Christopher erinnert sich (nicht)
In nur fünf Tagen hatte der Thronfolger Nepals Hunger, Durst, Erschöpfung, Angst und Schmerzen kennengelernt, was kein schlechter Schnitt war. Aber eines fehlte ihm noch: absolute Ratlosigkeit.
Als er an jenem Morgen an dem Wasserbecken stand und sein Begleiter nicht mehr daraus auftauchte, holte er dieses Manko nach. Er ging genau fünfzehn Sekunden lang am Beckenrand auf und ab wie ein melancholischer Bademeister, faltete die Hände auf dem Rücken, legte die Stirn in Falten, schüttelte den Kopf –dann, in der sechzehnten Sekunde, hörte er etwas rascheln und sah, dass der Drache nun beide Augen geöffnet hatte und begann, seine Schwingen zu entfalten.
Da hielt er es für besser, Christopher zu folgen – wohin auch immer Christopher verschwunden war. Er streifte eilig die geliehenen Turnschuhe ab, stopfte sie hektisch in den Rucksack und sprang ins Wasser.
Er erinnerte sich an seine Schwimmstunden zu Hause im königlichen Pool und durchschwamm das Becken mit vier Zügen eines makellosen Delfinstils. Beim fünften Zug packte ihn etwas, und er schnappte erstaunt nach Luft.
Was keine schlechte Idee war, denn was ihn gepackt hatte, war ein Sog aus der Tiefe, und in den folgenden Minuten bekam er keine Gelegenheit mehr zum Atmen. Er kämpfte kurz gegen den Sog an, aber dann sagte in seinem Gehirn eine Stimme laut und deutlich: »Dieser Sog hat Christopher mit sich gerissen. Wolltest du ihn nicht suchen? Bitte, dann solltest du nicht kämpfen.«
Kurz darauf spürte Jumar, wie er fiel – es war das gleiche Gefühl im Magen, das er aus dem Fahrstuhl im Palast kannte –, und um ihn war nichts mehr als ein ohrenbetäubendes Rauschen.
Er stieß seinen Arm an etwas Hartem, schrie auf, bekam Wasser in den Mund und verschluckte sich, und dann gab es eine Art Aufprall, aber nicht auf dem Boden – nein, da war immer noch überall Wasser, aber jetzt trug es ihn aufwärts. Er kam an eine Oberfläche, schnappte nach Luft, hustete, spuckte Wasser und kämpfte mit den Strudeln, die das Wasser um ihn ausspie. Noch immer trug ihn eine starke Strömung. Aber es war absolut dunkel, er konnte nicht einen einzigen Millimeter der Wasseroberfläche sehen.
Einige Momente später schwoll vor ihm wieder das Rauschen an, und noch ehe er denken konnte »ich werde wieder fallen«, fiel er schon. Während er fiel, begann er zu begreifen.
Er befand sich mitten in einem unterirdischen Wasserfall.
Würde dieser Fluss je wieder ans Tageslicht empordringen?
Und wenn er weiter in diesem Tempo fiel – hatte er auch nur die geringste Chance, den Fall zu überleben? Er rang gegen das Wasser, das ihn mit eisiger Faust hinunterdrückte, zur Seite schleuderte, seine Arme und Beine auf eine ganz und gar rücksichtslose Manier durcheinanderwarf und ihn vergessen ließ, wo oben und wo unten war – rang mit dem Wasser und fühlte in seinem Herzen eine schmerzhafte Angst aufsteigen. Denn was er da um sich herum fühlte und was ihm die Lungen füllte, war nicht das Wasser, sondern die Ahnung einer Möglichkeit.
Der Möglichkeit zu sterben.
Er hatte den Tod kennengelernt, als der alte Tapa in seinen Armen die Augen geschlossen hatte. Aber dass er selbst diesen Tod erleben könnte, daran hatte er bisher nicht gedacht. Ein weiterer Felsen streifte seine Schulter, er schrie auf und bekam wieder Wasser in den Mund. Nein!, wollte er schreien. Nein, nein! So war es nicht gemeint! Ich bin jung, und ich bin der Thronfolger! Für mich ist er nicht, dieser Tod! Ich habe noch so viel vor! Aber der unterirdische Fluss hatte seine eigenen Pläne mit ihm, dunkle, unbekannte Pläne. Er schien sich in den Kopf gesetzt zu haben, Jumar das Fürchten zu lehren. Erbarmungslos wirbelte er ihn herum, boxte ihn mit Fäusten aus Wasser und Handschuhen aus Felsvorsprüngen und ließ seine Kräfte erlahmen.
Und vielleicht – wahrscheinlich – hatte er irgendwo einen weiteren Felsvorsprung in petto, den Jumar im Geiste schon vor sich sah: spitz, kantig, ohne Gnade.
Und das wäre es.
Er spürte seine Kräfte erlahmen, seinen Willen verebben wie dunkler werdendes Licht und ließ sich vom Wasser beuteln. Es machte keinen Unterschied. Er konnte nichts tun.
Und dann, ganz plötzlich, begann er, sich zu ärgern.
Er hatte sich nicht auf diese Mission begeben, um sich von einem Wasserfall das Genick brechen zu lassen! Wenn er schon unbedingt sterben musste, dann wollte er das wenigstens durch eine Kugel der Maoisten tun. Sein Ärger gab ihm Kraft, und er kämpfte wilder mit dem Wasser, und irgendwann merkte er, dass er aufgehört hatte zu fallen. Der Fluss trug ihn nun geradeaus. Jumar sammelte die Kraft seines Ärgers in sich, erreichte eine rettende Oberfläche und schnappte nach Luft. Die Luft, die er atmete, war stickig und abgestanden, moderig und muffig, und dennoch war ihm, als hätte er nie bessere Luft geatmet.
Eine Weile ließ er sich einfach flussabwärts treiben und atmete tief ein und aus.
Dann sagte er sich: Jeder Fluss, selbst ein unterirdischer, musste ein Ufer haben. Oder zumindest einen Rand. Jumar schwamm mit letzter Kraft quer zur Strömung, betete, dass kein weiterer Wasserfall ihm in die Quere kam – und spürte nach einer Ewigkeit, wie das Wasser seichter wurde, der Fluss langsamer floss. Dann schlug seine Hand schmerzhaft gegen Stein, und er zog sich auf einen Felsen.
Von ferne hörte er noch immer das Rauschen des Wasserfalls.
Er blieb eine Weile regungslos liegen und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Eine Menge Stellen in seinem Körper taten weh. Sein Kopf dröhnte, als hätte sich ein Stück des Wasserfalls in ihm gefangen. Es war schwer, die Gedanken in der richtigen Reihenfolge zu denken, denn die meisten von ihnen wirbelten in ihm durcheinander.
Dann drängte sich einer in den Vordergrund, blieb hartnäckig stehen und ließ sich endlich entziffern: LICHT.
Er brauchte Licht.
Jumar setzte sich auf, stieß sich den Kopf an einem weiteren Felsen und knurrte wütend, da ihm keiner seiner vielen verschiedenen Lehrer das Fluchen beigebracht hatte.
