Niyas Rache
Sie ritten die ganze Nacht hindurch.
Der Schlaf glitt in Wellen über Christopher, unterbrochen von kurzen, unzusammenhängenden Träumen. Sein Zimmer kam darin vor, und die Gesichter seiner Eltern, doch er konnte keinen Sinn in ihrem Auftauchen und Verschwinden sehen.
Immer wieder schrak er hoch, orientierungslos in der Nacht, sah den dunklen Schatten der Reiterin mit dem wirren Haar vor sich und fiel zurück in die Nebel des Schlafs.
Manchmal dachte er im Traum daran, was er Niya geantwortet hatte. Meine Geschichte ist zu lang, um sie in einer Nacht wie dieser zu erzählen.
Und es war wahr.
Als er endgültig aufwachte, spielte die Sonne auf dem schweißglänzenden Fell ihres Pferdes.
Am Rande des Pfades, auf dem sie sich jetzt bewegten, wuchs graugrünes Fünfgeblätter, das Christopher als rauchbar und Jumar, amüsiert flüsternd, als Unkraut definierte.
Niya drehte den Kopf.
»Hast du etwas gesagt?«
»Ich? Nein.«
»Seltsam«, murmelte sie, und wenig später machten sie halt.
»Mein Pferd ist nie so langsam gegangen«, sagte Niya. »Es ist ein Wunder, dass wir überhaupt angekommen sind. Aber da sind wir.«
Christopher wich ihrem Blick aus. Das Pferd hatte die ganze Nacht über zwei Reiter getragen.
Vor ihnen erhob sich eine Handvoll Hütten aus dem Dunst des Morgens. Doch noch schienen die Menschen darin zu schlafen. Eine eigentümliche Stille lag über dem Ort.
Niya saß ab, und auch Christopher kletterte mühsam vom Rücken des Pferdes. Jeder einzelne Knochen in seinem Körper schien wehzutun, und bis jetzt war ihm nicht klar gewesen, wie viele Knochen er hatte.
Er hätte Jumar gerne etwas zugeflüstert, doch es war zu still ringsum. Sie hätte es bemerkt.
»Hier erfahren wir, wo die anderen sind«, sagte Niya. »Wir sind einen Umweg geritten, falls sie uns doch noch jemanden nachgeschickt haben. Die Soldaten. Aber ich habe keinen gesehen.«
Sie führten die Pferde am Zügel durch den kleinen Ort, und Christopher erwartete, Niya würde an irgendeine der Türen klopfen, wo ihre Männer eine Nachricht für sie hinterlassen hatten. Stattdessen tat sie etwas anderes.
Mitten im Dorf, mitten auf dem Sandweg, erhob sich eine schulterhohe Mauer, in der zu beiden Seiten je eine Reihe mes-singfarbener Gebetstrommeln glänzte: hutgroße Metallzylinder, geprägt mit großen, nepalesischen Buchstaben – ein Gebet auf jeder Trommel. Christopher hatte ein Foto von einer solchen Gebetsmauer in dem Bildband gesehen, und er hatte davon gelesen: In der Mitte lief ein Stab durch die hohlen Trommeln, manchmal umwickelt mit einer eng beschriebene Papierrolle, die ein längeres Gebet enthielt, aber in jedem Fall drehten sich die Trommeln um die Achse des Stabes. Man musste sich links von der Mauer halten, um mit der rechten Hand im Vorübergehen die Trommeln anzustoßen. Jede sich drehende Trommel zählte als ein Gebet – eine praktische und zeitsparende Version des Rosenkranzes.
Niya ging voran, ihre rechte Hand nach den Trommeln ausgestreckt, und im Morgenlicht sah Christopher, dass auf ihrem Handrücken eine breite Brandnarbe prangte.
Er beobachtete, wie sie die Trommeln drehte – om mani pad me hum, om mani pad me hum, sangen die Gebetstrommeln und verkündeten, dass sie den hinduistischen Teil des Landes hinter sich gelassen hatten. In diesen Höhen war es der bunten Götterschar unbehaglich. Buddha allein saß in gewohnter Gleichmütigkeit in seinen Tempeln auf den Gipfeln. Ihm, dachte Christopher, machte die Kargheit des Landes nichts aus ...
»Da!« Niya blieb in der Mitte der Gebetsmauer stehen. »Hörst du?«
Sie drehte eine der Trommeln noch einmal.
Christopher lauschte. Da war ein feines Knistern, ein winziges Rascheln – es wäre ihm niemals aufgefallen, wenn sie ihn nicht darauf aufmerksam gemacht hätte.
Niya fingerte einen Moment lang am oberen Ende der metallenen Gebetstrommel herum, dort, wo der Stab in einem Loch in der Trommel verschwand – und als sie ihre Hand zurückzog, hatte sie ein Stück dünnes Papier aus dem Widerlager befreit.
Sie entfaltete es, warf einen Blick darauf, nickte und zerriss das Papier.
»Komm«, sagte sie. »Es ist nicht mehr weit.«
Christopher verbiss sich ein Stöhnen. Jede Faser in seinem Körper sträubte sich dagegen, wieder auf das Pferd zu klettern. Aber Jumar zog ihn hoch, und wenig später verließen sie den Ort. Christopher blickte sich um. Noch immer war kein Laut zu hören, nirgends stieg der Rauch eines Feuers auf, nirgends war eine Bewegung zu sehen.
Niya folgte seinem Blick.
