Deutschland, Oktober

Der Tag, an dem Arne verschwand, war golden.

Es war einer jener späten Oktobertage, an denen die Farben noch einmal aufflackern, ehe sie endgültig verblassen – einer jener Tage, an denen man glaubt, eine letzte Erinnerung an den Sommer zu spüren, obwohl Pullover und Cordhosen längst die Straßen bevölkern.

Christopher würde sich später immer an das Gelb der Kastanien im Schulhof erinnern und an das Blau des Himmels an jenem Tag – immer, wenn er an Arne dachte.

Jeder in der Schule hatte Arne gemocht.

Alle Mädchen ab der siebten Klasse waren in ihn verliebt gewesen, und mindestens zwei Drittel der Jungen hatten ihn bewundert. Christopher dagegen war jemand, dessen Existenz die meisten noch nicht einmal bemerkt hatten.

Manchmal, wenn jemandem sein Nachname auffiel, erntete er einen überraschten Blick: »Hagedorn? Bist du verwandt mit Arne Hagedorn? Bist du etwa sein kleiner Bruder?«

Und wenn Christopher nickte, schüttelten sie den Kopf, als wollten sie ihm bedeuten, dass er sich irrte. Sie sagten: »Dich haben wir uns ganz anders vorgestellt. Ihr seht euch aber auch gar nicht ähnlich.«

Nein, das taten sie nicht.

Arne war groß und breit und stark und hatte dieses weißblonde Haar und dieses Gesicht, das einfach niemand wieder vergaß.

Christopher war klein und schmächtig und dunkel, und er hatte die Züge seiner Großmutter geerbt, die keiner von ihnen kennengelernt hatte und die vor einer Ewigkeit aus Nepal gekommen war, um einen großen, blonden Deutschen zu heiraten – einen wie Arne.

Weshalb es natürlich niemanden überrascht hatte, als Arne beschloss, nach der Schule für ein Jahr nach Nepal zu gehen.

»Auf der Suche nach seinen Wurzeln, so ein ernster Junge«, hatten sie gemurmelt und anerkennend genickt; ja, und arbeiten wollte er, in einem Waisenhaus. Das war Arne Hagedorn.

Nachdem bekannt war, dass er fortging, hatten sich auf einen Schlag alle Mädchen in ihn verliebt, die noch nicht in ihn verliebt waren, und er hatte versprechen müssen, Dutzende von E-Mail-Adressen auf seine Reise mitzunehmen.

So wie Christopher seinen Bruder kannte, würde er tatsächlich versuchen, allen zu schreiben, wenigstens ein einziges Mal. Arne tat solche Dinge. Er tat alles, was getan werden musste. Wenn jemand das Basketballturnier retten musste, war Arne zur Stelle. Wenn jemand die Schachmeisterschaft für die Schule gewinnen musste, gewann Arne sie. Selbst wenn jemand einen Streik gegen die Lehrer anzetteln musste, weil etwas Ungerechtes geschehen war, tat Arne es – und deshalb mochten alle Arne.

Christopher mochte Arne auch.

Arne war beinahe zwanzig. Er selbst war erst vierzehn. Er hätte sich niemals getraut, einem Mädchen eine E-Mail zu schreiben. Er traf beim Basketball keinen Korb, er hätte die Schachmeisterschaft vermasselt, und bei einem Streik gegen die Lehrer hätte er gekniffen.

Er bewunderte Arne, wie alle ihn bewunderten.

Wenn die Leute mit seinen Eltern sprachen, sagten sie: »Sie müssen sehr stolz sein auf ihren Sohn!«

Und wenn Christophers Eltern fragten: »Auf welchen?«, dann antworteten sie: »Na, auf Arne natürlich! Haben Sie denn noch einen Sohn?«

So waren die Dinge gelaufen.

Bis Arne an jenem goldenen Oktobertag verschwand.

Natürlich verschwand er nicht wirklich an jenem Tag. Er war schon vorher verschwunden, nur hatte es niemand gewusst.

Aber an jenem Tag bekamen Christopher und seine Eltern die Nachricht.