Dann schälte er sich aus den Riemen seines klitschnassen Rucksacks und schaffte es nach einer Weile, den Reißverschluss zu öffnen. Zwischen der Wasserflasche, zwei triefenden Jacken und – urg – einem Klumpen aufgeweichter Fruchtgummidrops fanden seine tastenden Finger schließlich, was sie suchten: eine große, klobige Taschenlampe mit einem gerillten Blechmantel. Er hatte sie bei den Sachen des alten Tapa entdeckt und beschlossen, sie für die Reise zu entleihen, was sicher in Tapas Sinne gewesen wäre. Nun stellte sich die Frage, ob so viel Wasser im Sinne der Taschenlampe gewesen war.
Jumar schickte ein Stoßgebet an einen unbestimmten Gott und schob den Schalter nach vorne. Der unbestimmte Gott erhörte ihn: Ein fahles Licht quoll aus dem breiten Kopf der Lampe und verwandelte die Dunkelheit um ihn mit einem Schlag.
Er blinzelte und sah sich um.
Und dann sagte er:
»Interessant.«
Christopher schlug die Augen auf und fand sich in absoluter Schwärze. Er versuchte, sich zu erinnern. Was war geschehen? Er lag in feuchtem Kies, und irgendwo neben ihm gluckerte es wie von vorbeifließendem Wasser.
In seinem Kopf breitete sich ein dumpfer, pochender Schmerz aus.
Er erinnerte sich – er erinnerte sich an Sonnenlicht.
Sonnenlicht, das durch grüne, großfiederige Blätter fiel und Kringel auf eine Wasseroberfläche malte. Was für eine Wasseroberfläche war das gewesen?
Das Letzte, was er deutlich sah, waren die harten Augen des jungen Mannes mit dem Kopftuch und dem Militärparka, steinern wie zwei Murmeln aus Marmor starrten sie durch sein Gedächtnis.
»Shiva«, hörte er den Mann wieder sagen. »Möchtest du nicht lernen, wie man mit einem Gewehr umgeht?«
Was war dann geschehen? Hatten sie ihn mitgenommen? Aber wohin? Christopher versuchte, den Kopf zu schütteln, um jenen Augen zu entrinnen. Ein jäher Schmerz raste durch seine Gehirn wie eine Rakete und explodierte hinter seiner Stirn, und er glitt zurück in die weichen Wattenebel der Bewusstlosigkeit.
Nur das Plätschern des Wassers drang in jenen Nebel, und eine andere Erinnerung tauchte aus dem Dunkel auf, eine angenehme Erinnerung voller Licht: plätscherndes Wasser an einem Baggersee. Ein Sommer.
Arne.
Es war, als käme der Arne der Erinnerung ihm zu Hilfe, als schickte er ihm jene gelben Nachmittage, damit Christophers Körper in der Kälte und der Dunkelheit nicht aufgab. Die Sonne jener Erinnerung umgab ihn warm und weich.
Da war er: Arne am See, auf dem Turm der Wasserwacht, in dessen allzu unmittelbarer Nähe sich die Mädchen in ihren winzigsten Bikinis sonnten – der Geruch von Sonnenmilch und Zigarettenqualm in der warmen Luft – er selbst unbemerkt, beobachtend, im Schatten des Wasserwachtturms, zufrieden damit zuzusehen. Und jetzt: Arne im See, um ihn aufspritzende Tropfen-Fontänen.
Lebenswichtige Eile. Was war geschehen, dort draußen im stillen Ultramarin des Baggersees?
Eine undichte Luftmatratze – eine gesunkene Badeinsel – ein umgekipptes Schlauchboot – ein Krampf in einem schlanken Mädchenfuß – was es auch war, Arne war zur Stelle.
Und wie gut, dass er auch einen Erste-Hilfe-Kurs belegt hatte! Wie viele junge Damen sammelten in seinen Armen Nahtod-Erfahrungen und brauchten (dringend!) den Kuss des Lebens ...
Die Erinnerung verblasste. Da war er wieder, der Schmerz in seinem Kopf. Er spürte, dass er zitterte. Er wünschte sich zurück zu Arne an den Baggersee, zurück an einen jener langen Sommernachmittage ... aber etwas zog ihn gewaltsam in die Dunkelheit der Realität. Es war, als riefe jemand von ferne seinen Namen.
Der Lichtkegel der Taschenlampe fiel auf eine unterirdische Landschaft aus bizarr geformten Felsen. Über dem Fluss bildete der Stein eine Art Halle, deren Decke zu weit weg war, als dass das Licht sie erreicht hätte. Dort, wo sie niedriger war, hingen Armeen von Tropfsteinen von ihr hinunter, und Jumar wich unwillkürlich an die Wand zurück: Es war, als hätte jemand ihre scharfen Spitzen dort aufgehängt, um sie irgendwann auf einen vorbeikommenden Unglücklichen herabsausen zu lassen, und im unsteten Licht der alten Lampe schien es ihm, als bewegten sie sich, ruckten ein wenig in ihrer Verankerung, näherten sich ihm –
Natürlich bewegten sich die Tropfsteine nicht.
»Echo?«, sagte Jumar probeweise.
»Chooo-oooo-ooooo«, hallte es von den Wänden wider.
»Christopher?«, fragte Jumar.
»Ophr, ophr, ophr«, flüsterte das Echo. Sein Flüstern hatte etwas Gemeines, Zynisches, einen hämischen Unterton, und Jumar kniff die Augen zusammen und sah es böse an. Aber das Echo war nirgendwo, wo man es böse ansehen konnte, und blieb unbeeindruckt.
Er ließ das Licht der Lampe über das Wasser des Flusses gleiten, das hier glatt und bleiern lag und sich an ihm vorüberschob wie eine träge Schlange. Am Ufer erstreckte sich eine feuchte, glänzende Felsenlandschaft vor Jumar.
Die Zeit hatte ihre Kanten glatt gewaschen, als wären sie voll Zärtlichkeit von einem Töpfer geformt worden. Auch vom Boden wuchsen schlankhalsige Tropfsteine auf, und Jumar überlegte, welche die Stalagmiten und welche die Stalaktiten waren, kam aber nicht darauf.
Vielleicht war das Licht von Jumars Taschenlampe das Erste, das überhaupt auf diese Landschaft fiel, und sie schien es zu begrüßen – schimmernd wie Perlmutt und glatt wie Seide aalte sie sich in diesem Licht, räkelte sich wohlig in ihrer eigenen, neu entdeckten Schönheit und gab sich einer ganzen Dimension von Unwirklichkeit hin.
Es war die Art unwirklicher Landschaft, bei der gewisse Leute ein unstillbarer Drang überkommt, naturliebende Gedichte zu schreiben. Andere sehen sich genötigt, Pinsel und Leinwand zur Hand zu nehmen und das Unterirdische mittels großer Mengen an rosa Ölfarbe in ein überirdisches Licht zu tauchen – wobei man in jedem Fall nur ein außerirdisch fürchterliches Ergebnis erwarten kann.
Jumar schluckte und räusperte sich, um den Geschmack der Schönheit loszuwerden, denn diese Schönheit war eine kalte, tödliche. Das Echo räusperte sich mit ihm; es klang wie ein sich millionenfach vervielfältigendes Kichern – als säßen die Ritzen und Schatten zwischen den Felsen alle voll mit kleinen, scharf-zähnigen Gestalten.