»Es ist niemand mehr dort«, sagte sie. »Die Hütten sind verlassen.«
»Verlassen? Weshalb?«
»Kartan«, antwortete Niya. Mehr nicht. Dann wandte sie ihren Blick stur geradeaus, und Christopher wagte nicht, weiter zu fragen. Eine halbe Stunde später führte der Weg sie über eine Anhöhe, und dahinter lag ein enges Tal mit steilen Wänden. Niya hielt ihr Pferd an und atmete tief durch. »Wir hätten ihre Nachricht kaum gebraucht«, sagte sie mit einem Lächeln und streckte den Arm aus. »Dort, und dort – und dort! Siehst du?«
Das Tal war grau. Nein: Es war farblos. In seiner Mitte lag ein farbloses Dorf, wie jenes mit den Obstgärten. Aber hier gab es einen Unterschied: Manche der Felder schienen ihre Farbe wiederzugewinnen.
Christopher blinzelte.
Doch er hatte sich nicht getäuscht. Auf den Wegen zwischen den Feldern waren kleine Gruppen von Frauen und Männern unterwegs, die scheinbar nichts taten, als langsam dort entlangzuwandern, und wo sie gewesen waren, begann der Reis, wieder Farbe zu bekommen. Einzelne Töne drangen vom Tal zu ihnen herauf, der Wind trug die Fetzen eines Liedes.
»Das – das sind sie?«, fragte er. »Deine Leute?«
»Nicht meine Leute. Die Leute des großen T. Aber natürlich gehöre auch ich zu ihnen.«
»Also – ist es wahr? Ihr könnt den Feldern ihre Farben zurückgeben?«
Niya nickte. »Durch unsere Lieder. Es braucht eine Menge Zeit, aber es geht. Komm mit, ich will dich ihnen vorstellen. Und es ist Zeit, dass wir etwas in den Magen bekommen.«
»Warte«, sagte Christopher. »Ich – ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob ich zu euch gehöre.«
»Jeder, der von Kartan gejagt wird, gehört zu uns«, erklärte Niya ernst.
Christopher nickte langsam.
Er wünschte, er hätte die Gedanken des unsichtbaren Reiters hinter sich lesen können.
Sicher, es war das Beste, dem schwarzäugigen Mädchen zu folgen. Waren sie nicht aufgebrochen, um die Aufständischen zu finden? Und hier saßen sie auf einem ihrer Pferde und wurden eingeladen, mit ihnen zu essen.
Aber sie waren gekommen, um ihren Anführer zu töten.
Nein, sagte sich Christopher, ich bin nicht deswegen gekommen. Ich werde allein weiterziehen und Arne finden.
Aber er wusste, dass das längst nicht mehr möglich war. Wie konnte er Arne ohne die Hilfe des unsichtbaren Kronprinzen befreien? Wie konnte er ihn im Stich lassen? Die Fäden von Jumar und seiner Geschichte hatten sich längst zu untrennbar miteinander verwoben.
Und als er Niya an diesem Morgen hinunter ins Tal folgte, fühlte er sich wie ein Verräter.
Sie hatte ihren Feinden das Leben gerettet, ohne es zu ahnen.
Je weiter sie ins Tal hinabkamen, desto deutlicher drang die Melodie zu ihnen durch, und als sie beinahe bei der ersten Gruppe von Sängern waren, hüllte ihr Lied sie ein wie eine ganz eigene Farbe.
»Das ist seltsam«, hörte Christopher Jumar wispern, ganz dicht an seinem Ohr. »Sieh dir diese Reispflanzen an. Und die Pfade. Selbst die winzigen Blumen am Wegesrand, die Hütten ... jene, die schon wieder einen Hauch Farbe haben.«
Christopher kniff die Augen zusammen.
»Sie sind wie ein schlecht entwickelter Film«, flüsterte er schließlich. »Sie haben ... sie haben alle einen Rotstich –«
Niya drehte sich um, und Christopher zuckte zusammen. Sie musterte ihn eine Weile, sagte aber nichts. Und dann hatten sie die erste kleine Gruppe zwischen den Feldern erreicht.
Es waren drei Frauen und zwei Männer, und nun blieben sie stehen und legten die Hände zum Gruß zusammen. Christopher ertappte sich dabei, wie er die Frauen musterte: Obgleich sie die gleichen tarngrünen Hosen und die gleichen Stiefel trugen wie Niya, hatten sie sonst wenig gemeinsam. Sie verbargen ihr Haar unter gemusterten Tüchern, doch wo es daraus hervorlugte, sah er, dass es gekämmt war und glänzte, und um ihre Schultern lagen keine Waffen. Sie waren alle älter als Niya, und ihre Augen waren schön und dunkel und voller Entschlossenheit. Doch das Feuer brannte nicht in ihnen.
»Dies ist ein Freund«, sagte Niya zu ihnen und wies auf Christopher. »Ich habe ihn buchstäblich aus den Pranken von Kartans Männern geklaubt, obgleich ich nicht weiß, warum sie ihn töten wollen. Im Moment ist hier bei uns der einzige Platz, an dem er sicher sein kann, dass sie es nicht noch einmal versuchen.«
Sie wandte sich zu Christopher um und strich eine verfilzte Haarsträhne hinter ihr Ohr zurück. »Du hast mir deinen Namen nicht gesagt.«
»Oh, äh«, sagte Christopher. Er wurde schon wieder rot und ärgerte sich darüber.
»Christopher. Mein Name ist Christopher.«
»Kisopa. Krisopee?« Die Frauen kicherten, und die beiden Männer verzogen ihre sonnenverbrannten Gesichter zu einem amüsierten Grinsen. »Woher kommst du, dass du einen so unaussprechlichen Namen hast?«
»Eines Tages werde ich es euch erzählen«, antwortete er.