Das Waisenhaus, in dem Arne arbeitete, hatte ihm ein paar Tage freigegeben, und Arne war in den Himalaja gefahren, um zu wandern. Allein. Und jetzt, nach vier Wochen, hatten die Leute vom Heim endlich den Mut aufgebracht, eine Nachricht zu schicken, dass er nicht zurückgekehrt war. Drei Wochen lang hatten seine Eltern es auf das Internet geschoben, das E-Mail-Programm, Arnes abenteuerlichen Lebenswandel – »Er wollte nur für eine Woche weg«, sagte Christophers Vater ungefähr 27 Mal, »er wollte nur für eine Woche weg, und sie informieren uns nach vier Wochen, dass er nicht wieder aufgetaucht ist?«

Jetzt hörte man auch in den Nachrichten, dass die Lage in Nepal kritisch war. Es standen wieder mehr Panzer auf dem Durbar Square vor dem Palast. Auf der Internetseite des Auswärtigen Amts rieten sie einem davon ab, nach Nepal zu fahren. Was man tun sollte, wenn man schon da war, erklärten sie einem nicht. Vermutlich nach Hause fliegen. Vermutlich in der Hauptstadt bleiben. Vermutlich nicht alleine in die Berge wandern gehen. In den Bergen saßen die Maos. Die Kommunisten. Arne hatte Witze über sie gemacht und geschrieben, sie würden den Touristen ein zweites Eintrittsgeld für das Annapurnagebiet abnehmen und Flugblätter austeilen, auf denen sie in schlechtem Englisch erklärten, sie wären die eigentliche Regierung des Landes. Ansonsten wären sie höflich und zurückhaltend.

Seit zwei Wochen las Christopher alles über die Maoisten, was er finden konnte. Es war nicht viel, aber es barg eine beunruhigende Faszination. Christopher war klein und schwach und vielleicht nicht mutig, aber er war auch nicht dumm. In jenen Tagen des Wartens auf eine E-Mail von Arne fragte er sich zum ersten Mal in seinem Leben, ob Arne womöglich dumm war. Nicht im eigentlichen Sinn des Wortes. In einem anderen, weit-greifenderen Sinn, der beinhaltete, dass man alleine ins Anna-purnagebiet wandern ging, wenn alle einem davon abrieten.

Und dann kam also jene Nachricht. Es war ein Donnerstagnachmittag.

»Man kann sich natürlich nicht sicher sein«, sagte Christophers Vater und drehte seine schmale Brille in den Händen. »Womöglich hat er sich einen Fuß verstaucht und sitzt in einem Dorf mitten im Nichts und bringt den Kindern der Einheimischen Französisch bei, während sie seinen Knöchel mit Urwaldblättern bandagieren. Das sähe ihm ähnlich.«

»Du bist übergeschnappt«, sagte Christophers Mutter. »Vollkommen übergeschnappt. Urwaldblätterbandagen! Sitzt da, in deinem Sessel, und redest über Urwaldblätterbandagen! Wir müssen doch etwas tun, irgendetwas! Ruf jemanden an, die Botschaft oder was –«

»Das habe ich schon getan«, sagte Christophers Vater.

»Dann ruf sie eben noch mal an!«, schrie seine Mutter und warf das Saftglas um, das sie eine Sekunde vorher auf den Tisch gestellt hatte. Christopher sah, wie ihre Hände zitterten, als sie die Scherben aufsammelte. Dann goss sie sich statt Saft ein halbes Glas voll Gin ein, und Christophers Vater stand aus seinem Sessel auf und nahm es ihr nach dem ersten Schluck weg, um es in den Ausguss zu kippen.

»Das nützt auch nichts«, sagte er.

»Sei doch nicht so verdammt ruhig!«, schrie seine Mutter. »Es kümmert dich wohl gar nicht, dass unser Sohn von irgendwelchen bewaffneten Kommunisten entführt worden ist! Es lässt dich vollkommen kalt! Das ist es, es lässt dich kalt, es –«

Und dann brach sie auf der Sofakante zusammen und löste sich in einen Wasserfall aus Tränen auf. Christopher stand nur da und sah, wie seine Eltern sich umarmten und versuchten, sich gegenseitig zu trösten, und fühlte sich so steif wie eine Statue. Er sagte sich, dass er noch etwas anderes fühlen musste – etwas außer der Statue, zu der er wurde. Schreck. Entsetzen. Trauer. Wut. Selbst ein heimliches Schuldgefühl, weil er keinen Schreck, kein Entsetzen und keine Trauer empfand. Aber da war nichts. Alle Gefühle in Christopher waren versteinert. Als hätte Arne sie mitgenommen – mit nach nirgendwohin.

Drei Tage lang geschah nichts. Dann hieß es, eine Splittergruppe der Maoisten hätte bekannt gegeben, dass sie drei Europäer in ihrer Gewalt hatten, aber es gab nirgends Bilder oder Namen, und es gab keine Verhandlungsbasis, denn die Maos konnten sich nicht über ihre Forderungen einigen.