»Das werden wir doch mal sehen«, sagte Jumar laut, »wer es schafft, den Thronfolger Nepals zu erschrecken.«
Er vergaß, dass der Fluss das bereits getan hatte, und hörte auch nicht auf die Antwort des hämischen Echos.
Der Felsen, auf den er geklettert war, stellte den Anfang des Ufers dar – zuvor füllte der Schlangenkörper des Flusses sein felsiges Bett ganz aus. Wenn Christopher also irgendwo an Land gekrochen war so wie er selbst, konnte er es nur weiter flussabwärts getan haben.
Jumar begann, über die glatten Felsen zu klettern, und hielt sich an den Tropfsteinen fest, die ein Gefühl in seinen Fingern hinterließen, als hätte er eine Nacktschnecke angefasst. Vielleicht waren es winzige Algen, die die Abwesenheit von Licht stoisch ignorierten, oder vielleicht war es auch nur seine Einbildung. Mehrmals erschrak Jumar, drängte sich dicht an die Wand und knipste die Lampe aus, weil er glaubte, einen Schatten gesehen zu haben, der sich bewegte. Dann hörte er in der Stille sein eigenes, angestrengtes Atmen in unnatürlicher Lautstärke, und es fiel ihm erst nach einer Weile auf, dass, wer immer hier war, ihn ja nicht sehen konnte.
Aber es war nie jemand da.
Jumar hätte gern gesungen, denn Singen hilft gegen die Finsternis und die Angst und auch gegen die Einsamkeit. Seltsam, er hatte sein ganzes Leben alleine zugebracht, ohne einen einzigen Freund, und er hatte sich nie einsam gefühlt. Jetzt, wo er Christopher kannte und Christopher nicht mehr bei ihm war, war da in ihm ein hohler Raum entstanden, der schmerzte.
Jumar war auf einmal nicht mehr nach Singen zumute, denn das Echo lauerte nur in den Ecken darauf, jede Melodie ins Unkenntliche zu verzerren. Schweigend wanderte Jumar das glitschige Ufer des Flusses entlang, schweigend wie der Stein. Nur der Fluss raunte ihm Unverständliches zu.
Was hatte jener Fluss mit Christopher angestellt? Wo war er? Würde er ihn finden?
Das Licht der Taschenlampe entblößte nur seine Abwesenheit.
Nach einer Weile verlor Jumar jedes Gefühl für Zeit. Wie lange war er schon hier unten unterwegs? Eine Stunde? Zwei? Einen Tag? Und dann schlich sich eine neue, nagende Sorge in sein Herz: Was, wenn er Christopher übersehen hatte? Wenn das blasse Licht der Taschenlampe nicht ausgereicht hatte, um jeden Winkel des zerklüfteten Ufers auf der anderen Seite auszuleuchten? Wenn Christopher eingeschlafen war und sein Licht nicht gesehen hatte?
Er blieb stehen, unschlüssig. Sollte er umkehren?
In diesem Moment hörte er die Stimmen. Echte, menschliche Stimmen, verstümmelt vom Beiwerk des Echos. Sie waren hinter ihm, und sie kamen näher.
Jumar knipste die Lampe aus und trat zurück an die Wand, damit, wer immer da kam, nicht über ihn stolperte.
Eins stand fest: Es war nicht Christopher.
Die Stimmen waren die Stimmen von Männern, tief und kehlig, und es waren mehrere.
Wenn sie nur sein Licht nicht entdeckt hatten! Jumar stand ganz still. Der Schein einer stärkeren Taschenlampe als der seinen näherte sich, auf und ab tanzend, durch die Schwärze. Jetzt konnte er verstehen, was sie sagten – Wortfetzen drangen zu ihm, wurden deutlicher:
»... ihm erklärt, es ist keine gute Idee, sie heute dorthin zu bringen. Was nützt es, ihnen für diesen Weg das Augenlicht zu nehmen, damit sie die geheimen Gänge hier hinunter nicht sehen! Wem sollten sie etwas sagen und wann? Es ist lächerlich, nichts weiter. Wir hätten sie lassen sollen, wo sie waren, mit sehenden Augen, aber dort, wo es nichts zu sehen gab. Gestern waren dort eine Menge Soldaten, sie kamen von den südlichen Hängen. Wer weiß, wo sie heute sind, womöglich stehen sie direkt über unseren Köpfen.«
»Vielleicht hat er es gerade deshalb heute angeordnet. Er ist ein schlauer Fuchs, der Prakash. Er weiß, was ihm geschieht, wenn etwas schiefgeht, glaub mir. Der große T hat ein Auge auf ihn. Er macht einen wie Prakash nicht umsonst zu seiner rechten Hand.«
Die Schatten der Männer glitten um den Felsvorsprung herum, und Jumar blinzelte vor dem hellen Licht. Es mussten fünf oder sechs sein.
Er sah die Patronengurte blitzen, die Gewehre auf ihrem Rücken, die grün gefleckten Jacken – nein. Da war noch etwas. Die drei in der Mitte der Reihe sahen anders aus. Und ehe er begriff, waren sie schon vorüber.
Drei von ihnen hatten nicht dazugehört. Er starrte ihnen nach.
Drei von ihnen hatten Augenbinden getragen; bunt bedruckte, billige Halstücher, eng gebunden, hatten drei von ihnen blind gemacht.
Drei von ihnen hielten sich an einem Seil fest, um den Weg nicht zu verlieren.
Drei waren größer, bewegten sich auf eine andere Art, ungelenker, gröber – nicht nur, weil sie nichts sahen: europäisch. Und nun verstand Jumar auch, wer »sie" waren, die irgendwohin »gebracht" wurden.
Einer von ihnen, der Hinterste, hatte weißblondes Haar. Jumar sah es im Licht glänzen.
Er dachte an Christophers Worte.
Und dann ist er verschwunden. Alle haben ihn gemocht.
Arne. War das nicht sein Name gewesen?
Jumar setzte sich leise in Bewegung, um der kleinen Gruppe nachzuschleichen. Seine Schritte waren nicht zu hören, aber seine Ohren hörten umso besser.
»Was schert mich, was mit dem Hund Prakash geschieht«, rief einer der Männer.
»Sag das nicht so laut!«
»Wer soll hier unten irgendetwas mitbekommen? Es ist wahr –wir sind es, die am Ende dran glauben müssen.«
»Mir gleich.«
Nun waren sie ganz nah, nur noch ein Felsvorsprung trennte Jumar von den Männern.
»Ich hatte eine Frau und zwei Töchter«, sagte der, der »mir gleich" gesagt hatte. »Dann haben sie beim Militär spitzgekriegt, dass ich in den Bergen sitze – es ist nichts von meiner Familie geblieben, was man betrachten möchte. Ich habe kein Haus, in das ich zurückkehren kann. Sie haben es niedergebrannt, bis auf die Grundmauern. In der Asche habe ich noch das Blut gerochen. An einem dieser Tage werden sie mich kriegen, und ich werde über sie lachen. Mir macht keiner mehr Angst.«
Jumar spürte, wie ein Schauder ihn durchlief. Er verstand nichts von alledem, was er gehört hatte. Doch der Hass in den Worten des Mannes biss in sein Herz, wie Qualm in die Augen beißt.
»Da!« sagte einer der Männer jetzt. »Wartet! Hier – hier ist etwas! Verdammt will ich sein, wenn da nicht einer liegt!«
Das Licht der Lampe wurde auf den Boden gerichtet.