Die Maoisten hatten ihr Lager in einer Ecke des Tales aufgeschlagen, die man vom Dorf aus nicht einsehen konnte – ein großer Felsen trennte den Platz vom übrigen Tal. Ihre Zelte sahen denen des Militärs verdächtig ähnlich, und Christopher schätzte, dass die Versorgungswege der Soldaten manchen Umweg machten, auf dem nicht nur Zelte abhandenkamen.
Über einem offenen Feuer in der Mitte des Lagers kochte duftender Reis, und Niya bedeutete Christopher, sich zu setzen.
Arne, sagte es in seinem Kopf, und blaue Augen kämpften mit schwarzen in Christophers Gedanken um den Vorrang. War Arne hier gewesen? War er noch hier? Hier, in einem der Zelte? Sein Blick suchte den Boden unsinnig nach Fußspuren ab. Fußspuren von Gummistiefeln mit lachenden Clownsgesichtern. Ein fast vergessener Herbstnachmittag kochte aus seinem Gedächtnis herauf wie heiße Milch.
Hatte Arne an diesem Feuer gesessen? Und wie lange war das her?
»Du bist blass, als hätte ein Farbdrache dein Gesicht abgeleckt«, sagte Niya und reichte ihm eine Schale Reis. Der Reis war rot. Aber er machte satt, und Christopher widersprach nicht, als sie ihn in eines der Zelte führte, das gänzlich leer war, und ihm eine Decke gab, damit er ein wenig schlafen konnte.
Ehe sie ihn verließ, sah sie ihm in die Augen.
»Bei Gelegenheit«, sagte sie, »möchte ich deine Geschichte wirklich gerne hören.«
Und dann war sie fort. Der Stoff des Zelteingangs schwang noch ein wenig hin und her, eine Erinnerung an ihre geschmeidigen Bewegungen, und ihre Anwesenheit hing einen Moment in der Luft.
Christopher seufzte.
»Jumar«, fragte er, »was wird nun werden?«
Und als Jumar antwortete, war er erstaunt über die Klarheit in seiner Stimme.
»Ich habe mich geirrt«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Du hast richtig gehört. Ich habe mich geirrt. Alles ist anders, als ich dachte. Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich tun soll. Und jetzt weiß ich es.«
»Ja?«
»Kannst du dich erinnern, was sie gesagt hat, auf dem Platz mit den vielen Menschen?«
Christopher nickte. Wie hätte er es vergessen können? Jedes Wort war da in seinem Kopf, eingebrannt, verwurzelt. Nicht mehr auslöschbar.
»Die einzige Macht, die Drachen besiegen kann und Kartan in seine Schranken weisen, ist die Macht des Königs... Doch der König hat uns vergessen. Es ist wahr, Christopher. Er hat sie vergessen. Er hat uns alle vergessen. Wir brauchen seine Macht. Die Maos wollen das Gleiche wie ich. Sie wollen Kartan fortjagen. Sie wollen den Hunger vertreiben. Sie wollen den Frieden. Ich dachte, ich müsste sie hassen. Aber wie kann ich jemanden hassen, der will, was ich will?«
»Und der alte Diener, der dir in die Arme fiel? Wolltest du ihn nicht rächen? War das nicht der Grund, aus dem du Kathman-du zuerst verlassen hast?«
»Ich habe den Verdacht, dass auch da Kartan seine Finger im Spiel hatte. Vielleicht haben sie es dem alten Tapa eingeredet, aber ich glaube, es waren nicht die Aufständischen, in deren Hände er gefallen ist.«
»Was wirst du tun?«
»Ich werde bei ihnen bleiben und ihnen helfen«, antwortete Ju-mar. »Was gibt es sonst für mich zu tun?«
»Aber sie sind Kommunisten. Du wirst niemals König werden.«
»Wen kümmert es, ob ich König werde«, sagte Jumar, und die Leichtigkeit seiner Worte überraschte Christopher. »Wozu ist ein König gut? Vielleicht werde ich Mathematiker oder Astronaut?« Er lachte.
»Astronaut?«, fragte Christopher zweifelnd. Jumar boxte ihn in die Seite.
»War nur ein Spaß. Vielleicht gehe ich auch nach Europa und studiere. Vielleicht besuche ich dich sogar. Wo wohnst du noch gleich? Norwegen? Finnland?«
»Deutschland.«
»Ich werde das nie unterscheiden können. Jedenfalls besuche ich dich, wenn all dies vorbei ist.«
»Wenn all dies vorbei ist«, murmelte Christopher. Hätte er die Dinge nur auch so leicht nehmen können wie dieser merkwürdige unsichtbare Junge an seiner Seite!
»Und Arne?«, fragte er. »Was ist mit meinem Bruder?«
»Oh, wir werden ihn natürlich befreien«, erwiderte Jumar. »Denkst du, ich habe das vergessen? Wenn wir ein Weilchen hier sind, werden wir mit ihnen sprechen. Wenn sie uns vertrauen. Wenn wir bewiesen haben, dass man uns vertrauen kann. Wir werden ihnen die Dinge erklären, und sie werden zuhören.«
»Ich ... ich habe darüber nachgedacht, ob er wirklich ein Gefangener ist. Vielleicht ist er freiwillig mit den Kämpfern gegangen, das würde zu Arne passen. Vielleicht... ist er sogar hier.«
»Ja und nein«, sagte Jumar. »Vielleicht ist er kein Gefangener. Aber hier ist er nicht. Ich habe in den anderen Zelten nachgesehen. Vorhin, als du am Feuer saßt. Bald finden wir ihn, Christopher. Bestimmt.«
Er gähnte, und Christopher konnte sich nicht dagegen wehren mitzugähnen.
»Aber jetzt, jetzt schlafen wir ein Weilchen«, sagte Jumar, und Christopher hörte es rascheln, als er sich auf dem Boden ausstreckte.
