»Ihr glaubt mir nicht«, sagte Jumar beleidigt.
»Nun, es fällt schwer«, gab die Frau zu. »Du bist ein netter Junge, und ich hoffe, du kannst für das Zimmer etwas bezahlen, und ich weiß nicht, was dich herführt. Aber du bist sicher nicht der Kronprinz, der dieses Land retten wird.«
»Seine Arme sind viel zu dünn«, krähte das kleine Mädchen, das Christopher gegenübersaß, verschluckte sich beim Kichern an ihrem Reis und prustete ihn quer über den Tisch.
»Der Prinz trägt sicher feine Kleider«, sagte ihr Bruder ernst.
»Ich kann es beweisen«, erklärte Jumar, und Christopher wurde etwas mulmig zumute, während er sich bemühte, seine Lippen zu Jumars Worten zu bewegen. Jeder Taubstumme hätte den Betrug längst bemerkt.
Kurz darauf spürte er zu seiner Überraschung, wie eine Hand die seine nahm und in die Luft emporführte, seine Finger auseinanderbog, sodass er der Frau seine Handfläche zeigte, als wollte er sie segnen – was hatte Jumar vor?
Er ließ Christopher los, der seine Hand gehorsam emporhielt, und gleich darauf erschien davor in der Luft ein goldener Ring. Christopher starrte ihn genauso verblüfft an wie die Frau. Der Ring trug ein Siegel, er war groß und schwer und reichlich protzig, und ein Stimmchen in Christophers Hinterkopf schrie laut das Wort MODESCHMUCK, aber dieser Ring war trotz seiner Geschmacklosigkeit echt. Oder zumindest glaubte Christopher das.
»Er trägt das Wappen des Königs«, hörte er Jumar sagen und vergaß, seine Lippen zu bewegen. »Und es gibt ihn nur ein einziges Mal.«
Wie stellte Jumar es an, den Ring so in der Luft hängen zu lassen? Weshalb war er sichtbar, obwohl er ihn ganz offensichtlich festhielt?
Der Ring schwebte in einem sanften Bogen auf den Tisch nieder, und dort blieb er liegen.
Zögerlich streckte die Frau ihre Hand aus, um ihn zu berühren – als fürchtete sie, das Metall könnte glühend heiß sein. Schließlich strich sie mit der Fingerkuppe darüber, sah auf und lächelte.
»Das ist verrückt«, sagte sie. »Das ist absolut verrückt. Du bist –Ihr seid es wirklich. Da sitze ich in meiner eigenen Küche mit dem Sohn des Königs!«
»Bist du wirklich der Sohn des Königs?«, fragte das kleine Mädchen und starrte Christopher mit offenem Mund an.
Nein, dachte Christopher. Ich bin gar niemand. Ich bin der Körper, den der Sohn des Königs sich leiht, um mit euch zu sprechen. Und seine Lippen sagten mit Jumars Stimme: »Ja. Der bin ich.«
»Wir hatten hier schon viele Leute«, sagte der Junge, der etwas älter war als das Mädchen. Er sprach mit großem Ernst. »Wir hatten einen englischen Mann, der die Sterne erforschte, und einen Arzt, der sich sein ganzes Leben nur mit dem Knie beschäftigte. Wir hatten auch einen Mann mit blondem Haar, der behauptete, seine Großmutter wäre aus Nepal gewesen. Aber einen Königssohn hatten wir noch nie.«
Christopher verschluckte sich beinahe an der Abendluft.
»Woher kam der blonde Mann?«, fragte er mit seiner eigenen Stimme, und sie klang klein und schüchtern und kein bisschen so wie die von Jumar, der von allem, was er tat, 200-prozentig überzeugt zu sein schien. Aber das Glänzen des goldenen Ringes auf dem Tisch verstopfte die Ohren der Menschen, die ihn ansahen, wie dicke Watte – und so bemerkte keiner von ihnen etwas.
»Er kam aus dem Land, wo sie die Weltmeisterschaft hatten«, erklärte der kleine Junge eifrig. »Und er hat mit mir Fußball gespielt, im Garten zwischen den Blumen.«
Die Frau lächelte. »Das war ein netter Mann, der Deutsche. Er war noch jung. Der letzte Tourist, der hier schlief.«
»Wann war er hier und wo – wohin war er unterwegs?«, fragte Christopher rasch. Er spürte, dass Jumar auch etwas sagen wollte, aber er ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Oh, das ist schon eine Weile her. Er wanderte die gewöhnliche Runde«, antwortete die Frau. »Die, die alle gehen, zum Poon Hill, wo sie die aufgehende Sonne fotografieren und von wo aus man alle Berge des Annapurnamassivs sehen kann, wenn es nicht bewölkt ist.« Sie lächelte. »Überflüssig zu sagen, dass es immer bewölkt ist. Danach wollte er wohl zurück ins Tal. Aber jetzt geht keiner mehr dorthin, keiner fotografiert vom Poon Hill aus die Wolken, und keiner steigt den Weg von hier hinauf – kein Tourist. Wir haben dem blonden Mann aus Deutschland gesagt, er sollte es nicht tun. Sie wären dort. Aber er sagte, das wüsste er schon und dass er sie schließlich nur zu bezahlen bräuchte, wie alle das vor ihm getan hatten. Er wollte nicht hören, dass die Dinge jetzt anders sind. Dass etwas beginnt. Dass etwas endet. Dass sie sich bereit machen.«
Sie flüsterte jetzt und warf einen Blick hinter sich, als könnte jemand sich in den Raum geschlichen haben – jemand, der ihre Worte nicht hören sollte.