»Ein Junge«, sagte Mann mit der Lampe erstaunt. »Wie kommt der hierher?«
»Ist es einer von uns?«, fragte der Mann, der ganz hinten stand.
»Nein. Ich glaube nicht. Trägt die falschen Kleider. Wobei man nie weiß –«
Jumar spürte, wie ihm irgendwo zwischen Zwerchfell und Leber heiß und kalt wurde, und wusste nicht, ob er sich freuen sollte oder sich fürchten.
»Lebt er noch?«, fragte der hinterste Mann.
»Weiß nicht«, antwortete der Mann mit der Lampe. Und da hielt Jumar es nicht mehr aus. Er schlich um die Gruppe herum – und dann sah er im Schein der Lampe Christophers Gesicht.
Der Mann stieß ihn mit dem Stiefel an, und er regte sich – ein wenig nur. Aber er lebte. Er lebte!
»Bewusstlos. Wir sollten ihn mitnehmen«, sagte einer der Männer. »Wenn es einer von uns ist...«
»Und wenn nicht?«
»Wir können ihn doch nicht hier unten liegen lassen! Er muss verletzt sein – er ist höchstens vierzehn!«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Verdammt, der ist klitschnass, sieh dir das an! Den hat der Fluss ausgespuckt! Der ist oben in den Strudel geraten!«
»Das heißt... es ist keiner von uns. Er ist nur zufällig hier.«
»Und das heißt, wenn er wieder aufwacht und den Weg hier heraus findet, wird er den Leuten von dem Strudel erzählen. Von dem Strudel und von dem unterirdischen Fluss ... und von dem Pfad am Ufer entlang.«
»Und das heißt... wir sollten ihn mitnehmen.«
»Willst du ihn tragen?«
»Ach, der schafft es sowieso nicht. Guck ihn dir doch an, der ist schon so gut wie tot. Der kommt hier nicht mehr raus.«
»Wir können uns nicht sicher sein.«
Jumar sah, wie die beiden Männer, die jetzt neben Christopher knieten, sich ansahen.
»Ach nein?«, fragte der eine.
Dann stand er langsam auf und nahm das Gewehr von der Schulter. Er betrachtete es einen Moment, dann entsicherte er es und zielte auf den am Boden liegenden Körper.
Und dann schrie er.
Er schrie so entsetzt, wie nur ein Kämpfer schreit, der im Dunklen an einem unterirdischen Fluss einem Geist begegnet.
»Da!«, schrie er. »Da war etwas! Etwas hat meinen Arm gepackt, gerade in dem Moment, als ich abdrücken wollte! Starrt mich nicht so an! Es war da!«
Die anderen musterten ihn ungläubig.
Aber dann schrie der Zweite. »Jetzt ist es bei mir!«, schrie er. Und dann spürte der dritte Mann, der ganz hinten stand – noch hinter den drei Fremden –, eine sanfte Berührung auf der Wange: die Berührung einer unsichtbaren Hand.
»Das geht nicht mit rechten Dingen zu!«, rief er. »Der da liegt, ist ein Köder! Das ist kein Mensch!«
Und dann hatten es die drei sehr eilig, den Ort zu verlassen, an dem ihnen ein Geist begegnet war.
Nur die drei Fremden fragten sich, was geschehen war.
Später verbreitete sich die Nachricht von den Geistern am unterirdischen Fluss unter den Kämpfern der Berge schneller als die Tuberkulose und beinahe so schnell wie der Tod. Und manche Kämpfer schworen von da an, an klaren Tagen könnten sie das Singen der Geister von weit unter der Erde hören.
Jumar aber kniete sich neben den Körper am Boden und knipste die Taschenlampe an. Ihr Schein fiel auf ein bekanntes Gesicht, umrahmt von feuchtem schwarzem Haar, das eine schöne Platzwunde auf der Stirn freigab.
Wie still Christopher da lag! Seine Brust hob und senkte sich, aber seine Augen blieben geschlossen. Jumar sagte seinen Namen, zuerst flüsterte er, dann rief er, und dann knipste er die Lampe aus und schwieg lange. Er kauerte auf dem Boden neben Christopher und fror und versuchte, im Dunklen einen Gedanken zu finden – eine Idee, was er tun sollte.
Was, wenn Christopher nie wieder aufwachte? Wenn er irgendwann auch aufhörte zu atmen? Seine Kehle brannte, und er schluckte und schluckte, aber die Furcht ließ sich nicht hinunterschlucken.
Schließlich, nach einer oder zwei Ewigkeiten, machte er die Lampe wieder an und fasste den schweren, leblosen Körper unter den Achseln, um ihn hochzuheben. Er konnte ihn nicht hierlassen, was immer auch geschah. Er würde das Tageslicht finden. Wenn er wirklich aufhörte zu atmen, sollte Christopher vorher noch einmal das Tageslicht sehen. Falls er noch einmal die Augen öffnete.
Er legte sich Christopher über die Schultern wie ein totes Tier und machte sich auf einen langen, mühsamen Weg ins Ungewisse. Neben ihm rauschte nur der Fluss.
Nie hatte er sich so allein gefühlt.
Und dann – dann war es Jumar, als regte sich seine sperrige Fracht, ganz leicht nur, kaum merklich –
»Christopher?«, fragte Jumar den Körper.
Er setzte ihn auf dem Boden ab, und dann, endlich, schlug Christopher die Augen auf. Er blickte verwirrt, als suchte er etwas hinter Jumar im Dunkel, wo nichts war.
Und dann sagte er sehr leise: »Könntest du wohl aufhören, mir mit der Taschenlampe in die Augen zu leuchten?«
Der erste klare Gedanke, den Christopher hatte, war: Licht. Es gab also Licht, Licht im Dunkeln, und es gab eine Stimme neben ihm, und also war er wohl wieder bei Bewusstsein.
»Jumar«, flüsterte er. »Was ist geschehen? Wo sind wir?«
»Ziemlich tief unter der Erde«, antwortete Jumar. »Ich bin dir nachgesprungen. Das war alles, was ich tun konnte.«
»Mir ... nachgesprungen?«, fragte Christopher. »Wohin?«
»Erinnerst du dich denn nicht?«
»Ich fürchte, nein. Oh, verdammt. Das Letzte, was ich weiß, ist, dass ich an diesem Tisch mit dem Plastikblumengesteck sitze und einer der Maoisten versucht, mich anzuwerben.«
Jumar schien kurz zu überlegen. Dann fühlte Christopher, wie eine unsichtbare Hand ihm die Haare aus der Stirn strich.
»Hübsche Platzwunde hast du da«, sagte Jumar. »Gehirnerschütterung, würde ich sagen. Retrograde Amnesie.«
»Bitte was?«
Christopher setzte sich mühsam auf. Die Welt drehte sich um ihn. Und was für eine seltsame Welt es war! Sie schien ganz und gar aus Stoff zu bestehen, endlosen Bahnen von Stoff, der sich in komplizierten Faltenmustern in die Dunkelheit wob. Aber nein, es war kein Stoff. Es war Stein.