Christophers Mutter schluckte Beruhigungstabletten wie Bonbons, und sein Vater telefonierte täglich stundenlang mit Leuten in Ämtern und Botschaften, die ihm nicht helfen konnten. In der Schule spürte Christopher jetzt die Blicke der anderen, die sich nicht zu fragen getrauten, doch er wich ihnen aus. Zu Hause wusch er das Geschirr ab, das sich im Haus inzwischen überall stapelte, und hängte die Wäsche auf, die er in einer muffig riechenden Waschmaschine fand. Irgendwann besorgte er sich in der Bibliothek einen Bildband über Nepal und zog sich damit in sein Zimmer zurück. Unter der Kruste der Statue, zu der er geworden war, begann es langsam zu brodeln. Vielleicht würde sie von innen schmelzen. Aber wenn sie explodierte, gab es niemanden mehr, der das Geschirr abwusch und die Wäsche aufhängte.

Wie wenig, dachte er, nützte es Arne nun, dass alle ihn mochten, denn offenbar war niemand bereit, wirklich etwas zu tun, um ihm zu helfen! Alle drehten durch, alle drehten sich um sich selbst, während er irgendwo alleine im Himalaja festsaß.

Christopher setzte sich auf sein Bett und ließ seine Finger durch die Seiten wandern: Berge, Schluchten, schneebedeckte Gipfel – ein trockenes Flusstal, Maultiere auf einer schmalen Hängebrücke. Großblättrige Bäume voller Schlingpflanzen, Wasserfälle, buddhistische Klöster mit leuchtenden Wandmalereien und bunte Gebetsflaggen über den braunen Hütten. Es gab nichts, was er tun konnte, und so träumte er sich die Seiten entlang, über die Berge und durch die Täler, an den blau mäandern-den Flüssen vorbei und die blendend hellen Gletscher hinauf, um wenigstens auf eine Weise bei Arne zu sein. Als es Abend geworden war, aber niemand ans Essen dachte, als draußen die Perlenkette der Straßenlaternen in der Dunkelheit aufflackerte und der Oktober einen leisen Oktoberregen auf die Straßen niederschickte, waren Christophers Augen an einem Bild hängen geblieben: Es zeigte die grünen Wellen des tropischen Urwalds, dort, wo die Berge noch niedrig waren und die feuchtwarme Luft unbewegt zwischen den Bäumen stand. Im Vordergrund sah man einen Pfad, der in jene grüne Welt hineinführte, sich wand und schlängelte und endlich auf eine geheimnisvolle Weise im Unterholz verschwand.

Christopher sah das Bild lange an; so lange, bis seine Augen tränten und es davor verschwamm und alles, was er noch sah, die Farbe Grün war.

Grün.

GRÜN.

Grünes Zwielicht an einem Nachmittag im tropischen Urwald.

Etwas raschelte links von ihm im Dickicht. Er fuhr herum. Und in diesem Moment merkte er, dass seine Füße auf einem federnden Teppich aus Laub standen. Vor ihm schlängelte sich der Weg ins Unterholz. Er rieb sich die tränenden Augen. Aber es gab keinen Zweifel: Er war hier, im Wald. Eine Unzahl unbekannter Vögel lärmte, unsichtbar in den hohen Ästen, und die Zikaden zirpten so laut, dass man meinen konnte, man stünde direkt neben einem Elektrizitätswerk.

Das war unmöglich. Das konnte nicht sein.

Das war – aber nein. Vernünftig bleiben, lieber Christopher. Durchdrehen war etwas, das andere Leute taten. Es gab eine absolut plausible Erklärung.

Er träumte.

Es raschelte noch einmal zu seiner Linken, und Christopher sah, dass dort eine Spur in den Urwald führte: eine Spur aus umgeknickten Grasbüscheln und Ästen, die vom Weg wegführte. Er zögerte. Er war nicht Arne. Arne wäre der Spur gefolgt, einfach so, ohne Angst zu verspüren. Christopher hatte Angst. Auch wenn es vermutlich nur geträumte Angst war. Er verstand nichts von alledem, was geschah, und seine Hände waren feucht vor Nervosität. Dennoch ging er der Spur nach, Schritt für Schritt, ganz vorsichtig, und das Rascheln kam näher.

Und dann sagte eine ihm unbekannte Stimme vor ihm müde und verzweifelt:

»Lauf nicht weg. Bitte lauf nicht weg. Hilf mir. Bitte!«

Christopher schüttelte den Kopf, machte noch einen Schritt nach vorne, um zu sehen, ob er sich in der Entfernung verschätzt hatte ... ob der Besitzer dieser Stimme irgendwo hinter einem Busch verborgen war ...

Dabei stolperte er über jemanden.

Jemanden, der ungefähr so groß war wie er und der schrie, als Christopher auf ihn fiel.

Er rollte sich zur Seite und sah sich keuchend um.

Doch da war niemand.