»Oben, bei Tatopani, wo die heißen Quellen fließen, dort, heißt es, sieht man sie häufiger als irgendwo sonst. Irgendwo dort müssen sie eines ihrer Lager haben. Der Sohn der Nachbarin ist zu ihnen gegangen. Sein Name ist Shiva, und er ist ein guter Junge. Wenn alles sich ändert... wenn der König wieder stark ist... was wird mit denen geschehen, die in den Bergen sind?«
»Den Mao-«, begann Jumar, doch die Frau legte ihren Finger auf die Lippen.
»Scht, scht. Manche Worte dürfen nicht laut ausgesprochen werden. Vielleicht später, wenn alles sich geändert hat. Ich mag sie nicht, denn sie machen mir Angst mit ihren lauten Reden und ihren Waffen. Aber einer wie Shiva, wird man so einen laufen lassen?«
»Macht Euch keine Sorgen«, sagte Jumar. »Ihr habt den Ring gesehen. Ich bin der Sohn des Königs, und ich werde dafür sorgen, dass alles einen guten Ausgang hat. Eurem Shiva wird nichts geschehen.«
»Dann ist es gut«, sagte die Frau. »Und nun müsst Ihr schlafen, denn wer die Welt ändern will, auch wenn es der Sohn eines Königs ist, der Kräfte besitzt, die ich nicht verstehe – wer die Welt ändern will, braucht Schlaf.«
Ihr Blick ruhte eine Weile auf Christophers T-Shirt, seinen abgewetzten Jeans, seinem schmächtigen Körper.
»Vergebt mir«, sagte sie, »wie anders habe ich mir Euch vorgestellt!«
Und Christopher seufzte, denn diesen Satz hatte er schon zu oft gehört.
Später, im Dunkel, als sie in ihren Betten lagen, fragte er Jumar nach dem Ring.
»Oh, es ist ganz einfach«, sagte Jumar vergnügt. »Ich streife ihn über den Handschuh, sodass ich ihn nicht direkt berühre. Dann sieht man ihn.«
»Wow«, sagte Christopher. »Nicht dumm.«
»Nein«, sagte Jumar. »Es gibt eine Menge Tricks.«
»Wenn wir die Ma – die Aufständischen finden, sage mir, was wirst du tun?«
»Wir werden sie nicht morgen finden. Die Berge sind weit und hoch. Ich werde eine Menge Zeit haben, darüber nachzudenken.«
Und Christopher dachte, wie merkwürdig es doch war mit diesem unsichtbaren Jungen an seiner Seite. Manchmal sprach er wie ein Kind und manchmal wie einer der weisen Männer, die man sich gemeinhin auf Teepackungen vorstellt. Was wusste Jumar von der Welt?
Wie stellte er sich vor, die Aufständischen zu besiegen?
Glaubte er wirklich, er könnte sie mit einem einfachen Zaubertrick beeindrucken, indem er einen Ring in der Luft erscheinen oder einen Gegenstand verschwinden ließ?
»Christopher«, fragte Jumar leise. »Deine Gedanken sind bei Arne, nicht wahr?«
»Hmmm«, machte Christopher.
»Wir finden ihn bald«, flüsterte Jumar, »bestimmt.«
»Hmmm«, machte Christopher.
»Christopher? Bist du böse, dass ich mir deinen Körper geliehen habe, für meine Stimme? Du bist doch nicht böse? Es ist –praktischer so.«
»Hmmm.«
»Christopher?«
»Hm?«
»Worüber denkst du nach?«
»Hmmm«, machte Christopher ein letztes Mal. »Ich denke, was für ein langer Tag es war.«
Denn er brachte es nicht übers Herz zu sagen, was er wirklich dachte: dass ihre Mission zum Scheitern verurteilt war. Dass sie umkehren sollten. Aber Jumar, das war ihm jetzt schon klar, Ju-mar war keiner, der umkehrte. Genauso wenig wie Arne.
Und Arne war verschwunden.
Und deshalb konnte er, Christopher, ebenfalls nicht umkehren. Dieses Mal nicht.
Die Dunkelheit glich jetzt einem Mantel, der sie beide einhüllte. Draußen sangen noch immer die Zikaden, vielleicht waren sie in Schichten eingeteilt, und dicke Wolken bedeckten den Himmel. Christopher zog die Decke enger um sich. Wie kalt es geworden war, jetzt, in der Nacht! Ob Arne in ebendiesem Bett gelegen hatte und ebendiese Kälte gespürt hatte? Und wo war er jetzt?
Fror er? War er hungrig? Verletzt? Ging es ihm gut? War er –aber diesen Gedanken verbot sich Christopher.
Von der anderen Seite des Raumes hörte er Jumars gleichmäßigen Atem aus einem Bett, das unsichtbar geworden war. Christopher aber fand keinen Schlaf. Er hatte Angst, von den bodenlosen Augen des Drachen zu träumen. Früher hatte er auch oft Angst gehabt einzuschlafen.
In diesen Nächten war er in Arnes Zimmer getappt und in sein Bett gekrochen, und Arne hatte einen Arm um seinen kleinen Bruder gelegt.
»Jetzt bist du so nahe bei mir«, hatte er geflüstert, »jetzt kannst du nur träumen, was ich träume. Ich werde träumen, wir wären zusammen am Strand ... und wir bauen die größte Sandburg aller Zeiten ...«
Und Christopher hatte ihm geglaubt, und alles war gut gewesen.
Und so sehr er Arne später an manchen Tagen dafür gehasst hatte, dass er so viel größer und stärker und besser in allem war als Christopher – der schlimmste Albtraum, der, den er immer wieder geträumt hatte, war stets derselbe gewesen: Er wachte auf und tappte den Flur entlang, öffnete die Tür zu Arnes Zimmer –und sah das weiße Licht des Mondes auf einem leeren Bett.
Dieser Traum war wahr geworden.