»Retrograde Amnesie. Wir hatten über die Jahre so viele Ärzte im Palast, wegen meiner Mutter, dass ich ein medizinisches Lexikon geworden bin. Retrograde Amnesie bedeutet, dass man sich an etwas nicht erinnert.«
»Und was tut man dagegen?«
»Man fragt jemand anderen, was passiert ist.«
Christopher hörte das Lächeln in Jumars Stimme. »Da war dieser Drache ... und du bist in das Wasserbecken gestürzt – also wegen des Drachen –, und dann bist du einen unterirdischen Wasserfall hinuntergefallen – zwei, um genau zu sein, und dann bin ich dir gefolgt.«
»Bist du – bist du sicher, dass nicht du es bist, der einen Schlag auf den Kopf abgekommen hat? Hört sich reichlich konfus an.«
Jumar seufzte. »Kannst du aufstehen?«
Während er Christopher aufhalf, sagte er. »Ach ja. Und es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht.«
Die Welt um Christopher hörte langsam auf, sich zu drehen.
»Ja?«
»Die gute ist: Es gibt einen Ausweg. Die schlechte ist, dass ich das von ihnen weiß. Den Ma – den Aufständischen. Sie sind irgendwo vor uns. Offenbar war genau das ihr Schleichweg. Nur, dass wir einen etwas rasanteren Einstieg hatten. Sie müssen in der Nähe hier hinuntergeklettert sein, und irgendwo werden sie wieder ans Tageslicht klettern, und das werden wir ebenfalls tun.«
»Wie viele waren es?«
»Drei. Und sie schienen es eilig zu haben. Sie sind ein gutes Stück vor uns, keine Sorge.«
»Hast du gehört, weshalb sie es eilig hatten?«
Es war ihm, als zögerte Jumar einen winzigen Moment lang.
»Nein«, antwortete dieser dann. »Sie waren schweigend unterwegs.«
Auch Jumar und Christopher wanderten schweigend das Ufer entlang. Manchmal stützte Christopher sich noch auf seinen unsichtbaren Begleiter, wobei ihm aber stets dessen Füße in die Quere kamen, und nach einer Weile ließ der Schwindel etwas nach.
»Ich wünschte, ich wüsste«, flüsterte er, »wie lang dieser Weg ist. Das würde es leichter machen.«
Sie gingen eine Ewigkeit. Ab und zu blieben sie stehen und ruhten ein paar Minuten aus, doch dann fingen sie jedes Mal an zu frieren.
Irgendwann verließ Christopher alle Kraft, und er fragte sich beinahe ärgerlich, ob Jumar niemals müde wurde. Wie gern hätte er sich einfach fallen lassen und wäre nie wieder aufgestanden! Sein Magen knurrte, und sein Kopf hatte wieder begonnen zu dröhnen.
»Können wir eine einzige, längere Pause machen?«, fragte er schließlich. »Es ist mir egal, ob ich erfriere.«
»Ich bin so froh, dass du das sagst«, flüsterte Jumar. »Ich kann schon seit einer ganzen Zeit nicht mehr. Aber ich wollte nicht der Erste sein, der aufgibt.«
Da lachte Christopher.
Sie setzten sich nebeneinander auf einen großen Felsen, der wenigstens nicht nass war, und Jumar knipste die Taschenlampe aus, um die Batterien zu sparen. So saßen sie lange im Dunkeln und hörten einander atmen.
»Ich habe noch die Fruchtgummidrops«, sagte Jumar nach einer endlosen Zeit. »Wir müssen etwas essen. Sonst schaffen wir es nicht.«
»Oh, bitte«, stöhnte Christopher. »Nicht diese Fruchtgummidrops!«
Aber sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen bei dem Gedanken an Essen, und so steckte er kurz darauf einen klebrigen Klumpen in den Mund, den Jumar ihm reichte. Auf eine geheime Weise hatte sich der Geschmack der Masse verbessert, und er kaute dankbar darauf herum.
»Weißt du«, sagte Jumar irgendwann, »wenn dies alles vorbei ist, wird er mir den Schlüssel geben.«
»Welchen Schlüssel?« Christopher kratzte mit dem Finger ein Stück Fruchtgummi von seinem Backenzahn.
»Den Schlüssel zu jenem Raum im Palast, der nur einmal im Jahr geöffnet wird«, antwortete Jumar. »Oder vielleicht öffnet er ihn heimlich. Ich glaube, das tut er.«
»Wovon redest du?«
»Du hast nichts davon gehört?«
»Nein.«
»In dem Raum steht ein einziger Tisch, und auf dem Tisch steht eine Schatulle. Sie ist mit Gold beschlagen und mit Silber verziert –«
»Also ungefähr so geschmackvoll wie der Siegelring«, bemerkte Christopher.
»Was?«
»Nichts. Erzähl weiter.«
»Der Deckel der Schatulle trägt Diamanten und Rubine, und sie ist ur-, uralt. Im Museum in Kathmandu gibt es eine Kopie davon, aber das ist, wie gesagt, nur eine Kopie. Die richtige Schatulle steht in jenem verschlossenen Raum. Der Raum befindet sich im dritten Stock, ganz am Ende eines langen Korridors. Durch das Schlüsselloch sieht man nur Schwärze, denn er hat kein Fenster. Ich meine: Natürlich hat er kein Fenster, sonst könnte ja jemand von außen kommen und versuchen, die Schatulle zu stehlen. Einmal, zu Neujahr, gibt es eine große Prozession. Der König ist dabei und eine Menge seiner Soldaten, und die Schatulle wird durch die Straßen getragen, in einer Art Sänfte, komplett mit Vorhängen. Die Leute streuen gefärbte Reiskörner und Blumen, wenn die Prozession vorüberzieht, und wer ein Stück der Schatulle durch die Vorhänge der Sänfte glänzen sieht, von dem sagt man, dass sein folgendes Jahr ein glückliches sein wird.«
»Aber was ... ist in der Schatulle?«, fragte Christopher.
Jumars Stimme klang feierlich, und selbst das Echo schien zu verstummen, als er sagte: »Die Macht des Königshauses.«
»Die ... Macht? Wie kann sich Macht in einer Schatulle befinden?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Jumar. »Aber wenn ich zurückkehre, wird er mir den Schlüssel geben. Bestimmt. Denn dann wird alles anders sein. Und ich werde die Macht nehmen und die Drachen zerschmettern und den Feldern ihre Farben zurückgeben. Ich werde den Hunger vertreiben und den Hass in den Menschen, wie es alle Könige getan haben. Ehe mein Vater sich in seinen Garten zurückzog.«
Eine Weile breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus, und alles, was man hörte, war das geheimnisvolle Gluckern des Flusses.
»Daran glaubst du?«, fragte Christopher schließlich. »Du glaubst, dass es etwas gibt, das in eine Schatulle passt und das all das bewerkstelligen kann? Was ... was soll das sein?«
»Vielleicht eine magische Waffe?«, flüsterte Jumar. »Oder ein Buch? Oder – vielleicht ist es etwas Unsichtbares, so wie ich.«
Christopher seufzte. »Es gibt zu viele Märchen in diesem Land.«
»Es gibt Farbdrachen in diesem Land«, sagte Jumar ernst. »Und Menschen, die in Bronzestatuen verwandelt werden.«
Da wusste Christopher nichts mehr zu erwidern, und sie fielen wieder in Schweigen zurück.