»Ja«, sagte Christopher. »Ja, das tun wir wohl besser.«
Und dieses eine Mal drängte er seine Zweifel und seine Sorgen mit einem gezielten inneren Fußtritt in den Hintergrund. Er war zu erschöpft.
Alles war gut. Sie waren keine Verräter. Sie würden Arne befreien, ohne sich anschleichen zu müssen. Falls sie ihn überhaupt befreien mussten. Es gäbe keine Lügen mehr und keine Angst, dabei ertappt zu werden.
Und sie waren nicht mehr allein.
Eine ganze Armee von Männern und Frauen standen auf der gleichen Seite wie sie.
Sie wollen das Gleiche wie ich, hörte er Jumar wieder sagen.
In Christophers Träumen spürte er die Berührung von Niyas Hand – jener Hand mit der Brandnarbe. Die Hand war warm und lebendig.
»Das Erste, was du lernen musst, ist das Schießen«, sagte Niya.
Ein kalter Wind trieb lange Wolkenfetzen über den Himmel, und Christopher stand ratlos vor einem Holzgestell, von dem an Fäden leere, rostige Konservenbüchsen herabbaumelten. Sie hingen im Windschatten der Felswand, doch manchmal bewegte der Luftzug sie sachte hin und her. Am Felsen lehnte eine Reihe von Gewehren.
Das Gewehr in Christophers Händen war schwer und schwarz. Es schien sich gegen seine Finger zu sträuben, oder vielleicht waren es seine Finger, die sich sträubten.
Niya legte sie geduldig immer wieder in die richtige Position. Die Berührung ihrer Hände waren wie in seinem Traum.
Es fiel ihm schwer, sich aufs Zielen zu konzentrieren.
Keiner der Korken, die das Luftgewehr ausspuckte, traf sein Ziel. Die Büchsen baumelten träge im Nachmittagslicht.
Er versuchte sich vorzustellen, es wären die Büchsen an einer Jahrmarktsbude. Doch es gelang ihm nicht. Die Erinnerung an die zerschossene Nacht, in der Niya die vier Pferde ohne Reiter zurückgeschickt hatte, war noch frisch wie eine Narbe. Und die Konservenbüchsen verwandelten sich nach eigenem Gutdünken vor seinen Augen.
Manchmal, wenn er zwinkerte, waren sie die Köpfe von Menschen, die ihm zunickten. Er sah die Angst in ihren Augen. Dann waren es wieder Kartans Männer, deren Uniformknöpfe in der Sonne glänzten, und sie lachten ihn aus. Mal schoben sich Arnes Züge vor die Büchsen und mal die von Niya.
Schließlich schüttelte er den Kopf und stellte das Gewehr hin.
Seine Hände zitterten.
»Ich – ich kann das nicht«, sagte er. »Ich bin nicht dazu gemacht.«
»Versuch es noch einmal«, sagte Niya sanft.
Christopher setzte die Waffe an und schoss, ohne die verräterischen Büchsen anzusehen. Er wollte nur weg hier, fort von der Waffe, weg von den knallenden Schüssen, fort.
Als er gerade aufgeben wollte, da prallte einer der Korken mitten an einer Büchse ab, und Niya klatschte. Gleich darauf traf er noch einmal, und noch einmal –
Aber es stimmte nicht. Er traf nicht. Und dann sah sie es auch. Christophers Korken verfehlten die Dosen nach wie vor. Die Korken, die sie trafen, kamen von etwas weiter seitwärts. Christopher zählte die Gewehre, die am Felsen lehnten. Eines fehlte.
Er spürte Niyas Blick.
»Es ist noch jemand hier«, sagte sie leise.
»Ja«, sagte Christopher.
Sie starrte jetzt ihren Arm an, als säße ein unbekanntes Insekt darauf. Aber Christopher wusste, dass es kein Insekt war. Es war die Berührung einer unsichtbaren Hand.
»Zeit für die Wahrheit«, hörte er Jumars Stimme sagen.
Der nepalesische Thronfolger hatte alle Romane im Palast gelesen und die Dichtung des Abend- und des Morgenlandes über sich ergehen lassen – er hatte alle Filme gesehen, derer er habhaft werden konnte, und alle Musikstücke gehört, die in den Rillen der Schallplatten und den glänzenden Flächen der CDs seines Lehrers verborgen lagen – all jene Romane und Gedichte und Filme und Musikstücke, deren Thema ewig und unwiderruflich nur das eine war: die Liebe.
Er hatte darüber die Stirn gerunzelt und sie nicht begriffen.
Denn er hatte noch nie geliebt.
An jenem Tag aber, an dem er im Staub eines farblosen Dorfes die Worte eines Mädchens vernahm, das in keinen der Romane, in keines der Gedichte, keinen der Filme und keines der Musikstücke passen wollte, da packte es ihn wie eine unbekannte Macht, und die Liebe schloss ihn in ihren Würgegriff.
Er wusste nicht, was sie war, und nicht, wohin sie ihn führen würde, aber er wusste, dass er keine Chance hatte gegen diese Macht. Wenn er Niya ansah, war es, als fieberte er, seine Wangen glühten, und sein Kopf schien zu schweben.
Als er seine Hand auf ihren Arm legte, spürte er die feinen Härchen auf ihrer Haut und musste schlucken, ehe er etwas sagen konnte.
»Zeit für die Wahrheit«, sagte er.
»Die Wahrheit?«, fragte Niya. Sie blickte an ihm vorüber, suchend, ins Nichts.
Da nahm er ihre Hand, wie er Christophers Hand genommen hatte, als er ihm zuerst begegnete, und führte sie zu seinem Gesicht, damit sie begriff. Aber als ihre Finger voller Erstaunen über seine Stirn und seine Augenbrauen glitten, bereute er es, denn er glaubte, bersten zu müssen vor Verlangen nach ihr.