Vielleicht war ja alles so, wie dieser seltsame Junge sagte. Vielleicht gab es eine geheime Macht in einem verschlossenen Raum, die alles retten konnte. Er hoffte es.
Denn wenn sich etwas ändern sollte, war diese Macht bitter nötig.
Sie mussten eingeschlafen sein, denn als Christopher aufwachte, war er so steif gefroren, dass er sich kaum rühren konnte.
»Mir war wohl noch nie so kalt«, sagte er und rüttelte Jumar wach.
»Ich habe geträumt ...« murmelte Jumar. »Von den Gletschern ... und dem Schnee ... er war so weiß, Christopher! So weiß, dass man nicht hinsehen konnte. Wir sind blind einen Weg hinaufgestiegen, bis über die Wolken ...«
»Wach jetzt besser auf, und komm mit«, sagte Christopher. »Wenn wir noch ein Weilchen hier sitzen bleiben, wirst du den Schnee niemals sehen.«
Er nieste, und sie machten sich wieder auf den Weg.
Die Batterien der Taschenlampe wurden schwächer. Jumar machte sie jetzt nur noch an, wenn sie durch Tasten nicht weiterkamen. Und dann war das Ufer zu Ende. Es hörte einfach auf.
Christopher stand fröstelnd auf dem letzten Felsen und sah sich um. »Wir müssen schwimmen«, stellte er fest.
»Ich glaube nicht, dass sie geschwommen sind«, sagte Jumar. »Sie kannten sich aus. Es muss hier irgendwo einen Ausgang –«
Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment zerriss ein Knall die Stille. Christopher zuckte zusammen. Ein weiterer Knall folgte, dann noch einer. Jumar löschte die Lampe.
»Schüsse«, wisperte er.
Das Echo spielte mit dem Geräusch, warf es an den Wänden hin und her, zersplitterte es und vertausendfachte seine Farben –es war unmöglich zu sagen, woher es gekommen war.
Dann knallte es ein viertes Mal, und diesmal war es Christopher, als dränge der Knall von oben zu ihnen herab. Er legte den Kopf in den Nacken.
»Jumar«, flüsterte er. »Sieh nur. Dort oben.«
Genau über ihnen zeichnete sich weit, weit oben ein kreisrunder Fleck ab, in dem es helle Löcher gab. Aber es waren keine Löcher. Christopher lächelte. Es waren Sterne.
»Dort ist der Ausgang«, sagte er. »Es ist Nacht über uns.«
Oben war es jetzt still.
Jumar ließ das Licht der Lampe die Wand entlanggleiten. Sie verengte sich über ihnen zu einer Art Kamin, und dann sahen sie auch die Treppe. Jemand hatte eine Reihe grober Stufen in den Stein gehauen, mehr eine Hilfe zum Klettern als eine wirkliche Treppe.
Christopher stieg voraus. Er hielt sich an den Vorsprüngen der Wand fest und bemühte sich, nicht nach unten zu sehen.
»Arne«, sagte er, »der konnte so was. Es gab diese Halle in der Nähe, und er ist ständig dort in der künstlichen Wand herumgestiegen. Einmal hat er mich mitgenommen, aber ich hatte zu viel Angst. Ich habe nur dagestanden und ihm zugesehen.«
»Na, jetzt bekommst du auch ein wenig Übung«, sagte Jumar.
Dort, wo der Kamin begann, hörten die Stufen auf.
»Was jetzt?«, fragte Jumar.
»Bist du als Kind manchmal Türrahmen hochgeklettert?«
»Türrahmen? Nie.«
»Vielleicht gibt es in Palästen solche Türrahmen nicht. Aber die Türrahmen bei uns kann man hochklettern. Man stützt sich hinten mit dem Po ab und stemmt die Beine in den Rahmen auf der anderen Seite, und dann kriecht man langsam aufwärts.«
»Davor hattest du keine Angst?«
»Vor einem Türrahmen?« Christopher schnaubte. Dann blickte er nach oben, und das Licht der Sterne erschien ihm unendlich weit fort, und unter ihm lagen zehn Meter Abgrund.
»Zeig es mir«, bat Jumar. »Zeig mir, wie man einen Türrahmen hochklettert.«
»Na gut«, sagte Christopher.
Und er begann, sich den Felsenkamin hochzustemmen, Stückchen um Stückchen.
»Es ist... ganz leicht«, keuchte er. »Man braucht... überhaupt keine Angst zu haben ...«
Er schloss die Augen und sah die Küche zu Hause vor sich. Er war wieder sechs Jahre alt, und Arne stand am Herd und backte Pfannkuchen und sang vor sich hin, und von draußen drang das Geräusch des Windes in den Zweigen im Garten. Dann drehte Arne sich um und schenkte ihm ein breites Grinsen: »Pass aber auf, dass du den Rahmen nicht ausdehnst mit deiner Kletterei«, sagte er. »Sonst schlackert die Tür später nur so darin hin und her, und wir müssen sie mit dem Nudelholz ausrollen, damit sie breiter wird.«
Und der sechsjährige Christopher lachte. Die Welt war in Ordnung.
Dann wandte sich Arne wieder der Pfanne zu, und als er sich das nächste Mal umdrehte, war es nicht mehr Arne. Christopher erschrak. Der Mann, der jetzt am Herd stand, hatte dunkle Augen, hart wie Granit, und trug über seinem Kopftuch eine Militärkappe.
Christopher machte die Augen auf.
Über sich spürte er den Wind der Nacht. Er stieß sich ein letztes Mal mit den Füßen an der Wand ab – dann saß er auf der steinernen Umrandung – eines Brunnens. Er hörte Jumar keuchen, als er sich hinter Christopher hinaufzog.
Seine Erinnerung hatte ihn den Kamin hinaufgetragen, ans Licht der Sterne.
Gegen die feuchte Kühle unter der Erde erschien Christopher die Nachtluft beinahe warm. Er blieb einen Moment benommen sitzen. Um sie herum erhoben sich die schwarzen Umrisse von Hütten. Sie waren mitten in einem Dorf herausgekommen.
Als Christopher die Beine über den Brunnenrand schwang, trat er in etwas Weiches, Nachgiebiges und schrie auf.
»Jumar«, flüsterte er, »Jumar, gib mir mal die Lampe –«
Der Lichtkegel fiel auf den ausgestreckten Körper eines Mannes, der leblos neben dem Brunnenrand lag, das Gesicht nach unten. Er war warm, aber er rührte sich nicht. Christopher dachte an die Schüsse. Alles in ihm sträubte sich dagegen, den Körper zu berühren, der da zu seinen Füßen hingestreckt lag. Einmal hatten sie auf der Straße vor ihrem Haus eine tote Katze gefunden, als sie Kinder gewesen waren. Arne hatte sie auf seinen Armen an den Straßenrand getragen, aber Christopher hatte nur so dagestanden, als wären seine Füße mit der Erde verwachsen. Jetzt zwang er sich, niederzuknien und den Körper zur Seite zu rollen.
Das letzte Licht der Taschenlampe fiel auf ein Gesicht, das Christopher mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Doch diese Augen sahen nichts mehr. Sie waren kalt und hart wie Granit. Das Kopftuch, das die dunklen Haare zurückhielt, war verrutscht, der Mann hatte seine Kappe verloren, und man hatte ihm das Gewehr und den Patronengurt abgenommen.
Seine Kleidung war dunkel vor Blut. Blut, das jetzt auch an Christophers Händen klebte.
Christopher suchte einen Puls, fand keinen und stand auf. Ihm war wieder schwindelig. Er taumelte ein paar Schritte zur Seite und übergab sich.
In jener Nacht, in der die Schüsse fielen, kam ein Fremder in das Dorf unter dem Steilhang.
An seinen Händen klebte Blut, und er sprach wirr.
Manchmal änderte seine Stimme kaum merklich ihren Klang, als hätte er zwei Zungen statt einer, aber später war sich niemand ganz sicher.
Der Fremde war jung und trug wertvolle Kleider, aber sie waren zerfetzt, und auf seiner Stirn klaffte eine Wunde. Er klopfte kurz vor Mitternacht an die Tür des letzten Hauses im Dorf, und zuerst erschraken sie und wollten nicht öffnen. Die Schüsse hatten sie geweckt, und sie hatten seitdem nicht wieder ins Bett zurückgefunden. Sie saßen in der Küche um das offene Feuer, dessen Flamme sie abwechselnd fütterten, und kochten Suppe.
Es waren ihrer zwölf, alle auf verschlungenen Wegen miteinander verwandt, Junge und Alte, eine blinde Greisin und ein winziges Kind, das in seinen zwei Monaten nur eines gelernt hatte: Wenn in der Ferne die Schüsse fielen, war es besser, still zu bleiben und nicht zu weinen. Der Vater des Kindes sah aus dem kleinen Fenster neben der Tür.
»Es ist ein Junge«, murmelte er. »Nicht viel älter als vierzehn Jahre, würde ich sagen. Er sieht nicht aus wie einer von ihnen. Und er hat Angst.«
So ließen sie den Fremden herein, und als sie sahen, dass seine Kleider nass waren, suchten sie andere für ihn und hängten die seinen zum Trocknen auf.
»Woher kommst du?«, fragte der Mann den Jungen.
»Aus dem Brunnen«, sagte er. »Daneben liegt ein Toter mit Augen aus Stein –«
Ein Husten schüttelte ihn, als wäre er zu lange in der Kälte gewesen, und da wussten sie, dass er im Fieber sprach. Sie betteten ihn neben das Feuer und gaben ihm von ihrer Suppe, und später behauptete die Alte, die ohne Augenlicht, die nur die Geräusche wahrnahm, da wären zwei Jungen gewesen, eng zusammengedrängt, und sie hätten die Suppe geteilt. Aber auf die Alten soll man nicht hören.
In dieser Nacht hörten Christopher und Jumar am Feuer ein Märchen, an das sie sich später lange erinnern würden. Die blinde Greisin erzählte es, ihre Spinnenfinger wanderten dabei unstet durch die Luft, und die Schatten ihrer Bewegungen malten Figuren an die Lehmwände des niedrigen Raumes.
Christopher umfasste die Metallschale mit der Suppe mit beiden Händen, und es tat ihm leid, dass er sie Jumar nicht geben konnte, denn der hatte seine Handschuhe mit den übrigen nassen Kleidern ausgezogen. Und als niemand hingesehen hatte, waren die Kleider neben denen von Christopher am Feuer erschienen – als hätten sie sich selbst dort aufgehängt. Eine Decke war unbemerkt verschwunden, die hatte Jumar wohl um seine bloßen Schultern gelegt. Nun verschwand von Zeit zu Zeit der Blechlöffel. Christopher hoffte, dass auch das niemand bemerken würde.
In der Suppe schwammen Nudeln wie Fäden, aus denen man Geschichten spinnt.
Christopher entdeckte auf einem nicht ganz gerade zusammengezimmerten Regal einen ganzen Vorrat von Packungen in bunt bedrucktem Plastik, und er las mit einigem Erstaunen den Aufdruck Maggi.
Die Suppe war das Beste, was er gegessen hatte, seit er auf so merkwürdige Art in dieses merkwürdige Land geraten war, und er konnte sich nicht genug darüber wundern, wie Maggi-Ins-tant-Nudeln den Weg hier herauf in die Einsamkeit der Berge gefunden hatten.
Nun, sie hatten es getan, und das war die Hauptsache.
»Wenn niemand schlafen kann, muss erzählt werden«, flüsterte die Alte heiser. »Wenn erzählt wird, kann keiner auf die Schüsse lauschen. Vor langer, langer Zeit...«
Ihre Finger verknoteten sich überlegend, »als die Märchen noch wahr waren und nicht einmal ich geboren, da gab es in einem Land irgendwo eine wunderschöne Prinzessin. Sie war so schön, dass die Berge erzitterten, wenn sie in ihren Hängen spazieren ging, und die Zikaden verstummten, wenn sie sie sahen. So schön, dass die Dichter bei Hofe keine Worte für ihre Schönheit fanden und die Musiker alle davonliefen, weil die wunderbarsten ihrer Lieder vor der Schönheit der Prinzessin hässlich und gemein klangen – wie das Geräusch von Wagenrädern im Sand. Alle Vögel des Königreiches sangen von ihrer Schönheit, und sie waren es auch, die den Ruf der Königstochter in die Berge trugen, weit hinauf, wo niemand mehr wohnt und niemand sich mehr hinwagt. Es überraschte die Vögel, dass sie dort einen Wanderer vorfanden, und sie sangen ihr Lied von der Schönheit der Prinzessin für ihn mit besonderer Sorgfalt, denn er sah so einsam und verloren aus.«
Christopher sah, wie die Kleider am Ofen kurz verschwanden –wie ein Flackern nur, eine Einbildung, eine Täuschung des Auges. Jumar testete, ob sie schon trocken waren. Er sollte sich nur vorsehen, dachte Christopher. Früher oder später würde jemand doch bemerken, dass etwas nicht stimmte. Und dann würden die Gerüchte in den Dörfern ihnen vorauslaufen, sie verfolgen, neben ihnen gehen und sie einkreisen wie eine Meute hungriger Hunde. Man wusste nie, wozu Gerüchte in der Lage waren ...
»Der Wanderer lauschte ihrem Gesang«, fuhr die Alte fort, und einen Moment war Christopher verwirrt und dachte an singende Gerüchte. Aber nein. Sie sprach von Vögeln. »... und in der folgenden Nacht träumte er von der Prinzessin. Sie ging in der Ferne vorüber und sah ihn nicht, aber als er am Morgen erwachte, teilte er den Vögeln seinen Entschluss mit: Er würde ins Tal hinabsteigen, um die Prinzessin einmal mit eigenen Augen zu sehen. Die Vögel wollten ihn warnen, denn die Prinzessin war eine Prinzessin, und es ist nicht so leicht, eine Prinzessin mit eigenen Augen zu sehen – aber der einsame Wanderer war nicht von seinem Entschluss abzubringen. Er wanderte viele, viele Wochen, bis er die Stadt der Prinzessin erreichte, und auf dem Weg träumte er jeden Tag von ihr. Sie ging stets in der Ferne vorbei und zeigte ihm niemals ihr Gesicht. Als der Wanderer die Stadt erreichte, konnte er sein Glück kaum fassen, denn gerade an jenem Tag gab es ein Fest dort, und eine große Prozession zog durch die Gassen. Und mitten in der Prozession wurde auch die Prinzessin in einer Sänfte durch die Straßen getragen. Der König nämlich wollte die Prinzessin bald verheiraten, und die Prozession sollte einen herrlichen Auftakt darstellen für die Woche, in der er den richtigen unter den Freiern auszuwählen gedachte. Die Musiker, die nicht weggelaufen waren, spielten einen Marsch, und die Leute jubelten am Straßenrand. Doch von der Prinzessin sah der Wanderer nichts, denn die Vorhänge an ihrer Sänfte verbargen sie vor den Blicken der Neugierigen.«
Oder vielleicht, dachte Christopher, war sie unsichtbar. Die Kleider am Ofen waren jetzt fort. Dafür war die Decke wieder aufgetaucht, fein säuberlich zusammengefaltet in einer entfernten Ecke des Raumes. Wenn Jumar so weitermachte, würden Christophers Nerven den Rest der Reise nicht überleben.