All dies war neu für ihn und beunruhigend. Er war erst vierzehn.
»Du hast nicht einem das Leben gerettet, sondern zweien«, flüsterte er. Wenn sie nur nicht merkte, wie seine Stimme zitterte!
»Ich bin Jumar, und ich bin so geboren: unsichtbar.«
»Warum?«, fragte sie.
»Keiner weiß das.«
»Hast du nie versucht, es herauszufinden?«
»Nein«, antwortete Jumar verblüfft.
»Nun, du kannst es ja noch tun«, sagte sie und lächelte. Dann zog sie ihre Hand zurück.
»In jedem Fall kannst du schießen.«
»Ich habe dir zugesehen, dir und Christopher.«
Sie schien einen Moment zu überlegen. »Ein Unsichtbarer«, sagte sie schließlich, »ist Gold wert für uns. Der große T wäre begeistert. Ein Unsichtbarer kann vieles tun, was ein Sichtbarer nicht kann. Wirst du bei uns bleiben?«
»Ich werde euch helfen und tun, was immer ihr von mir verlangt«, sagte Jumar, und er hörte, wie pathetisch seine Worte klangen, aber wenn man vierzehn ist und zum ersten Mal liebt, kann man sich einer gewissen Pathetik nicht entziehen.
»Du bist einverstanden, wenn ich es den anderen sage?«
»Dass ich unsichtbar bin?«
Sie warf ihren Kopf zurück und lachte, und Christopher stimmte mit ein.
»Das«, antwortete sie, »werden sie wohl selbst merken, wenn du mit ihnen sprichst.«
Und Jumar wusste, dass er rot wurde bis über den Haaransatz. Gut, dass niemand es sah.
Die Maoisten brauchten eine Weile, um sich an Jumars Anwesenheit zu gewöhnen.
Sie zogen am nächsten Morgen weiter. Die Felder, an deren Rändern sie gesungen hatten, blieben grün hinter ihnen zurück –grün mit einem leichten Rotstich. Der Reis jedoch machte die Menschen wieder satt. Vier Männer gingen mit ihnen.
»Wir sind auf dem Weg zum Basislager«, erklärte Niya, »genau wie zahlreiche andere kleine Gruppen. Und wenn wir dort ankommen, wollen wir möglichst viele sein. Und wir wollen eine Menge Maultiere mit uns bringen und Pferde. Der große T wartet auf uns. Er wartet auf die, die neu zu seinen Reihen stoßen, um sie auszubilden. Er schickt niemanden wehrlos in den Kampf. Auch auf euch wartet er, ohne es zu wissen. Im Basislager werdet ihr alles lernen, was ihr wissen müsst.«
Jumar sah, wie sie Christopher zuzwinkerte, und es gab ihm einen Stich.
»Selbst du wirst dort das Schießen lernen, verlass dich drauf, sagte sie und stieß ihn freundlich in die Seite.
Und der nepalesische Thronfolger, von dessen wahrer Identität nicht einmal Niya wusste, seufzte lautlos, tief in seinem Herzen. Was nützte es ihm, dass er auf ein paar rostige Konservenbüchsen zielen konnte? Er war und blieb unsichtbar, und bisweilen hatte er das Gefühl, dass Niya ihn vergaß. Christopher aber war sichtbar. Er war es, mit dem sie sprach.
Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, er wäre wie alle anderen.
Warum war er unsichtbar? Ja, warum? In seinem Kopf hallten Niyas Worte nach: Du kannst immer noch versuchen, es herauszufinden.
Vorerst aber kam eine ganz andere Gelegenheit für ihn, Niya zu beweisen, wie unentbehrlich er war.
Es war ein kühler Abend, und sie waren lange, lange geritten, ohne eine menschliche Behausung zu sehen. Als sie in der Ferne die Umrisse eines Dorfes ausmachten, atmeten sie alle auf. Sie waren hungrig, durstig und müde; die Tiere brauchten eine Rast, und die Nacht würde kalt sein. Niya, Jumar, Christopher und zwei andere Männer ritten voraus, die Gassen entlang, und klopften an die Tür des größten Hauses im Dorf – eines stattlichen, alten Hauses mit drei Stockwerken und umlaufenden Baikonen auf jeder Ebene, deren Geländer hölzerne Schnitzereien von Pfauen, Tigern, Rehen und Pflanzen zierten.
Eine winzige Frau öffnete ihnen, kaum größer als ein Kind.
Jumar sah das Erschrecken in ihren Augen, als sie die Männer mit den Gewehren über der Schulter anstarrte.
»Wir suchen ein Quartier für die Nacht«, sagte Niya. »Dies ist das größte und schönste Haus im Dorf. Sicher habt ihr Platz für eine Handvoll müder Kämpfer?«
»Ich glaube nicht, dass der Herr unangemeldete Gäste empfängt«, antwortete die Frau. Ihre Worte zitterten in der Abendluft. »Ich werde fragen«, sagte sie und wollte die Tür schließen. Doch einer der Männer setzte seinen Fuß dazwischen.
»Es ist uns lieber, sie bleibt offen«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln.
Wenig später erschien die kleine Frau wieder, doch jetzt wurde sie von mehreren Männern begleitet.
»Der Herr dieses Hauses öffnet seine Türen nicht für solche, die dem König untreu sind«, sagte der größte der Männer. »Das ist alles, was ich ausrichten kann.«
»Würde der Herr des Hauses nicht lieber selbst mit uns sprechen?«, fragte Niya höflich.
»Er wünscht, nichts mit euch zu schaffen zu haben«, erwiderte der Mann.
»Sind das dort seine Ställe, die an das Haus grenzen?«, fragte sie ruhig.
»Es sind nicht nur seine Ställe. Die Vorratshäuser, der Brunnen – jeder einzelne Quadratmeter dieses Dorfes gehört ihm. Selbst der Weg, auf dem ihr steht. Ihr seht, es ist ein schöner Weg. Nur einer wie unser Herr kann sich leisten, ihn zu pflastern. Die Felder sind sein, die Weiden, das Vieh – was immer ihr wollt. Er ist ein großer Herr. Die kleinen Bauern haben alle Schulden bei ihm, aber er lässt sie weiter auf seinem Land arbeiten.«
»Das freut mich zu hören«, sagte Niya. Jumar spürte etwas Kaltes von ihr ausgehen wie eine Farbe, eine Welle von Ärger, den sie mit äußerster Disziplin zurückhielt.
»Und könnte euer Herr wohl ein paar Säcke seiner üppigen Vorräte entbehren?«, erkundigte sich Niya. Jumar wusste, wie die Antwort lauten würde, und er wusste, dass Niya es wusste. Er ballte die Hände in den Taschen von Christophers abgewetzter Jeans zu Fäusten.
In diesem Moment quietschte im ersten Stockwerk eine Tür, und ein Mann mittleren Alters trat auf den überdachten Balkon hinaus, der die ganze Länge des Hauses einnahm. Er trug ein lächelndes Gesicht und ein weißes Hemd, das über dem Hüfttuch eine hübsche Bauchfalte schlug. Über dem weißen Hemd aber trug er eine jener Westen, die Jumar von den Polizisten in Kath-mandu kannte: Dieser Mann rechnete mit Kugeln aus schwarzen Läufen, mit Hass und Tod. Er wusste, wer Unterschlupf in seinem Haus suchte, und er war nicht dumm.
Immer noch lächelnd stützte er sich auf das verzierte Holzgeländer des Balkons und sah zu Niya und ihren Leuten hinab.
»Es ist wohl besser, ihr verschwindet von hier«, erklärte er. »Was für ein elendes Grüppchen, mager und dreckig! Die Kämpfer hatten schon bessere Zeiten. Gegen meine Männer habt ihr keine Chance. Auch wenn ich weiß, dass noch andere von euch irgendwo lauern – hier seid ihr an der falschen Adresse. Ihr steht auf meinem Grund und Boden. Verlasst dieses Dorf, ehe ich ärgerlich werde. Ich werde schnell ärgerlich, und ich habe einen guten Freund beim Militär. Den besten Freund, den man sich denken kann.«
»Kartan«, sagte Niya. Ihre Stimme war mit einem Mal seltsam flach.
»Ich habe viel für ihn getan, damals, weit von hier«, erwiderte der Mann. Dann lehnte er sich plötzlich vor und musterte Niya.
»Wir kennen uns«, sagte er nach einer Weile. »Habe ich recht?«
»Damals trugt Ihr eine Uniform«, antwortete Niya, »und hattet keinen Bauch. Damals hatte ich noch Angst vor Euch. Das Feuer, das Ihr gelegt habt, hat sie mir genommen. Meine Angst ist verbrannt.«
Der Mann lachte. »Deine Worte sind schön«, entgegnete er. »Schön wie deine Mutter es war. Ich erinnere mich noch genau. Sie war eine der schönsten Frauen, die ich hatte. Auch du bist schön. Ich dachte nicht, dass du lebst. Vielleicht besuchst du mich an einem dieser Tage alleine ... dann können wir uns unterhalten.«
Er ließ seinen Blick mit offensichtlichem Gefallen an dem Körper unter der grünen Jacke entlanggleiten, und Jumar dachte, Niya würde ihr Gewehr anlegen und einen Schuss abfeuern auf das feiste Gesicht über der kugelsicheren Weste. Er dachte, sie müsste explodieren wie ein Feuerwerkskörper, ein unkontrollierbarer Sprengsatz, ein Kreisel aus roter Wut.
Doch sie drehte sich schweigend um und gab den anderen ein Zeichen, ihr zu folgen.
Als sie zu den Übrigen zurückkamen, sagte sie nichts. Es war, als wären die Worte in ihrer Kehle vertrocknet.
»Niya –«, begann Jumar. Sie schüttelte den Kopf und führte ihre Leute in einem Bogen um das Dorf herum, bis sie es nicht mehr sehen konnten. Dann bedeutete sie ihnen, anzuhalten und ihr Lager aufzuschlagen.
»Reiten wir nicht weiter?«, fragte eine der Frauen. »Bis zum nächsten Dorf? Sollten wir nicht irgendwo einen ebenen Platz finden, um die Zelte aufzuschlagen? Und Wasser – Wasser für die Tiere?«
Erst da sprach Niya wieder. »Diese Nacht müsst ihr im Wind ausharren«, antwortete sie. »Und der Tau auf den Gräsern muss für die Tiere reichen. Ich habe etwas zu erledigen hier.«
Niemand wagte, ihr zu widersprechen.
Als die Wolken vorüberzogen und die Sternzeichen ihre Wanderung über den Horizont begannen, nahm Niya Christopher und Jumar beiseite.
»Heute Nacht«, sagte sie, »müsst ihr mir helfen. Oder nein: Jumar, du bist es, der mir helfen muss. Heute Nacht brauche ich einen Unsichtbaren.«
»Ich bin bereit«, antwortete Jumar. Ach, da war sie wieder, die Pathetik! Er hätte noch so viel mehr gesagt, er hätte ihr alles geschworen, was sie wollte, doch sie legte ihren Finger an die Lippen und brachte ihn zum Schweigen.