»Der Wanderer jedoch kämpfte sich durch die Menge«, zischte die Alte. »Ho! Bis ganz nach vorne kämpfte er sich, schlüpfte zwischen den Soldaten hindurch, die den Umzug begleiteten, und streckte die Hand nach dem Vorhang aus – die Prinzessin sah ihn einen Moment lang an, und ihre Schönheit übertraf alles, was er sich ausgemalt hatte.
Die Prinzessin aber sah nur einen Mann in abgerissenen Kleidern und mit wirrem Haar, und sie schrie nach den Soldaten. Ehe der Wanderer etwas sagen konnte, hatte man ihn schon gepackt und grob zurückgezerrt, er stürzte zu Boden und fand sich gleich darauf alleine im Straßengraben wieder, während die Prozession mit ihren Farben und ihrer Musik in der Ferne verschwand.
Da wurde das Herz des Wanderers schwer. In der Nacht schlich er sich zum Garten des Palastes und stieg über die Mauer, und dort verwandelte er sich in eine Trauerweide, die in der duftenden Erde zwischen den Blumenrabatten Wurzeln schlug. Als die Prinzessin am nächsten Tag im Schatten jenes Baumes auf einer Bank saß, spürte sie plötzlich die Trauer des Wanderers in sich selbst, und sie begann, hemmungslos zu weinen, ohne zu begreifen, wieso. Sie konnte und konnte nicht aufhören zu weinen. Denen, die sie fragten, weshalb sie weine, konnte sie nichts erwidern. Sie weinte Tag und Nacht, und schließlich musste ihr Vater alle Freier wieder nach Hause schicken. Die Prinzessin indessen weinte weiter. Niemand vermochte sich zu erklären, wie sie so viele Tränen hervorbringen konnte. Sie weinte, bis die Wege in den Straßen der Stadt unter Wasser standen, und die Leute begannen, mit Booten von Tür zu Tür zu staken. Und auch dann hörte sie nicht auf zu weinen. Sie weinte, bis das Wasser zu den Türen und Fenstern stieg, bis die Menschen sich auf ihre Dächer retten mussten, und schließlich verschwand das ganze Land unter ihren Tränen. Dort, wo es einst lag, ist heute ein Meer, ein Meer aus salzigen Tränen. Manche sagen, die Bewohner des Landes hätten sich in Fische verwandelt, aber ich fürchte, das ist gelogen, und sie sind alle jämmerlich ertrunken. In der Mitte des Meeres gibt es eine einzige, einsame Insel, und auf der wächst eine einzige, einsame Trauerweide. Und die Seeleute, die an der Insel vorüberfahren, sagen, an windstillen Tagen könnte man sie seufzen hören wie einen Menschen.«
Die Alte verstummte und wiegte ihren Kopf nachdenklich hin und her.
»Was für ein trauriges Märchen«, sagte Jumar. »Warum muss es schlecht ausgehen?«
»Hah! Alle Märchen gehen schlecht aus«, erklärte die Alte mit einer gewissen Zufriedenheit. »Die Leute haben es nur noch nicht gemerkt. Die Märchen sind wie die Wirklichkeit. Aber jetzt ist es wohl Zeit zum Schlafen, nicht wahr?«
Die Familie rückte näher zusammen und machte ein Bett frei für den Gast, und dort lagen Jumar und Christopher bald darauf dicht aneinandergedrängt, denn es war ein schmales Bett, und es gab nur eine Decke. Christopher rutschte hierhin und dorthin, doch das Bett wurde nicht größer. Es war eine Sache, dicht an jemanden gedrängt in einer Felsengrotte an einem unterirdischen Fluss zu sitzen; so dicht zusammengequetscht in einem Bett zu liegen, war eine andere.
»Keine Angst«, flüsterte Jumar ganz leise. »Ich beiße dich schon nicht.«
Christopher knurrte.
»Weißt du, was ein Glück ist?«, wisperte er leise, ganz leise. »Dass es so dunkel ist. Die Decke und die harte Unterlage sind jetzt sicherlich unsichtbar. Oder trägst du beim Schlafen Handschuhe und Strümpfe?«
Jumar lachte leise. »Und weißt du, was ein Glück ist? Dass du kein Mädchen bist. Hast du schon einmal so nahe mit einem Mädchen zusammengelegen?«
»Bist du verrückt?« fragte Christopher entsetzt.
»Ich dachte ja nur«, wisperte Jumar und gähnte. »Wo doch in Europa alles anders ist.«
Er wachte davon auf, dass jemand neben ihm sich ruckartig aufsetzte. Draußen graute der Morgen herauf.
»Tapa?«, fragte Jumars Stimme.
»Psst!« machte Christopher, denn auf dem Boden lagen drei der Kinder und schliefen fest.
»Christopher?«
»Was ist los?«
»Ich habe ihn wieder in meinen Armen gehalten«, wisperte Jumar. »Ich habe es dir doch erzählt, nicht wahr? Wie er gestorben ist? Eben hielt ich ihn wieder fest. Da war all dieses Blut –es wurde immer mehr, und ich drohte darin zu ertrinken. Es stieg bis unter die Decke des Korridors, und dann öffnete ich die Tür, und es strömte in den Hof hinaus und riss mich mit... ich konnte gar nichts tun, Christopher, es war zu viel Blut. Viel zu viel Blut...«
»Es war nur ein Traum, Jumar«, wisperte Christopher: »Das war der unterirdische Wasserfall und dieses seltsame Märchen.«
»Nein, Christopher«, flüsterte Jumar. »Es war kein Traum. Dieses Blut in den Straßen von Kathmandu ... es war so wirklich. Es wird etwas Fürchterliches geschehen. Ich habe es gesehen.«
Christopher legte die Arme um ihn, wie Arne früher die Arme um den sechsjährigen Christopher gelegt hatte, und auf einmal kam es ihm nicht mehr komisch vor.
»Schlaf weiter«, flüsterte er, als spräche er zu einem kleinen Kind. »Du bist so nahe, dass wir nur das Gleiche träumen können. Wir träumen davon, wie es wird, wenn alles vorbei ist. Wir sitzen auf einer Wiese in den Bergen, du und Arne und ich, und die Sonne scheint, und wir kauen Fruchtgummi, ekliges, grünes Fruchtgummi, schon bald, ganz bald ...«
Aber so bald würden sie auf keiner Wiese im Sonnenschein mehr sitzen.