»Heute Nacht«, wisperte sie, »werden die Ställe eines reichen Mannes brennen. Seine Vorräte werden sich in weiße Asche verwandeln. Seine Pferde werden die Freiheit riechen. Und die schönen Schnitzereien seines Hauses werden sich in glühende Kohlen verwandeln. Und du wirst es sein, der das Feuer legt.«
Jumar nickte, obgleich sie das nicht sehen konnte. Er nickte für sich. Ja, er würde das Feuer legen. Er würde es sein, der für sie Rache übte.
Sie griff in eine Kiste und reichte ihm zwei kleine, gläserne Colaflaschen, und erst verstand er nicht. Dann sah er die Zündschnüre und begriff, dass die Flaschen als Sprengsätze dienten.
»Mach die Pferde los, ehe du die erste zündest«, wisperte sie. »Vergiss das nicht! Und öffne die Tür der Stallungen. Die zweite Flasche wirfst du durch das Fenster der Scheune. Sie grenzt direkt an das Haus, und die Flammen werden ihre wahre Freude daran haben hinüberzukriechen. Ich werde dich begleiten.«
»Kann ich mit euch kommen?«, fragte Christopher. Jumar warf ihm einen überraschten, wenngleich unsichtbaren Blick zu.
»Wenn du willst, sicher«, sagte Niya. Ein Teil von Jumar war erleichtert darüber. Ein anderer Teil ärgerte sich. Dies war seine Aufgabe. Christopher hatte nichts dabei zu suchen.
Begriff er denn nicht? Begriff er denn gar nichts? Es lag dem nepalesischen Thronfolger fern zu sehen, dass er es war, der nichts begriffen hatte.
Diese Nacht war die schwärzeste, die Jumar je erlebt hatte. Die Schwärze schien in Klumpen vom Himmel zu hängen, große, unförmige Stücke von Schwärze wuchsen aus den Rändern des Weges, Fetzen von Schwärze schienen sich um ihre Füße zu winden wie Schlangen. Sie waren zu Fuß gekommen, um keinen Laut zu verursachen. In Jumars Rucksack lagen die beiden Glasflaschen mit ihrer Coca Cola-Prägung, die ihm so lächerlich erschien. Er trug ein Gewehr, so wie auch Niya. Nur Christophers Schultern waren frei von jeglichem Gewicht.
»Wenn wir dir ein Gewehr mitgeben, jagst du dich damit nur selbst in die Luft«, hatte Niya freundlich erklärt. »Oder vielleicht schießt du mir ein Loch in den Bauch.«
Christopher schien erleichtert darüber.
Das große, schöne Haus war jetzt ein Teil der Nacht, ein Teil ihrer Schwärze, dicht und unheimlich. Doch der Besitzer dieses Hauses war nicht dumm: Vor seinem Eingang hockten drei bewaffnete Männer im flackernden Schein einer Öllampe, und am Stall lehnten zwei weitere, ihre wachsamen Augen unentwegt in die Nacht gerichtet.
Aber der, der da kam, um das Haus ihres Herrn in Asche zu verwandeln, den konnte auch das wachsamste Auge nicht sehen.
Niya drückte Jumars unsichtbare Hände, und ihre Kraft schien seinen Körper warm zu durchströmen. Er erwiderte ihren Händedruck, ließ sie los und glitt auf die Tür des Stalles zu.
Einmal sah er sich um – Niya und Christopher waren verschwunden, als wären auch sie unsichtbar geworden. Er allein wusste, dass ihre Umrisse drüben, auf der anderen Seite der Gasse, mit einer der Hauswände verschmolzen, wartend.
Die erste Glasflasche wog schwer in seiner Hand. Er löste den Riegel der Brettertür, schlüpfte hindurch und atmete den Geruch nach Heu und Pferden tief ein. Hätte er nur eine Lampe gehabt! Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er die Pferde losgemacht hatte. Ihr irritiertes Schnauben konnte ihn in jeder Sekunde verraten – das nervöse Scharren ihrer Hufe auf dem Boden des Stalles jagte ihm Schauer über den Rücken. Endlich, endlich löste er das letzte Seil. Er deponierte die Flasche in der hintersten Ecke des Stalles, damit die ersten Flammen nicht zwischen die Tür und die Pferde gerieten. Er war sich nicht sicher, ob es etwas nützte. Vielleicht würden sie es nicht schaffen. Vielleicht würden sie mit dem Stall verbrennen.
Er dachte an Christopher und daran, wie er beim Todesschrei der Ziege zusammengezuckt war. Christopher hätte das hier nicht gekonnt. Christopher würde nie verstehen, was nötig war und wie viel man bisweilen bedauern musste, um etwas zu erreichen. Sie hatten eine andere Art, die Dinge zu sehen, dort, wo Christopher herkam.
Die Flamme des Streichholzes loderte hell auf in der Dunkelheit, und er sah ihr Spiegelbild in den Augen der Pferde, die am nächsten standen. Jetzt glühte das Ende der Zündschnur.
Jumar blies das Streichholz aus und hechtete zur Tür. Er erreichte die Gasse, blieb einen Moment stehen und lauschte –nichts. Weiter, weiter – am Haus vorbei zu der großen Vorratsscheune, die zweite Zündschnur fing Feuer, er öffnete die Fensterläden und warf die Colaflasche in die Scheune.
Aber jetzt hatten die Männer etwas gesehen, oder vielleicht hatten sie den Aufprall der Flasche gehört –
Einer von ihnen kam herüber.
Jumar entfernte sich rückwärts. Sein Herz klopfte, als säße es in der Luftröhre, und er zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Er hätte dem Mann etwas zurufen können. Ihn warnen.
Er war unsichtbar. Ihm konnte man nichts anhaben.
Aber Jumar rief nicht.
Er ging weiter rückwärts – der Mann öffnete die Tür der Scheune –
Und dann zerriss die erste Explosion die Luft. Kurz darauf folgte die zweite – er sah das Licht vor sich, groß und hell, er sah, wie der Mann zurückgeworfen wurde, sah die Flammen aus dem Gebäude schlagen und spürte hinter sich eine kühle Hauswand, gegen die er sich lehnte. Die Nacht hatte sich in Chaos verwandelt.
Er hörte die Pferde wiehern, schrill und panisch. Er hörte das Prasseln des Feuers. Schreie.
Er roch das verbrennende Holz, und er roch die Angst in der Luft. Das Feuer hatte jetzt begonnen, das Haus zu belecken und die schönen, hölzernen Balkongeländer zu fressen, und aus den Türen ergoss sich ein Strom von Menschen in die Nacht.
Sekunden später sah er, wie jemand in die entgegengesetzte Richtung lief, auf den Stall zu. Die Tür war wieder zugefallen, Jumar konnte sich nicht erklären, weshalb, und nun war da jemand, der sie zu öffnen versuchte: eine kleine, schmächtige Gestalt.
Wer immer das ist, dachte Jumar, er muss verrückt sein.
Und in diesem Moment wusste er, wer es war: Christopher.
Christopher, der den Todesschrei einer Ziege nicht ertragen konnte. Er versuchte, die Pferde zu retten. Er war verrückt.
Jumar sah, wie er mit dem Riegel kämpfte, und dann hatte er es geschafft, die Tür zu öffnen. Das Licht dahinter ließ ihn die Augen für einen Moment schließen. Als er sie wieder öffnete, stürmten die ersten Pferde an ihm vorbei. Er suchte Christopher in dem Durcheinander aus tanzenden Schatten. Doch er fand ihn nicht.
Jumar versuchte, sich einen Weg zurück zum Stall zu bahnen, von wo die Hitzewellen ihm entgegenschlugen. Aber die Pferde ließen ihn nicht. Es waren zu viele. Erst, als die Nacht ihre Angstschreie verschluckt hatte, schaffte er es. Der Stall war kein Stall mehr, er war eine einzige große, lodernde Fackel.
»Christopher?«, rief Jumar. Er hörte seine eigene Stimme kaum. In den Gassen des Dorfes schrien die Menschen, die jetzt allesamt aus ihren Häusern gelaufen kamen; die Flammen knisterten, und die Welt bestand aus nichts als wahnsinnigem, zusammenhanglosem Lärm.
Mitten in dem Lärm hörte Jumar seinen Namen.
Doch es war nicht Christophers Stimme, die ihn rief. Es war Niya.
Und dann sah er sie – sie kniete am Boden, wenige Meter von ihm entfernt, sie hatte ihr Versteck verlassen, aber in dem Durcheinander bemerkte sie niemand.
Er war mit einem Satz bei ihr, hockte sich neben sie und erkannte, weshalb sie dort auf der Erde saß: In ihren Armen lag ein regloser Körper.
»Christopher«, wisperte Jumar, lautlos.
»Wir müssen ihn hier wegschaffen«, sagten Niyas Lippen –oder er glaubte, dass sie das sagten. »Hilf mir!«
Jumar wollte fragen.
Er wollte fragen, was passiert war. Ob Christopher atmete. Ob er lebte. Doch er schwieg und beugte sich Niyas Willen, die seinen Rucksack nahm und ihm stattdessen die kraftlose, schmächtige Gestalt auf den unsichtbaren Rücken lud. Niemand, dachte er, der Christopher jetzt sah, wie er von unsichtbaren Händen getragen durch die Gasse schwebte, würde sie aufhalten. Beinahe musste er lächeln bei diesem Gedanken.
Sie bogen in eine Seitengasse ab, wo es ruhiger war, und das Feuer blieb knisternd hinter ihnen zurück.
»Ich wünschte, ich hätte ihn gesehen«, flüsterte Niya. »Aber ich konnte ihn nirgends entdecken. Es waren zu viele Menschen da.
Ich wollte sein Gesicht beobachten, wenn er zusieht, wie sein Haus verbrennt.«
»Ich bin mir sicher, es war sehenswert«, sagte Jumar und drückte ihren Arm.
»Fragt sich, ob es das wert war«, wisperte sie und wies mit einem Kopfnicken auf Christopher. »Ich – ich wollte das nicht, weißt du. Ich wollte ihn zurückhalten, aber er hat sich losgerissen. Das Letzte, was er sagte, war: Auch du, Niya, schießt nicht auf ein Pferd. Die Pferde können nichts dafür.«
»Er wollte nicht, dass sie verbrennen. Er ist anders als wir.«
»Ich weiß«, sagte Niya, »ich weiß.«
Als sie viel später im Lager ankamen, wo die Männer und Frauen dicht an dicht in ihre Decken gehüllt auf der kahlen, abschüssigen Erde schliefen, betteten sie Christopher auf eine Decke, und Jumar fühlte seinen flachen Atem.
»Es ist der Rauch«, sagte Niya. »Er hat zu viel Rauch eingeatmet. Das Feuer ist in seine Lungen gedrungen. Es – es ist meine Schuld.«
»Nein«, murmelte Jumar, »nein, das ist es nicht.«
Und er nahm sie in seine Arme und spürte ihr Herz an seiner Brust schlagen. Sie lehnte sich gegen ihn, als wäre für einen Moment alle Kraft aus ihr gewichen, und Jumar dachte, wie wunderbar sich ihr Körper an seinem anfühlte.
Aber er wusste, dass ihre Gedanken bei Christopher waren.